Ich war den Tränen nah. Es war der 22. Dezember 1969, ich war acht Jahre alt. Mutti hatte mir an diesem Morgen nicht das Frühstück gemacht – sie war krank! Und das kurz vor Weihnachten.
Ich heulte, aber nicht so sehr, weil ich mir Sorgen um meine Mutter machte. Nein, vielmehr fürchtete ich um das leckere Essen, das es immer am 1. Weihnachtstag gab: Ente mit Klößen und Rotkohl. Das war doch immer soooo köstlich! Auch mein sieben Jahre älterer Bruder Peter sorgte sich um das Mahl. Was sollte jetzt geschehen? Essen gehen konnte man vergessen – das war zum Einen in den Sechzigern noch wenig üblich und zum Anderen ohne Tischreservierung undenkbar.
Einen Tag später. Mutti ging es keineswegs besser. Jetzt war auch noch hohes Fieber dazu gekommen. Für Heiligabend war das nicht so schlimm. Da gab es immer nur Würstchen mit Kartoffelsalat. Das bekam sogar der Papa hin. Aber so etwas Kompliziertes wie einen Entenbraten lecker zuzubereiten? Und ob die Klöße so schmecken würden wie bei der Mutti? Und auf Rotkohl verzichten? Zu dumm, dass Frau Krause, die liebe Nachbarin, gerade verreist war. Die hätte bestimmt ausgeholfen.
Heiligabend. Jetzt war es sicher: Mutti würde nicht kochen können. Sie beschloss, dass doch der Vater an den Kochtopf musste – das hatte er noch nie getan. Es konnte ja nur eine Katastrophe geben. Über meine Geschenke (viele neue Legosteine) konnte ich gar nicht so richtig freuen.
25. Dezember. Der Tag der Entscheidung war gekommen. Meine Mutter hatte die Rezepte haarklein mit genauesten Anweisungen aufgeschrieben. Es gab damals ja noch keine Fertigprodukte. Die Kartoffeln mussten erst noch in Knödel verwandelt werden und den Kohl gab es seinerzeit auch noch nicht aus der Dose. Kurz nach dem Frühstück ging es los. Die ausgenommene Ente wurde für das Braten vorbereitet, der Kohl geschnitten und gewürzt. Jetzt kam der schwierigste Part: die Klöße. Gespannt schauten mein Bruder und ich zu. Ich wettete mit Peter um drei leckere Marzipanbrote, ob das klappte oder nicht. „Ich kenne unseren Vater länger als du. Der schafft das nie!“, meinte Peter. Ich war inzwischen anderer Meinung.
Elf Uhr. Der Duft der Ente zog bereits durch die Wohnung, ich rieb mir die Hände. Es roch wunderbar, genau wie sonst auch. Auch der Rotkohl schmorte bereits im Topf. Aber bei den Klößen sah es gar nicht gut aus. Erste Versuche waren kläglich gescheitert. Ob Salzkartoffeln auch passen würden? Papas entsprechende Anfrage bei Mutti wurde zunächst abgewiesen, aber dann doch noch angenommen. Schließlich gab es das ganze Jahr über keine Klöße, da war das zu Weihnachten auch nicht unbedingt nötig. Aber die Tradition…
12.30 Uhr, das Essen war fertig. Papa zog eine wunderbar braune Ente aus dem Rohr. Es konnte aufgetischt werden. Mutti kam im Nachthemd und glücklich gestimmt hinzu und setzte sich an den Esstisch, den Papa noch mit Tannenzweigen dekoriert hatte. Ein leckeres Essen erwartete uns. Und wie es erst schmeckte! Ich war in bester Laune, all der Kummer war vergessen.
Und so geschah es, dass an diesem Weihnachtsfest im Hause der Familie März dann doch noch eine köstliche Ente mit Rotkohl serviert wurde und zum ersten und einzigen Mal mit Salzkartoffeln.
Nebenbei gewann ich noch Marzipanbrote, aber nur zwei, denn die Kloßzubereitung war ja gescheitert.
Mein Vater hat danach nie wieder für uns gekocht. Dennoch bewundere ich meine Mutter noch heute für diese Aktion. Krank wie sie war, sorgte sie sich um das leibliche Wohl ihrer Familie. Sie war schon ein außergewöhnlicher Mensch.
Bildmaterialien: www.sonneber-info.de
Tag der Veröffentlichung: 19.12.2012
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