Die junge Hexe Saabira war wunderschön, gertenschlank und mittelgroß und hatte langes pechschwarzes Haar. Trotz ihres Alters von nur 125 Jahren war sie einer der mächtigsten Hexen im ganzen Reich. Sie war jedoch gutmütig und hatte noch niemals in ihrem Leben etwas Böses getan.
Nun geschah es jedoch, dass Walmoora, die alte Oberhexe, durch einen missglückten Zauber sich selbst in Stein verwandelt hatte. Bekanntlich kann keine Hexe den Zauber einer anderen aufheben. Daher musste binnen zwei Monden eine neue Oberhexe gekürt werden. Dieser ehrenwerte Titel war noch niemals zuvor an eine junge Hexe vergeben worden. Saabira machte sich deshalb trotz ihrer Macht wenig Hoffnungen, gewählt zu werden.
„Krötenaugen, Eidechsenzungen, Fliegenpilze, Fledermauskrallen und Teufelswurz – eine Zutat fehlt mir noch für meinen Zaubertrank“, murmelte Saabira und strich über ihr schwarzes Haar. Missmutig schlug sie ihr Zauberbuch auf. Auf Seite 666 fand sie das Rezept für das Gebräu. „Die Schuppe eines Drachen!“, rief sie überrascht aus. „Das wird schwierig. Fast alle Drachen im Reich sind besiegt. Wenige aber gibt es noch. Jeder weiß, dass der größte aller Drachen einen Goldschatz bewacht. Niemanden jedoch war es jedoch gelungen, diesen zu bezwingen und den Schatz zu erbeuten. Seit vielen Jahrhunderten hatten es Tausende von mutigen Männern versucht, aber keiner war je zurückgekehrt. Daher kennt auch niemand den genauen Ort, an dem dieser mächtige Drache haust. Man weiß nur, dass er in einer riesigen Höhle lebt“, erklärte Saabiras Schwester Biissara, und fuhr fort: „Saabira, wenn du den Zaubertrank, der dich älter machen soll, tatsächlich zusammenrühren willst, musst du diesen Drachen finden. Du musst ihn ja nicht töten. Vielleicht gibt er dir freiwillig eine Schuppe.“
„So etwas machen Drachen nicht“, entgegnete Saabira.
„Versuch es doch einfach.“
So machte sich Saabira auf den Weg. Sie nahm ihren Besen, setzte sich drauf und flog über den Zauberwald. Als Proviant hatte sie getrocknete Beeren und Kräutersud dabei. Als die Sonne schon fast den Horizont erreicht hatte, erblickte die junge Hexe eine Lichtung. Saabira war müde und hungrig. Daher beschloss sie, dort zu landen und zu nächtigen.
Saabira nahm einen kräftigen Schluck aus der blauen Flasche mit dem Sud und wischte sich den Mund an dem Ärmel ihres grünen Gewandes ab. Erste Regentropfen fielen herab, von Ferne war leiser Donner zu hören. Die junge Hexe war zwar mutig, hatte jedoch eine panische Angst vor Gewitter. „Das hat mir gerade noch gefehlt. Verdammt, Verdammt!“, rief sie und blickte sich verzweifelt um. Sie wusste genau, dass es viel zu gefährlich war, sich unter Bäume unterzustellen. Saabira musste nach einem Graben oder einer Kuhle suchen, um sich dort in Sicherheit zu bringen. Leider war nichts dergleichen zu finden.
Am Rande der Lichtung vor einem kleinen Wall lag ein großer Felsbrocken. Saabira beschloss, diesen zu zertrümmern und aus den Trümmern eine kleine Hütte zu bauen. Mittels ihres Zaubers dürfte das kein Problem sein.
Die Hexe hob ihren Zauberstab und murmelte: „Abrakadabra. Mäuseschwanz und Hirsebrei. Mächtiger Felsen brich entzwei.“
Wenige Augenblicke später zerbröselte der Stein in Tausende kleiner Stücken. Gerade wollte Saabira zu ihrem nächsten Zauberspruch ansetzen, als sie hinter dem Geröll ein schwarzes Loch erblickte.
„Krötendreck und Rattenzahn, das ist ja noch besser“, frohlockte sie und kletterte über die kleinen Steine in die dahinterliegende Höhle. Dort war es zwar stickig und feucht, aber sie war vor dem Unwetter sicher. Saabira fröstelte, als sie hineingegangen war. Sie wollte sich schon eine warme Decke herbeizaubern, als sie ein tiefes Grollen vernahm. Erstaunlicherweise kam es jedoch nicht von draußen, sondern aus dem Innern des Gewölbes.
„Wer wagt es, mich, Tandura, zu stören!“ Zu Saabiras Überraschung gehörte die Stimme einem winzigkleinen Drachen, der in der Ecke der Höhle lag und ärgerlich mit den Augen rollte. Er war gerade mal so groß wie sie selbst und keineswegs furchteinflößend. Seine Haut war golden und glitzerte im diffusen Licht der wenigen Fackeln.
Das kann unmöglich der mächtige Drache mit dem Goldschatz sein, dachte Saabira. „Oh, entschuldige, ich wusste nicht, dass du hier lebst. Ich wollte nur Schutz vor dem Gewitter suchen“, erklärte sie. „Nun gut, aber wie konntest du meinen Eingang zerstören? Ich habe den Felsbrocken mit Hilfe meines Freundes, dem Zauberer Laarmurr herbeigeschafft, damit ich meine Ruhe habe und keinen Schaden mehr anrichte. Auf mich lastet ein böser Fluch. Walmoora, die Oberhexe hat mich vor Jahrhunderten verzaubert. Jeder der mich berührt, verwandelt sich in pures Gold. Komm her, ich zeige dir etwas“ sagte der kleine Drache und grummelte weiter: „Wie lautet eigentlich dein Name?“
„Ich bin Saabira und ebenfalls eine Hexe, aber eine gute. Noch niemals habe ich etwas Böses getan. Walmoora ist übrigens tot, sie starb an ihren eigenen Zauber.“
„Das gönne ich ihr von Herzen. Sie war durch und durch böse und habgierig. Daher auch der Fluch. Sie wollte mit dem Gold die reichste aller Hexen werden. Es gelang mir jedoch zu fliehen und in diese Höhle zu verkriechen. Doch viele junge Männer machten sich auf dem Weg, um mich zu besiegen, nachdem sie von dem angeblichen Schatz gehört hatten. Doch eigentlich gab es ihn gar nicht, bis --- aber sieh selbst.“ Tandura hatte die Hexe in ein Nebengewölbe geführt, dort glitzerte es so sehr, dass Saabira die Augen zukneifen musste. Sie konnte kaum glauben, was sie dort sah. Tausende von goldenen Statuen waren dort aufgereiht. „Das sind all die Unglücklichen, die mich besiegen wollten. Bevor ich etwas sagen konnte, hatten sie sich auf mich gestürzt, um mich zu töten. Sie wurden dadurch selbst zu dem Schatz, den sie erbeuten wollte.“
„Das ist wirklich tragisch, Tandura.“ Fast hätte Saabira ihm auf die Schulter geklopft. In letzter Sekunde hielt sie inne. „Aber ich kann den Fluch leider nicht brechen. Keine Hexe kann den Zauber einer anderen aufheben.“
Eine Träne rollte aus dem Auge des Drachen. Traurig sagte er: „Ich hatte gehofft, dass du mich erlösen würdest. Aber vielleicht gibt es doch noch eine Lösung. Walmoora sagte mir, dass ein Trunk aus Kräutern und ein Brei aus Beeren mich erlösen könnte. Du hast nicht zufällig etwas Derartiges bei dir?“
„Dem Drachen kann geholfen werden!“, frohlockte Saabira. Sie gab Tandura ihren Proviant und augenblicklich verwandelten sich die jungen Männer zurück in ihre ursprüngliche Gestalt.
Überglücklich herzten sie sich und fielen einander um den Hals. Ebenso reagierte die junge Hexe und drückte Tandura an ihre Brust. Nunmehr drohte keine Gefahr mehr.
Das Gewitter hatte sich unterdessen verzogen. In einem Triumphzug zogen Saabira, Tandura und die befreiten Ritter durch den Zauberwald und stimmten fröhliche Lieder an.
Tandura hatte Saabira eine seiner Schuppen übergeben, doch war dieses gar nicht mehr nötig. Sie wurde trotz ihrer Jugend mit großer Mehrheit zur neuen Oberhexe gewählt. Tandura wurde vom König zum Drachenminister ernannt und die steinerne Statue der Walmoora wurde in tausend Stücke geschlagen.
Alle lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.
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Tag der Veröffentlichung: 18.03.2012
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