„Die Sieger erkennt man am Start, die Verlierer auch.“ Als ich neulich mal wieder „Es war einmal in Amerika“ ansah, und da dieser Satz vorkam, musste ich unwillkürlich an meine Schwester Christa denken.
Dieses Filmzitat beschreibt dein Leben, liebe Christa, mit all seiner Tragik. Manchen Leuten gelingt alles im Leben, anderen gar nichts. Leider gehörtest du stets zu den „anderen“.
Als du im Jahre 1951 als erstes gemeinsames Kind deiner Eltern geboren wurdest, war die Ehe schon bald zerrüttet. Deine Mutter konnte nicht mit Geld umgehen und dein Vater trank viel zu viel und viel zu oft. Wie kann ein Kind da vernünftig aufwachsen? Es musste zwangsläufig negativ enden. Sechs Jahre nach deiner Geburt ließ sich unser Vater Herbert von seiner Frau Thekla scheiden, Du bliebst bei deiner Mutter, ebenso wie dein Bruder Peter. Welch eine fatale Entscheidung des Gerichts! Geldsorgen waren an der Tagesordnung, Deine Mutter hatte überall Schulden: beim Bäcker, beim Schlachter, beim Kaufmann an der Ecke und auch beim Kohlenhändler.
Im Jahre 1959 lernte unser Vater dann eine neue Frau, Alma, meine Mutter kennen. Sie heirateten Ende 1960, einen Tag vor Silvester. Ende Oktober des nächsten Jahres wurde dann ich geboren. Du warst hocherfreut, einen kleinen Bruder zu haben, auch wenn du mich anfangs so selten sehen durftest. Als ich 1964 zu Weihnachten ein Lebkuchen-Hexenhaus bekam, hast du es zusammen mit Peter geplündert, als Ihr bei uns zu Besuch wart. Wie habe ich geheult! Du aber hast mich liebevoll getröstet, da war wieder alles gut.
Das Jahr 1967 wurde dann dein Schicksalsjahr, Du wurdest das erste Mal schwanger – mit sechzehn! Es wurde alles geheim gehalten – vor allem gegenüber deiner konservativen Großmutter. Der Krankenhausaufenthalt wurde ihr gegenüber als Blinddarmoperation erklärt. Das Kind starb bei der Geburt – so ersparte man sich weitere Erklärungen.
Zwei Jahre später traf es dich erneut, deine Mutter starb plötzlich und unerwartet. Nun musste erneut über den Aufenthalt von dir und von Peter entschieden werden. Peter kam zu uns, für dich war kein Platz mehr, da unsere Wohnung mit meinen Eltern, meinem weiteren Halbbruder Hans-Joachim aus der ersten Ehe meiner Mutter, mit Peter und mit mir schon mehr als voll war. So kamst du ins Heim, mit 18. Damals war man in diesem Alter noch nicht volljährig. Der Heimaufenthalt brachte dich noch mehr herunter, du begannst zu rauchen, zu stehlen und zu trinken. Bier mochtest du nicht, aber Cola mit Weinbrand. Die Mischungen wurden immer härter im Laufe der Jahre.
Im Januar des Jahres 1970 wurde dann dein Sohn Dieter geboren, sein Vater war Alkoholiker, ebenso wie du. Du zogst in ein anderes Heim, speziell für junge, ledige Mädchen mit Kindern. Welch ein glücklicher Zufall, dass dieses Heim im Stadtteil Kleefeld war, wo wir auch lebten. Nun konnten wir uns viel öfter sehen. Dieter war von Anfang an ein Problemkind, kein Wunder bei diesen Eltern.
Mit einundzwanzig musstest du das Heim verlassen, das Wohnungsamt wies Euch eine kleine Wohnung in Vahrenheide, einem Problemstadtteil zu. Ja, und du hattest „Glück“, Arbeit zu finden. Es war aber keine Lehre, denn es war an der Zeit, Geld zu verdienen. In der Schallplattenfabrik „Grammophon“ wurdest du eingestellt. Der Lohn war zwar karg, aber du kamst zu Recht, allerdings war die Arbeit deiner Gesundheit keineswegs förderlich. Die giftigen Dämpfe bei der Herstellung der Platten sollten viel später noch fatale Folgen für dich haben.
