Cover

Die Fremdsocke

 

 

Als ich meine Wäsche aus der Maschine im Waschcenter nahm, bemerkte ich, dass sich dort etwas dazu gemogelt hatte, was nicht mir gehörte. Eine schwarz-gelbe selbst gestrickter Socke. Offenbar war sie vom vorherigen Benutzer vergessen worden. Mir gefiel die Socke. Außerdem war ich Fan von Borussia Dortmund und konnte damit auf der Meisterschaftsfeier würdevoll auftreten.

 

Also steckte ich die Fremdsocke ein. Zu Hause packte mich das schlechte Gewissen. Wie fühlte sich nun der Ursprungsbesitzer der Socke, dessen Gegenstück wohl noch bei ihm war? War er in Tränen ausgebrochen? Wäre er in der Lage in so wenig Tagen eine Ersatzsocke zu stricken? Vielleicht war aber auch eine junge, hübsche Frau die Herstellerin dieser Strickware.

 

In dieser Nacht konnte ich kaum einschlafen. Als das endlich um vier Uhr gelang, träumte ich prompt von schwarz-gelber Wolle. Ein Riesenberg Wolle! Ich saß daneben und strickte! Ich, der in seinem Leben noch nie Stricknadeln angefasst hatte. Doch in dem Traum konnte ich stricken. Allerdings war die Socke, die ich strickte, riesig. Man hätte die gesamte erste Mannschaft von Borussia darin hineinpacken können.

 

Schweißgebadet wachte ich auf. Ich machte sogleich ein Foto meiner Fremdsocken, überspielte es auf den Rechner und fügte es in einer Word-Datei an. Dazu schrieb ich einen kurzen Text:

 

Wer vermisst diese Socke?

 

Sie wurde von mir hier im Waschcenter gefunden. Der Besitzer soll sich bitte unter 0123 / 99989796 melden.

 

 

 

Ich hing den Zettel nicht nur im Waschsalon, sondern auch an zahlreichen Bäumen der Umgebung aus. Andere Leute suchten dort entlaufene Katzen und Hunde, bei mir war es eben diese schwarz-gelbe Stricksocke.

 

Befriedigt fuhr ich nach Hause. Das war eine gute Tat. Es konnte ja auch nicht jeder X-beliebige anrufen und behaupten, der Sockeneigentümer zu sein. Nein, da waren schon Beweise nötig, um das Eigentum rechtmäßig zu übergeben.

 

Das Telefon klingelte ununterbrochen. Seltsamerweise nahm aber keiner der Anrufer mein Anliegen ernst. Alle machten sich über mich lustig. Der elfte Anrufer war eindeutig ein Schalker. Er wollte doch glatt die Jenny, so hatte ich die Socke mittlerweile genannt, verbrennen. Das hat er zwar nicht direkt gesagt, aber angedeutet.

 

Als ich um 22.30 Uhr ins Bett gehen wollte, klingelte es erneut. Sollte sich doch noch jemand Vernünftiges melden?

 

„Ja, guten Abend. Entschuldigen Sie die späte Störung, aber es war ständig bei Ihnen besetzt. Sie haben etwas gefunden, was mir gehört.“ Die Stimme war sehr sympathisch und eindeutig weiblich.

 

Erfreut erwiderte ich: „Ja, mein Telefon hat ununterbrochen geklingelt. Aber das waren alles nur Leute, die mich veralbert haben. Das ist bei Ihnen offenbar nicht so. Sie müssen aber schon beweisen, das es Ihre Socke ist.“

 

„Kein Problem. Ich schlage vor, wir treffen uns. Dann bringe ich die Socke mit.“

 

„Und ich die andere. Haben Sie morgen Zeit?“

 

Sie hatte Zeit. Wir plauderten noch fast eine Stunde. Eine wunderbare Frau – und noch dazu BVB-Fan! Allerdings hatten wir über Fußball gar nicht gesprochen.

 

So trafen wir uns am nächsten Tag in einem Eiscafé am Hauptbahnhof. Sie hieß übrigens Kerstin.

 

Nach einer Stunde stellte ich fest: „Die Hauptsache hätte ich fast vergessen. Hier ist sie: die Socken. Wollen wir nicht mit einen Sekt darauf anstoßen?“

„Sehr gerne“, hauchte Kerstin.

 

„Auf uns – und auf die Meisterschaft von Borussia!“, rief ich aus und erhob mein Glas. „Borussia? Meisterschaft? Ich bin Fan von Alemannia Aachen“, antwortete sie.

 

Wir lachten herzhaft. So wurden wir ein Paar – und die Socken auch wieder.

Impressum

Bildmaterialien: www.scoteire.de
Tag der Veröffentlichung: 26.04.2012

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /