„Bernd, das war großartig. Ich bin mir sicher, dass wir gewinnen,“ sagte Robert Magnusen, der Manager des abgehalfterten Schlagerstars Bernd Sonnenberg. Er war überglücklich. Sein Schützling hatte gerade einen furiosen Auftritt in der Max-Schmeling-Halle in Berlin hinter sich. Für den diesjährigen nationalen Vorentscheid des Eurovision Songcontests gab es nur vier Bewerber.
„Ach, Robert. Das hoffe ich auch. Dabei hat uns doch die Presse vorher so verrissen. Nach dem Motto: Diesen altmodischen Schlagerscheiß will doch keiner mehr hören! Alle meinten, dass wir bei der Endausscheidung in Stockholm angeblich sowieso keine Chance hätten, trotz der Jazzelemente, die wir hereingenommen haben. Die Leute werden aber schon die richtige Auswahl treffen. Da bin ich mir sicher.“
Robert fiel seinem Freund um den Hals und küsste ihn leidenschaftlich. Niemand durfte wissen, für wen Bernd das Lied „Mit Dir will ich mein Leben teilen“ tatsächlich geschrieben hatte. Nicht für seine Frau Kathrin, sondern für – ihn. Die ganze Beziehung mit Kathrin und natürlich auch die Ehe mit ihr waren eine einzige Notlüge und der Feigheit geschuldet. Der Feigheit, sich zu offenbaren. Manch ein Politiker oder Komiker hatte dieses selbst getan. Andere Prominente wurden geoutet. Vor Letzterem hatte Bernd eine Heidenangst, darum ging er auch nicht in entsprechende Lokale. Wozu auch, er hatte ja eine feste Beziehung. Robert war seine große Liebe – seit vielen Jahren.
Es klopfte. „Herr Sonnenberg, Sie müssen in den Greenroom. Sie sind gleich auf Sendung.“ Die freundliche Assistentin wies ihn mit nachdrücklicher Stimme darauf hin. Bernd verließ seine Kabine und begab sich in den Saal. Die Kameras waren gerade auf eine junge Konkurrentin gerichtet. Die Sängerin verteilte kleine Spitzen gegen die Mitbewerber und gab sich siegessicher.
Bei dem Online-Voting spielten die Fanclubs eine wichtige Rolle. Früher hatte Bernd eine Menge Anhänger, jedoch begann die letzten Jahre sein Stern zu sinken. Trotzdem hoffte er auf den Sieg, es war seine letzte Chance. Falls er tatsächlich nach Stockholm fahren sollte, würde es seine Karriere retten und ihm viel Geld bringen. Geld war ihm wichtig, sehr wichtig. Das hatte ihn Robert immer vorgeworfen, obwohl er ja selbst davon profitierte.
Nun rückten die Kameras an Bernd heran. Strahlend nahm er ein Glas Champagner in die Hand und sprach in das Mikrofon. „Ich grüße meine Fans, meine Frau Kathrin, meine …“ Oliver, der Moderator im Greenroom unterbrach ihn, unhöflich wie er war. „Und sicherlich auch Robert, deinen Manager?“ Oliver betonte das letzte Wort tuntenhaft und grinste unverschämt. Er war einer von denen, die immer stichelten. Bernd riss sich zusammen, am liebsten hätte er entsprechend gekontert. Stattdessen entgegnete er: „Selbstverständlich grüße ich auch Robert, das hätte ich noch erwähnt. Ich…“ Schon wieder eine Unterbrechung! Der Moderator fiel ihm wieder ins Wort und sagte: „Bernd, für mich klang dein Song äußerst altmodisch. Mit so etwas hat man international doch keine Chance zu gewinnen, trotzdem du da Jazzelemente eingebracht hast. Das war vielleicht in den 80ern aktuell. Das ist out, absolut out.“ Bernd kochte das Blut in den Adern. Dieses Arschloch hörte nicht auf, ihn zu provozieren. Er wollte gerade etwas erwidern, aber er hatte keine Chance. „Bernd, wie heißt eigentlich dein Vorbild? Freddy Mercury oder Roy Black?“ Jetzt reichte es. Der Angesprochene stand auf und schrie den Moderator an: „Hör mal zu, du verdammte Ratte. Ich habe schon Musik gemacht, als du noch nicht mal in die Windeln geschissen hast. Ja, und Freddy war großartig und wird es immer sein. Und der Roy auch, obwohl er Musik gemacht hat, die er gar nicht mochte. Und, meine Damen und Herren, ja es stimmt. Ich bin schwul, ich war es und ich werde es immer sein. Es ist mir jetzt scheißegal, was aus dem Voting wird und ob man mich nach Stockholm schickt. Meine große Liebe ist Robert. Robert, mit Dir will ich mein Leben teilen.“
Alle schwiegen für einen kurzen Augenblick. Danach applaudierten sämtliche Anwesenden im Greenroom, nur der Moderator hielt sich zurück. Die anderen Musiker kamen auf ihn zu, klopften ihn auf die Schulter oder schüttelten ihm die Hand. Wäre die Sendung vom Privatfernsehen gesendet worden, hätte es jetzt sicherlich eine Werbeunterbrechung gegeben. So blieb man auf Sendung. Minutenlang. Danach wurde in den Hauptsaal zurückgeschaltet, dort hatte man alles mitbekommen. Das Publikum tobte vor Begeisterung und sang lauthals den Refrain des Songs: „Mit Dir will ich mein Leben teilen, und ewig in der Nähe weilen.“
Eine halbe Stunde später traten alle Künstler auf die Bühne. Markus, der Moderator der Show, öffnete den Umschlag und rief: „Meine Damen und Herren, unser Lied für Stockholm heeeeeiiiiißßßßtttttt: Mit Dir will ich mein Leben teilen. Sie haben es zu 64 Prozent gewählt, das ist überwältigend. Bernd, komm’ nach vorne. Ich gratuliere dir aus ganzem Herzen. Und meinem netten Kollegen Oliver möchte ich sagen: Du moderierst bei mir keine Sendung mehr.“
Bernd strahlte, er hatte es geschafft. Nicht nur, dass er die Vorentscheidung gewonnen hatte, viel wichtiger war ihm, dass er endlich die Wahrheit gesagt hatte. Die ersten Töne von „Mit Dir will ich mein Leben teilen“ ertönten. Alle im Saal standen auf und klatschten im Takt mit. Nach Ende des Songs kam seine große Liebe auf die Bühne und fiel ihm um den Hals.
Epilog:
In Stockholm belegte Bernd Sonnenberg einen respektablen achten Platz. In Deutschland, Österreich und der Schweiz lag das Lied wochenlang auf Platz eins der Charts. Es wurde das neue Kultlied der Schwulenbewegung.
Oliver verlor seinen Job beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen und wurde Moderator einer Kochsendung im Privatfernsehen.
Bildmaterialien: www.tcjwfolk.com
Tag der Veröffentlichung: 05.09.2011
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