Dienstag, der 20.03.2012
Bernhard Meixner ging an diesem Tag wie immer zur Arbeit, ohne zu ahnen, was ihm bevorstand. Er hatte einen sehr guten Job bei Alltram, einem führenden Unternehmen der chemischen Industrie, war glücklich verheiratet und hatte zwei kleine Kinder.
Alles war wie gewohnt, als er sein Büro aufschloss. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und startete seinen Rechner. Viel Arbeit wartete auf ihn, die Bilanz des Vorjahres sollte erstellt werden.
Meixner hatte sich gerade einen Kaffee eingegossen, als es an seiner Bürotür klopfte. „Herein!“, rief er unvermittelt. Seine Sekretärin, Frau Petersen, trat ein. Mit betretener Miene erklärte sie: „Herr Meixner, hier sind zwei Herren von der Polizei, die Sie sprechen möchten.“ Verwundert entgegnete er: „Ja, bitte, sie können hereinkommen.“ Er hatte sich nichts vorzuwerfen, rätselte aber, worum es ging.
„Guten Morgen, Herr Meixner, mein Name ist Bader, Kripo Hannover. Das ist mein Kollege, Hauptkommissar Sievers. Wir möchten mit Ihnen über vorletzte Nacht sprechen. Sie kennen diese Frau?“ Bader holte ein Foto aus seiner Jackentasche. Es zeigte eine junge, hübsche Frau. Sie mochte vielleicht Mitte zwanzig sein. „Nein, keine Ahnung. Wer soll das sein?“
„Sie müssten sie kennen. Das ist Nadine Bergmann, sie ist die Klassenlehrerin Ihres Sohnes Tobias. Frau Bergmann wurde vorgestern tot aufgefunden“, erklärte Sievers. „Oh, das ist äußerst bedauerlich, aber was habe ich damit zu tun? Und wie gesagt: ich kenne sie nicht. Meine Frau kümmert sich um die Schulangelegenheiten meiner Kinder. Ich war noch nie auf einen Elternabend oder so etwas.“
„Wie erklären Sie sich dann dieses, Herr Meixner?“ Bader zeigte ihm weitere Fotos. Es waren Aufnahmen einer Überwachungskamera, vom Kröpcke, einem beliebten Platz in der Innenstadt von Hannover. Trotz der relativ schlechten Qualität waren darauf eindeutig zwei Personen zu erkennen, die eine war Frau Bergmann, die andere ähnelte Meixner frappierend. Gleiche Größe, gleicher Körperbau, gleiche Frisur. Selbst die Kleidung war ähnlich. Ein schwarzer Anzug mit einem hellen Hemd, dazu eine geschmackvolle Krawatte. „Das könnte tatsächlich ich sein“, stellte Meixner fest. „Aber ich bin es nicht.“
„Wo waren Sie dann vorgestern zwischen 20 und 23 Uhr? Zu Hause jedenfalls nicht. Wir haben schon Ihre Frau befragt.“
„Nun, ja, ähhh, ich...“, stotterte Meixner. Er traute sich nicht, die Wahrheit zu sagen. „Herr Meixner, Sie sind vorläufig festgenommen“, sagte Bader und holte Handschellen hervor.
Mittwoch, der 21.03.2012
Die Schlagzeilen der lokalen Presse übertrumpften sich gegenseitig. „Mörder der 25-Jährigen gefasst“, titelte der Hannoversche Kurier. „Dieser Mann tötete Nadine B.“, hieß es in der Hannoverschen Volksstimme. Und die Block-Zeitung hatte gar auf Seite eins ein großes, ungepixeltes Foto von Meixner abgedruckt mit den Worten „Dieses Schwein läuft nicht mehr frei herum – danke, Kripo.“
Meixner bekam davon zunächst nichts mit. Er saß in Untersuchungshaft, in einer Einzelzelle. Gegen zehn Uhr klopfte es. Der Vollzugsbeamte trat ein und erklärte: „Herr Meixner, da ist Besuch für Sie.“ Meixners Miene erhellte sich. Das konnte nur meine Frau sein, dachte er.
Er wurde in einen kleinen Besprechungsraum geführt. Doch nicht Sybille trat ein, sondern ein ihm unbekannter Mann. Er mochte Anfang vierzig sein, war klein und gedrungen und hatte eine Halbglatze. „Guten Morgen, Herr Meixner. Mein Name ist Graubaum, ich wurde Ihnen als Pflichtverteidiger zugeteilt. Das sieht gar nicht gut aus für Sie, soviel kann ich Ihnen sagen. Mir können Sie die Wahrheit sagen. Was geschah nun wirklich am Sonntagabend? Sollten Sie der Täter sein, rate ich Ihnen...“ Wütend haute Meixner mit der Faust auf dem Tisch. „Nein, verdammt noch einmal, ich war es nicht. Ich kann mir das auch nicht erklären, aber mit dem Tod dieser Frau habe ich nichts zu tun.“
„Dann sollten Sie das hier lesen.“ Graubaum holte einen Stapel Zeitungen hervor. Meixner wurde blass, insbesondere als der die Block-Zeitung sah. „Es ist besser, Sie sagen mir jetzt, was tatsächlich passiert ist, Herr Meixner.“
Doch er schwieg beharrlich.
Donnerstag, der 22.03.2012
Die Block-Zeitung ließ nicht locker. Heute hatte man wieder Meixners Foto auf dem Titel. Daneben stand in großen fetten Buchstaben: „Was hat dieser Kerl noch auf dem Kerbholz?“ Darunter waren fünf Fotos von jungen Frauen zu sehen. Alle ähnelten sich. Blond, jung, hübsch mit puppenhaften Gesichtern. Es waren ungeklärte Mordfälle der letzten fünf Jahre. Unverblümt brachte die Zeitung eine Verbindung zu den Verbrechen. „Ist er ein Massenmörder?“, hieß es in dem Text.
