Dieser Jahreswechsel sollte etwas ganz Besonderes werden. Rainer war froh, dass er, anders als seine Kollegen der Konkurrenz-Firmen, keinen Notdienst hatte. Sein Chef hatte – entgegen der allgemeinen Panikmache – keine Angst, dass zum Wechsel in das neue Jahrtausend etwas mit den Computern passierte und daher allen frei gegeben. „Das ist alles Blödsinn. Irgend so ein Idiot hat behauptet, dass sich am 01.01.2000 alle Rechner abschalten. Ich halte davon nichts!“, erklärte er.
Rainers Freundin Jana freute sich daher riesig, dass sie gemeinsam auf das neue Jahrtausend anstoßen konnten. Allerdings war sie der Meinung, dass das mit dem Wechsel erst ein Jahr später passieren würde, aber da fast alle anders dachten, vermied sie diese Diskussion möglichst.
Sie wollten diesmal ganz groß feiern. In den letzten Jahren hatten die Beiden nur in einem kleinen Kreis Silvester verbracht. In diesem Jahr wollten sie nach Berlin fahren. Am Brandenburger Tor ging dort an diesem Tag die Post ab, das hatten sie schon oft im Fernsehen gesehen. Diese Wahnsinnsstimmung musste man mal live erlebt haben!
Mit dem Zug fuhren Rainer und Jana von Magdeburg in die Bundeshauptstadt. Am Silvestermorgen kamen sie am Bahnhof Zoo an und checkten danach unverzüglich in ein kleines Hotel am Kurfürstendamm ein.
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Michael, Andreas und Karsten saßen zur gleichen Zeit in einer kleinen Kneipe in Berlin-Kreuzberg um „vorzuheizen“. Die drei jungen Männer wollten nachher richtig Party machen. „Dett wird de jrößte Sause, die wir jemals hatten, Jungs“, meinte Andreas und wandte sich an den Wirt: „Peter, mach noch ma drei Mollen klar für mich und meene Freunde. De letzten hatte nen Fehler, da war unten ´nen Loch!“ Alle lachten.
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Wibke, Ramona und Verona aus Rostock hatten sich schon tags zuvor vor dem abgezäunten Gelände an der Straße des 17. Juni eingefunden. Sie hatten trotz der tiefen Temperaturen in Schlafsäcken vor dem Eingang campiert. Nachdem sie den mitgebrachten Kaffee ausgetrunken hatten, gingen sie auf Prosecco über. Bier mochten sie nicht. Die drei jungen Mädchen freuten sich ebenfalls auf die Feier. „Mädels! Das wird bestimmt super, das habe ich im Urin. Apropos: ich muss mal für kleine Hansestädterinnen. Haltet mal den Platz frei“, sprach Ramona und begab sich zum Dixi-Klo. Es war eine kluge Entscheidung gewesen, sich früh auf den Weg nach Berlin zumachen. Jetzt um 9.30 Uhr war es hier noch sehr übersichtlich. So musste Ramona an der Toilette auch nicht anstehen.
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Werner und seine Frau Ariane aus Düsseldorf wollten auch am Brandenburger Tor feiern. „Wir werden wohl eine der ältesten dort sein“, hatte Ariane zuvor zu Bedenken gegeben. Doch sie ließ sich von ihrem Mann überreden, die weite Reise anzutreten. Als sie im Hotel dann noch das sympathische junge Paar aus Magdeburg kennen gelernt hatten, war Ariane endgültig davon überzeugt, an diesem Wechsel in das neue Jahrtausend etwas zu erleben, was unvergesslich sein sollte.
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Edgar grinste. Sein Plan würde funktionieren. Da war er sicher. Die Idee, die „große Silvesterüberraschung“ an der Bierbude an der Siegessäule zu platzieren war genial. Wenn es so weit war, würde der Effekt von Millionen gesehen werden, dann die Fernsehkameras waren nicht weit davon. Das hatte er zuvor recherchiert. Als Security war das alles für ihn ganz einfach. Monate lang hatte er an dem Ding gebastelt. Heute Nacht um 23.59 Uhr war es soweit. Er freute sich schon riesig. Edgar hasste alle Menschen, weil alle ihn hassten. Hoffentlich würden viele von diesen verdammten Schweinen sterben. Mitleid hatte er nicht.
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22.00 Uhr. Noch zwei Stunden bis zum Showdown. Die drei hübschen Rostockerinnen hatten unterdessen Bekanntschaft mit Michael, Andreas und Karsten gemacht. Auch wenn diese schon ein paar Jahre älter waren, fanden alle Gefallen aneinander. Für Michael und Wibke war es gar Liebe auf den ersten Blick. „Ich wusste, dieser Abend wird etwas ganz Besonderes“, schwärmte sie, nachdem er sie geküsst hatte. „Dett wird es janz sicher“, antwortete Michael und strahlte. Ihm gefiel die junge, rothaarige Frau ungemein. Alle hatten mittlerweile mächtig gebechert. Andreas konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. „Wenn der so weiter macht, müssen wir die Sanitäter rufen“, bemerkte Ramona. Sie war diejenigen von den Sechsen, die von allen am wenigsten Alkohol getrunken hatte. Darum musste sie von nun an die Getränke holen, denn an den Buden wurde mittlerweile an Starkangeheiterte kein Bier und Sekt mehr ausgeschenkt.
