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Es gibt kein elektrisches Obst

 

 

„Nein, Tommy, das geht nicht, du kleines Dummerchen.“ Petra lächelte, als sie zu ihrem kleinen Sohn sprach. „Aber Mutti, du hast mir doch letzte Woche erklärt, dass ein Baum wächst, wenn man einen Kirschkern in die Erde tut. Da muss das doch auch mit Birnen funktionieren.“

„Ach, mein Kleiner. Ja, mit Birnen geht das auch. Aber das da – ist eine Glühbirne. Es gibt kein elektrisches Obst. Glühbirnen wachsen nicht am Baum, die werden gemacht, in einer Fabrik.“

 

Thomas brach in Tränen aus. „Du bist gemein, Mutti! Außerdem haben wir doch neulich die Sonnenblumen gepflanzt. Die Kerne waren da an der Margarinepackung dran. Kommt das nicht auch aus einer Fabrik?“

„Mein Liebling, du musst noch viel lernen. Sieh dir morgen die Sendung mit der Maus an. Jetzt wird es Zeit, ins Bett zu gehen. Der Sandmann kommt gleich.“

 

Als das Licht gelöscht wurde, konnte der kleine Thomas zunächst nicht einschlafen, trotz der liebevollen Geschichte, die ihm die Mutti vorgelesen hatte. Es ging um eine gute Fee, die nachts zu den kleinen Kindern kam, und ihnen die Wünsche erfüllte. Sehnsüchtig wünschte er sich das auch. Die Fee könnte ihm bestimmt helfen. Bestimmt!

 

Ein zartes Stimmchen weckte Tommy. Die Stimme rief seinen Namen. Er blinzelte und sah eine wunderhübsche, blonde Frau mit Flügeln, die über sein Bettchen schwebte. „Hallo Thomas, schön, dass du wach bist. Du hat nach mir gerufen, und da bin ich.“ Ungläubig schüttelte der Kleine den Kopf und sagte: „Ich soll nach dir gerufen haben? Und wer bist du?“ „Ich bin die gute Fee, die zu kleinen Kindern kommt und ihnen Wünsche erfüllt.“ „So wie in Muttis Geschichte?“ „Ja, fast. Du hast aber nur einen Wunsch.“ Thomas strahlte. „Ohhh, schön. Ich bin auch ganz bescheiden. Ich wünsche mir einen Glühbirnenbaum. Mutti hat gesagt, das gibt es nicht. Aber du bekommst das doch hin, oder?“

 

Die Fee lächelte und streichelte den kleinen Jungen über den Kopf. „Klar, Thomas, das ist gar kein Problem. Du musst dir das nur ganz doll wünschen und daran glauben. Komm, wir gehen jetzt in den Garten.“

„Aber, aber, ich darf so spät nicht mehr raus, hat Mutti gesagt.“

„Heute darfst du das. Ich passe auf dich auf. Dir passiert schon nichts.“

 

Mit leisen Schritten schlich der Junge den Flur entlang und öffnete die Tür zum Garten, die Fee schwebte hinter ihm her. Im Garten grub er mit seinen Händchen eine kleine Kuhle und legte die Glühbirne herein. Er wollte die Erde schon wieder darauf tun, als die Fee ausrief: „Halt, halt, da muss noch etwas Feenstaub darauf, sonst klappt das nicht.“ Sie erhob ihren Zauberstab, ein silberner Sternenregen rieselte herab. Thomas bedeckte das Ganze mit der Erde, und blickte zur Fee. Sie sprach: „So, ich muss jetzt noch zu den anderen Kindern, die haben noch viele Wünsche, die ich erfüllen möchte. Denke daran, dass du die Birne regelmäßig gießen musst.“

 

Tommy ging leise und vorsichtig in sein Zimmer zurück und schlief sofort wieder ein. Er träumte von der Fee und seinem Glühbirnenbaum. Am nächsten Morgen hätte er seiner Mutti gerne alles erzählt, aber er durfte ja nicht. Das hatte ihm die Fee verboten. Heimlich nahm er nach dem Frühstück seine kleine Gießkanne und ging zu der Stelle, wo er die Glühbirne vergraben hatte. Die Fee hatte ihm genau beschrieben, wie viel Wasser er nehmen sollte.

 

Drei Tage später spross ein Keimling hervor, Thomas juchzte vor Freude und klatschte in die Hände. „Es hat geklappt, es hat geklappt!“, rief er verzückt. Er bemerkte nicht, dass sich seine Mutti von hinten genähert hatte. „Tommy, was hat geklappt und warum hast du deine Gießkanne in der Hand?“

„Ähh, ich habe da Sonnenblumen gepflanzt“, log er.

 

Thomas konnte in dieser Nacht vor lauter Aufregung nicht schlafen. Immer wieder sprang er auf und lugte aus dem Fenster heraus, um nachzuschauen, ob sein Baum schon größer geworden war. Und tatsächlich, als er das zwölfte Mal nachgeguckt hatte war da ein riesiger Baum gewachsen. Er sah aber nicht aus, wie ein normaler Baum, sondern hatte die Form einer riesigen Glühbirne. Sie mochte vielleicht fünf Meter hoch sein. Die Glühbirne erstrahlte im hellen Licht und erleuchtete den ganzen Garten.

 

Am Morgen weckte ihn die Mutti und rief aufgeregt: „Thomas, Thomas, du musst unbedingt in den Garten. Schau, was da gewachsen ist.“ „Ich weiß, Mutti, das habe ich gepflanzt. Es gibt doch elektrisches Obst.“

 

Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute. Und wenn die EU das nicht verboten hätte, würde sich der kleine Thomas noch heute über seinen Glühbirnenbaum erfreuen.

 

 

 

 

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Bildmaterialien: www.intern.tu-darmstadt.de
Tag der Veröffentlichung: 04.11.2011

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