„Mutti, warum müssen wir dann schon wieder umziehen? Ich will das nicht.“
„Aber Stefanie, das habe ich dir doch schon dutzendmal erklärt. Wir können nicht hierbleiben.“
„Es ist wegen Vati, nicht wahr? Ich habe gehört, wie du gestern telefoniert hast.“
Melanie seufzte. Ihre Tochter hatte ja Recht, auch wenn sie mit ihren fünf Jahren noch wenig begriff. Aber wie soll man einem kleinen Kind so etwas verständlich machen? Sie begriff es ja selbst nicht ganz. Schon gar nicht, dass dieses verdammte Familiengericht ihrem Mann das Sorgerecht für Steffi zugesprochen hatte. Und das nur deswegen, weil sie ein Alkoholproblem hatte. Dabei hatte sie das im Griff! Seit zwei Jahren hatte sie keinen Tropfen mehr getrunken. Sogar auf Tiramisu verzichtete sie, dabei hatte sie früher das Zeug kiloweise verdrückt. Aber es musste sein. Nachdem Bernd angekündigt hatte, dass er sich scheiden lassen wollte, hatte Melanie auf Raten ihres Anwaltes mit dem Trinken aufgehört. Genutzt hatte das nichts. Dieser gewiefte Advokat der Gegenseite hatte den Richter überzeugt und Bernd hatte gewonnen. "Liebe mich dann am meisten, wenn ich es am wenigsten verdient habe. Denn dann brauche ich es am nötigsten“, hatte Melanie nach der Gerichtsverhandlung zu ihrer Tochter gesagt. Das hatte Stefanie natürlich nicht verstanden, aber Melanie war es wichtig, das gesagt zu haben.
Rasch packte Melanie die Koffer von ihrer Tochter und ihre eigenen. Seit vier Monaten war sie auf der Flucht – ständig in der Angst wegen Kindesentführung verhaftet zu werden. Nie blieb sie länger als eine Woche in einer Stadt. Von Göttingen nach Kassel, von Kassel nach Frankfurt, von Frankfurt nach Heidelberg, von Heidelberg nach Stuttgart – quer durch die ganze Bundesrepublik. Stets meldete sie sich unter falschen Namen in kleinen, billigen Pensionen an, in denen niemand nach einem Ausweis fragte. Teure Hotels hätte sie sich ohnehin nicht leisten können. Das wenige Geld, was sie hatte, war fast ausgegeben. Sie musste sich etwas einfallen lassen.
Stefanie hustete. Der Hustensaft, den ihre Mutter ihr gab, half nicht mehr. Doch Melanie konnte keinen Arzt aufsuchen. Durch ihre gescheiterte Selbstständigkeit war sie nicht krankenversichert, ihre Tochter natürlich schon, aber über Bernd. Und dessen Versicherungskarte hatte sie nicht. Bei dem überhasteten Aufbruch im Juli, als sie das Besuchswochenende für die Entführung ausnutzte, war das nicht das Einzige, was nun fehlte.
„Mutti, Mutti, wann darf ich wieder nach Hause? Ich will zu Vati. Und zu meiner Mona!“
„Steffi – nein! Du wirst nie wieder zu diesem verdammten Scheißkerl zurückkehren. Und eine neue Puppe habe ich dir auch gekauft.“
„Aber das ist nicht Mona! Du bist gemein! Warum kann nicht alles wieder wie früher sein? Ich liebe dich, Mutti – aber ich liebe auch den Vati...“ Das kleine Mädchen fing zu weinen an.
Wut kam bei Melanie auf, schiere Wut. Sie hatte alles getan, um ihren Exmann bei ihrer Tochter schlecht zu machen, doch das klappte nicht. Immer noch hing die Kleine an ihren Vater – völlig unbegreiflich für Melanie. „Ich kämpfe für mein Kind!“ - das hatte sie im Gerichtssaal gerufen, als der Richter das Urteil verkündete. Nie würde sie den höhnischen Blick von Bernd vergessen, den er ihr daraufhin zuwarf.
Mit ihrer immer noch weinenden Tochter in der Hand lief sie hastig die Treppe der Pension herunter und hastete zur Rezeption. Der nette Herr Meyer lächelte ihr zu. „Sie reisen ab, Frau Bremer?“, wollte er wissen und fuhr fort, an Stefanie gerichtet: „Na, meine Kleine, was hast du dann? Schau mal, was ich für dich habe.“ Er zauberte einen Lolli hervor, er war groß und rosa. Augenblicklich verstummte das Schluchzen. Stefanie strahlte, aber wandte sich an ihre Mutter: „Mutti, darf ich?“.
„Ja, meine Süße. Ich habe dir zwar erklärt, dass du von Fremden nichts annehmen darfst, aber den darfst du nehmen“.
„Das macht dann 120 Euro, Frau Bremer. Zahlen Sie bar?“
„Ich muss gleich noch einmal zum Geldautomaten. Steffi, setz dich doch schon mal ins Auto. Die Mutti ist gleich wieder da.“
Stefanie nickte. Sie hatte verstanden. Das machte die Mutti immer so. Auf ihren Einwand, dass man doch nicht stehlen und nicht lügen dürfe, hatte ihre Mutti ihr erklärt, dass das keine Lüge sei, denn sie musste ja wirklich Geld abheben. Und gestohlen hätte sie ja auch nichts. Steffi hatte das nicht verstanden, aber sich nicht getraut nachzufragen.
Melanie fuhr mit ihren alten Golf davon. Es hatte geklappt, wieder einmal. Aber sie musste vorsichtig sein. Mittlerweile wurde sie nicht nur wegen Kindesentführung gesucht, sondern auch wegen Betruges. Doch noch hatte sie immer eine Unterkunft gefunden. Diesmal wollte sie nach Würzburg fahren. Dort gab es ein nettes Hostel, dass Douglas Adams gewidmet war. Alles war auf dem Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“ ausgerichtet, die Zimmer hatten keine Nummern, sondern Namen wie „Mäuse“ oder „Marvin“. Ihre Freundin Beate hatte es empfohlen. Sie war die Einzige aus ihrer Vergangenheit, mit der sie noch Kontakt hatte. Beate warnte sie auch immer, wenn mal wieder eine Fahndung nach Melanie herauskam. Dann war es Zeit, den Ort zu wechseln und sich umzustylen.
„Mutti, Mutti, ich muss mal.“
„Meine Süße, noch ein wenig Geduld. Gleich kommt eine Raststätte.“
„Ich muss aber jeeeeeetzttt.“ Zum Glück kam nach wenigen Kilometern tatsächlich der Rasthof. Sie parkte ihr Auto und brachte ihre Tochter zur Toilette. Jetzt musste sie erst einmal eine rauchen, das erforderte der Stress. Stefanie jedoch ging jedoch unbemerkt zum Telefon, das sie gesehen hatte. Ihre Omi hatte ihr das ganz genau beigebracht. Man musste die „110“ wählen, wenn man in Not war. Das konnte sie schon. Man brauchte noch nicht einmal Geld dafür.
Epilog:
Die Polizei kam umgehend und konnte Melanie unmittelbar festnehmen. Sie wurde vom Amtsgericht Walsrode zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren auf Bewährung verurteilt. Außerdem erhielt sie ein Annäherungsverbot zu ihrer Tochter. Stefanie kam zu ihrem Vater zurück – und zu ihrer Mona.
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Tag der Veröffentlichung: 17.10.2012
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