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Du musst dich entscheiden

 

 

Sie hatte es befürchtet. Seit ein paar Tagen war ihr morgens immer übel, dazu war ihre Regel ausgeblieben. Der Schwangerschaftstest brachte dann die letzte Gewissheit – er war positiv. Doch Tanja war alles andere als beglückt. Sie fühlte sich viel zu jung für ein Kind. Erst vor zwei Monaten war sie sechzehn geworden und sie ging noch zur Schule. In zwei Jahren wollte sie ihr Abitur machen. Und jetzt ein Kind? Das passte ihr gar nicht. Schon gar nicht von dem Typ, den sie vor ein paar Wochen auf der Party kennen gelernt hatte. Er hieß Mike, jedenfalls nannte er sich so. Niemand kannte ihn, er war einfach so aufgetaucht. Die Geburtstagsfeier ihrer Freundin Nadja war viel größer ausgefallen, als sie geplant hatte. Es war dieser Fehler, den viele bei Facebook machen. „Nun, es ist ja nichts passiert“, hatte Nadja noch gesagt. Tja, nun hatte das doch noch Folgen gehabt.

 

Tanja beschloss, vorerst niemand von der Sache zu erzählen, nicht ihrer Mutter und nicht ihrer Freundin. Doch das zermürbte sie. Nächste Woche stand der Besuch beim Frauenarzt an, eigentlich nur, um sich wieder die Pille verschreiben zu lassen. Das war ja nun überflüssig.

 

Am nächsten Morgen wachte sie völlig aufgewühlt auf, sie hatte sehr schlecht geschlafen. In ihren Albträumen hatte sie das Kind gesehen. Es war schon circa drei Jahre alt. Mit anklagender Stimme hatte es gerufen: „Du hast mich getötet, du hast mich getötet!“. Danach war sie im Traum auf die Straße gerannt. Alle Leute hatten mit den Finger auf sie gezeigt und sie als Mörderin beschimpft. Es war schrecklich.

 

In der Schule konnte sie sich nicht konzentrieren. Sie musste immer wieder an ihre Schwangerschaft denken. Tanja konnte es gar nicht erwarten, dass der Unterricht beendet war. Die Stunden zogen sich endlos hin.

 

Nach Schulschluss schrieb sie ihrer Freundin eine SMS. „Wir müssen uns treffen. Es ist dringend!!!!!!“. Sekunden später kam der Rückruf. „Hallo, Süße. Was hast du denn? Ist etwas passiert?“

„Das kann man wohl sagen, Nadja. Aber ich will dir das nicht am Telefon erzählen. Hast du nachher Zeit?“

„Gut, wie wäre es um halb drei in der Eisdiele?“

„Alles klar. Bis nachher.“

 

Im Eiscafé wartete Tanja ungeduldig auf ihre Freundin. Jetzt war es schon fast Viertel vor drei. Von Nadja keine Spur, sie war zu spät – wie so oft. Gerade als Tanja zum Handy greifen wollte, kam Nadja abgehetzt hinein und rief: „Tschuldige, aber es ging nicht eher. Aber sag mal, du siehst ja furchtbar aus. Was ist los?“

„Erinnerst du dich noch an Mike?“

„Der Typ von meiner Party? Nur flüchtig. Du hast dich ja die ganze Zeit mit ihm rumgemacht. Was ist mit ihm? Sag bloß, er hat sich wieder bei dir gemeldet.“

„Das nicht. Es ist deswegen.“ Tanja holte das Teströhrchen aus ihrer Handtasche. „Scheiße!“, entfuhr es Nadja. „Damit hätte ich ja nun gar nicht gerechnet.“

„Ich auch nicht, Nadja. Ich bin fix und alle. Heute Nacht habe ich kaum ein Auge zugemacht und nur so einen Scheiß geträumt. Was soll ich nur tun?“

 

Nadja umarmte ihre Freundin und streichelte ihre Wange. „Du hast auf jeden Fall meine Unterstützung. Warst du schon beim Frauenarzt?“

