Cover

Die ewigen Weltenspieler

 

Eigentlich wollte ich meinen 50. Geburtstag ganz groß feiern. Doch alles kam anders als geplant. Ein halbes Jahr vorher machte völlig überraschend meine Firma pleite und ich wurde arbeitslos. Kurz darauf verließ mich meine Frau wegen dieses smarten Typen, welchen sie in einer Bar kennen gelernt hatte und dann brannte zu allem Überfluss auch noch meine Wohnung aus. Folglich hatte ich keine Lust mehr auf eine große Party und sagte alles ab. Stattdessen entschloss ich mich, nach vielen, vielen Jahren meine Heimatstadt zu besuchen.

 

Rasch war ein kleines, preiswertes Hotel über das Internet gebucht und die Bahnfahrkarte gekauft. Ich freute mich auf den Ort meiner Kindheit und war gespannt auf die Veränderungen. Vierzig Jahre war ich nicht mehr in Hannover gewesen, nachdem meine Eltern mit mir nach Kaiserslautern zogen. Im Fernsehen zeigten sie zwar Dokumentationen und gelegentlich auch Spielfilme über meine frühere Heimat, aber der reale Eindruck wäre sicherlich noch ein anderer.

 

Pünktlich brachte mich mein Zug in die niedersächsische Landeshauptstadt. Als ich ausstieg, war ich angenehm angetan von der Modernität des Hauptbahnhofs. Alles war hell und freundlich und die engen Gänge waren breiten Einkaufspassagen gewichen, in denen es fast alles zu kaufen gab. Das gefiel mir.

 

Auch der Bahnhofsvorplatz hatte sich völlig verändert, nur das gute alte Ernst-August-Denkmal sah noch so aus wie früher. Da es noch früh am Morgen war und ich daher noch nicht in meinem Hotel in der Grupenstraße einchecken konnte, schloss ich meine Koffer in ein Gepäckfach ein und entschied mich dafür, den Stadtteil aufzusuchen, in dem ich aufgewachsen war. Das war leichter gesagt als getan, dann in Hannover hatte man unterdessen eine U-Bahn gebaut, ich musste mich mühsam durchfragen, um die richtige Linie heraus zu bekommen. Nachdem ich das wusste, fuhr ich am Kröpcke mit der Rolltreppe in die unterste Ebene der Station und wollte nach dem Eintreffen der Bahn beim Fahrer eine Fahrkarte kaufen. Dieser klärte mich auf, dass in den Stadtbahnen schon seit zwanzig Jahren keine Möglichkeit mehr dazu bestand. Ich musste aussteigen und mich zu einem Automaten begeben. War das alles kompliziert geworden! Bei uns in Kaiserslautern war das mit den O-Bussen viel einfacher, fand ich.

 

Nach verblüffend kurzer Fahrt traf ich in Kleefeld am Kantplatz ein, und war schon wieder verwundert. Alles war anders, kaum ein Geschäft war noch an derselben Stelle wie früher, nicht einmal die Sparkasse und die Apotheke. Ich ging die Kirchröder Straße entlang und bog in die Breithauptstraße ein. Keine Überraschung mehr, dass auch dort der gute alte Elektroladen nicht mehr da war, und auch nicht die Fahrschule an der Ecke. Nach Durchquerung der Bahnunterführung gelangte ich in die Berckhusenstraße und vermisste dort die Drogerie, den Friseur und das kleine Lebensmittelgeschäft. Ach schade, dass nichts mehr wie früher war. Doch halt, da gab es noch das Haushaltswarengeschäft in dem Haus, in dem ich mit einst wohnte. Eine Frau am Eingang winkte mir freundlich zu. Sie erkannte mich offenbar. Ich sie auch, sie war die Inhaberin des Ladens. Erfreut ging ich auf sie zu – und erstarrte. Es schien so, als ob Frau Weber kaum einen Tag älter geworden sei, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte, als wir am 16.07.1972 auszogen. Das war doch unmöglich!

