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Briefe von drüben

 

Es war ein lausig kalter Wintertag im Februar 1989, als Andreas auf dem Nachhauseweg spontan Lust auf ein Feierabendbier bekam. Hier in der hannoverschen Oststadt gab es einen Ableger des Rotlichtviertels. Zwischen diesen verruchten Etablissements fand sich auch die eine oder andere heruntergekommene Kneipe.

 

In der „Gilde-Klause“ in der Kronenstraße war nichts los, als Andreas die Gaststätte betrat. Ein einziger Gast im Rentenalter saß an der Theke. Hinter dem Tresen stand eine Blondine, die die besten Tage ihres Lebens auch schon lange hinter sich hatte. „Ein kleines Pils“, orderte Andreas und setzte sich neben den Rentner. „Kalt geworden“, brummelte Andreas und prostete seinem Nachbarn zu. „Ja“, antwortete dieser, offensichtlich nicht zu weiteren Gesprächen bereit. Da auch die Bedienung wenig einladend wirkte, griff Andreas ein Heftchen aus dem Stapel, der am Tresen lag und blätterte aus Langeweile darin. In der „Magascene“ stehen immer nette Kleinanzeigen, denen oft bissige Kommentare des „Sätzas“ folgten. Dieses sollte ihn aufheitern.

 

Unter „Kontakte“ las Andreas folgendes Inserat: „Nette Mutti aus der DDR möchte mit Euch in den Federkrieg treten. Chiffre unter HBX 56789“. Das war doch einmal etwas ganz anderes als die üblichen Bekanntschaftsanzeigen! Er steckte das Heft ein, trank rasch aus und zahlte.

 

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Zu Hause angekommen griff Andreas sofort zu Stift und Papier und schrieb folgende Zeilen:

 

Hannover, 13.02.1989

 

„Liebe Ostmutti,

 

mit großem Interesse habe ich Dein Inserat in der Magascene gelesen. Sehr gerne würde ich mit Dir in den Federkrieg treten. Mein Name ist Andreas, ich bin 27 Jahre alt und seit einigen Monaten Single. Kinder habe ich nicht, aber ich mag sie. Da Du Dich „Mutti“ nennst, gehe ich mal davon aus, dass Du welche hast. Das ist schön.

 

Das Foto ist relativ aktuell, es wurde letztes Jahr im September aufgenommen, bei einem Konzert von Marius Müller-Westernhagen. Ich höre seine Musik sehr gerne, mag aber auch Bands aus der Ostzone, vor allem Karat, Silly und City. Du wirst es nicht unbedingt wissen, aber „Am Fenster“ war auch bei uns ein Riesenhit. So etwas machen unsere Bands nicht – leider. Was hörst Du so? Es wäre toll, wenn wir Musikkassetten austauschen könnten. Oder ist das gar nicht erlaubt?

 

Ich arbeite übrigens beim Finanzamt, es ist aber nur ein kleiner Job in der Registratur. Natürlich würde ich mich auch dafür interessieren, was Du so machst. Wie ist das Leben in der DDR? Zwar habe ich Verwandte dort, aber wir haben kaum Kontakt. Nur meine Großtante aus Halberstadt besucht gelegentlich meine Eltern. Sie schickt auch zu Weihnachten immer einen Baumkuchen, den esse ich gerne.

 

Es wäre wirklich sehr schön, wenn Du mir antworten würdest, auch wenn Du bestimmt ganz, ganz viele Briefe bekommst.

 

Liebe Grüße

 

Andreas“

 

 

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Quasnitz, 20.02.1989

 

„Hallo, lieber Andreas,

Das glaube ich ja gar nicht! Das kann doch nicht wahr sein!
Ich habe Post aus Hannover, von einem Mann, der Kinder gerne hat. Von Dir?
Ich freue mich ja so.
Ja, hier liegt er doch blau auf weiß, Dein Brief.
Frage mich lieber nicht, wie der zu mir gekommen ist. Du würdest es ja doch nicht glauben.
Das ist ja fast so, als hätte ich Post von einem fernen Planeten.

Immer wieder rieche ich an dem Brief. Das Papier duftet so gut, ganz anders als hier.
An meinem Brief solltest du lieber nicht dran riechen, der „duftet“ bestimmt nach Klopapier, wie alles hier, von der Zeitung bis zum Buch.

Zuerst einmal habe ich mit der Lupe ganz genau untersucht, ob den Brief nicht schon jemand vor mir geöffnet hat. Ich habe keine Anzeichen gefunden, Gott sei Dank.
Er wurde ja von Hand zu Hand zu mir gebracht, von der Rentnerin, die ihn bei der Redaktion der „Magascene“ abgeholt hat, über deren Enkel bis hierher zu mir.

Ja, zwei Kinder habe ich. Es sind Zwillinge, Ute und Alexander, aber es sind keine Eineiigen. Sie sind ganz verschieden, die beiden. Aber ich habe sie ganz gleich lieb.


Herbert, der mein Mann war, ist leider verstorben. Ich möchte nicht so gerne darüber schreiben, weil es da gleich Riesenprobleme geben könnte.
Er war auch Mechanisator, genau wie ich, aber er war auch mein Chef.
Nebenbei war er auch noch Drummer in einer Band. Die sind sogar mit Manfred Krug zusammen aufgetreten und haben als Voraus-Band von „Karat“ gespielt.
Er ist verunglückt, damals im Mai 1977, als so viele Künstler von hier weg in den Westen gingen, wegen der Biermann-Ausbürgerung. So richtig kann ich das Ganze aber immer noch nicht verstehen.

Es soll auch jetzt kein Thema sein. Vielleicht später. Frage mich nicht danach, denn es könnte sogar Dir, auf jeden Fall aber mir, Ärger machen, wenn jemand einen unsere Briefe in die Finger kriegte.

Ich wohne in Quasnitz, einem kleinen Dorf nordwestlich von Leipzig. Das liegt an der Landstraße zwischen Leipzig-Nord und Halle.
Hier gibt es fast nur Landwirtschaft, Wiesen und Wälder. Es ist sehr schön hier, wenn auch manchmal das Leben schwer ist.

Besonders schwer haben es die Kinder. Sie können so viele Sachen nicht verstehen und ich muss ihnen beibringen, dass sie lügen und heucheln und alles mitmachen müssen, um nicht anzuecken, um sich nicht später die Laufbahn und das Studium zu verderben.

Die Musik, die du gerne hörst, wird bei uns viel im Radio und im Fernsehen gespielt.
Ich höre sie auch gern, obwohl man eben auch hin und wieder einmal etwas Anderes hören möchte. Ich habe zwei LPs von den Beatles und eine von Jimmy Hendrix. Auch eine von Santana. Die kriegte man hier nur unter dem Ladentisch.

Jetzt fällt mir erst einmal nichts mehr ein.
Ich gebe den Brief wieder mit Frau Wendlandt mit, die steckt ihn dann in Kassel in den Briefkasten. Wenn du es schaffst, dann gib deine Antwort bis 27.02.1989 in der Redaktion ab. Dann wird er dort abgeholt.

Ich freue mich schon auf deine Antwort!

Ach ich bin ja vielleicht ein Dummerle!

Ich heiße Petra.
Wie konnte ich das nur vergessen!
Meine Adresse steht hinten auf dem Blatt.

Liebe Grüße

 

Petra

 

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Hannover, 02.03.1989

 

„Liebe Petra,

 

Dein lieber Brief hat mich vor ein paar Tagen erreicht. Ich bin begeistert. Das ist das, was ich erhofft hatte. Du bist wirklich eine ganz liebe und siehst noch dazu sehr gut aus. Ich stehe nämlich wirklich nicht auf Hungerhaken, sondern mag es, wenn Frauen etwas mehr auf den Rippen haben. Noch dazu bist du blond, das mag ich auch.

