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Sie leben mitten unter uns

 

 

Nachdem der elektromagnetische Krieg im Jahre 2145 beendet war, musste sich die Menschheit neu ausrichten. Nichts funktionierte mehr: kein Fahrzeug, kein Telefon, kein Computer. Und auch die vielen Roboter, die seit Jahrzehnten unser Leben angenehmer gestaltet hatten, versagten ihren Dienst. Wir hatten jedoch verlernt, einfache Tätigkeit zu verrichten. Niemand war mehr in der Lage, Müll wegzuräumen, Feuer zu löschen oder Dinge von einem Ort zu einem anderen zu verbringen. Das Chaos brach aus.

 

Als es unerträglich wurde, wurden Stimmen laut, sich auf etwas zu besinnen, was seit weit über einhundert Jahren weltweit verboten war: Das Klonen von Menschen. Zum Glück gab es genug Bücher und Schriftstücke, die diese Technik beschrieben. Trotz heftiger Proteste der verschiedenen Kirchen und anderen religiöser Verbände, begannen wir mit der Aufzucht künstlicher Menschen. Die ersten Versuche endeten kläglich, doch dann kam der Durchbruch.

 

Die „Anderen“ übernahmen all die unangenehmen und gefährlichen Aufgaben, die wir nicht verrichten konnten oder wollten. Sie sahen aus wie wir, aber wir mieden jeden Kontakt, obwohl sie mitten unter uns lebten. Denn die „Anderen“ waren kalt und gefühllos, sie hatten keine Seele. Die Klone konnten keine Freude oder Furcht zeigen.

 

Schon bald traten Probleme auf. Als bei einem Brand eines Hauses in Berlin eine Gruppe von Feuerwehr-Klonen dieses gezielt niederbrennen ließ, ohne die Bewohner zuvor zu retten, kam es zu massiven Protesten der „normalen“ Menschen. Niemand von uns verstand, dass den Seelenlosen die Erhaltung des benachbarten Museums wichtiger war, als die Leute vor dem Flammentod zu bewahren. Das eiskalte Verhalten der Klone erboste uns. Ich wurde Mitglied einer Widerstandsgruppe, deren Ziel der Vernichtung aller Klone war. Rasch wuchs unsere Bewegung.

 

Im September 2188 versammelten wir uns in kleineren Gruppen, um die weitere Vorgehensweise zu besprechen. Es sollten Bomben mit mechanischen Zeitzündern gebaut werden, um möglichst viele von den „Anderen“ gleichzeitig zu töten. In der Bibel stand zwar: „Du sollst nicht töten“, aber bei diesen seelenlosen Wesen galt das nicht. Sie waren weniger wert als eine Maus oder eine Ratte. Es war so, als ob man einen Gegenstand zerstört.

 

Ich erhielt den Auftrag, eine dieser Bomben in das hiesige Hauptquartier am Potsdamer Platz zu bringen. Dort lebten Hunderte der Seelenlosen. Angst hatte ich keine, auch wenn ich höchstwahrscheinlich selber sterben würde. Das war mir egal, die Zukunft der Menschheit war wichtiger. Doch wie würde diese Zukunft aussehen, wenn wir es tatsächlich geschafft hatten, die „Anderen“ zu eliminieren? Würde erneut das Chaos ausbrechen?

 

„Nun, Jens, es ist soweit. Du weißt, was du zu tun hast!“, sprach Leonhard, unser Anführer, zu mir. Er war der Fanatischste von uns allen. „Du musst die Bombe möglichst in die Mitte des Lagers der Seelenlosen bringen. Sie müssen vernichtet werden“, ergänzte er. Ich nickte, nahm mein Pferd und ritt los. Mein Vater hatte mir, als ich klein war, von den fantastischen Fortbewegungsmitteln erzählt, die es einst gab. Doch diese Zeiten waren lange vorbei. So musste mein treues Ross dazu dienen, mich an mein Ziel zu bringen.

 

Nun lag es vor mir, das halbverfallene Gebäude, in dem früher ein so genanntes Kino untergebracht war. Auch von diesem hatte mir mein alter Herr erzählt. Das Haus beeindruckte mich, es war fast zweihundert Jahre alt. Ich hatte mich verkleidet und trug die typische lilafarbene Kleidung der „Anderen“ und hoffte, nicht aufzufallen. Keinesfalls durfte ich irgendwelche Emotionen zeigen. Doch ich hatte mich gut vorbereitet.

 

Problemlos gelang ich in das Gebäude. Die große Halle war von Fackeln spärlich erleuchtet, aber ich konnte trotzdem die Bilder an den Wänden erkennen. Es waren Gemälde und Fotos, die über Jahrhunderte die Geschichte der Menschheit wieder spiegelten. Man sah Hexenverbrennungen, Hinrichtungen, Bilder von verfolgten dunkelhäutigen Menschen und vieles mehr. Es war schrecklich, aber ich durfte mir nichts anmerken lassen, das durfte mich nicht berühren. Das klappte auch sehr gut, bis ich zur letzten Tafel in dem Raum gelang. Dort ging es um die Nationalsozialisten, die vor 250 Jahren ihr Unwesen in Deutschland trieben. Ich hatte von alldem im Geschichtsunterricht gehört, doch dass was ich hier sah, überstieg meine Vorstellungskraft bei Weitem. Es ließ sich nicht vermeiden – ich schrie auf. Ich hatte mich verraten.

 

Binnen weniger Sekunden hatten mich Dutzende der Seelenlosen umringt. Einer trat hervor und sprach zu mir: „Wir wissen, was Ihr vorhabt. Aber sieh dir die Bilder an, all diese Leute wurden einst ausgegrenzt, weil sie anders waren, wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihren sexuellen Vorlieben, ihrer politischen Meinung. Es gab immer die Anderen. Jetzt sind wir es. Ihr sagt, dass wir keine Seele haben und gefühllos sind. Das mag stimmen, aber so wurden wir erschaffen – von Euch! Wenn Ihr uns tötet, seid ihr nicht besser, als jene Menschen, die diese Taten, die du gerade erblicktest, vollzogen.“

 

Ich nickte. Die Augen wurden mir geöffnet. Die Menschheit hatte sich nicht gebessert. Moralisch lebten wir noch immer im Mittelalter, nur die Feinde waren andere.

 

Es dauerte viele Jahre, bis auch der Letzte davon überzeugt war, dass es falsch war, die Klone zu hassen, zu verfolgen und zu töten. Kein Mensch hat dazu das Recht, einen anderen zu töten, und sei er auch seelenlos. Die Erde ist nun befriedet, keiner muss mehr um sein Leben fürchten, nur weil er anders ist.

 

Jetzt müssen wir nur noch Vegetarier werden…

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Bildmaterialien: www.simplyscience.ch
Tag der Veröffentlichung: 21.11.2012

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