 

„Ich weiß, was du sagen willst, Michael.“, sprach sie und fuhr fort: „Doch was ich dir gleich zeigen werde, wird dich schockieren.“ Ehe ich es verhindern konnte, sprang sie auf die Straße. In diesem Augenblick kam ein Bus auf sie zu – und fuhr einfach durch sie durch. Ich war wirklich geschockt. Sie kehrte zurück und sagte: „Ach, Michael. Ich habe dich immer sehr gerne gemocht, du warst ein aufgewecktes und kluges Kind. Es tut mir so leid für dich. Aber schon bald bist du bei uns, dann geht es dir besser.“ Danach löste sie sich in Luft auf, einfach so. Das war der nächste Schock für mich. In diesem Moment kam jemand aus dem Haus, den ich auch gut von damals kannte. Es war Jörg, mein Spielkamerad von früher und zugleich der Sohn von Frau Weber. Er war zwei Jahre jünger als ich, sah aber deutlich älter aus. „Mensch, Michael. Das ist ja ein Ding, Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen. Ich freue mich wirklich, dich zu sehen. Aber sag einmal, du bist ja so blass – hast du gerade einen Geist gesehen?“ Aus gutem Grunde verschwieg ich ihm die Wahrheit, es wäre nicht nur unglaubwürdig, sondern auch makaber gewesen, ihm das zu erzählen, was ich gerade erlebt hatte. Deshalb antwortete ich: „Nein, natürlich nicht. Mir ist nur etwas unwohl. Ich freue mich aber auch, dich zu treffen. Unglaublich, dass du hier immer noch wohnst. Ansonsten hat sich ja viel verändert.“

„Ja, das stimmt, aber unseren Laden gibt es immer noch, wie du siehst. Er gehört jetzt mir. Meine Mutter ist schon vor achtundzwanzig Jahren gestorben. Ich habe ihn damals übernommen, gleich nach meiner Lehre. Er läuft relativ gut, ich kann davon leben. Aber lass uns noch einen Kaffee trinken, um die Ecke ist jetzt ein Backshop. Das ist zwar nur eine Kette, aber besser als gar nichts. Der Bäcker im Dohmeyers Weg ist leider schon seit Jahrzehnten pleite.“

 

Wir hatten uns wirklich viel zu erzählen, ich berichtete von meinem Leben und vor allem von den vielen Unglücken, die mir in letzter Zeit widerfahren waren. Jörg hatte auch geheiratet, und zwar die Anette aus dem 3. Stock. Sie hatten drei Kinder, die aber alle schon volljährig und ausgezogen waren. Nach einer guten Stunde sah Jörg auf die Uhr und erklärte: „Oh, jetzt haben wir uns richtig verquatscht. Ich muss das Geschäft aufschließen. Gib mir mal deine Handy-Nummer, wir müssen unbedingt telefonieren.“

„Klar, Jörg. Wir bleiben im Kontakt. Ich werde dann noch ein bisschen durch Kleefeld bummeln. Sag mal, wo ist dann jetzt die Sparkasse? Am Kantplatz habe ich sie nicht mehr gesehen.“

„Gar nicht weit davon. Sie ist in der Scheidestraße. Da wo früher das alte Hotel war.“

„Danke. Dann mache es gut. Und grüße mir Anette.“

 

Kopfschüttelnd machte ich mich auf dem Weg zur Sparkasse, nachdem wir uns verabschiedet hatten. Dass Jörg ausgerechnet die Anette abgekriegt hatte, unglaublich. Es war wirklich ein außergewöhnlicher Tag heute. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass er noch viel aufregender werden sollte.