 

So ganz klein sind Deine Kinder ja wohl nicht mehr, wenn ich richtig rechne. Mittlerweile dürften sie über den Tod ihres Vaters hinweg gekommen sein, so schlimm das auch gewesen sein mag. Über die Ausbürgerung von Biermann weiß ich fast gar nichts, es ist ja schon lange her. Ich werde aber meinen Cousin Markus dazu befragen – der kennt sich da gut aus.

 

Ein Wahnsinn, dass Du aus der Nähe von Leipzig kommst – das ist ja Hannovers Partnerstadt. Ich habe in der Zeitung gelesen, dass sich beide Städte sehr ähneln. Viel Grünfläche, in etwa gleich groß und eine ähnliche Bebauung. Hattest Du von dem komischen Vorfall in der Zeitung gelesen, als unser Oberbürgermeister bei Euch den Vertrag zur Städtepartnerschaft unterschrieben hat? Er ist mit seinem Dienst-Mercedes angereist, und damit kurz vor Leipzig liegengeblieben. Danach musste die ganze Delegation in DDR-Autos umsteigen.

 

Du kommst ja vom Land. Ist es Dir da nicht zu einsam? Ab und zu möchte man doch etwas unternehmen. In diesem Zusammenhang habe ich eine Frage: Was ist ein Mechanistor? Das Wort kenne ich nicht.

 

Manfred Krug kenne ich natürlich – ein toller Schauspieler. Aber ich wusste gar nicht, dass der auch Musik macht. Ich glaube, ich weiß überhaupt zu wenig über die DDR. Das soll sich ändern! Meine Geschichtslehrerin hat übrigens mal gesagt, dass es irgendwann eine Wiedervereinigung geben wird. Wir Schüler haben alle gelacht – damals. Ich glaube ehrlich gesagt immer noch nicht daran. Aber in der UdSSR tut sich ja etwas, wie ich hörte. Gorbatschow hat vor ein paar Monaten auf der UNO-Konferenz einseitige Abrüstungen angekündigt, das ist sensationell.

 

Noch etwas zur DDR-Musik: Als ich bei der Bundeswehr war, habe ich auf der Fahrt zur Kaserne immer „DT64“ gehört. Sonntags lief bei uns in der Nacht immer nur Jazz – das ist nicht mein Fall. Als ich einmal ein paar Tage später meinen Hauptfeldwebel zum Bahnhof fuhr, stellte ich gedankenlos das Radio ein. Es ertönte „Schwanenkönig“ von Karat, das war peinlich! Der Spieß hat aber nichts gesagt und mich nicht verraten. Du siehst, auch bei uns kann man Ärger bekommen.

 

Du musst Dir übrigens keine Sorgen machen. Auch Dein Brief war nicht geöffnet.

 

Auf Deine Antwort freue ich mich schon jetzt.

 

Liebe Grüße

 

Andreas

 

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Quasnitz, 09.03.1989

 

„Hallo lieber Andreas,

das klappt ja ganz wunderbar, mit den Briefen. Dank auch der Oma Wendtland.
Das finde ich ganz lieb von Dir, dass es dir nichts ausmacht, wenn ich ein wenig mehr „Holz vor der Hütte“ habe. Ich musste schon schmunzeln, als ich das gelesen habe.

Ja, bei uns auf dem Lande muss man schon ordentlich frühstücken, wenn man einen Arbeitstag durchhalten will. Das kann manchmal bis tief in die Nacht hinein gehen, wenn Erntezeit ist und schlechtes Wetter droht.

Da fällt mir gleich ein, dass Du wissen wolltest, was ein Mechanisator ist.
Also, wie soll ich das erklären?
Früher nannte man das noch Traktorist, oder Traktoristin. Aber nur Trecker fahren kann bei uns auf dem Dorf inzwischen ja fast jeder Schuljunge.
Mechanisator ist jemand, wenn er oder sie viele Lehrgänge gemacht hat, um alle diese neuen Ernte- und Landmaschinen zu bedienen, die es heute gibt. Dazu gehört nicht einfach nur das Fahren. Da muss man schon Präzisionsarbeit leisten, zum Beispiel, wenn man eine Weizen- oder Mais- Aussaatmaschine zu bedienen hat, oder einen Mähdrescher mit allem drum und dran. Am liebsten fahre ich den Radschlepper RS09. Der ist schon leicht und wendig und man kann an ihn fast jedes Spezialgerät anschließen. Das ist dann eine Universalmaschine.
Außerdem muss ich auch noch Gabelstapler, Feldbagger und Überkopflader bedienen und einsetzen.
Ich glaube, das Wort kommt aus dem Russischen. Dort nennen sie es so. Bei uns steht doch überall: „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!“
Jetzt ist es wohl doch etwas anders geworden, seit Gorbatschow. Da werden plötzlich sowjetische Perestroika-Filme und auch sowjetische Zeitschriften verboten, wie zum Beispiel der „Sputnik“. Darin konnte man immer die Reden lesen, was der Gorbatschow zur Glasnost gesagt hat.
Das wollen sie hier bei der SED-Partei aber gar nicht lesen und lesen lassen. Nun ist alles weg.

Es ist auch so der Eine und der Andere schon durchgedreht.
Gestern kam mein Alexander ganz verstört nach Hause und sagte, dass der Parteisekretär an der Schule ihn den „Sohn eines Verräters der Arbeiterklasse“ genannt hatte.
Ich habe ja so einen Riesenschreck gekriegt, dass mir ganz schlecht wurde.
Aber dann kam gleich hinterher der Schulleiter angefahren und sagte mir, dass der Parteisekretär von seinen eigenen Genossen abgeholt wurde und in den Bergbau nach Ostsachsen versetzt worden wäre. Zu den Kumpels im Tagebau.
Der Schuldirektor vom Alexander ist ein ganz patenter und vernünftiger Mann.

Inzwischen gibt es hier viele, die so denken, wie Gorbatschow und endlich wollen, dass es mit der Schwindelei aufhört.

Vorige Woche wollte ich mir für mein Fahrrad zwei neue Speichen kaufen. Nichts zu haben.
Aber sie haben gesagt, dass sie einen Hand-Rasenmäher zufällig da hätten, ob ich einen haben will.
Soll ich etwa mit dem Rasenmäher zur Arbeit fahren?
Verrückt ist das hier, das kann ich Dir sagen!

Sei ganz lieb gegrüßt.
Ich warte schon sehnsüchtig auf Deinen nächsten Brief.

Deine Petra“

 

 

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Hannover, 15.03.1989

 

„Liebe Petra,

 

ich bin völlig hin und weg. Von Deinem Brief! Von Dir! Nicht nur, dass Du Dir so einen lieben Brief geschrieben hast, nein, ich konnte gegenüber meinem Cousin endlich einmal auftrumpfen, weil er etwas nicht wusste, was ich jetzt weiß. Ich meine die Sache mit dem Mechanistor! Das kennt hier niemand im Westen. Markus meinte, dass in fünfzig Jahren in beiden deutschen Staaten sich sprachlich so auseinanderentwickelt hat, dass man sich gar nicht mehr versteht. Das halte ich für übertrieben!

 

Übrigens hat mir Markus auch Platten von Manfred Krug vorgespielt. Kein Wunder, dass ich das nicht kannte – der macht ja Jazz! Markus ist ein echter Jazzer und arbeitet hier in Hannover in einem Club, in dem nur solche Sachen gespielt werden. Hannover ist übrigens Jazz-Hochburg. Am Himmelfahrtstag treten vor dem neuen Rathaus immer bekannte Bands auf und spielen so etwas. Ich war allerdings noch nie da.

 

Aber ein Stück von Herrn Krug hat mir gut gefallen. Dabei ging es um eine Katze, die abgehauen ist. Allerdings fällt mir der Titel gerade nicht ein. Kennst Du das Stück vielleicht? Ich liebe übrigens Katzen und habe auch zwei. Sie heißen Minka und Mausi und sind Geschwister. Beide haben die gleiche Fellzeichnung, nur jeweils spiegelverkehrt. Magst Du auch Tiere? Na, ja, in Eurer LPG gibt es bestimmt welche. Oder ist das getrennt voneinander? Als Treckerfahrerin hast ja wohl eher mit Pflanzen zu tun.

 

Das mit Deinem Sohn ist echt der Hammer. Nahezu unvorstellbar. Ich bewundere den Mut des Schuldirektors, man braucht mehr solche Leute. Wie gut, dass ich in einem Land lebe, in dem man frei seine Meinung äußern darf. Es wäre schön, wenn das überall so wäre. Frau Schubert, meine Geschichtslehrerin, die ich schon einmal erwähnte, hat mal gesagt, dass der Kommunismus an sich eine hervorragende Sache ist, aber leider nicht funktioniert. Das sehe ich auch so, auch wenn ich in der SPD bin. Wir reden uns untereinander übrigens auch mit Genossen an.

 

Eigentlich wollte ich gar nicht so viel Politisches schreiben, es hat sich aber so ergeben. Doch niemand weiß, was die Zukunft bringt! Das ist vielleicht auch gut so.

 

Können wir das übrigens bald so machen, dass ich Dich direkt anschreibe? In der Redaktion der Magascene hat man mir gesagt, dass sie nicht ständig Briefe weiterleiten können. Ich weiß nicht warum, das haben sie mir nicht erklärt!

 

Ganz liebe Grüße aus Hannover in Erwartung eines weiteren lieben Briefes.

 

Dein Andreas“

 

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Quasnitz, 23.03.1989

Lieber Andreas,

Danke für Deinen Brief!

Du willst mich direkt anschreiben?
Ich weiß nicht, was ich machen soll, und jetzt erst recht nicht mehr.

Ich glaube, ich muss Dir doch endlich einmal alles erklären und erzählen, was ich weiß, damit es bei Dir wenigstens gut aufgehoben ist, und damit wenigstens Einer weiß, was los war, wenn ich es niemand mehr sagen kann, oder es mir niemand mehr glaubt.

Aus der Zeit, wo mein Herbert noch Leiter der  Landmaschinentechnik war, haben wir ein Telefon. Die Nummer schreibe ich dir absichtlich nicht, damit Du nicht auch noch in diese Mühle gerätst. Sie haben ihre Leute nämlich überall, auch bei Euch.

Mit dem Telefon rufe ich nur noch meine Schwester Karin und meine Mutter an. Immer, wenn ich eine Nummer gewählt habe oder wenn ich abhebe, dann klickt es so komisch und man hört ein ganz leises Summen im Hörer. Hier bei uns weiß jeder, was das bedeutet.
Der Apparat wird abgehört.

Du musst Dir das mal vorstellen:
Vor einem Jahr hatte das Werk in Blankenburg/Thüringen, wo unsere Kassettenrecorder hergestellt werden, einen stolzen Bericht in die Zeitung gesetzt, dass sie dort den Plan mit 120% übererfüllt haben und insgesamt schon 3 Millionen Radio- und Kassettenrecorder ausgeliefert hätten.

Ein Leser hat dann nachgefragt und wollte wissen, warum es denn dann keine zu kaufen gäbe, wo die DDR doch nur 17 Millionen Einwohner habe, aber zufällig ungefähr 3 Millionen Telefonanschlüsse.
Da wussten bei uns alle gleich Bescheid, wo die alle hingegangen sind:
In die Abhörzentralen der Stasi.

So ganz mutig ist der Schulleiter vom Alex ja auch wieder nicht. Ich glaube eher, er wusste Bescheid, dass die Geschichte mit Herbert nicht an die Öffentlichkeit gelangen soll. Er war bestimmt darüber informiert und hat den Genossen gesteckt, dass der Parteisekretär sich verplappert hat.

Gestern waren sie bei mir und haben wissen wollen, wem ich davon was erzählt habe.
Sie haben gesagt, dass in der Braunkohle, in der Lausitz ganz im Osten, noch gute Bagger- und Gerätefahrer gesucht werden, also auch so was, wie Mechanisatoren.
Und gesagt haben sie auch, dass sie hier in der Gegend um Leipzig keinen Ärger haben wollen. Wenn jemand Ärger machen will, dann habe er oder sie dort in der Lausitz viel Platz dazu.
Ich habe das mal in einem Film gesehen, so einen Tagebau. Nur Matsch und Schlamm und Bagger. Kein Baum, kein Strauch, nicht einmal Vögel. Und noch mehr Kohlenqualm und Ruß von den großen Braunkohlekraftwerken, als hier in Leipzig.

Die werden jetzt ziemlich nervös, die Genossen. Immer mehr Leute stellen Ausreiseanträge.
Die Rentner, die in den Westen fahren können, bringen die Teile von Satellitenempfängern mit und hier gibt es inzwischen einige Bastler, die daraus Empfangsanlagen bauen können. In manchen Siedlungen gibt es schon Hausgemeinschaften, die über Kabel mit den Anlagen verbunden sind. Man erfährt plötzlich so vieles, was früher ganz geheim war und viele Leute haben auch kleine Kameras, womit sie alles knipsen, was sie anstinkt. Zum Beispiel den Dreck überall in den Flüssen und auf den Wiesen und Bäumen.

Wenn Herbert noch lebte, dann hätte er sich so was ganz bestimmt auch angeschafft.
Sie werden sehr nervös, die Genossen.

So.
Nun habe ich lange genug um den Brei herum geredet.
Was ich Dir jetzt schreibe, das musst Du gut bewahren und aufheben, für den Fall, dass Du plötzlich nichts mehr von mir hörst.
Dann bringe es zu so einem Sender, der es über den Satelliten auch zu allen bei uns hier bringen kann:

 

Ich werde es nie vergessen. Den Anruf mitten in der Nacht.
Herbert ging ans Telefon und sagte mir dann, dass er ganz dringend in die Maschinenhalle kommen solle, sein Freund und Kollege Rudolf habe gerade angerufen und gesagt, dass er versehentlich Benzin statt Diesel in die Mähdrescher abgefüllt habe, die am nächsten Tag zum Erntekampf in die Magdeburger Börde fahren sollten. Rudolf sei so schlecht zu verstehen gewesen, deshalb müsse er sofort nachsehen, was los ist.
Herbert hat so was von geflucht und geschimpft!
Das war das Letzte, was ich von ihm gehört habe.
Am frühen Morgen kam sein Kollege Rudolf mit seinem Trabbi vorgefahren, hupte vor der Tür, wie die Feuerwehr und sagte mir, dass Herbert bewusstlos in der Maschinenhalle gefunden worden wäre, vom Nachtwächter.

Ich habe ihm gleich gesagt, dass der Herbert doch auf seinen Anruf hin gekommen war, aber Rudolf wusste davon nichts. Er hatte angeblich nicht angerufen.
Gegen 10.00 Uhr kam dann die Kripo und teilte mir mit, dass mein Mann an einer Kohlenmonoxidvergiftung gestorben sei, weil er bei geschlossenen Türen und abgeschaltetem Luftfilter einen Motor habe laufen lassen.
Das geht aber gar nicht. Ich selber habe doch zigmal erlebt, wie er jeden gleich gewaltig zusammengestaucht hat, wenn er nur einmal in der Halle Vollgas gegeben hatte, ohne dass die Filter an waren. Und Rudolf hatte nicht angerufen. Wer dann?

Ich habe den Nachtwächter gefragt. Der sagte mir, dass seine Schicht gerade begonnen habe und dass er noch zwei Leute mit einem grauen „Dacia“ habe wegfahren sehen. Bei uns im Dorf fuhr keiner einen Dacia.
Noch zwei andere Leute haben den Dacia gesehen, aber sie waren sich angeblich nicht sicher und die Nummer haben sie sich auch nicht gemerkt. Aber es soll eine Greizer Nummer gewesen sein.
In Greiz hatte sich 1977 der Pfarrer Brüsewitz zwischen zwei Protestplakaten gegen die Kirchenpolitik der SED lebendig vor seiner Kirche verbrannt.
Herbert war damals zufällig in Greiz gewesen und hatte dem Pfarrer Hilfe leisten wollen. Er wurde aber zusammen mit anderen abgedrängt und wurde danach verhört.
Als er wieder kam, war er sehr still gewesen und hat nur leise geflucht.
Er hatte vorher schon einmal mit der Stasi zu tun gehabt, wegen eines Rocksongs, den seine Band gegen die Biermann-Ausweisung gemacht hatte, und diesen an dem Tage, wo Manfred Krug in den Westen ging, aufgeführt hatte.

Wenn Du das hier gelesen hast, dann wird Dir der gleiche Gedanke kommen, wie mir.
Das denke ich mal.
Jetzt haben sie Angst, dass die ganze Geschichte ans Licht kommt, und dass sich weitere Zeugen melden. Oder dass ich darüber rede.

Ich gebe Dir jetzt die Nummer von dem Postfach in Leipzig, das noch von Herbert stammt und nicht aufgelöst wurde. Bisher ist es immer leer gewesen. Leipzig-Hauptpost, PSF 1200466.
Rudolf holt dort unsere Dienstpost jeden Tag ab. Er wird es für mich leeren. Er weiß auch Bescheid, denn er war der beste Freund von Herbert.
Schreibe bitte als Absender den Namen irgendeiner Landmaschinen-Firma mit darauf.

Jetzt bin ich erst einmal total fertig und meine Hände zittern.
Ich kann nicht mehr schreiben.
Ganz liebe Grüße

Deine Petra.

 

 

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Hannover, 29.03.1989

 

 

„Liebe Petra,

 

ich bin immer noch geschockt. Die Geschichte mit Deinem Mann ist ja filmreif. Oh, Mann, oh, Mann. Dazu will ich aber nichts weiter hinterfragen, Du hast ja schon sehr viel dazu geschrieben, und da das so heikel ist, wollen wir es vorerst dabei belassen.

 

Ich hoffe, dass Dich dieser Brief erreicht. Deine Idee mit der Landmaschinen-Fabrik war großartig. Wie es der Zufall will, war mein verstorbener Onkel Kurt, der Vater von Markus, viele Jahre bei HANOMAG tätig, die ja auch früher Landmaschinen produziert haben. Er hat dort seinerzeit jede Menge Briefpapier und – -umschläge mitgehen lassen, als er – wie viele – entlassen wurde. Der Firma geht es übrigens sehr schlecht, sie steht kurz vor der Pleite.

 

Aber Markus sagte mir, dass „drüben“ noch viele alte HANOMAG-Traktoren eingesetzt werden. Und es gibt auch noch Ersatzteile, die in Eurer LPG ja auch gebraucht werden. Denn enthält dieser Brief eben einige Rechnungen dafür. Wir können also vorerst diese Tarnung benutzen, solange die Firma nicht pleite macht. Man munkelt, Japaner wollten sie übernehmen.

 

Etwas anderes: Du hast geschrieben, dass Ihr zunehmend West-Fernsehen guckt. Dann hast Du vielleicht mitbekommen, dass sich etwas in Ungarn tut. Kàroly Grósz, der dortige Parteivorsitzende (heißt das so?) hat eine beeindruckende Rede gehalten. Das war noch viel mehr, als Gorbatschow fordert. Ich bin von den Socken. Niemals hätte ich das erwartet. Ich glaube, wir stehen vor einer großen Wende in der Geschichte.

 

Ab und zu sehe ich auch Ost-Fernsehen, auch Karl-Eduard. Du weißt, wen ich meine. Wusstest Du eigentlich, dass er hier in Hannover eine Zweitwohnung hat? Ganz in meiner Nähe übrigens. Begegnet bin ich ihn aber noch nie. Seine Recherchen führt er also auch „vor Ort“ durch. Als Kind habe ich auch immer gerne Euer Sandmännchen geguckt, fast nie unseres. Eures ist viel besser und kindgerechter. Pitti-Platsch, Schnatterinchen, Herr Fuchs und Frau Elster – das ist einfach herrlich. Ich liebe auch die tschechischen Märchenfilme, auch als Erwachsener hat man da seine Freude.

 

Apropos Freude: Wenn ich Dir und Deinen Kindern mit einem Paket eine Freude machen kann, musst Du es sagen. Bislang hast Du ja noch nichts davon geschrieben, was ich Dir hoch anrechne. Aber ich weiß, dass bei Euch zwar niemand hungern muss, es aber bestimmte Dinge entweder gar nicht oder nicht immer gibt, wie zum Beispiel Deine Speichen. Hast Du die eigentlich inzwischen bekommen?

 

Ganz liebe Grüße aus Hannover

 

Dein Andreas“

 

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Quasnitz, 08.04.1989

 

„Lieber Andreas,

Es tut mir leid, wenn ich dich mit dem Brief so tief in meine Probleme hineingezogen habe.

Ich habe lange überlegt, wie ich Dich dafür entschädigen könnte. Dann fiel mir ein, dass mich vor zwei Jahren einmal einer aus unserem Zeichenzirkel gebeten hatte, ihm Modell zu stehen. Er ist zwar auch nur ein Laie, aber ich finde, das Bild ist gut gelungen. Vielleicht musst du es nur ein wenig anfeuchten und dann bügeln, damit es wieder glatt wird.

Bist du jetzt wieder beruhigt?
Es ist ein bisschen geschmeichelt, stimmt's?

Ach ja, und wegen der Katzen.
Du liebst Katzen und hast selbst welche?
Gleich zwei.
Das ist schön, wenn du mit ihnen Freude hast.

Ich habe auch einen schwarzen Kater, der Max heißt.
Er hat immer so gerne neben meinen Schuhen geschlafen und war sauer, wenn ich sie ihm morgens wegnehmen musste.

Er hat dann immer richtig böse geknurrt.
Ein Kollege hat mir gesagt, dass ich ihm das abgewöhnen könnte, wenn ich einfach einmal mit den Schuhen durch den Schweinestall unserer LPG gehe.

Das habe ich dann gemacht.
Was passierte?
Jetzt pinkelt mir mein Max immer in die Schuhe, wenn ich nicht aufpasse.
Die kann ich jetzt wirklich nur noch in den Schweinestall anziehen.

So.
Jetzt bin ich wieder ganz ruhig und gehe schlafen.
Sei lieb gegrüßt von


Deiner Petra“

 

 

 

 

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Hannover, 15.04.1989

 

 

„Liebe Petra,

 

das Bild ist wirklich wunderschön, vielen Dank dafür. Ob der Zeichner Dir geschmeichelt, kann ich leider noch nicht so richtig beurteilen, auch wenn das Foto von Dir auch schon einiges zu erkennen lässt. Aber was nicht ist, kann ja noch werden…

 

Toll, dass Du auch einen Kater hast. Du musst mir mal ein Foto von Max schicken! Die Samtpfötchen können schon manchmal ganz schön Stress machen, das stimmt. Da könnte ich auch einiges erzählen. Ich kann zwar nicht zeichnen, aber dichten. Über meine verstorbene Katze Mona habe ich vor langer Zeit ein Gedicht geschrieben:

 

Ich, Mona, kann es kaum erwarten,

ich will endlich in den Garten!

Die Treppe, die ist zwar sehr steil,

doch ich stürz raus in Windeseil.

Da fang ich mir ganz schnell ne Maus

und schleppe sie zurück ins Haus,

leg sie dem Herrchen vor die Füße,

wobei ich ihn nur kurz begrüße.

Dann ich muss wieder schnell heraus,

da wartet schon die nächste Maus.

Und wenn ich abends müde bin,

krault Herrchen mir ganz lieb das Kinn.

 

Damals habe ich noch bei meinen Eltern in Isernhagen gewohnt, dort ist es auch richtig dörflich, wohl ähnlich wie in Quasnitz.

 

Neulich haben sie im Fernsehen einen Festakt der NATO übertragen, die Gründung war ja vor vierzig Jahren. Manfred Wörner hat in seiner Ansprache erklärt, dass er die Politik der UdSSR unter Gorbatschow für friedlich halte. Die „Aktuelle Kamera“ dürfte wohl kaum davon berichtet haben.

