„Heute spielen wir mal etwas anderes. Ich habe da schon eine Idee“, erklärte der 11-jährige Jens seinen drei Freunden Stefan, Markus und Peter. Jens war der Anführer der „Banditen“, wie sie sich nannten. Das kleine Dorf Holtensen in der Nähe von Springe hatte etwas mehr als 400 Einwohner. Viel war dort nicht los, auch wenn es sehr viele Vereine gab. Aber Kindern wurde nicht viel geboten. So mussten sie sich aufregende Spiele ausdenken, um die Langeweile zu vertreiben.
Neben den „Banditen“ gab es noch eine weitere Kinderbande. Das waren die „Furien“. Nur Mädchen waren dort Mitglied. Die Anführerin Sonja hatte Sabine, Katja und Annette um sich geschart. Die Jungen hassten die Mädchen und umgekehrt. In etwa waren alle im gleichen Alter.
„Und was machen wir?“, wollte Peter, der Kleinste von allen, wissen. Er bewunderte Jens, er war sein großes Vorbild. Peter war erst vor wenigen Wochen mit seinen Eltern hergezogen und noch kein vollwertiges Mitglied der Bande. Um seinen Status zu verbessern, musste er eine Mutprobe ablegen. Das hatte ihm Jens schon am ersten Tag angekündigt. Heute sollte es soweit sein. „Nun wir spielen wieder Indianer – aber wir werden heute etwas ganz Besonderes machen, meine Freunde“, sagte Jens mit einem breiten Grinsen. „Du, Peter, wirst dafür sorgen. Also: das ist mein Plan.“ In wenigen Worten erklärte er, was er sich ausgedacht hatte. Sie wollten sich eines der Mädchen schnappen und gefangen nehmen. Für die Auslösung wollten sie etwas verlangen. Was das sein sollte, wussten sie noch nicht.
Mit ihrer üblichen Verkleidung zogen die vier durch das kleine Dorf bis zur Sporthalle. Der Vater von Katja war Pächter des Vereinsheims des dort ansässigen Fußballvereins. Um diese Uhrzeit, am späten Nachmittag, musste sie eigentlich zu Hause sein. Jens hatte sich dieses Mädchen als Opfer ausgeguckt, weil sie diejenige von den „Furien“ war, die er am meisten hasste. Im Gegensatz zu ihm war sie sehr gut in der Schule. Erst letzte Woche hatte sich Jens beim Vorlesen mächtig blamiert. Katja, die als Nächste dran war, konnte es sehr viel besser und wurde vom Lehrer gelobt. Dieses Grinsen von dem Weib konnte Jens nicht vergessen. Er schwor Rache. Jetzt war es soweit.
Jens, Stefan und Markus versteckten sich im Wartehäuschen der Bushaltestelle. Peter sollte die Katja herauslocken. „Ist die Katja da?“, wollte er von ihrer Mutter wissen, die hinter der Theke stand. Frau Mauersberger sah ihn misstrauisch an. Sie kannte die Streitereien der Kinder. Darum wusste sie, dass der Junge nicht gerade ein Freund ihrer Tochter war. Außerdem hatte er eine Indianerkutte um und trug Federschmuck am Kopf. Das war nicht gerade vertrauenerweckend. Aber Peters Vater war seit kurzem Mittelstürmer beim SV Holtensen und hatte in den letzten sieben Wochen schon zehn Tore geschossen. Darum antworte sie: „Ja, Peter. Die Katja ist da. Warte bitte einen Moment. Möchtest du `ne Cola?“ Peter nickte. Er wunderte sich, dass er so gelassen war. Nach gefühlten fünf Minuten kam Katja und paulte ihn sogleich an: „Was willst du?“
„Katja, unsere Katze – die Minka – hat Junge bekommen. Aber irgendetwas ist komisch. Kannst du dir das mal ansehen?“ Katja war tierlieb, ganz besonders Katzen hatten es ihr angetan. Darum konnte sie nicht widerstehen, sie folgte Peter in die Scheune, in der die Katzenmama angeblich sein sollte. Jens, Stefan und Markus schlichen sich – ganz nach Indianerart – hinter ihnen her.
„Und wo sind jetzt die Katzen?“, wollte Katja wissen. „Da hinten in der Ecke“, antworte Peter. Während sich das Mädchen dorthin begab, stürmten die anderen drei Jungen johlend mit Indianergeheul die Scheune. Katja erstarrte. Stefan ergriff das Mädchen von hinten und warf es zu Boden. „Du bist jetzt unsere Gefangene“, riefen alle Jungen. Markus nahm einen Strick und band diesen an Katjas Füße, während Jens das Gleiche mit ihren Armen tat. Danach drückten sie das Mädchen an den Pfosten, der zum oberen Teil des Gebäudes führte, direkt neben der Leiter. Mit einem weiteren Strick banden sie sie dort fest. „Jetzt hast du wohl Angst, du blöde Kuh!“, rief Jens und grinste.
„Nun rauchen wir die Friedenspfeife und überlegen uns, wie wir weitermachen“, ergänzte er. Jens holte die „Friedenspfeifen“ hervor. Das waren Marlboro, die er seinem Vater gemopst hatte, als dieser mal wieder volltrunken im Delirium lag. Das war einer der guten Tage, an denen sein Alter so besoffen war, dass er seinen Sohn nicht schlug. Es bedurfte ansonsten wenige Gründe für die Schläge, schon eine schlechte Klassenarbeit reichte.
Peter hustete. Er hatte noch nie zuvor geraucht. Jens lachte und klopfte ihn anerkennend auf die Schultern. „Das hast du ganz toll gemacht, du hast diese blöde Ziege hergelockt. Du bist ab sofort aufgenommen. Du bist ein wahrer Blutsbruder. Jetzt wollen wir das besiegeln“, sprach er. Er holte ein Taschenmesser hervor und ritzte sich in den Oberarm. Augenblicklich blutete es. „Jetzt du, Peter. Streck deinen Arm vor!“ Peter tat so, wie ihm sein Freund befahl. Er hatte zwar große Angst, aber er überwand diese. Trotzdem war der Schmerz groß, als Jens ihm in den Arm ritzte. Peter ließ seine Zigarette fallen. Das trockene Stroh fing augenblicklich Feuer.
Es brannte lichterloh. Panisch stürmten die Jungen aus der Scheune. „Scheiße, Scheiße, Scheiße!“, rief Jens und schimpfte los: „Peter, du blödes Arschloch. Was hast du getan?“. Statt ihm zu antworten, riss Peter seinem Freund das Messer aus der Hand und lief in das brennende Gebäude zurück. Es kam jetzt auf Sekunden an. Todesmutig rannte Peter zu Katja und schnitt die Stricke durch. Sie war schon bewusstlos. Er schulterte sie und rettete sie vor dem sicheren Tode. Draußen angekommen warf er sie auf den Boden und rief: „Ihr seid keine Indianer. Ihr seid Feiglinge!“
Nach diesem Vorfall war die Feindschaft der „Banditen“ und der „Furien“ beendet. Nie wieder spielten die Jungen Indianer.
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Tag der Veröffentlichung: 22.12.2012
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