Meixner hatte in dieser Nacht kein Auge zugemacht. Er scheute sich davor, mit der Wahrheit herauszukommen. Das hätte unangenehme Folgen für ihn gehabt. Morgen würde aber endlich fest stehen, dass er nicht der Mörder war. Das Ergebnis der DNA-Analyse würde dann bekannt werden. Graubaum hatte ihm erklärt, dass man eindeutige Spuren an der Leiche der jungen Frau gefunden hatte. Das konnte nur gut für ihn ausgehen, da war er sich sicher. Wenn nur nicht diese verdammte Presse wäre. Er mochte gar nicht daran denken, was seine Frau und seine Kinder jetzt miterleben mussten. Und was dachten die Kollegen? Die Situation war wirklich unerträglich.
Freitag, der 23.03.2012
„Der Tag der Wahrheit steht bevor. Meixner muss heute auspacken“, titelte die Block-Zeitung. Man hatte seinen vollen Namen herausbekommen und schonungslos veröffentlicht.
Als der Verdächtige das sah, rief er sofort bei Hauptkommissar Sievers an. „Was soll diese Sauerei? Woher haben diese Pressefutzis meinen Namen?“
„Herr Meixner, ich habe keine Ahnung. Aber wenn sich heute Mittag tatsächlich herausstellt, dass Sie es nicht waren, werden Sie vollständig rehabilitiert.“
Um zwölf Uhr saßen Sievers und Bader an einem langen Tisch. Vor ihnen waren mehrere Stuhlreihen aufgebaut. Der Raum war gut gefüllt, auch das Fernsehen war da.
Bader ergriff das Wort: „Meine Damen und Herren, ich eröffne die Pressekonferenz im Mordfall Bergmann. Zunächst einmal möchte ich mein Bedauern darüber ausdrücken, dass der volle Name des Tatverdächtigen bekannt wurde. Es ist unerklärlich, wie das geschehen konnte. Aber nun zu dem Ergebnis der DNA-Analyse. Wir können mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass der Tatverdächtige tatsächlich der Mörder von Frau Bergmann war.“ Raunen im Saal. Ein älterer Herr mit Halbglatze aus der ersten Reihe meldete sich und stand auf. Er sagte: „Lindner von der Mitteldeutschen Presse aus Magdeburg. Gibt es da keinerlei Zweifel? Herr Meixner hat doch bislang alles abgestritten.“ Sievers grinste und sprach: „Nun, wir haben ihn ja jetzt überführt. Nein, Sie können sich sicher sein.“ In der vierten Reihe stand eine junge, rothaarige Frau auf. „Cornelia Lehmann von Tele 12. Was ist den anderen Morden? Kommt der Täter auch dafür in Betracht?“
„Das werden wir Ihnen noch mitteilen. Unser Labor wertet im Moment noch die Daten aus.“
Meixner war geschockt, als ihm das Ergebnis mitgeteilt wurde. Das durfte doch alles nicht wahr sein, dachte er. Nun gut, jetzt musste er sagen, was tatsächlich passiert war.
„Herr Meixner, ich bin offen gestanden nicht allzu überrascht. Aber jetzt müssen Sie auspacken. Wenn Sie gestehen, kommen Sie vielleicht mit Glück um die anschließende Sicherheitsverwahrung herum, aber lebenslänglich wird es auf jeden Fall“, ließ ihn Graubaum wissen und verdrehte die Augen. Der Kerl widerte ihn an. Nur allzu gerne hätte er sein Mandat niedergelegt. „Ich war es aber nicht, Herr Graubaum. In der besagten Nacht habe ich mich mit einem Mitarbeiter von Ruxor, unserem größten Konkurrenten getroffen. Ich gestehe, ich bin in Geldnot. Wir von Alltram haben ein neues Produkt entwickelt. Es ist revolutionär, Ruxor hat mir dafür viel geboten, wenn ich die Rezeptur verkaufe.“
Samstag, der 23.03.2012
Die Presse machte Meixner an diesem Tage schonungslos nieder. Niemand glaubte ihn, denn es gab ja eindeutige Beweise. Auf das angebliche Alibi wurde kaum eingegangen.
Montag, der 02.04.2012
Als an diesem Tage die Zelle von Meixner aufgeschlossen wurde, fand man ihn tot auf. Er hatte sich mit einer Scherbe seines Brillenglases die Pulsadern aufgeschnitten.
Montag, der 30.04.2012
Nachdem unterdessen feststand, dass Meixner der Täter war, und auch für die anderen Morde in Frage kam, hatten sich die Zeitungen anderen Dingen zugewandt.
Tags zuvor hatte es in den Herrenhäuser Gärten einen weiteren Leichenfund gegeben. Das Opfer war blond, jung, und hübsch und hatte ein puppenhaftes Gesicht.
Bader und Sievers waren davon sehr überrascht. Sollte Meixner doch nicht der Massenmörder gewesen sein?
Epilog
Die Mordserie riss nicht ab. Kurz vor Weihnachten 2013 endete sie jedoch abrupt. Der wahre Mörder starb bei einem Autounfall in Buchholz in der Nordheide. Er ähnelte Meixner wie ein Ei dem anderen. Kein Wunder, es war sein Zwillingsbruder. Beide hatten sich nie kennengelernt. Ihre Mutter hatte sie gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben.
Bildmaterialien: www.neuepresse.de
Tag der Veröffentlichung: 11.06.2012
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Widmung:
Gewidmet Reinhard Mey, dessen wunderbares Lied mich zu dieser Geschichte insperiert hat.