 

Du hast in einem Deiner Briefe die Braunkohlewerke erwähnt und den Qualm, den sie verursachen. Ist das wirklich so schlimm? Mein Kollege Manfred war erst vor zwei Jahren bei Verwandten in Magdeburg. Er ist Asthmatiker und hatte da große Probleme, der Arme. Manfred hat mir erklärt, dass bei Euch auch viele Kinder darunter leiden. Hoffentlich haben Ute und Alexander damit keine Probleme!

 

Ich höre gerade die LP „Casablanca“ von City. Das sind wirklich tolle Texte. Ganz besonders gefällt mir „z.B. Susann“, die Hymne über Berlin. Da ich ja selbst dichte, gefallen mir die Reime sehr gut. „Wir haben was von langen Haaren und viel von echten Jeans gewusst, da ging die erste große Liebe vom Frühling bis in den August.“ Auch wenn diese in Berlin war, und nicht in Prag.

 

 

Ganz liebe Grüße aus Hannover

Dein Andreas“

 

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Quasnitz, 22.04.1989

„Lieber Andreas,

Ja, was sich in der Politik gerade so tut, das ist schon interessant. Seit Gorbatschow bewegt sich da ja täglich irgendwo etwas. Hier bei uns sind die Meinungen allerdings geteilt.

Wie ich hörte und gelesen habe, hat Gorbatschow in der UdSSR den Wodka verboten.
Einige meiner Kollegen, die schon einmal in einer Kolchose in der Ukraine waren, denken, dass es da bald eine neue Revolution geben wird und dass die den Gorbatschow wieder stürzen werden.

Als sie dort waren, haben da nämlich die Männer nur den ganzen Tag lang gesoffen und lagen blau in den Ecken herum, während die Frauen die ganze Arbeit alleine gemacht haben.
Wenn die aus ihrem Rausch aufwachen, dann geht es dem Gorbi an den Kragen, sagen sie.

Die Frauen
Da bin ich schon an dem Thema, wo ich hin wollte.
Das war auch der Grund, warum ich Dir gerade DAS Bild geschickt habe.
Hat es Dich geschockt?

Meine Kinder lernen hier im Staatsbürgerkunde-Unterricht, dass die Frauen bei euch fast keine Rechte haben. Sie können nicht einmal von sich aus ein ungewolltes Kind abtreiben lassen, wenn sie vergewaltigt worden sind. Das versteht hier Keine.
Meine Ute sagt, dass sie da gar nicht hin will, wenn das so ist.

In der Schule lernen sie, dass bei Euch alle in der Kirche sein müssen, dass die Frau Eigentum des Mannes ist und sich alles von ihm gefallen lassen muss, auch wenn sie es gar nicht will.
Angeblich glauben bei Euch alle, dass der Körper der Frau von Gott und vom Teufel gleichzeitig gemacht wurde und dem Mann geschenkt worden sei, um ihm zu dienen. Da müsstest du Ute  mal hören!
Da würden Dir die Ohren schlackern.

Und sie sagt auch, dass Frauen bei Euch nur wirklich frei sein können, wenn sie als Prostituierte auf den Strich gehen. Aber dann auch wieder nicht richtig.
Wir Frauen im Osten glauben meistens nicht an den Lieben Gott und unser Körper gehört uns allein.
Wir wissen schon, dass die Schönheit vergänglich ist und dass man deshalb seine Jungen Jahre nutzen muss.
Meine jungen Jahre gehen schon so langsam vorbei. In zehn Jahren, wenn ich über 40 bin, kann es mit dem Kinderkriegen schon Schluss sein.
Deshalb muss ich Dich schon fragen, wie Du dazu stehst, auch wenn Du noch so schön und lieb über Deine Katzen schreibst und schöne Gedichte machen kannst.

Ich frage Dich einfach mal ganz direkt:
Was würde mich erwarten, wenn ich mich entschließen würde, zu Dir zu kommen?
(Es tun sich nämlich immer mehr Möglichkeiten dazu auf)
Oder willst Du es lieber beim Schreiben belassen?
Lasse Dir ruhig Zeit mit der Antwort, aber bitte nicht zu lange.

Deine Petra“

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Hannover, 30.04.1989


„Liebe Petra,

vor gut einem halben Jahr habe ich eine Folge von „Polizeiruf 110“ gesehen. Da lief ein wunderschönes Lied, nämlich: „Als ich fortging“. Du kennst es bestimmt. Auch wenn sich der Text nicht unbedingt auf die jetzige Situation bezogen hatte, als er geschrieben wurde, ist er doch nunmehr ein Symbol – oder? Jedenfalls wurde der Song erst vorgestern im NDR gespielt, als dort eine Dokumentation zur Lage im Osten gezeigt wurde.

Die Situation der Frauen bei uns ist keineswegs so, wie es Euch beigebracht worden ist. Sie haben hier die gleichen Rechte wie die Männer. Das steht schon im Grundgesetz. Allerdings haben sie seltener Führungspositionen inne, das ist aber bei Euch auch nicht anders. Oder kannst Du Dir eine Staatsratsvorsitzende vorstellen? Selbstverständlich sind hier auch Abtreibungen erlaubt, jedoch zeitlich begrenzt, und auch nur unter bestimmten Bedingungen, zum Beispiel bei einer Vergewaltigung oder wenn das Leben der Frau durch die Geburt des Kindes gefährdet wäre. Das regelt bei uns der Paragraph 218.

Zur Religion: Ich selbst bin schon mit achtzehn aus der Kirche ausgetreten, wie viele andere auch. Niemand wird dazu gezwungen, dort Mitglied zu sein. Auch das regelt unsere Verfassung. Atheist bin ich aber nicht. Für mich gilt: Niemand kann mir beweisen, dass es Gott gibt, aber es kann auch keiner beweisen, dass es ihn nicht gibt. Markus sagt, so etwas nennt man Agnostiker.

Ich bin wirklich geschockt, welchen Blödsinn, man Euch beibringt. Andererseits gibt es auch hier Leute, die Unsinn über die DDR erzählen. Ich habe ja schon gesagt, dass ich nicht viel über Euer Land weiß, aber immerhin soviel, dass dort keiner hungern muss. Das habe ich ja schon geschrieben. Großtante Sophie hat bei ihren Besuchen einiges erzählt. Sie hat früher in einem Imbiss im Hauptbahnhof gearbeitet, und sagte, dass bei Euch mindestens so viele Dicke wie bei uns leben. „Niemand braucht Bananen wirklich!“, sagte sie. Da stimme ich zu, die mag ich nämlich gar nicht.

Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn Du mit Deinen Kindern zu mir kämst, auch wenn es sicherlich nicht leicht wäre für Dich, alles hinter Dich zu lassen. Aber: „Nichts ist unendlich, so sieh das doch ein“.

Außerdem würde ich auch gerne Vater werden – erst recht bei einer solchen Frau, wie Du es bist. Meine Wohnung ist zwar sehr klein, aber ich erwähnte ja schon, dass meine Eltern in Isernhagen auf dem Dorfe wohnen. Dort haben sie ein großes Haus mit viel Platz. Damit wäre auch das Problem gelöst.

Bestimmt freust Du Dich, wenn Du das liest. Sehr gespannt erwarte ich Deinen nächsten Brief.

