Mittwoch, der 14. Februar 2018
Yvonne hatte es eilig an jenem Abend. Ganz entgegen ihrer Gewohnheit nahm sie auf dem Weg von ihrer Arbeit in der kleinen, schmuddeligen Bar nach Hause die Abkürzung durch den Stuttgarter Stadtpark. Ihre Wohnung lag genau auf der anderen Seite des Parks. Die Nacht war sternenklar und fast mondlos. Nur eine winzige Sichel des Erdtrabanten war sichtbar. Es war lausig kalt. Kein Mensch war hier außer Yvonne unterwegs, es war mucksmäuschenstill. Wenige Sekunden drang ein gellender Schrei durch die Stille.
Donnerstag, der 15. Februar 2018
„Wer hat die Leiche gefunden?“, brummelte Kommissar Gottlieb Brauer. Er hatte schlechte Laune, wie immer wenn er an einem Tatort gerufen wurde. Das galt umso mehr, wenn die Opfer noch sehr jung oder entsetzlich zugerichtet waren. Hier traf beides zu. Sein Assistent Norbert Huber räusperte sich und erklärte: „Das war der Gärtner, der dort drüben auf der Parkbank sitzt. Er ist aber kaum vernehmungsfähig. Verständlich.“ Der Anblick war wirklich grauenvoll. Die Augen des Mädchens waren ausgestochen, der Oberkörper entkleidet und der Bauch aufgerissen. Fast sämtliche Organe waren herausgerissen und fein säuberlich rings um den Körper der jungen Frau verteilt. „Ich hätte heute Morgen nicht frühstücken sollen. Mir wird schlecht. Wissen wir schon, wer sie ist?“, wollte Brauer wissen. „Laut Ausweis ist es eine Yvonne Markwort, 19 Jahre alt. Sie wohnt dort drüben in der Konrad-Adenauer-Straße 28. Aber – so wie die Leiche zugerichtet ist, ich bin mir danach nicht sicher, ob sie es ist. Das müssen die Angehörigen klären.“, erklärte Huber.
Freitag, der 16. Februar 2018
Sämtliche Stuttgarter Lokalzeitungen hatten an diesem Tage den gleichen Aufmacher, den entsetzlichen Mord an der jungen Frau. Es war tatsächlich Yvonne Markwort, das stand nun zweifelsfrei fest. Der Mörder hatte nicht nur grausam, sondern auch sehr gründlich gearbeitet, an der Leiche fand sich keinerlei fremde DNA. Es gab auch keine Anzeichen einer Vergewaltigung, wie die Obduktion ergeben hatte. Brauer hatte die wenig erfreuliche Aufgabe in wenigen Minuten die Pressekonferenz zu leiten. Für seinen Geschmack war das viel zu früh, aber die Presse verlangte danach. Auch das Fernsehen hatte sich angekündigt. Gerade als er sich zu dem Konferenzraum aufmachen wollte, klingelte das Telefon.
„Kriminalpolizei Stuttgart, Mordkommission, Brauer“
„Ja, hier Rösler von der Karlsruher Kriminalpolizei. Ich habe von Ihrem Mordfall gelesen, dem im Stadtpark.“
„Und, Herr Kollege? Ich habe es relativ eilig, gleich geht die Pressekonferenz los.“
„Das weiß ich, darum rufe ich an. Wir hatten vor vielen Jahren einen ähnlichen Fall. Ich habe mich sofort daran erinnert, weil es so schrecklich war. Zum Glück erlebt man das nicht täglich.“
„Das kann man wohl sagen. Faxen Sie mir das mal herüber. Die Herrschaften von der Presse müssen eben warten.“
Das Fax brachte wirklich Erstaunliches zu Tage. Die Fälle waren nicht nur ähnlich, sondern geradezu identisch. Am 14. Februar 1999 wurde in der Nacht ebenfalls eine junge, hübsche Frau in einem Park in Karlsruhe, in der Nähe des Schlosses umgebracht. Auch bei ihr waren die Augen ausgestochen, der Oberkörper entkleidet und die Organe ausgeweidet. Man musste kein Profiler sein, um zu sehen, dass es sich höchstwahrscheinlich um den gleichen Täter handeln muss. Ungewöhnlich war jedoch der lange Zeitraum zwischen den Taten.
