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Engel und Teufel zugleich

 

 

 

Meine Mutter Alma wurde am 18. Oktober 1921 in dem Ort „Grocholinger Forst“ (heute Gromaden) in Westpreußen geboren. Das liegt in der Nähe von Lietzmannstadt, dem heutigen Lodz, also jetzt in Polen. Der Ort ihrer Geburt ist eher Zufall, weil meine Großmutter Margarete seinerzeit erst im 7. Monat war und die Geburt ihrer Tochter noch gar nicht erwartet hatte. Sie hatte ihre Eltern besucht, als „Almchen“ unbedingt schon auf die Welt kommen wollte.

 

Eigentlich sollte sie gar nicht Alma heißen. Aber die Oma, also meine Urgroßmutter, hatte auf dem Weg zum Standesamt des Nachbarortes den Namen vergessen, den ihre Tochter ausgesucht hatte. So gab sie gegenüber dem Standesbeamten den Vornamen ihrer anderen Tochter an, die kurz zuvor verstarb.

 

Meine Großmutter war damals nicht verheiratet und kannte den Vater ihres Kindes nicht oder wollte ihn nicht sagen. So kehrte sie ohne Kind in ihre Heimatstadt Dortmund zurück und die Tochter verblieb bei den Großeltern. Sie verlebte eine unbesorgte Kindheit und wuchs zusammen mit ihren zahlreichen Onkeln und Tanten auf, die für sie wie Geschwister waren.

 

Im Jahre 1929 heiratete meine Oma und holte ihre Tochter zu sich nach Hause. Sie erhielt den Nachnamen ihres Stiefvaters, der auch in der Geburtsurkunde als leiblicher Vater eingetragen wurde, obwohl er es gar nicht war. Für meine Mutter war der Ortswechsel ein Kulturschock. Von den anderen Kindern wurde sie in der Schule aufgrund ihres komischen Dialektes gehänselt und lieferte zunächst auch sehr schlechte Noten. Doch dank eines liebevollen Lehrers änderte sich das rasch.

 

Die Nazizeit brachte der kleinen Familie zum Teil Probleme, weil der Stiefvater Sozialdemokrat war und aus seiner Abneigung gegen das braune Gesindel keinen Hehl machte. Als er eines Tages von seiner Nachtschicht bei Hoesch-Stahl nach Hause kam und sich gerade schlafen gelegt hatte, klingelte es an der Tür. Es wurde für die Nazis gesammelt. Er regte sich furchtbar darüber auf, nicht nur weil er im Schlaf gestört wurde. Das hätte ihn fast ins KZ gebracht. Meine Großmutter konnte jedoch noch vermittelnd eingreifen. Hilfreich war dabei ihre Mitgliedschaft in der NSDAP und ihre braune Überzeugung.

 

Das Jahr 1941 wurde zum Schicksalsjahr von Alma. Mit dem Zug war sie unterwegs vom Ruhrgebiet zu ihren Großeltern, als es in Hannover Fliegeralarm gab, und alle den Schutzraum des Hauptbahnhofes aufsuchen mussten. Dabei lernte sie Hans-Günther kennen und lieben, der als Soldat auf dem Weg zur Front war. Der Krieg trennte die beiden zunächst, aber meine Mutter verblieb in Hannover und heiratete Hans-Günter 1947, kurz nachdem dieser aus der englischen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, der Sohn Hans-Joachim wurde dann im März 1949 geboren.

 

Die Ehe hielt jedoch nicht lange, weil ihr Mann ständig fremdging und (welch ein Skandal) auf offener Straße eine andere Frau geküsst hatte. Das stand dann auch so im Scheidungsurteil. Alma musste sich mit einem kargen Unterhaltsbetrag und dem geringen Verdienst als Spülerin in der Arzneimittelfabrik Kali-Chemie durchschlagen. Hans-Joachim war dennoch glücklich, auch wenn das Geld knapp war.

 

Im Jahre 1959 lernte meine Mutter meinen Vater Herbert kennen. Sie heirateten Ende 1960, einen Tag vor Silvester. Ende Oktober des nächsten Jahres wurde ich geboren.