 

In der Sparkasse war außer mir niemand außer den Angestellten. Dort entdeckte ich zu meiner Freude am Schalter eine weitere frühere Spielkameradin von mir – die kleine Susanne. Na ja, klein war sie nicht mehr, und auch nicht mehr so schlank wie einst. Wir hatten gerade ein nettes Gespräch begonnen, als zwei maskierte Männer in das Gebäude hineinstürmten. „Das ist ein Überfall“, rief einer von ihnen und richtete eine Waffe auf Susanne, der andere Räuber bedrohte mich mit seiner Pistole. Geistesgegenwärtig riss ich ihm sie aus der Hand – und spürte einen kurzen, aber heftigen Schmerz. Der erste Mann hatte mich getroffen. Ich sackte zusammen – und starb.

 

Als ich zu mir kam, fand ich mich in einem großen, holzgetäfelten Raum wieder. Es gab kein elektrisches Licht, stattdessen brannten an den Wänden Kerzen in altertümlichen Kandelabern. Die Reihe war unterbrochen von wunderschönen, alten Bildern im Stile von van Gogh. In der Mitte des Raumes befanden sich ein großer Holztisch und mehrere dutzend Stühle. War ich in die Vergangenheit gereist? Es kam mir so vor. Plötzlich öffnete sich eine Tür und Frau Weber trat ein. „Willkommen, Michael. Tja, so schnell sieht man sich wieder. Ich kannte dein Schicksal. Nun bist du bei uns angekommen, ich hatte es ja schon angekündigt.“

„Wo bin ich? Ist das der Himmel oder die Hölle?“

„Weder noch. Wir werden dir gleich alles erklären.“

 

Die Tür öffnete sich erneut. Eine Gruppe von Leuten trat ein. Alle hatte Kleidung aus der Vergangenheit an, wenn auch aus verschiedenen Jahrhunderten. Sie setzten sich, ein Stuhl blieb jedoch frei. Ein hoch gewachsener, dünner Mann mit einem schwarzen Backenbart machte eine Handbewegung. Das war offensichtlich eine Aufforderung für mich, mich zu setzen. Ich folgte dieser und nahm Platz.

 

Der Bärtige sprach mit sonorer Stimme: „Willkommen, Michael. Du bist jetzt bei den ewigen Weltenspielern. Dir dürfte wohl klar sein, dass du nicht mehr unter den Lebenden weilst. Das gilt für jeden von uns. Wir sind alle tot, manche schon seit Jahrhunderten. Die erlauchte Vereinigung der ewigen Weltenspieler hat die Ehre und die Aufgabe, die Geschichte der Menschheit zu verändern. So entstehen ständig neue Welten. Ich bin übrigens derjenige, der das Ganze leitet.“ Ich war baff und entgegnete: „Wie kommt es, dass ausgerechnet ich ausgesucht wurde? Und wie funktionieren Eure Veränderungen?“

„Nun, Michael. Zum Einen hast du immer ein gutes Leben geführt, und nur selten etwas Böses getan und zum Anderen wurdest du uns empfohlen.“ Er wies auf Frau Weber. „Zu deiner zweiten Frage: wir reisen in die Vergangenheit und beeinflussen dort gewisse Ereignisse. Doch nicht nur zum Guten. Einige von uns sind für das Positive zuständig, die anderen stehen sozusagen auf der Gegenseite. Es ist eine Art Spiel zweier Mannschaften. Doch ab und zu gibt es auch spaßige Veränderungen. Alles andere zeigen wir dir gleich.“

 

Der Tisch öffnete sich und eine dreigeteilte runde Scheibe kam hervor. Die drei Felder waren schwarz, weiß und violett, wobei Letzteres sehr schmal war, die anderen beiden waren hingegen gleich groß. In der Mitte der Scheibe war ein Stab, an dem ein Pfeil angebracht war. Der Riese fuhr mit seiner Rede fort: „Du Michael, darfst nun ermitteln, was unsere nächste Aufgabe ist. Bleibt der Pfeil auf Weiß stehen, müssen die Guten von uns etwas Schlimmes verhindern, zum Beispiel die Weltwirtschaftskrise von 1929. Bei Schwarz hingegen, ist das böse Team gefordert. Das könnte den Mauerfall von 1989 betreffen. So, und bei Violett haben wir dann unser Vergnügen, das muss auch ab und zu sein. Spaßig wäre es in etwa, wenn wir Jesus dazu bringen würden mit seinen Jüngern Bier anstatt Wein zu trinken.“