Montag, der 19. Februar 2018
Unterdessen war der Fall bundesweit bekannt geworden. Zahlreiche Hinweise aus der Bevölkerung gingen ein, doch das brachte alles nichts. Yvonne Markwort hatte nur einen einzigen lebenden Verwandten, einen Halbbruder in Hannover, mit dem sie aber keinen Kontakt hatte. Ein Freundeskreis war so gut wie nicht vorhanden, auch zu den Kolleginnen hatte sie keine näheren Beziehungen. Ohnehin war es eher unwahrscheinlich, dass der Täter oder die Täterin aus dem Umkreis des Opfers kam.
Montag, der 19. März 2018
Brauer war geschockt. Gerade hatte er einen Anruf eines pensionierten Kollegen aus Passau erhalten. Er war mehrere Wochen verreist und hatte erst jetzt von den Taten erfahren. Der Mann erinnerte sich an einem Mord im Jahre 1961. Auch dieser geschah an einem 14. Februar und ähnelte den beiden Fällen wie ein Ei dem anderen. „Das ist doch völlig unmöglich! Der Täter muss nicht nur wahnsinnig sondern auch sehr alt sein“, stellte Brauer fest. „1961 – 1999 - 2018… da fehlt noch 1980 in der Reihe. Schicken Sie sofort eine Eilanfrage heraus mit einem bundesweiten Abgleich, soweit das noch möglich ist. Nicht alle Polizeibehörden haben die früheren Fälle digital erfasst.“
„Ja, besonders im Osten ergeben sich da Lücken“, pflichtete Huber bei.
Freitag, der 23. März 2018
Keine verwertbaren Hinweise, kein Hinweis auf eine weitere Tat im Jahre 1980. Das Präsidium entschloss sich daher zu einer Fernsehfahndung.
Mittwoch, der 16. Mai 2018
Nach der Ausstrahlung des Falles stand das Telefon des Senders nicht mehr still. Neben zahllosen nutzlosen Hinweisen ergab sich etwas, mit dem keiner gerechnet hatte. Der Moderator räusperte sich und erklärte: „Meine Damen und Herren, im Falle der ermordeten jungen Frauen aus Stuttgart, Karlsruhe und Passau ergibt sich eine völlig neue Spur. Zahlreiche Astrologen haben uns auf etwas hingewiesen, dass die Polizei etwas übersehen hat. Es war ja bislang schon bekannt, dass alle Morde an einem Valentinstag und in einer mondlosen Nacht geschahen. Nun, die Anrufer haben darauf hingewiesen, dass diese drei Jahre, also 1961, 1999 und 2018 alles Jahre waren, in denen der Februar keinen Vollmond hatte. Das ist ein seltenes Himmelsphänomen, das in etwa alle neunzehn Jahre auftritt. Aber ausgerechnet in 1980 war das nicht so. Und aus diesem Jahr ist bislang noch kein Mord bekannt.“
Donnerstag, der 17. Mai 2018
Die SOKO „Vollmond“ wurde gebildet unter Einbeziehung der Polizeibehörden in Passau und Karlsruhe. Die Boulevardpresse hatte die Fälle unterdessen schon wieder auf die hinteren Seiten verbannt, offenbar weil die Abstände zwischen den Taten zu groß waren.
Dienstag, der 23. März 2021
Die SOKO „Vollmond“ wurde aufgelöst und die Fälle als ungelöst abgelegt, sehr zum Bedauern von Kommissar Brauer.
Samstag, der 14. Februar 2037
Nicole hatte es eilig an jenem Abend. Ganz entgegen ihrer Gewohnheit nahm sie auf dem Weg von ihrer Arbeit nach Hause die Abkürzung durch den Münchener Stadtpark. Die Nacht war sternenklar und fast mondlos. Nur eine winzige Sichel des Erdtrabanten war sichtbar. Es war lausig kalt. Kein Mensch war hier außer Nicole unterwegs, es war mucksmäuschenstill. Wenige Sekunden drang ein gellender Schrei durch die Stille. Ein neues Opfer war gefunden – in einem Monat ohne Vollmond. Der Gärtner hatte erneut zugeschlagen, auch wenn er das nur in jener Zeit tat. Er musste es tun – damit er ewig leben konnte.
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Tag der Veröffentlichung: 06.10.2012
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