 

Die Wohnung war klein, viel zu klein für vier Personen, die Toilette lag separat im Treppenhaus, was seinerzeit nicht unüblich war.

 

1968 wurde dann eine etwas größere Wohnung bezogen. Kurz danach starb plötzlich und unerwartet die erste Frau meines Vaters. Über den Aufenthalt von Christa und Peter, meinen beiden Halbgeschwistern aus dieser Verbindung, musste entschieden werden. Peter kam zu uns, für Christa war kein Platz mehr, da unsere Wohnung mit fünf Leuten schon mehr als überbelegt war.

 

In meiner Schulzeit hat meine Mutter stets darauf geachtet, dass ich gute Noten nach Hause brachte. War das einmal nicht der Fall, gab es Schläge, ziemlich heftige sogar, nicht nur mit den Händen, sondern auch mit Riemen oder Kleiderbügeln. Folglich verheimlichte ich öfters die Fünfen und Sechsen, als ich aufs Gymnasium kam und besonders in den Fremdsprachen große Probleme hatte. Andererseits bezahlten meine Eltern meine Nachhilfestunden in Englisch und Französisch ohne großes Murren.

 

Ende der siebziger Jahre erkrankte mein Vater, die Krankheit selbst wurde erst viel später entdeckt. Er wurde zum Pflegefall. Samariterdienste leistete meine Mutter fast ihr ganzes Leben lang, heutzutage würde man das Helfersyndrom nennen. Trotz dieser Erfahrungen fluchte sie über die Belastungen. Fluchen und Lästern tat sie auch über Nachbarn und Freundinnen – natürlich nur in deren Abwesenheit. Das machte sie nicht gerade beliebt, weil diese das hintenherum doch erfuhren.

 

Meine Großmutter war zu dieser Zeit dagegen noch topfit, obwohl sie schon achtzig Jahre alt war. Mittlerweile lebte sie in Hannover, im Nachbarstadtteil Groß-Buchholz. Anfangs besuchte Alma sie täglich, doch schon bald zerstritten sie sich. Wenn zwei ähnliche Charaktere aufeinandertreffen und diese Personen beide rechthaberisch sind, lässt sich das wohl nicht vermeiden. Ich hingegen hielt den Kontakt zur Oma noch aufrecht bis zu ihrem überraschenden Tode im Jahre 1986.

 

Vier Jahre später starb mein Vater, geistig noch gut drauf, aber körperlich sehr schwach in Folge einer seltenen Lungenkrankheit, die erblich bedingt ist. „Alpha I Anti-Trypsin-Mangel“ führt dazu, dass Schadstoffe in der Lunge nicht richtig abgebaut werden. Meine Mutter blühte danach auf, so makaber das auch klingt. Sie fand schnell eine neue Liebe – der Nachbar Franz war schon etwas gebrechlich und somit genau der Richtige für sie.

 

Franz musste jedoch schon einige Jahre später ins Pflegeheim und verstarb dort bald. Sein Tod hat sie mehr mitgenommen als der meines Vaters, so war mein Eindruck. Noch mehr schockte meine Mutter der fast zeitgleiche Tod meiner Schwester Christa, ihrer Stieftochter, obwohl dieser zu erwarten war.

 

Ende der neunziger Jahre häuften sich bei ihr die gesundheitlichen Probleme: Gicht, Rheuma und mehrere Schlaganfälle forderten ihren Tribut. Auch wenn sich meine Mutter sehr dagegen sträubte: Wir mussten sie in ein Pflegeheim geben. Dort lehnte sie jeden sozialen Kontakt zu den anderen Bewohnern ab und weigerte sich strikt an den zahlreichen Veranstaltungen (Diaabende, Filmvorführungen und dergleichen) teilzunehmen. Eine letzte Freude erlebte sie jedoch noch kurz vor ihrem Tod im Jahre 2002: Borussia Dortmund wurde Deutscher Meister im Fußball.

 

Ich habe meine Mutter geliebt, aber auch gehasst. Für mich war sie Engel und Teufel zugleich.

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Texte: Alle Rechte beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 30.01.2012

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