„Das habe ich verstanden. Und wer sucht dann das Ereignis aus?“

„Auch das wird gelost. Aber bitte: alles der Reihe nach, erst einmal die Farbwahl.“

 

Die Scheibe bewegte sich wie von Geisterhand langsam auf mich zu und blieb schließlich vor mir stehen. „Dreh nun bitte den Pfeil, Michael, aber kräftig!“, forderte mich der Mann auf. Die anderen Leute fielen in eine Art melodischen Sing Sang. Es war eine unheimliche, geheimnisvolle Stimmung. Ich erhob mich und tat wie mir geheißen. Der Pfeil drehte sich mehrfach um seine Achse – minutenlang. Schließlich wurde er langsamer und blieb dann auf dem weißen Feld stehen. Die Hälfte der Leute applaudierte, während die anderen sichtlich enttäuscht waren. Der Vorsitzende stand auf, alle folgten. „Und nun ermitteln wir das, was wir zu tun haben.“, sagte er. Eine Art Diener trat ein, in seinen Händen trug er einen riesigen, schwarzen Zylinder. In diesen befanden sich gerollte Zettel, offensichtlich Lose. Der Mann stellte den Hut vor mir ab. „Michael, wir sind gespannt. Greife bitte zu“, befahl der Vorsitzende.

 

Ich langte hinein und zog einen der Zettel heraus. Alle Leute sprachen nun langsam und bedächtig folgende Worte: „Was auch immer geschehen muss, muss geschehen. Es gibt keine Zufälle, alles ist vorbestimmt. Aber wir haben die Macht, das zu ändern.“ Ich entrollte das Los. In wunderschöner, altmodischer Schrift stand dort: „Doggerbank-Zwischenfall, 21. Oktober 1904“. Das sagte mir gar nichts. Ich war enttäuscht, da hatte ich Spektakuläreres erwartet. Offenbar merkte man mir das an, und ein anderer Mann, dicklich, rothaarig und jung an Jahren, klärte mich auf: „Es war zur Zeit des Russisch-Japanischen Krieges in der Nähe von Hull in der Nordsee. Die Besatzung eines Kriegsschiffs der Russen hielt ein vorbei fahrendes schwedisches Schiff für ein japanisches Torpedoboot. Gleichzeitig befanden sich dreißig britische Fischerboote in der Nähe. Das Ganze geschah weit entfernt vom eigentlichen Konfliktgebiet, wie gesagt mitten in der Nordsee. Es kam zu einem Schusswechsel, wobei es einige Tote gab. Dadurch wäre es fast zu einem Krieg zwischen England und Russland gekommen. Als Folge dieses Konfliktes hätte durch verschiedene Allianzen auch Frankreich und Deutschland mit einbezogen werden können, und es hätte schon viel früher zum ersten Weltkrieg kommen können.“

„Sehr gut erklärt, Balduin. Aufgabe des weißen Teams wird es sein, diesen Konflikt überhaupt zu verhindern. Gelingt das nicht, haben die schwarzen Mitspieler das Bestreben, das Ganze zu verschärfen.“ Mit diesen Worten des Vorsitzenden war die Veranstaltung anscheinend beendet.

 

Die Gruppe ging wieder aus dem Raum, nur der Bärtige blieb und kam auf mich zu. „So, Michael, dein erstes Abenteuer beginnt. Du gehörst selbstverständlich zu den Guten, wie auch ich. Mein Name ist übrigens Abraham Lincoln.“

 

 

 

 

Impressum

Bildmaterialien: www.static.intenium.de
Tag der Veröffentlichung: 21.07.2012

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /