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Die Schiffbrüchigen

 

 

 

Vor Kap Hoorn haben fast alle Seeleute Respekt, mit Recht. Hunderte von Schiffen sind dort schon den immerwährenden Unwettern zum Opfer gefallen. So erging es auch der „Bristol“, die dort am Abend des 28. Oktober des Jahres 1731 unterging. Nur vier Mann konnten sich retten: Tom, der Maat, Brian, der irische Schiffskoch, James, der Schiffsjunge, der auf seiner ersten Fahrt war und Henry. Dieser zollte zwar der christlichen Seefahrt mächtigen Respekt, aber war als Priester in erster Linie ein Diener Gottes. Ihn hatte es auf diesen elenden Klipper verschlagen, weil er als Missionar die Ungläubigen in Westindien bekehren sollte.

 

Sieben Tage nach dem Untergang: Alle waren nahe am Verdursten. Die wenigen Wasservorräte waren rasch verbraucht und weit und breit war kein Land in Sicht. James hatte Salzwasser getrunken, obwohl Tom ausdrücklich davor gewarnt hatte. Dem Jungen ging es entsprechend schlecht, sehr schlecht und man befürchtete das Schlimmste. Nahrung gab es auch kaum, die wenigen Fische, die sie fingen, waren mager und winzig klein. Sie mussten sie roh verspeisen, was zum einen ziemlich eklig war und zum anderen den Durst noch mehrte.

 

Die Erwachsenen wechselten sich beim Rudern ab, James war eindeutig zu schwach dazu. Er wurde immer weniger. Henry erwog bereits, ihm die letzte Ölung zu geben, als Brian aufgeregt ausrief: „Da, schaut, dort am Horizont!“. Angestrengt blickte der Priester in die Richtung, in die der Koch wies, konnte aber kein Land erkennen. Der liebe Gott hatte ihn mit einem schwachen Augenlichte ausgestattet, während Brian und Tom Augen wie Adler hatten. Der Maat jubelte und schrie: „Das ist unsere Rettung! Möwen!“

„Meinst du, die munden besser als diese elenden Fische?“, wollte Henry wissen. Der Maat lachte und erklärte: „Man merkt, dass du kein Seemann bist, Pfaffe. Möwen kann man essen, das stimmt. Aber: wo sie sind, ist entweder ein Schiff oder – Land!“ Selbst James hatte das mitbekommen und gluckste zufrieden im Fieberwahn.

 

Tom und Brian ruderten, als sei der Teufel hinter ihnen her. Schon nach ein paar Meilen waren tatsächlich ein kleiner Berg und etliche riesige Palmen zu sehen. Je näher sie dem Land kamen, desto mehr wurde ihnen offenbar, dass sie ein wahres Paradies entdeckt hatten. Am Ziele angekommen, erblickten sie einen wunderbaren Strand mit schneeweißen, feinen Sand. Dem schloss sich eine Natur an, die unvergleichlich war, es gab Kokospalmen, Bananenstauden und etliche weitere Bäume mit unbekannten, exotischen Früchten. Alles war im Überfluss vorhanden. Die Männer jubelten und entdeckten zu ihrer Freude zahlreiche, kleine Flüsse mit kristallklarem Quellwasser. Sie trugen James heran, und flößten ihm das kühle Nass ein. Erst danach stillten sie selbst ihren Durst.

 

James gesundete erstaunlich schnell, schon einen Tag später war er wieder auf den Beinen. Unterdessen hatte Brian im Regenwald nicht nur weitere nahrhafte Früchte entdeckte, sondern auch eine Art Getreide. Er bereitete daraus ein nahrhaftes und schmackhaftes Mahl. „Das war jetzt nicht schlecht, aber ich hätte jetzt gerne mal etwas Anständiges zwischen die Zähne. Gab es da im Dschungel keine Dodos?“, wollte James wissen. Die anderen lachten. „Ach, Kleiner. Dafür sind hier zu südlich, außerdem haben unsere Vorfahren diese längst ausgerottet, und das ist der Grund, warum der Dodo-Vogel ausgestorben ist“, erklärte ihm Tom. „Nein, aber ich habe in den Bäumen ein paar Lemuren gesehen, die könnten wir fangen“, ergänzte der Schiffskoch und fuhr fort: „Ich denke daher, wir sind nicht weit von Madagaskar.“

„Meinst du wirklich, wir sind soweit gerudert, Brian? Die Strömung könnte uns in den Nächten stark nordöstlich getrieben haben. Aber das wäre eine riesige Entfernung zu Kap Hoorn. Zu ärgerlich, dass ich meinen Kompass nicht von Bord retten konnte, sonst wüssten wir es genau“, sagte der Maat und seufzte.