Viele, viele Grüße

Dein Andreas“

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Quasnitz, 06.05.1989

„Lieber Andreas,


über Deinen Brief habe ich mich sehr gefreut. Besonders darüber habe ich mich gefreut, dass Du Dich auch für die Rechte von den Frauen interessierst und da Bescheid weißt.  Das ist gut, und ich werde es auch meiner kleinen Ute sagen, dass Du so einer bist, und kein alter Pascha.
Vor ein paar Tagen war „Kampftag der Arbeiterklasse“, der 1. Mai. Wir mussten auch mit unseren Fahrzeugen zur Mai-Demonstration nach Leipzig-Nord. Das ist eine große Neubausiedlung mit Plattenbauten, da gibt es eine lange breite Straße.
Als wir ankamen, hat uns die Polizei in eine Nebenstraße gelotst und unsere Maschinen und Hänger wurden gründlich und vollständig von Leuten in Zivil durchsucht.
Das hatte es ja bisher noch nie gegeben! Als wir fragten, was sie da suchten, haben sie uns erst einmal beiseitegeschoben und gar nichts gesagt.
Dann hat Rudolf, der jetzt unser Chef ist, gefragt, ob sie vielleicht Waffen, Bomben oder Sprengstoff bei uns, in unseren Treckern und Wagen vermuten, und für was sie uns denn eigentlich halten.
Einer von denen hat den Rudolf beiseite genommen und ihm vertraulich mitgeteilt, dass sie in den Wagen nach staatsfeindlichen Transparenten und Plakaten suchen, und dass sie das jetzt überall machen müssten. 
Rudolf hat es uns hinterher erzählt und wir haben gelacht, wie beim Erntefest. So ein Gaudi aber auch!
Da kannst Du einmal sehen: Transparente und Pappschilder mit Sprüchen darauf können gefährlicher sein, als Waffen, Bomben und Sprengstoff. Eine verrückte Zeit.
Und noch eine Überraschung:
Mein Sohn Alexander hat jetzt auch den Führerschein und gleich dazu einen neuen Trabbi.
Das war sein großes Geheimnis. Den Trabbi hatte sein Vater für ihn schon bei seiner Geburt bestellt und jetzt konnte er ihn endlich nagelneu aus dem Fahrzeughaus in Leipzig abholen.
Ute hat auch eine Anmeldung gehabt, aber die hat sie für 3000 Mark an eine Familie mit Kindern verkauft, die dringend ein Auto brauchten.
Davon haben mir die Rangen vorher gar nichts gesagt. Geheimnisse eben, na ja.
So Andreas, das war für heute erst einmal alles. Ich muss nämlich weg zur Betriebsfeier. Da gibt es für den 1. Mai immer Prämien für gute Arbeit.
Ich möchte Dich so gerne zur Landwirtschaftsmesse AGRA in Leipzig-Markleeberg einladen, und dafür brauche ich was Flüssiges an Geld.
Dein Finanzamt wird hier bei uns auf der Messe wohl nichts anbieten wollen, aber vielleicht kannst Du ja so kommen. Ich würde mich sehr freuen und lade dich hiermit ein, damit Du noch zwei Wochen Zeit hast, Dir ein Einreisevisum zu besorgen.
Das ist jetzt auch eine Überraschung, stimmt's?
Ich freue mich ja schon so!

Deine Petra"


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Hannover, 12.05.1989

„Liebe Petra,

das ist wirklich eine Überraschung, vielen Dank für die Einladung. Ich werde mich umgehend um das Einreisevisum kümmern! Ich freue mich auch schon riesig, Dich und Deine Kinder kennenzulernen.

Tolle Nachrichten aus Ungarn: die beginnen doch tatsächlich damit, die Grenzanlagen zu Österreich abzubauen. In Passau werden schon Notaufnahmelager für die zu erwartenden Flüchtlinge aus der DDR errichtet. Hier in Hannover vorerst noch nicht, hat mir Michael, der Bruder von Markus gesagt. Er arbeitet hier im Sozialamt im Bereich Kriegsopferfürsorge und ist für Spätaussiedler und Bürger aus der DDR zuständig, die hier einreisen und vom Zentrallager in Friedland unserer Stadt zugewiesen werden. Aber auch er hat nun viel mehr zu tun als früher. Michael sagt, dass viele von Euch mit übertriebenen Erwartungshaltungen zu uns kommen. Natürlich gibt es nicht für jeden sofort Arbeit und eine schöne Wohnung. Hab aber keine Angst, zumindest das zweite Problem wäre bei Euch gelöst, wenn Ihr zu mir kämt. Außerdem kennt mein Vater in Isernhagen einen Landwirt, der möglicherweise eine Hilfe sucht. Versprechen kann ich aber noch nichts!

Deine Kinder sind wohl gerade volljährig geworden, wie ich Deinen letzten Brief entnahm. In welche Klasse gehen sie? Ich weiß nämlich nicht, inwieweit hier die DDR-Schulausbildung für ein mögliches Abitur anerkannt werden. Da kann ich mich aber schlau machen.

Ach, Petra, Du hast Recht, wir leben in einer verrückten Zeit und ich glaube, es wird noch verrückter. Allmählich halte ich es für möglich, dass Frau Schubert doch Recht bekommen wird. Sollte es tatsächlich soweit kommen, werde ich ihr einen Brief schreiben. Sie war ja sehr nett.

„Sudel-Ede“ hat in seiner letzten Sendung wieder mächtig getobt, er kann es einfach nicht lassen. Ich hoffe wirklich, ihn hier mal beim Einkaufen zu treffen. Was er dann wohl im Einkaufswagen hätte? Zu köstlich, wenn er Bananen, Ananas oder Sprengel-Schokolade kaufen würde.

Könntest Du mir eine Wegbeschreibung nach Quasnitz schicken? Ich versuche zwar hier Landkarten für die DDR aufzutreiben, aber das wird bestimmt schwieriger, als welche für Frankreich, Holland oder die Schweiz zu bekommen. Wie Du zu Beginn schriebst: Wir leben wohl doch auf verschiedenen Planeten – noch!

Im Moment höre ich eine Musikkassette mit Stücken von Stern Meißen, Lift und Electra. Die hat mir Markus zusammengestellt. Er meinte, ich sollte auch mal etwas hören, als Silly, City und Karat. Bislang gefällt mir das sehr gut, ganz besonders „Der Kampf um den Südpol“. Auch wenn man den Ausgang der Geschichte zwischen Amundsen und Scott kennt, ist das sehr spannend.

Ich schicke Dir tausend Küsse!

Dein Andreas, den Du schon bald sehen wirst.“

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Quasnitz, 17.05.1989


„Lieber Andreas,


Du hast ja gar keine Ahnung, was ich in den letzten zwei Tagen alles mitgemacht habe!
Diese Rennereien!
Wenn ich Alex und seinen Trabbi nicht gehabt hätte, dann hätte ich es gar nicht geschafft,
In ganz Leipzig war kein Zimmer mehr zu kriegen, wegen der Frühjahrsmesse und weil viele Hotels nach der Messe eine Woche Ruhezeit machen.

Schließlich habe ich für die Zeit von kommendem Freitag bis Montag ein ganz romantisches kleines Zimmer in einer historischen alten Mühle gefunden.
Ein Tipp von meiner Schwester Karin. Die Mühle liegt am Rande des agra-Parks bei Leipzig-Markleeberg und ist ganz romantisch. Da gibt es sogar auch Hauskatzen. Eine Katzenmama mit sechs kleinen Kätzchen, alle schwarz-weiß gefleckt. Ganz niedlich.
Ein Bild und einen Lageplan schicke ich Dir gleich mit.

Du wirst dich bestimmt jetzt fragen, warum ich Dich nicht einfach zu mir nach Hause einlade.

Natürlich wirst Du bei mir im Haus zuerst einmal anlanden, aber dann geht es gleich raus nach Markleeberg. Warum?
Ich will doch nicht das Hausmütterchen spielen, kochen und vielleicht gar noch Wäsche waschen, wenn Du da bist. Außerdem wird auch hin und wieder mein Haus beobachtet.
Da steht manchmal für einige Stunden ein Auto gegenüber, das keiner hier kennt.

Ich bin ganz aufgeregt und ich weiß nicht, was ich anziehen soll. Eher was Junges Flottes, oder lieber was Elegantes, womit ich hier richtig auffallen würde? Es muss ja auch zu Dir passen. Wir können in den schönen Park gehen, oder auch nach Leipzig. Dort will ich dir Auerbachs Keller zeigen, und das große Fass, auf dem der Teufel geritten ist und natürlich den dicken Eichentisch, wo er die Löcher hineingebohrt und Wein daraus gezapft hat, laut Goethes „Faust“.
Und das Tollste: Ute spendiert uns zwei Karten zum Konzert der „Puhdys“ auf der großen Freilichtbühne von Leipzig Süd. Sie kennt da nämlich einen von den Bühnenarbeitern, die Freikarten kriegen.

Alexander und Ute werden sich auch nicht einig, wie sie sich einen Mann aus dem Westen vorstellen sollen, der ihre Mutti besucht.

Ute schwärmt für gut und elegant angezogene Männer. Alexander verzieht dann immer sein Gesicht. Er mosert herum, dass er nicht scharf auf Angeber in Schlips und Kragen sei und dass es ihm lieber wäre, du kämst gleich im Blaumann und würdest ihn an Deinem Auto herumschrauben lassen und natürlich gleich selber mitmachen.

Apropos Auto:
Beleidige bloß nicht seinen Trabanten, seinen geliebten Trabbi. An dem putzt er von früh bis spät herum, sogar innen, im Motorraum.
Er würde ja zu gerne einmal einen BMW oder Mercedes fahren, aber das wird er Dich nicht zu fragen trauen.

Wegen der Wegbeschreibung:
Alexander holt Dich mit mir zusammen vom Leipziger Hauptbahnhof ab.
Also egal, ob Du mit dem Zug oder mit dem Auto kommst, wir werden uns finden, auf dem großen Parkplatz vor dem Hauptportal. Wenn Du aber ein Flugzeug nimmst, dann musst Du schnell schreiben, da müssen wir eben zum Messe-Flughafen raus.

So, für jetzt erst einmal genug.
Ich bin ja schon so aufgeregt und kann es kaum erwarten.
Du auch?


Deine Petra“

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Andreas erhielt Petras Brief am Montag, den 22.05.1989. Er entschied sich, noch am gleichen Tag, ein Telegramm an Petra zu schicken mit folgendem Inhalt: „Ankomme am Freitag, den 26.05.1989 um 17.06 Uhr am Hbf. Gruß A.“

Außerdem schickte er folgenden Eilbrief ab:

Hannover, 22.05.1989

„Liebe Petra,

es ist ja so knapp! Ich hoffe sehr, meine Nachricht hat Dich noch rechtzeitig erreicht. Ich habe mich dafür entschieden, mit dem Zug zu kommen. Natürlich habe ich ein Auto, aber da Du nicht möchtest, dass ich es vor Deiner Wohnung parke und ich es auch nicht ein paar Tage am Leipziger Hauptbahnhof abzustellen möchte, blieb nur diese Alternative. Das ist aber nicht das Schlechteste! Es gibt bei Euch ja noch viele Dampfloks, das ist für mich wie eine Reise in die Vergangenheit. Onkel Kurt hat mit seiner Familie früher in einer Wohnung mit Blick auf dem Bahnhof Linden gewohnt. Die Rangierarbeiten waren für mich als Kind wirklich spannend.

Natürlich würde ich mich niemals über einen Trabbi lustig machen, bestimmt nicht. Einen BMW oder Mercedes hätte ich ohnehin nicht zu bieten, nur einen Golf. Der ist aber ziemlich neu. Kennenlernen werdet Ihr ihn nicht, noch nicht.

Wahnsinn, das mit dem Puhdys-Konzert! Eine tolle Überraschung! Die haben auch Super-Songs, so zum Beispiel „Alt wie ein Baum“ oder „Wenn ein Mensch lebt“. Mein Lieblingsstück von ihnen ist eher unbekannt. Es ist: „Das Buch“. Ein toller Text! Es wäre ein Wahnsinn, das mal live zu erleben. Tausend Dank an Ute dafür – ich werde mich erkenntlich zeigen, ganz bestimmt.

Kleidungsmäßig bist Du bestimmt nicht von mir enttäuscht – sei gespannt! Ein Blaumann wird es aber nicht sein, so etwas habe ich gar nicht. Alexander wird das sicherlich verstehen. Trotzdem würde mich das Innenleben eines Trabanten interessieren, ich kenne ihn nur aus „Tausend Tolle Tele-Tips“. Als Kind habe ich das gerne geguckt – das war ganz anders als unsere Werbung.

Riesig freue ich mich schon auf die Mühle und die jungen Kätzchen! Das wird eine wunderbare Romanze für uns. Du hast das ganz toll geplant.

In Liebe

Dein Andreas“

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Quasnitz, 30.5.1989


„Lieber Andreas,

jetzt bin ich aber ernsthaft sauer auf Dich!
Ich war gestern bei meiner Schwester Karin und die hat inzwischen auch Anschluss an eine Satellitenstation. Weißt Du, was ich da in der Werbung gesehen habe?
Das Gleiche, was Du mit mir gemacht hast, in unserer ersten gemeinsamen Nacht.
Weißt Du es noch, als Du so auf Französisch gesagt hast: „Oh sil wou pläh Madam, darf isch den Champagner aus Ihrem Bauchnabel schlürfen?“, oder so ähnlich?
Eigentlich war es ja der teurere Krimsekt aus dem Mühlenhotel, der so schön gekribbelt hat, aber das ist jetzt egal.
Ich hatte gedacht, es wäre Dein Einfall gewesen, aber dann habe ich fast das Gleiche in der Werbung gesehen, eine Werbung für „MM-Sekt“. Na so was! Jetzt bin ich aber enttäuscht.

Nein, das war jetzt nur ein Scherz. Ich denke gern an Dich und an das Zimmer in der Mühle zurück. Du warst wirklich sehr lieb und…
Na ja, darüber spricht man wohl nicht. Ich danke Dir. Ich war ja schon so lange alleine gewesen, dass ich schon fast Angst davor gehabt habe.
Aber alles war gut. Alles war sehr schön. Das Übrige sage ich dir lieber persönlich, als dass ich es Dir schreibe. Das kann ich gar nicht schreiben.

Ich soll dich auch ganz lieb von Ute und Andreas grüßen. Ute möchte sich noch mal für das Super französische Parfüm bedanken und Andreas für die drei Auto-Kataloge, die Du ihm mitgebracht hast. Besonders der mit den Jeeps und Geländewagen hat es ihm angetan.
Das Puhdys-Konzert hat mir auch viel Spaß gemacht, aber gar nicht so sehr wegen der Musik, die ich so laut gar nicht gewohnt war, sondern weil wir so dicht aneinandergedrängt standen. Da habe ich nämlich gleich gemerkt, dass ich Dir sehr gefalle und dass Du heiß auf mich bist.
Rate mal, woran ich das gemerkt habe.
Kleine Hilfe: enge Hose.

Überrascht hat es mich ja, dass du Dich von Alexander überreden lassen hast, an einem Montagsgebet in der Nikolaikirche in Leipzig  teilzunehmen.
Ich hatte ja gar nicht gewusst, dass Alex in der Kirche aktiv mitmacht. Er will mir wahrscheinlich nicht noch mehr Beobachter auf den Hals schicken.
Deshalb hat er Dir am Bahnhof auch gleich den blauen Klempnerkittel verpasst, über den Du und Ute so erschrocken wart. Besonders Ute. Die wollte endlich mal einen elegant angezogenen Mann sehen. Hat sie ja dann auch. Du kleidest dich sehr geschmackvoll.
Der Kittel war ja nur zur Tarnung, wenn wir bei uns zu Hause ankommen.
Überhaupt, der Alexander  kennt Tricks und denkt immer an alles.

Soll ich Dir mal erklären, warum er in der Kirche bei Dir und mir gleich die Gesangbücher auf das Lesebrett gelegt hat? Ich wusste es erst nicht. Aber jetzt ist es mir auch klar.
Wir sollten nicht verwechselt werden.
Man erkennt nämlich die Stasi-Leute, die in der Kirche mit drin sitzen, immer gleich daran, dass sie ganz verlegen und verwirrt nach dem Gesangbuch suchen, wenn alle anderen es schon in der Hand haben und singen. Die wissen meistens nicht, dass es unter dem Lesebrett angeklemmt ist.
Da weiß dann jeder in der Kirche gleich Bescheid, wo die „Genossen“ sitzen.
Lachen musste ich ja auch, als der Pfarrer in ihre Richtung guckte und sie extra als „unsere verlorenen Söhne“ begrüßte. Hast Du das auch bemerkt?