Deine Männerbekanntschaften wechselten ständig, keiner hielt es lange bei dir aus, obwohl du so eine hervorragende Köchin warst. Entweder kamen sie mit deinem Alkoholkonsum nicht klar, oder es störte sie dein verhaltensgestörter Sohn. Aber dann trat Ernst in dein Leben – im wahrsten Sinne des Wortes. Ernst verstand sich anfangs gut mit Dieter, und er bremste dich beim Trinken. Du wurdest dann 1979 erneut schwanger und hast den Ernst geheiratet. Die Geburt von Stefan änderte vieles in deinem Leben, nicht unbedingt zum Positiven. Denn nun war Dieter bei Ernst abgemeldet – es gab für ihn nur seinen eigenen Sohn. Das war dann der Beginn deiner häufigen Telefonate, zunächst mit meiner Mutter, dann mit mir, als ich zu Hause auszog.
1983 dann der nächste große Schnitt in deinem Leben. Ernst zwang dich, Dieter in ein Heim zu geben. Widerwillig hast du dich gefügt. Du wolltest deinen Mann nicht verlieren, und begannst erneut mit der Sauferei, zunächst heimlich, dann offen. Als wir 1988 deinen Geburtstag gefeiert haben, hast du sogar unseren Vater unter den Tisch gesoffen, und das wollte etwas heißen. Gequalmt hast du wie ein Schlot, deine Gesundheit war dir völlig egal, obwohl wir dich ständig warnten.
Mitte des Jahres 1990 starb dann unser Vater. Die viele Raucherei und das Saufen hatte sein Leben wohl stark verkürzt, er starb im Alter von 69 Jahren. Das hat dich zwar ziemlich mitgenommen, aber nicht zu einer Besserung deiner eigenen Lebenseinstellung geführt. Im Gegenteil – du trankst immer mehr. Dann begann der ständige Husten – und du warst schwach auf den Beinen. Das wurde von dir zunächst ignoriert, bis ich dir dann riet, zum Arzt zu gehen. Ernst hielt das leider nicht für nötig.
Der Arzt stellte dann eine Diagnose, die uns alle erschütterte. Gleich zwei Krankheiten stellte er bei dir fest. Zunächst einmal MS, was dein Problem erklärte, sich aufrecht zu halten. Damit nicht genug. Du littst zusätzlich noch unter einer seltenen Lungenkrankheit, die erblich bedingt ist. „Alpha I Anti-Trypsin-Mangel“ führt dazu, dass Schadstoffe in der Lunge nicht richtig abgebaut werden. Normalerweise ist das nicht lebensgefährlich. Das gilt jedoch nicht, wenn man viel raucht, viel Alkohol konsumiert oder aber einen Beruf ausübt, der gesundheitsgefährdend ist, wie z.B. Bergmann oder Bäcker. Tja, gleich dreimal das Risiko maximiert. Dazu stellte sich heraus, dass die Medikamente für beide Krankheiten sich nicht miteinander vertrugen.
Folglich ging es dir immer schlechter. Du fandest wenig Rückhalt bei deinem Mann, der dich sogar noch betrog. Fast täglich telefonierten wir dann. Peter und ich nahmen uns dann Ernst zu Brust, der dann tatsächlich sein Verhalten änderte und sich um dich kümmerte.
Das war auch bitternötig, erst recht, als deine Schmerzen so groß wurden, dass diese mit Kortison behandelt werden mussten. Du quollst auf – du, die immer schlank war in deinem Leben.
In deinem letzten Jahr war es dann so schlimm, dass du nicht mehr sprechen und schreiben konntest. Man gab dir ein Brett mit Buchstaben und einem Stift, der an einem Faden hing.
An deinem letzten Tag, als wir alle dich noch einmal besuchten, konntest du noch nicht einmal damit Worte bilden. „S- T – E-...“, dann brachst du ab. Wir alle wussten, dass du nicht deinen Sohn meintest. Du bist dann friedlich eingeschlafen, sagten die Ärzte.
Christa, auch wenn du in deinem Leben so wenig Glück hattest, du bist mir von allen meinen Geschwistern immer die liebste gewesen, das wird sich auch nicht mehr ändern.
Denn du bist – unwiederbringlich.
Tag der Veröffentlichung: 23.10.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
gewidmet meiner Schwester Christa