 

Am nächsten Morgen beschlossen die Vier, sich aufzuteilen. Der Priester und der Maat sollten eine Hütte bauen und der Smutje und der Schiffsjunge die Insel erkunden. Das fiel Henry nicht gerade leicht, er war solche Arbeiten nicht gewöhnt. Trotzdem war die Aufteilung sinnvoll, denn im Urwald hätte er noch weniger vollbracht. „Na, mein Junge, so ein Abenteuer hättest du dir bei deiner ersten Fahrt nicht ausgemalt, nicht wahr?“, wollte Brian wissen und klopfte dem Jungen auf die Schulter, als sie ein gutes Stück im Dschungel waren. Seltsame, unheimliche Rufe waren zu hören. „Sind das die Lemuren?“, wollte James wissen. Brian zückte mit den Schultern und antwortete: „Ich bin mir nicht sicher. Es klingt irgendwie anders als das, was ich gestern hörte. Aber ich kann mich auch täuschen. Aber schau: dort oben!“ In den Wipfeln der Palme saßen mehrere kleine, schwarzweiße affenartige Tiere. Sie hatten einen gedrungenen Körper und kleine Köpfe mit spitzen, unbehaarten Schnauzen. Neugierig schauten sie auf die unbekannten Besucher. „Das wird eine leichte Beute!“, frohlockte der Koch. In diesem Moment raschelte etwas im Unterholz. Ein fast menschengroßes Tier mit einem bräunlichen Pelz tauchte plötzlich wie von Geisterhand auf. Es zeigte keinerlei Furcht. „Das ist auch ein Lemure, aber der hier ist riesig. In einem Buch habe ich etwas Ähnliches gesehen, aber ich dachte, die wären ausgestorben“, flüsterte Brian. Ohne mit der Wimper zu zucken, nahm er einen großen Ast, der vor seinen Füßen lag und erschlug den Riesenlemuren – gnadenlos. Der Junge schrie auf.

 

Der kräftig gebaute Koch schulterte das Tier und trug es mühelos zur Lagerstätte. Es mochte wohl an die 70 Kilogramm gewogen haben. Unter großem Gejohle wurden sie von den Anderen empfangen, diese hatten die Hütte unterdessen fertig errichtet. „Das ist genug Fleisch für Wochen. Und es war ganz leicht, das Viehzeug zu erledigen“, sagte Brian lachend. „Hier verhungern wir bestimmt nicht, jetzt fehlt nur noch ´ne Buddel Rum“, ergänzte der Maat. „Der Herr hat ein Auge auf uns und lässt uns nicht darben“, antwortete der Priester. Ihm lief das Wasser im Munde zusammen, das Tier war bestimmt köstlich.

 

Nach einem grandiosen Mahl, dem das Absingen etlicher Seemannslieder folgte, legte sich die Schiffbrüchigen zufrieden in ihre Hütte und schliefen den Schlaf des Gerechten. Gegen Mitternacht erwachte der Smutje mit einem Magengrummeln. „Ich hätte nicht soviel von diesem Zeug fressen sollen“, stöhnte er und verließ die Behausung. Er lief zum Ufer und übergab sich dort. Doch das Grummeln hörte nicht auf. Zu seinem Entsetzen begannen sich seine Finger in Klauen zu verwandeln, zugleich wuchs ihm ein Fell, das dem des erlegten Riesenlemuren verblüffend ähnelte. Brian wollte schreien, doch es gelang ihm nicht. Nur unheimliche, tierische Laute brachte er hervor. Seine Kameraden bekamen von alldem nichts mit, ihr Schlaf war tief und fest.

 

Am Morgen war die Verwandlung abgeschlossen, ein sichtlich verwirrter Riesenlemure versuchte verzweifelt, auf sich aufmerksam zu machen. Das gelang ihm auch, der Maat erwachte. Der Anblick des Tieres erfreute diesen sehr. „Das ist ja wie im Schlaraffenland hier!“, rief er aus und lief auf den Lemuren zu, der ihn mit riesigen, angstvollen Augen ansah. Doch auch Tom zeigte sich gnadenlos und erlegte die Beute mit der bloßen Faust. Der Maat rannte zur Hütte zurück, um seine Kameraden zu wecken, und wunderte sich, dass der Smutje fehlte. Der wird wohl Frühstück besorgen, dachte er sich. Doch Brian tauchte nie wieder auf.

 

Das Schicksal wiederholte sich in den nächsten Wochen, bis nur noch der Priester übrig war. Als dieser nach dem Erwachen einen relativ kleinen, schmächtigen Riesenlemuren am Strand entdeckte, dämmerte ihm, was geschehen war. „Was haben wir nur getan, was ist das nur für eine teuflische Insel!“, rief er aus, wurde wahnsinnig, stürzte sich ins Meer und ertränkte sich.

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Tag der Veröffentlichung: 05.09.2012

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