„Ich muss nächste Woche sowieso hin. Kommst du mit?“

„Aber klar doch. Das tue ich gerne für dich.“

 

Eine Woche später saßen die beiden aufgeregt in der Praxis von Doktor Zimmermann. Die Untersuchung bestätigte das Ergebnis des Testes. Sie war bereits fast im dritten Monat. Eine Abtreibung war noch erlaubt. Doch die Zeit drängte. Sie musste sich entscheiden! Ein Schwangerschaftsabbruch war nur bis 12. Woche gestattet, jedenfalls in Deutschland. Der Arzt hatte ihr die Risiken genau erklärt und für sie gleich am nächsten Tag einen Termin bei „Pro Familia“ vereinbart.

 

„Die wollen dir die Abtreibung ausreden, das garantiere ich dir“, sagte Nadja, als die beiden wieder auf der Straße waren und zündete sich eine Zigarette an. „Ich habe das einmal im Fernsehen gesehen, das lief total Kacke ab. Echt uncool. Diese Kirchenfutzis schwafeln nur Dünnschiss. Tanja, da gibt es noch mehr Möglichkeiten.“

„Nadja, ich gehe da auf jeden Fall hin, notfalls alleine.“

„Mach was du willst. Aber ich wüsste, was ich täte!“

 

Als Tanja zu Hause ihre Jacke aufhängen wollte, fiel ihr durch eine ungeschickte Bewegung der Mutterpass heraus. Dummerweise stand ihre Mutter direkt daneben. Tanja erstarrte. „Mutti, ich…“

„Tanja, ich weiß was los ist. Meinst du, ich hätte nicht gemerkt, dass du jeden Morgen ins Bad rennst und kotzt? Das war nicht zu überhören, und zu übersehen auch nicht. Komm mit, ich muss dir etwas zeigen.“

 

Sie gingen ins Wohnzimmer. Ihre Mutter öffnete die Schublade des Schrankes und holte eine alte Mappe hervor. Als sie geöffnet wurde, erblickte Tanja ein Ultraschallbild. „Das bist du, Tanja. Da bin ich im vierten Monat. Schau dir die kleinen Füße und die Hände an. Ich war damals nicht viel älter als du heute. Glaube mir, auch ich habe lange überlegt, abzutreiben. Ich bin froh, dass ich es nicht getan habe. Es war zwar eine schwere Zeit damals, aber ich habe es geschafft. Das wirst du auch, Tanja. Wir schaffen das gemeinsam.“

„Aber was ist mit der Schule, Mutti?“

„Auch das schaffen wir. Notfalls wiederholst du ein Jahr. Du bist ja eine gute Schülerin. Es wird sich schon alles richten. Weißt du, warum ich mich damals für dich entschieden habe? Hör gut hin.“

 

Tanjas Mutter ging zum Regal und legte eine CD in den Player. Es war Purple Schulz, ihre Lieblingsband. Gespannt hörte Tanja zu:

 

Und sie spürt zwei Herzen schlagen
Eins davon war ungewollt
und sie fühlt in diesen Tagen
ihr Herz voller Gold.

Sie spürt zwei Herzen schlagen
jetzt schlagen sie im Takt
und plötzlich schließt das Eine
mit dem Anderen einen Pakt
Was wär, - mal angenommen
wenn du und ich auf dieser Welt
uns was entgegenkommen
damit von uns beiden keiner runterfällt.

 

„Das hat mich damals unheimlich berührt, Kleines. Aber letztendlich musste ich mich entscheiden. Das musst du jetzt auch.“

Tanja war tief bewegt. Sie begann zu weinen und nahm ihre Mutter in den Arm. Es würde alles gut werden, das glaubte sie nun ebenfalls.

Sie sagte den Termin bei „Pro Familia“ ab. Das war nicht mehr nötig. Tanja hatte sich entschieden.

Sechs Monate später brachte sie eine gesunde Tochter zur Welt.

 

 

 

Impressum

Bildmaterialien: www.chius.ch
Tag der Veröffentlichung: 23.11.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Der Band Purple Schulz gewidmet und dem wunderbaren Song "Herz voller Gold"

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