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Konstanzes Schicksal

 

Konstanze zitterte am ganzen Leib, als sie erwachte. Da war er wieder, der Albtraum. Es war jetzt zwölf Jahre her, seitdem sie gemeinsam mit ihrer Schwester Gabriele ihren Stiefvater Bernhard, den Bäcker, umgebracht hatte.

 

Er hatte Gabriele jahrelang missbraucht, und als er später – als Konstanze dreizehn Jahre alt war – das auch bei ihr tat, beschlossen die beiden dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Mittels präparierten Rotwein betäubten sie ihn und schoben ihn in den eingeschalteten Backofen. Gabriele erhielt eine milde Strafe, Konstanze musste sich mangels Strafmündigkeit nicht vor Gericht verantworten.

 

Aber die Angst war immer noch da. In ihren Träumen erlebte sie diese Szene immer wieder. Das manifestierte sich in eine panische Angst vor Feuer, es war eine Art Phobie. Wenn sie aus dem Haus ging, schaute sie mehrfach nach, ob sie den Herd oder das Bügeleisen ausgeschaltet hatte. Niemand durfte in ihrer Gegenwart rauchen oder eine Kerze anzünden. Das Ertönen einer Feuerwehrsirene brachte ihr Schweißausbrüche. Ganz schlimm wurde es, als sie erfuhr, dass im Nachbarhaus ein Mann bei lebendigem Leibe im Bett verbrannt war.

 

Ihr Nervenarzt hatte Konstanze erklärt, dass diese Reaktionen eine Art Abwehrmechanismus waren, den die Psyche vornahm. Eigentlich wollte sie etwas zerstören, aber sie durfte es nicht. Deswegen kam es zu dieser panischen Angst. Nachdem sie im Internet etwas von „Flooding“ gelesen hatte, und dieses auch versucht hatte, kam es nur kurzzeitig zu einer Besserung. Bei dieser Reizüberflutung hatte man sie mit einem Psychologen in einem kleinen Raum gesperrt, in dem ein Kaminfeuer loderte. Der Mann hatte sie Schritt für Schritt an den Kamin herangeführt, bis sie die Hitze deutlich spürte. Doch schon eine Woche danach kehrte der böse Traum zurück.

 

Die Jahre vergingen. Konstanze beschloss, ihre Wohnung nicht mehr zu verlassen. Sie nahm einen Job an, welchen sie am heimischen Computer ausüben konnte und ließ sich ihre Lebensmittel durch einen Lieferservice kommen. Der Backofen und die Mikrowelle wurden nicht mehr benutzt, folglich aß sie nur noch Rohes, außer wenn sie sich Pizza kommen ließ. Neben dem PC legte sie etliche Decken, um einen eventuellen Brand sofort zu bekämpfen. Ebenso verfuhr sie mit dem Fernseher, dem Recorder und der Stereo-Anlage.

 

In jedem Raum deponierte sie mindestens zwei Feuerlöscher, sogar im Badezimmer. Wenn sie zu irgendeiner Festivität eingeladen wurde, sagte sie ab. Selbst bei der Hochzeit ihrer Schwester und der Beerdigung ihrer Mutter Heidi war sie nicht dabei. All das nützte aber nichts bezüglich ihrer Phobie. Die Albträume kamen nun fast jede Nacht – und wurden stetig intensiver.

 

Dennoch grämte sich Konstanze ihrer Einsamkeit. Sie meldete sich in einem Internetforum an, um Kontakte zu einem möglichen Partner zu knüpfen. Konstanze hoffte, dass dieser ihr helfen konnte, ihre Ängste zu überwinden. Dabei schilderte sie ihre Probleme offen und ehrlich. Dieses stieß zunächst auf Ablehnung. Doch dann lernte sie Ulf kennen. Er war zwei Jahre älter als sie und wohnte nur dreißig Kilometer entfernt, in kleinem Dorf im Sauerland. Ulf war anders als die Anderen und verspottete sie nicht. Bei ihm fühlte sie sich geborgen, auch wenn sie ihm noch gar nicht begegnet war.