Ich könnte Dir ja noch so viel schreiben, aber ich will nicht übertreiben und warte mit Sehnsucht auf deine Antwort und dass Du mir schreibst, wie es Dir gefallen hat.

Ganz liebe grüße und drei Küsschen von  Deiner Petra“

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Hannover, 05.06.1989

„Liebe Petra,

jaaaaaaaaaaaa, es war toll bei Dir, noch viel schöner, als ich es erhofft hatte. Du hast wirklich alles perfekt organisiert von der Übernachtung in der Mühle, über die Besichtigungen der Sehenswürdigkeiten bis zu dem Essen im „Auerbachs Keller“ und – das war der absolute Highlight – das Puhdys-Konzert. Nein, das absolute Highlight warst natürlich Du!

Ich denke zurück an Deine liebevollen Streicheleinheiten, Deine zärtlichen Küsse und auch an... Wenn man bedenkt, dass uns nur der Zufall zusammengeführt hat! Aber gibt es überhaupt Zufälle? Vielleicht waren wir zwei füreinander bestimmt.

Bei mir läuft im Hintergrund „Ich liebe Dich“ von Clowns und Helden. Das Stück ist auf der MC, die ich Dir zusammengestellt habe auf Seite 1 das dritte Lied. Der Text passt wunderbar zu uns. Abgesehen davon, dass der Typ in dem Song seine Geliebte anrufen möchte. Das geht nun leider nicht. Und rauchen tu ich auch nicht. Aber ansonsten: es passt! Auch das Stück, das danach kommt, ist wie für uns gemacht: „Taxi nach Paris“ von Felix de luxe. Vielleicht ist das irgendwann auch für uns möglich. Dann lernst Du mal echten Champagner kennen.

Ich denke auch zurück an unsere gemeinsamen Erlebnisse: Vieles Unbekanntes habe ich kennengelernt, so z.B. das „Würzfleisch“, und „Kaffee komplett“ im Restaurant. Vorher wusste ich auch, dass man erst platziert werden muss – gut, dass Du mich noch zurückgehalten hat.

Auch die beiden Straßenbahnfahrten zum Zentralstadion und zum Völkerschlachtdenkmal waren spannend, auch Eure merkwürdigen Fahrkartenautomaten. Diese Technik (Münze rein, kurbeln, abreißen) musste ich erst einmal begreifen und die Erheiterung der anderen Fahrgäste hat mich nicht gestört. Dieser eine Typ, der so streng guckte, war das einer von den „verlorenen Söhnen“? Er sah jedenfalls so aus, wie die in der Kirche. Das war übrigens auch ein ganz besonderes Erlebnis, vielen Dank an Alexander dafür.

Ach ja, Du musst mir das Foto von mir in dem Blaukittel schicken, das glaubt mir sonst keiner. Es freut mich auch, dass Deine Ute mich mag, sie hat jetzt bestimmt keine Vorurteile mehr. Schön, dass ihr das Parfum gefällt.

Die Bernsteinkette, die ich Dir schenkte, habe ich mit Liebe ausgesucht und sie hat Dir ja auch sehr gefallen. Es waren wirklich vier tolle Tage bei Dir, die viel zu schnell vergangen.

Nicht so schön war das, was ich auf der Rückfahrt erlebt habe. Am Grenzübergangsbahnhof haben die VoPos den Zug fast zwei Stunden aufgehalten und alles durchsucht. Den Mann, der mit mir im Abteil saß, haben sie sogar mitgenommen, nur weil er eine spöttische Bemerkung gemacht hat. Mir ist zum Glück nichts dergleichen passiert, Du hast mich ja daran gewöhnt. Diesen typischen DDR-Geruch des Zuges werde ich aber wohl in Erinnerung behalten und damit in Verbindung bringen.

Ich habe für Dich ein kleines Gedicht geschrieben. Bestimmt gefällt es Dir.

Doch leider musste ich dann gehn,

es war mit Dir doch wunderschön.

Im Herzen wirst Du ewig sein,

denn Du bleibst für immer mein.


Übrigens: die Idee mit unserem gemeinsamen Ungarn-Urlaub ist sehr gut, ich freue mich schon darauf. Dann sehen wir uns ja schon in wenigen Wochen wieder.

In Liebe

Dein Andreas“




******

Quasnitz, 11.06.1989

„Lieber Andreas,

ich bin hin und weg. Dein Gedicht ist so etwas von wunderschön! Du bist ja ein echter Poet. Einen solchen Mann habe ich mir immer gewünscht. Herbert war zwar auch ein ganz Lieber, aber so etwas hat er nie für mich getan. Es hat mich wirklich erwischt.

Ungeduldig erwarte ich unseren gemeinsamen Urlaub in Ungarn, nur noch sechs Wochen – dann sehen wir uns wieder. Ute möchte übrigens nicht mitkommen, sie will lieber mit ein paar Freunden an der Ostsee zelten. Dort ist es auch sehr schön, aber ich glaube, sie wird etwas verpassen. Du weißt, was ich meine.

Bei uns in der LPG geht alles seinen sozialistischen Gang. Im Moment ist ziemlich ruhig. Mein Radschlepper RS09 ist vor ein paar Tagen kaputtgegangen, jetzt warten wir auf das Ersatzteil, das kann dauern. Aber warten sind wir ja gewohnt in unserem Arbeiter - und Bauernstaat. Wenn es mal etwas gibt, dann stürzen sich gleich alle drauf. Als neulich in der Kaufhalle Winterjacken angeboten wurden, waren die ruckzuck weg. Danach sind hier alle in den gleichen blau karierten Dingern herum gelaufen. Immerhin war die Qualität nicht schlecht.

Die MC von Dir ist wirklich wunderschön, die hast Du sehr liebevoll zusammengestellt. Ein Glück, dass sie Dir die nicht an der Grenze abgenommen habe. Es war clever, sie in der Kaffeedose zu verstecken. Ja, nach Paris möchte ich wirklich einmal gerne. Aber mit einem Taxi? Das wird bestimmt teuer. Ich weiß, es ist nur ein Lied, aber ein schönes.

Der Typ in der Straßenbahn könnte durchaus einer der „verlorenen Söhne“ sein, Du hast wohl Recht. Übrigens: Du hast ja einiges von Deiner Großtante aus Halberstadt erzählt. Könnte es sein, dass sie auch eine von denen ist? Wenn sie schon zweimal auf Parteikosten in Moskau war, ist das schon verdächtig. Auch dass sie Euch immer Baumkuchen, Figuren aus dem Erzgebirge und Halloren-Kugeln schickt, ist merkwürdig. Das sind nämlich Bückwaren. Du solltest ihr keinesfalls etwas von uns erzählen, versprich mir das.

Auch bei Euch im Westen gibt es „verlorene Söhne“ - sei vorsichtig mit Deinen Äußerungen. Es könnte jeder sein, vielleicht der Chef von Deinem Cousin Markus oder Dein Kollege Manfred.

Den Lippenstift, den Du mir mitgebracht hast, benutze ich täglich. Du siehst ja den Kussmund auf der Rückseite dieses Briefes.

Ach, Andreas, ich liebe Dich!

Deine Petra

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Es folgten noch einige Briefwechsel zwischen den beiden und ein zauberhafter Ungarn-Urlaub. Dann öffnete die DDR im November 1989 ihre Grenzen. Einige Monate danach kam es zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten.

Drei Jahre später heirateten Andreas und Petra.








Impressum

Bildmaterialien: Cover : www.mauergeschichten.com
Tag der Veröffentlichung: 29.09.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Gewidmet all jenen, die immer an die Wiedervereinigung Deutschlands geglaubt haben.

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