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Wenige Meter entfernt von der Gruppe prosteten sich Ariane, Werner, Jana und Rainer zu. „So jung kommen wir nicht mehr zusammen“, bemerkte Rainer, hob seinen Becher und fuhr fort: „Auf das neue Jahrtausend!“
„Noch ist es nicht so weit“, entgegnete seine Freundin. „Ja, zwei Stunden müssen wir noch warten“, pflichtete Ariane bei. Jana hob ihren Finger und sagte grinsend: „Nee, nee. Eigentlich müssen wir noch ein ganz Jahr auf das Millennium warten, weil…“ Weiter kam sie nicht. Ihr Freund fiel ihr ins Wort: „Jana, ich habe keine Lust mit dir über diesen Scheiß zu diskutieren.“ „Ach, Mensch, streitet Euch nicht. Wir wollen doch alle fröhlich und gutgelaunt ins neue Jahr kommen. Jedenfalls freuen wir uns, Euch kennengelernt zu haben. Meine Frau wollte ja erst gar nicht mitkommen“, sagte Werner. „Ja, ich dachte, ich hier eine Oma. Aber wenn ich mich zu umgucke, es sind doch auch viele Ältere hier“, ergänzte seine Frau und fuhr fort: „Aber die jungen Leute da drüben sind ganz schön angetörnt. Besonders der Blonde.“ Sie deutete auf Andreas, der unterdessen von seinen beiden Kumpels gestützt werden musste. „Bis Mitternacht hält der bestimmt nicht durch. Manche bekommen eben nie genug. Bei uns im Rheinland wird auch nicht gerade ins Glas gespuckt, aber so zuzusaufen – das geht gar nicht“, sagte Werner. „Du bist ja nur sauer, weil du hier kein Alt kriegst“, frotzelte Rainer. „Das war ein Stichwort, Rainer. Ich hole noch einmal eine Runde. Hier steht man ja ewig an den Buden an. Bis gleich“, antwortete Werner.
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23.30 Uhr. Andreas war tatsächlich zusammengeklappt. Die Leute vom Roten Kreuz kümmerten sich um ihn. Er war nicht der Erste und bestimmt auch nicht der Letzte, der heute zu tief ins Glas geschaut hatte. Anstoßen würde er heute nicht mehr.
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23.45 Uhr. Noch fünfzehn Minuten bis Mitternacht. Ramona stand an der Bierbude an der Siegessäule an, begleitet von Karsten. Nachdem sie vorhin zwei Bierbecher fallen gelassen hatte, hatte Ramona darum gebeten, dass jemand mit anfasst. Karsten war noch einigermaßen nüchtern. Wibke stand unterdessen an den Dixi-Klos an.
Kurz hinter Ramona war Rainer am Getränkestand in der Reihe. Alle hofften, noch bis zum Jahreswechsel dran zukommen, doch der Andrang war groß.
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23.58 Uhr. Ramona, Karsten und Rainer standen noch immer an. Ihre jeweiligen Freunde befanden sich in Sichtweite. „Das wird nichts mehr bis Mitternacht. So eine Scheiße!“, ärgerte sich Werner.
Kurz darauf. „Fünf, Vier, Drei, Zwei, Eins“, riefen alle Leute. Weiter kamen sie nicht. Genau um Mitternacht explodierte die Bombe, die Edgar gelegt hatte mit einem gewaltigen Knall. Ramona, Karsten und Rainer sowie zwölf weitere Personen, die in unmittelbarer Nähe der Explosion gestanden hatten, waren sofort tot. Viele Umstehende wurden schwer verletzt, darunter Jana, Werner, Ariane, Verona und Michael. Durch eine unglaubliche Schicksalsfügung entkamen Andreas und Wibke dem grausamen Schicksal.
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Weitere acht Personen wurden in der anschließenden Massenpanik totgetrampelt, zunächst vor laufender Kamera, bis die Sendeleitung die Übertragung abbrach. Es gab unzählige weitere Verletzte. Nie zuvor hatte ein Bombenanschlag in Deutschland mehr Opfer gefordert. Es war weit schlimmer als das Attentat im La Belle im Jahre 1986 im Berliner Stadtteil Friedenau.
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Zufrieden rieb sich Edgar die Hände. Er stand in sicherer Entfernung des Geschehnisses, konnte aber alles sehen. Der Tag der Rache war gekommen. Ein schrecklicheres Silvester würde es so schnell nicht mehr geben.
Bildmaterialien: Hamburger Abendblatt
Tag der Veröffentlichung: 03.01.2013
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