 

Das erste Telefonat war wundervoll, er hatte eine sehr angenehme, fürsorgliche Stimme. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie sich verliebt, und das mit Anfang Dreißig. Ulf drängte bald auf ein erstes Treffen, doch da war immer noch die Angst, die heimische Wohnung zu verlassen. Darum lud sie ihn zu sich nach Hause an. Liebevoll bereitete sie das Treffen vor, putzte ihr Heim und richtete alles hübsch her. Natürlich konnte sie Ulf nicht mit Käsebrot und einer Wurstplatte abspeisen. Nein, es sollte ein feines Essen sein. Daher heuerte sie einen Catering-Service an, die ein fürstliches Menü anlieferten.

 

Jetzt war es soweit. In wenigen Minuten würde Ulf klingeln. Es würde bestimmt wunderschön werden. Konstanze lief aufgeregt herum, all die Ängste waren verdrängt, sie dachte nur noch an den Mann, den sie liebte.

 

Sie war nicht enttäuscht, als sie die Tür öffnete. Vor ihr stand ein großgewachsener Mann mit dunklen Haaren. Er sah noch viel besser aus als auf den Fotos. Ulf hatte einen riesigen Strauß roter Rosen in der rechten Hand, in der anderen eine Weinflasche. „Komm doch herein, mein Liebster!“, rief Konstanze entzückt. Er überreichte ihr die Blumen und betrat die Wohnung.

 

„Hübsch hast du es hier – und gemütlich“, sagte Ulf, nachdem sie ihn herumgeführt hatte. Mit Hinblick auf die zahlreichen herumliegenden Decken und der vielen Feuerlöscher war eine gewisse Ironie nicht zu verkennen, aber Konstanze überhörte dieses vor lauter Verliebtheit. Sie erstarrte jedoch, als sie das Etikett der Weinflasche erblickte. Es war ein Merlot. Diese Rebsorte ist nicht gerade selten, aber es war genau die gleiche Kelterei wie damals bei dem Wein, mit dem Bernhard betäubt worden war. War das Zufall? Aber: Es gibt keine Zufälle, alles im Leben ist vorbestimmt.

 

„Was hast du?“, wollte Ulf wissen. „Nichts. Ich habe mich nur gerade an etwas erinnert. Aber sei mir nicht böse, ich möchte diesen Wein jetzt nicht trinken. Wie wäre es stattdessen mit einem Champagner?“, antwortete Konstanze, leicht irritiert. Sie öffnete die Flasche mit dem edlen Getränk und goss sich und Ulf ein. Die bösen Erinnerungen waren aber wieder da. Sie zitterte. Ulf bemerkte das sehr wohl, sagte aber nichts. Stattdessen umarmte er Konstanze und küsste sie sanft auf die Wange. Er nahm sein Glas, erhob es und rief: „Auf uns. Auf unsere Zukunft. Es ist schön, dass wir uns kennen gelernt haben.“

„Das finde ich auch. Ich bin so glücklich wie nie zuvor. Aber du kennst ja meine Geschichte.“

„Ja, klar. Du hast wirklich Schlimmes erlebt. Ich kann verstehen, dass du Albträume hast.“

 

Nach dem leckeren Mahl setzten sich beide auf das Sofa. Ulf umarmte sie und begann sie zu streicheln. „Wollen wir jetzt nicht doch den Wein trinken? Er ist köstlich, glaube mir.“, sagte Ulf mit einem leicht diabolischen Grinsen. Konstanze nickte. Ulf öffnete die Flasche. Es roch eigenartig.

 

„Mit schönen Grüßen von Bernhard. Ich bin sein Neffe. Endlich habe ich dich gefunden. Der Tag der Rache ist gekommen“, rief Ulf aus und übergoss Konstanze. Es war kein Wein darin, sondern Benzin. Sekunden später nahm er ein Feuerzeug und ein Tuch aus seiner Hosentasche und zündete es an. Danach warf er es auf Konstanze. Augenblicklich fing sie Feuer und verbrannte am lebendigen Leib. Der Albtraum hatte sich erfüllt.

 

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Bildmaterialien: www.gastronomie.bayern-online.de
Tag der Veröffentlichung: 08.11.2012

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