Mit Wehmut legte Sebastian die CD in den Player. Seit Wochen hörte er nur noch dieses eine Stück von John Leyton. Es hieß „Johnny Remember Me“. Ein alter Song aus dem Jahre 1961 – aber wunderschön.
Die Handlung war simpel – es ging um einen jungen Mann, dessen Freundin ein Jahr zuvor bei einem Autounfall gestorben war. Nun erschien sie ihm jede Nacht im Traum, und sagte eben diesen Satz: „Johnny Remember Me“.
Vor drei Monaten waren Stefanie und er auf einer Party in Burgdorf in den Katakomben einer alten Munitionsfabrik gewesen, wobei Sebastian außergewöhnlich viel Alkohol trank – entgegen seiner Gewohnheit. Er war absolut fahruntüchtig, und somit musste seine Freundin den Wagen nach Hause fahren. Sie hatte gerade erst zwei Monate zuvor den Führerschein gemacht, und war noch sehr unsicher beim Fahren, ganz besonders nachts und bei Regen.
Wie es der Teufel wollte, regnete es in dieser Nacht in Strömen. In einer langgezogenen Kurve kurz vor Schillerslage, kam sie von der Straße ab und prallte gegen einen Baum – sie war sofort tot. Sebastian erlitt als Beifahrer nur leichte Verletzungen.
Fortan verfiel er in Depressionen und war voller Selbstvorwürfe. Durch einen Zufall lernte er dieses Lied kennen, als im dritten Programm eine Dokumentation über den Komponisten Joe Meek lief. Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken. Hier wurde exakt seine Situation beschrieben. Es erging Sebastian ebenso wie demjenigen, der besungen wurde, nur dass Sebastian nicht Johnny hieß. Auch in Sebastians Träumen erschien jede Nacht seine Freundin und sagte: „Vergiss mich nicht!“. Die CD zu beschaffen war nicht einfach, aber schließlich gelang es ihm.
Als der Song an diesem Abend das zweiundvierzigste Mal gelaufen war, klingelte es an der Tür. Mit einem Grummeln öffnete Sebastian. Es waren Norbert und Florian. „Ehh, Alter, du musst mal wieder auf andere Gedanken kommen, das Leben geht weiter. Stefanie ist tot und begraben“, sagte Norbert. „Wir wollen um die Dörfer ziehen – und du kommst mit! Keine Widerrede!“ Florian ergänzte: „Das was passiert ist, ist zwar sehr schlimm, aber du kannst nicht ewig verzweifeln, Stefanie hätte das nicht gewollt.“
„Aber...“, begann Sebastian. „Kein aber!“, riefen seine beiden Freunde fast gleichzeitig.
Sie beschlossen, den Abend in der „Bierbörse“ zu beginnen, einem beliebten Treff für junge Leute in der Innenstadt von Hannover in Nähe des Hauptbahnhofes. Das Besondere an dem Lokal war, dass die Preise für die Getränke nicht konstant waren, sondern je nach Nachfrage stiegen oder fielen. An einer großen Tafel waren sie angeschlagen, grün waren die Günstigen und rot die Teuren. „Drei Herry“, orderte Florian und lächelte die junge Dame an der Theke an. „Für mich nicht. Ich nehme eine Cola“, entgegnete Sebastian und ergänzte zu seinen Freunden: „Ihr wisst warum.“
Zu dieser frühen Stunde war noch wenig los, so dass die Drinks nach kurzer Zeit serviert wurden. Die junge Frau wandte sich an Sebastian: „Du, ich finde gut, dass hier mal jemand kein Bier trinkt. Ich bin von Natur aus neugierig. Verrätst du mir, warum du das nicht magst?“ Sebastian seufzte. „Eigentlich trinke ich sehr gerne Bier, ganz besonders Herrenhäuser, aber ich hatte da ein schlimmes Erlebnis.“ Florian und Norbert sahen sich an. Das Mädchen ähnelte Stefanie frappierend. Ziemlich klein, leicht untersetzt und lange, blonde, lockige Haare.
Nun sprudelte es aus Sebastian heraus. Er erzählte die ganze Geschichte. Als er fertig war, klopfte ihm die Bedienung auf die Schulter und sagte: „Du solltest wieder auf die Beine kommen, am besten, wenn du dich engagierst. Diesen Job mache ich hier nur nebenbei, weil die Kohle nicht reicht. Ich bin eigentlich Sozialarbeiterin für obdachlose Kinder und Jugendliche. Mein Name ist Melanie. Wir suchen noch ehrenamtliche Mitarbeiter für unser Projekt. Unser Motto lautet: ´Einen Vorsprung im Leben hat, wer da anpackt, wo die anderen erst einmal reden.` Das ist ein Zitat von John F. Kennedy. Die Politiker und Journalisten beschäftigen sich zwar oft mit diesem Thema, aber wirklich helfen tut kaum einer. Wir brauchen Leute wie dich. Und du kämst aus deiner Depression heraus. Damit wäre auch dir geholfen. Das ist aber nicht einfach. Manche Jungs sind echte Querulanten und die Mädchen sind zum Teil wilde Hummeln.“
„Das hört sich gut an. Wenn du hier schon zitierst, möchte ich das auch tun. ´Man muss sich gegenseitig helfen, das ist ein Naturgesetz`. Weißt du wer das gesagt hat?“
„Keine Ahnung.“
„Das ist von La Fontaine, aber nicht von Oskar, sondern von Jean, ein französischer Schriftsteller aus dem 17. Jahrhundert.“ Melanie nickte anerkennend. „Ich glaube, dass ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft“, sagte sie lachend. „Du bist genau der Richtige für uns.“
Am folgenden Montag meldete sich Sebastian wie besprochen an den bunten Wohncontainern am Welfenplatz. Dort wurden den Straßenkindern Schlafmöglichkeiten geboten.
Dank seiner einfühlsamen Art und Melanies Unterstützung gelang es ihm, zu helfen, und einige der Kinder davon zu überzeugen, wieder auf die Beine zu kommen. Nicht bei allen gelang das, diejenigen, die zu Hause nur geschlagen wurden oder unter den Alkoholexzessen ihrer Eltern litten, waren am schwierigsten. Es war genau so, wie Melanie gesagt hatte.
Noch immer erschien Stefanie in Sebastians Träumen. Doch nunmehr lächelte sie nur noch und sagte nichts mehr. Sebastian war sich aber sicher, dass sie ihn immer noch belauschen würde.
Melanie und Sebastian wurden ein Paar und heirateten ein Jahr später. Ein weiteres Jahr später wurden Zwillinge geboren.
Bildmaterialien: www.darkmp3.ru
Tag der Veröffentlichung: 15.04.2012
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Widmung:
All jenen gewidmet, die sich für andere engagieren.