Angewidert ging Thomas Bertram durch die Fußgängerzone. Dieser Abschaum ekelte ihn an. Alle paar Meter wurde er angesprochen. „Eehhh, Alda, haste mal 'nen Euro?“, fragten die einen, die anderen hielten mitleidig Pappschilder in die Höhe mit dem Text „Ich habe Hunger“.
Thomas gab ihnen nie auch nur einen Cent, auch nicht den Straßenmusikanten aus Peru oder woher diese auch immer kamen. „Ihr sollt arbeiten und nicht betteln!“, rief er stets und guckte böse. Er konnte nicht verstehen, dass die anderen diesem Pack gegenüber so freigiebig waren. Ihm ging es gut, er hatte einen sicheren Job bei einer Bank und konnte sich alles leisten. Thomas war der Meinung, dass jeder es schaffen konnte, wenn er es nur wollte. Aber diese Leute wollten ja nicht, so war er überzeugt.
Missmutig stieg Thomas in seinen Mercedes und fuhr nach Hause. Er hatte zwar eine erfolgreiche Woche gehabt und seinem Institut satte Gewinne beschert, aber diese Kreaturen hatte ihm die gute Laune gründlich verdorben. Er würde diese Menschen am liebsten ausrotten oder zumindest aus seiner unmittelbaren Nähe vertreiben. Leider hatte er diesbezüglich nichts zu sagen, was er sehr bedauerte.
Zum Glück wartete zu Hause seine junge Frau auf ihn, das würde ihn wieder aufmuntern. Ramona war Mitte zwanzig und bildhübsch. Er hatte sie vor drei Jahren geheiratet, als Tochter seines Vorgesetzten war sie das Beste, was ihm passieren konnte. Hartmut, sein Schwiegervater, hatte sie ihm damals auf dem Betriebsfest vorgestellt. Beide hatten sich sofort ineinander verliebt und schon acht Monate später geheiratet.
Ramona fiel ihm um den Hals, als er das Haus betrat. „Mein Schatz, ich habe eine große Überraschung für dich!“, rief sie aus und küsste ihn innig. „Wir gehen heute Abend aus. Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen!“, ergänzte sie. Was mag das wohl sein, dachte Thomas. Eine Hoffnung hatte er in diesem Zusammenhang, sprach das aber nicht aus, sondern fragte: „Wohin gehen wir dann? Der Chinese um die Ecke hat gerade Betriebsferien und der Grieche ist doch vorletzte Woche abgebrannt.“ „Wir gehen dorthin, wo wir uns kennen gelernt haben. Ich habe für 20 Uhr einen Tisch im Entenfang reserviert. Du bist eingeladen!“
Eine Stunde später machten sich Thomas und seine Frau auf den Weg. Von Hemmingen bis nach Hannover - Herrenhausen war es nicht allzu weit. Da gerade ein Gewitter aufzog, bat Ramona um eine umsichtige Fahrweise.
Sie war am Nachmittag beim Frauenarzt gewesen, der ihr die glückliche Nachricht präsentierte, dass sie endlich schwanger war. Schon seit zwei Jahren wünschten sie sich ein Kind, jetzt hatte es endlich geklappt.
„Nicht so schnell!“, rief sie aus, als Thomas zum Überholen ansetzte. „Dieser Idiot da vorne schleicht, als ob er in einer Tempo 30- Zone wäre und nicht auf dem Südschnellweg“, widersprach ihr Mann und zog an dem Toyota vorbei, dessen Fahrer im Gegensatz zu Thomas seine Geschwindigkeit den Witterungsverhältnissen angepasst hatte. Es regnete in Strömen, man konnte kaum fünfzig Meter weit sehen. Das war Thomas egal, er fuhr immer gerne schnell.
Hätte er auf seine Frau gehört und auch den Verkehrsfunk eingeschaltet, wäre ihm das erspart geblieben, was gleich darauf geschehen sollte. Walter Wittekamp hatte einige Minuten zuvor am Seelhorster Kreuz die Orientierung verloren und fuhr nun in der falschen Fahrtrichtung auf der autobahnmäßig ausgebauten Strecke. In Höhe der Aral-Tankstelle passierte es. Die beiden Fahrzeuge stießen frontal zusammen.
„Wo bin ich?“, wollte Thomas wissen, als er drei Tage später auf der Intensivstation der Medizinischen Hochschule erwachte. Hartmut stand neben seinem Bett, tränenüberströmt und mit zornigem Blick. „Wenn ich könnte, wie ich wollte, würde ich jetzt den Stecker ziehen, du Arschloch“, sagte dieser. Die Krankenschwester warf ihm einen bitterbösen Blick zu und sprach: „Herr Petersen. Bei allem Verständnis für Ihren Schmerz, aber das ist wohl doch etwas unangemessen. Verlassen Sie bitte augenblicklich diesen Raum!“ Nachdem er laut schimpfend aus dem Krankenzimmer gegangen war, nahm die Schwester die Hand von Thomas in die ihrige und sprach zu ihm: „Herr Bertram, Sie müssen jetzt ganz tapfer sein. Sie hatten einen schweren Unfall und ihre Frau...“ „Was ist mit Ramona?“, unterbrach er sie. „Herr Bertram, wir konnte nichts mehr für sie tun. Sie ist letzte Nacht gestorben. Die Verletzungen waren zu schwer. Es tut mir so leid für Sie, und auch für das ungeborene Kind.“
Für Thomas brach eine Welt zusammen. Durch seine Schuld war das Liebste, dass er auf dieser Welt hatte, gestorben. Vier Wochen später konnte er aus dem Krankenhaus entlassen werden. Er ertränkte seinen Kummer im Alkohol, um seine Sorgen herunterzuspülen. Das war natürlich genau das Verkehrte.
Thomas ging nicht mehr zur Arbeit, und erhielt folglich bald darauf die Kündigung. Er hatte nicht einmal die Kraft, sich arbeitslos zu melden, so fertig war er. Das Unheil nahm seinen weiteren Verlauf, sein Haus wurde einige Monate später zwangsversteigert.
Nun saß er auf der Straße, ohne Job und ohne Geld. Er hatte alles verloren. Er war auf den Hund gekommen.
Epilog
Mit zerrissener Hose und schmutzigem Hemd ging Thomas durch die Fußgängerzone und durchsuchte die Mülleimer, auf der Suche nach Pfandflaschen. Seit Tagen hatte er nichts mehr gegessen und seit Wochen kein Bett mehr gesehen. In der Schillerstraße hatte er Glück und fand einen Döner im Abfallkorb. Er war nur einmal angebissen. Hungrig verschlang er ihn. Doch noch etwas fand er. Es war ein Buch mit dem Titel: „Wer hoch sitzt wird tief fallen“.
Texte: Alle Rechte beim Autor
Bildmaterialien: www.schwarzwaelder-bote.de
Tag der Veröffentlichung: 05.02.2012
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