Cover

Tod am Brocken

 

 

Harald war mit seiner Freundin Jutta von Hildesheim nach Wernigerode gefahren. Mit der Brockenbahn ging es hinauf bis zum Gipfel. Oben war Nebel. Das war hier fast immer so, wie an 330 Tagen im Jahr. Man konnte kaum einen Meter weit sehen. Das war perfekt. Es kostete nicht viel Überredungskunst, um sie vom Brockenhotel wegzulocken. Dort gab es heißen Tee zu kaufen. „Warum sollen wir dieses teure Zeug trinken? Schau, ich habe selbst welchen mitgebracht. Und er schmeckt bestimmt um einiges besser als dieses Gesöff“, sagte er. Sie nickte und blickte tief in seine blauen Augen. Harald hatte ihr versprochen, dass dieser Tag für Sie etwas ganz Besonderes werden würde. Sie erhoffte sich, dass er ihr endlich einen Heiratsantrag machen würde. Erst vor vier Monaten hatten sie sich kennen gelernt – über eine Bekanntschaftsanzeige. Jutta war einsam und überglücklich, endlich den Mann ihres Lebens gefunden zu haben. Sie war fünfzig und hatte fast alles im Leben erreicht. Ihre Lederwaren-Fabrik „Tenura“ hatte sie von ihrem Vater geerbt und die Marke innerhalb von wenigen Jahre international bekannt gemacht. Sie setzte einen dreistelligen Millionenbetrag im Jahr um. Die Schuhe und die Handtaschen waren von exzellenter Qualität, darauf hatte sie immer geachtet. Nur eines hatte sie eben nicht – einen Partner. Doch dann trat Harald in ihr Leben. Mit seiner zauberhaften, romantischen Art hatte er sie becirct und ihr Herz gewonnen.

 

Es machte ihr nichts aus, dass er nicht so viel Geld besaß wie sie. Dafür hatte er ausgezeichnete Manieren und auch gewisse Qualitäten, die einer Frau gefielen. Harald hatte keinen Job – auch das war kein Hindernisgrund. Sie stellte ihn als stellvertretenden Geschäftsführer ihrer Firma ein – mit allen Vollmachten. Dafür bedankte er sich mit einem riesigen Strauß roter Rosen, die er in Herzform um ihr Bett drapierte.

 

Mehrere hundert Meter vom Gipfel des Berges entfernt standen Nadelbäume. Es lag tiefer Schnee. „Das ist genau der richtige Ort für uns beide, mein Schatz. Hier sieht uns niemand. Normalerweise stößt man in so einer Situation mit Sekt an. Doch du trinkst ja keinen Alkohol. Darum nimm diesen Becher, mein Liebling“, sprach Harald. Er holte zwei Becher und eine Thermoskanne aus seinem Rucksack. Der eine Becher war rot, der andere blau. Er gab ihr den roten und füllte beide Gefäße. Der Tee duftete wunderbar, es war Earl Grey, ihre Lieblingssorte. Harald hatte nicht zu viel versprochen. Dieses Gebräu vom Hotel konnte da keinesfalls mithalten. Womöglich wurde es aus Teebeuteln zubereitet – das ging gar nicht. Jutta nahm einen tiefen Atemzug. Trotz der Kälte spürte sie die Aromen des Tees schon jetzt, obwohl sie noch gar nichts davon getrunken hatte. Gespannt erwartete sie, was kommen würde. „Meine liebe Jutta. Wir kennen uns erst seit wenigen Monaten, doch du bist die Frau meines Lebens. Ich würde alles für dich tun. Darum frage ich dich hier und heute: Willst du mich heiraten?“

„Ja! Ich will, es gibt nichts, was ich mir mehr wünsche, mein Liebster.“ Sie schloss die Augen und küsste ihn. Beide tranken ihren Tee. „Irgendwie schmeckt das merkwürdig, Harald. Ich glaube, mir wird...“ Weiter kam sie nicht. Jutta wurde schwindelig. Sie sank zu Boden. Zufrieden grinste Harald. Das Gift, mit dem er den Becher von innen bestrichen hatte, wirkte schneller als erwartet. Binnen weniger Sekunden verstarb Jutta.

 

Harald machte sich nicht die Mühe die Leiche zu vergraben. Die Stelle lag weit abseits der Wanderwege und der Bahnstrecke. Bei den Wetterverhältnissen, die hier normalerweise herrschten, würde es viele Wochen dauern, bis sie entdeckt wurde. Bis dahin war er längst in Costa Rica und würde dort sein Leben mit Juttas Geld genießen. Diese Kuh war so blöd, wie noch keine ihrer Vorgängerinnen zuvor. Er hatte ein allzu leichtes Spiel.

Gemächlichen Schrittes begab er sich zur Gipfelstation der Brockenbahn und zündete sich dort eine teure Zigarre an. In Zukunft würde er sich diesen Genuss täglich mehrfach gönnen.

 

Drei Tage später. Harald saß auf dem Frankfurter Flughafen fest. Seine Maschine konnte nicht abheben, wie auch keine andere. Über ganz Hessen und weiten Teilen Südwestdeutschlands tobte ein schweres Unwetter. Unglaubliche Regenmengen ergossen sich über dieses Gebiet, verbunden mit Stürmen und Gewitter. Neben ihn glotzte ein dicker, kahlköpfiger Mann auf sein Laptop. Er sprach Harald an: „Schauen Sie mal. Das ist völlig verrückt. Wir haben hier so ein Sauwetter und in Südniedersachsen und in Sachsen-Anhalt ist strahlender, blauer Himmel. Am Brocken kann man bis nach Braunschweig schauen. So eine Weitsicht gab es seit langem nicht mehr. Die Webcam liefert unglaubliche Bilder. Vorhin haben die gemeldet, dass die da am Gipfel eine Leiche gefunden haben. Es soll sich um eine 50-jährige Frau aus Hildesheim handeln.“

 

Wenige Stunden später klickten die Handschellen. Harald wurde eiskalt erwischt.

 

 

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.12.2012

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /