Felix Zahlmann hatte zeitlebens ein Idol. Andere verehrten Popstars, Schauspieler, Fußballspieler oder Maler. An all dem hatte Felix keinerlei Interesse. Sein Vorbild war schon vor Jahrhunderten gestorben. Er war ein Universalgenie, war Philosoph, Wissenschaftler, Mathematiker, Physiker und Bibliothekar. Schon als Kind hatte sich Felix für diesen Mann begeistert und nachdem seine Leistungen in der Grundschule entsprechend waren, seine Eltern dazu bedrängt, ihn auf die Schule zu schicken, die nach diesem großartigen Mann benannt war. Gottfried Wilhelm Leibniz war einer jener Männer, die unsere Vergangenheit und Gegenwart entscheidend beeinflusst haben und dieses auch in der Zukunft tun werden.
Felix stellte sich oft vor, wie unsere Welt aussehen würde, wenn Leibniz nicht existiert hätte. Das von ihm entwickelte binäre Zahlensystem legte den Grundstein für unsere heutige Computertechnik. 1-0-1-0-0-1-1, es war so simpel. Aber man musste erst einmal darauf kommen. Ohne Leibniz hätten wir keine Computer, keine Raumfahrt, keine Mikrowellen. Auch gäbe es keine Mobiltelefone, keine modernen Fernseher und unsere Kinder müssten statt mit einem Taschenrechner mit einem Abakus arbeiten.
Als Felix dreißig Jahre alt wurde und er nach dem erfolgreichen Studium eine ertragreiche Stellung bei einem führenden Elektronikkonzern ergattert hatte, hatte er genug Geld, um seinem Hobby zu frönen. In seiner Garage bastelte Felix an das, was die Menschheit seit Jahrhunderten begehrt, doch niemals erfunden hatte. Seine Sehnsucht danach, seinem großen Vorbild eines Tages persönlich gegenüber zu treten, konnte er nur auf eine Art und Weise in die Realität umsetzen. Er musste eine Zeitmaschine bauen und in jene Zeit reisen, in der Leibniz noch lebte. Ungemein praktisch war es für Felix, dass das Universalgenie große Abschnitte seines Lebens in Hannover verbracht hatte. Hannover war seinerzeit eine kleine Stadt, es wäre sicherlich nicht schwierig, ihn zu finden.
Felix hatte nur noch Zeit für seine verrückte Idee. Freunde vernachlässigte er und er fand auch nie eine Freundin. Seine Nachbarn mieden ihn, ebenso seine Verwandten. Aber das war ihm egal, er wusste, dass er es eines Tages schaffen würde, diese Maschine zu bauen. Sie musste handlich sein und unauffällig. Und es dürfte kein „One-Way-Ticket“ sein, eine Rückkehr in unsere Zeit war unbedingt erforderlich, allein schon, um von dieser Reise zu berichten.
Natürlich wusste Felix von all den Risiken einer solchen Unternehmung. Bekanntlich bewegt sich die Erde durch das Weltall, so dass selbst wenn man sich nur um fünfzehn Minuten zeitlich zurücktransportiert, man an einer anderen Stelle im Weltraum wieder auftaucht. Es bedarf präzisester Berechnungen, damit man dort landet, wo es geplant ist. Dieses verzögerte den Bau des Gerätes, doch jetzt am 19.08.2011 war die Maschine fertig. Zu gerne hätte sich Felix unverzüglich selbst zurückversetzt, aber er war nicht dumm. Er brauchte ein Versuchskaninchen. Da kam ihm die Nachbarkatze, die sich wie so oft in seinem Garten herumtrieb, gerade recht. Felix lockte sie mit etwas Thunfisch an, verfressen wie sie war, konnte sie nicht widerstehen. Er konnte sie sogar streicheln und tauschte dabei schnell das Halsband aus.
„So, jetzt brauche ich einen Beweis, dass das Ding funktioniert“, sprach Felix zu sich. Er erinnerte sich an die todlangweilige Hochzeitsfeier seiner Schwester Barbara von vor drei Jahren. Das Video hatte er sich erst vor zwei Wochen noch einmal ansehen müssen, als er bei ihr eingeladen war. „Peppen wir das Ganze doch einmal auf“, rief er aus. Felix ging zur Zeitmaschine und gab ein, dass das Zielobjekt für eine halbe Stunde in die damalige Feier zurückversetzt wurde. Wenige Sekunde später verschwand die verdutzte Katze samt Halsband und dem darin enthaltene Chip in einem silbrigen Sternenmeer.
Das Tier kehrte zurück, über und über mit Sahne bedeckt und begann sich ausgiebig zu putzen. Neugierig legte Felix die Hochzeits- DVD ein. Es begann zunächst wie gewohnt. Nach zwanzig Minuten folgte der Kameraschwenk auf die Torte, die gerade angeschnitten werden sollte. Plötzlich erschien direkt daneben die Katze – und stürzte sich unverzüglich auf das Kunstwerk aus Marzipan und Sahne. Bevor Barbaras Mann eingreifen konnte, hatte sie bereits einen gehörigen Teil weggeschleckt. Wolfgang schrie auf: „Gehst du weg, du Mistvieh.“ Er zog seinen Schuh aus, sprang nach vorne, stolperte über das erschrockene Samtpfötchen und landete kopfüber in der Torte. Alles lachte.
Zufrieden schaltete Felix den Player aus und sagte: „Na, das hat ja wunderbar geklappt. Für heute ist es genug, ich werde morgen einen Selbstversuch wagen.“ Das plante er sorgsam, es war unbedingt erforderlich, innerhalb des Stadtgebietes zu landen und an einen ungefährlichen und unauffälligen Ort zu einer Zeit, an der niemand sein plötzliches Auftauchen bemerkte. Außerdem war es außerordentlich wichtig, kein Zeitparadoxon zu erzeugen oder gar eine Parallelwelt. Zu gerne hätte Felix etwas aus unserer Zeit mitgenommen, vielleicht einen Taschenrechner, eine Digitaluhr oder nur einen Butterkeks. All das durfte er seinem Idol nicht zeigen, es würde unsere Gegenwart gefährden.
Am nächsten Morgen zog Felix die von ihm vorbereitete Kleidung des 17. Jahrhunderts an: ein buntes Gewand mit einer gelben Schärpe, dazu kostbare Lederstiefel. Das Ganze hatte ein kleines Vermögen gekostet, aber darauf kam es nicht an. Der Ruhm, den Felix erhoffte, würde ihm ein Vielfaches seiner Ausgaben einbringen. Er programmierte seine Zeitmaschine so, dass er zum 26. Oktober 1678 frühmorgens um halb eins versetzt wurde. Leibniz, damals zweiunddreißig Jahre alt, war gerade zwei Jahre zuvor von Mainz nach Hannover verzogen, Johann Friedrich hatte ihn zum Hofrat und Hofbibliothekar ernannt. Die berühmte Rechenmaschine war schon gebaut, auch wenn sie noch nicht fehlerfrei funktionierte. Das binäre Zahlensystem, obwohl seinerzeit bereits entwickelt, war damals dafür noch nicht eingesetzt.
Felix hatte den Chip diesmal in eine goldene Taschenuhr verbracht. Diese war zwar einige Jahrzehnte zu neu, aber er hoffte, dass das nicht auffiel. Bei einem Münzhändler besorgte er sich einige so genannte Löser, die für den geplanten Aufenthalt von vierundzwanzig Stunden mehr als ausreichen sollten, er könnte sein Idol noch zu einem fürstlichen Mahle einladen.
Ein Kribbeln durchdrang Felix und die Umgebung um ihn herum löste sich auf. Wenige Augenblicke später erschien er genau da, wo er es geplant hatte, unmittelbar vor dem Haupteingang der hannoverschen Marktkirche. Es war stockdunkel, aber das wenige diffuse Licht reichte, um dieses zu erkennen. Der Ort und die Uhrzeit stimmten wohl, es galt herauszufinden, ob er auch das richtige Datum erwischt hatte. Felix beschloss, den Nächstbesten zu befragen.
Dem Gestank nach zu urteilen, war er zumindest im richtigen Jahrhundert gelandet. Fäkalien und Müll lagen inmitten der engen Gassen, man musste jeden Schritt genau bedenken, um nicht darüber zu stolpern. Das war keine Überraschung für Felix, dennoch musste er sich seine Nase zuhalten, um nicht ohnmächtig zu werden. Fasziniert lief er durch die kleine Stadt, einige Gebäude, wie die drei großen Kirchen und das alte Rathaus waren nahezu unverändert wie heutzutage und die Straßenzüge in der Altstadt waren auch so, wie er sie kannte. Im Morgengrauen traf er auf den ersten Bewohner, es war der Nachtwächter Balthasar, der gerade seinen Dienst beendete. „Werter Herr, ich bin aus dem fernen Hildesheim angereist. Ich grüße Euch, vermöget Ihr mir zu sagen, welches Datum Ihr hier im Hannoverschen habt?“ Müde und leicht verwundert, ob der seltsamen Frage eines solch feinen Herrn antwortete der Angesprochene: „Nun, mein Herr. Hier im Lutherischen folgen wir nicht den Anweisungen des verfluchten Roms. Wir haben nicht den gregorianischen Kalender eingeführt. Heute ist der 15. Oktober im Jahre des Herrn 1678.“ Felix bedankte sich. Eine Differenz von elf Tagen, aber trotzdem stimmte es haargenau. Frohgelaunt lief er weiter, in der nahen Osterstraße sah er ein Rekrutierungsbüro des Königs. Das war genau das, was er brauchte. Dort wollte er sich nachher als Schreiberling bewerben, in der Hoffnung auf Leibniz zu treffen.
Hunger und Durst überkam Felix. Nahrung hier zu sich zu nehmen war zwar ein Risiko, das er aber eingehen musste. Es wäre nicht gut gewesen, Proviant aus seiner Zeit mitzunehmen, denn es galt, keinerlei Misstrauen zu erzeugen. Felix fand eine kleine Backstube, der ein wunderbarer Geruch entströmte. Er kaufte zwei kleine fladenähnliche Brote. Es schmeckte gar nicht schlecht, wenn auch ein wenig Salz nicht geschadet hätte. Wenige Schritte weiter bot ein Straßenhändler einheimisches Bier an. Normalerweise nahm Felix wenig Alkohol zu sich, aber Wasser wollte er hier nicht trinken, womöglich wurde es direkt der Leine entnommen, während ein anderer Bürger wenige Meter daneben seine Fäkalien entsorgte. Das Broyhan-Bier mundete ihm, es war süffiger und dickflüssiger, als er es kannte.
Als die Glocken der Marktkirche und der nahen Aegidienkirche den neunten Schlag taten, schritt Felix in das Büro des Magistrats des Königs und übergab die gefälschten Bewerbungsunterlagen. Man sicherte ihm zu, dass Herr Leibniz ihn um die Mittagszeit empfangen würde. Glücklicherweise war gerade ein entsprechender Posten frei geworden. Bis dahin war Zeit genug, um noch mehr von Hannover zu erkunden. Felix bog in die Knochenhauerstraße ein, dort herrschte dichtes Gedrängel. Er bemerkte nicht, dass ihm ein geschickter Dieb seine Taschenuhr entwendete. Seines Geldbeutels wurde er nicht verlustig, dieser befand sich in einer anderen Tasche seines Gewandes.
Nun war es soweit, Felix stand vor der Tür des Büros seines Idols. Sanft klopfte er. „Herein, Ihr könnt eintreten“, rief jemand von innen. Mit klopfenden Herzen betrat er das winzige Zimmer. Es war mit Büchern überfüllt und es herrschte ein ziemliches Chaos. Doch Felix hatte nur Augen für sein großes Vorbild. Er sah genau so aus wie erwartet. Groß, stattlich mit lockigem pechschwarzem, langem Haar. Sein Gewand war dunkelblau mit einer weißen Schärpe. Aber auch Leibniz roch übel, was Felix jedoch nicht störte. Mit einer kleinen Handbewegung forderte ihn Leibniz auf, auf dem Stuhle Platz zu nehmen. „So, Ihr bewerbt Euch also als Schreiberling am Hofe. Eure Referenzen sind exzellent, ich bin überwältigt. Ihr habt vorzügliche Kenntnisse in der Mathematik und in der Historie. Aber seid Ihr auch ein Philosoph? Dieses mag dem König nicht wichtig erscheinen, mir persönlich jedoch sehr. Beim Erwachen habe ich schon so viele Einfälle, dass der Tag nicht ausreicht, um sie niederzuschreiben. Da käme mir ein Schreiberling gerade recht.“ Felix frohlockte, es lief wunderbar, daher antwortete er: „Es gibt keine Zufälle auf dieser Welt. Alles im Leben ist vorbestimmt.“ Ein Lächeln ging über das Gesicht des Universalgenies. Offenbar war das die richtige Antwort für den gottesfürchtigen Mann. „Wohl wahr, mein Herr. Wir leben in der besten aller möglichen Welten. Da er allmächtig, allwissend und allgütig ist, musste Gott das auch so erschaffen.“
„Auch wenn die Übel dem nicht entgegenstehen“, entgegnete Felix.
„Ihr habt meine Schriften wohl studiert, wie ich bemerke. Ferner seid Ihr ein gebildeter Studikus. Ihr werdet nicht Schreiberling meines verehrten Königs, sondern mein persönlicher Sekretär werden. Selten traf ich einen Menschen, der dieses mehr verdient hat. Der Mann, der diesen Posten bislang inne hat, genießt mein Vertrauen schon lange nicht mehr. Er kann sich an dem Hofe des braunschweigschen Königs begeben. Über Euer Salär werden wir uns sicherlich einigen. Erwartet jedoch zunächst nicht all zuviel.“ Überglücklich bedankte sich Felix. Er konnte sofort anfangen. Seine erste Aufgabe war es, die Korrespondenz zu ordnen. Leibniz war zwar das erwartete Genie, hatte aber offenbar nicht viel Sinn dafür, Ordnung zu halten.
Am Abend des Tages lud Leibniz seinen neuen Sekretär in eine kleine Wirtschaft in der Kramerstraße ein. Es gab ein üppiges Mahl, bestehend aus Schweinebraten, gebratenem Huhn und zuvor eine wirklich köstliche Suppe. Das Broyhan-Bier floss reichlich und gegen Mitternacht, nach dem zwölften Schlag, der vom Turm der Marktkirche drang, wurde Felix bewusst, dass er sich unverzüglich zu entfernen habe. Er wollte seine Taschenuhr hervorholen, um seinem neuen Dienstherrn zu demonstrieren, dass es schon spät sei – und griff ins Leere. Entsetzt schrie er auf, ob des Verlustes dieses wichtigen Gegenstandes. „In unserer schönen Stadt treibt sich viel Gesindel herum. Mir scheint, Ihr seid Opfer eines schändlichen Diebes geworden. Hat er auch Euren Geldbeutel geraubt?“, fragte ihn Leibniz. „Nein, dieser ist noch da. Aber meine Uhr, meine kostbare Uhr.“ Felix war völlig aufgebracht. „Ihr könnt sicherlich bald von Eurem Salär eine neue kaufen. Für mich ist es jetzt aber auch spät geworden, ich werde mich zu Bette begeben“, sprach Leibniz, zahlte und ging.
Er wankte nach draußen. In Gedanken bog das Genie falsch ab und lief in Richtung Leine. Als er am Flussufer angekommen war, überkam ihm ein menschliches Bedürfnis. Während er sich entleerte, geriet er aufgrund des reichlich genossenen Bieres ins Stolpern und fiel kopfüber ins Wasser. Niemand hörte seine erbärmlichen Hilfeschreie. Er ertrank jämmerlich, und verstarb achtunddreißig Jahre eher, als es der liebe Gott eigentlich geplant hatte.
Erwin, der Taschendieb, wurde samt der von ihm erbeuteten goldenen Taschenuhr urplötzlich und zu seiner großen Überraschung in das 21. Jahrhundert versetzt. Über sein weiteres Schicksal ist nicht bekannt. Felix verblieb hingegen im 17. Jahrhundert, behielt seine Anstellung beim hannoverschen König und wurde das größte Universalgenie seiner Zeit. Er wurde Philosoph, Wissenschaftler, Mathematiker, Physiker und Bibliothekar. Das von ihm weiterentwickelte binäre Zahlensystem legte den Grundstein für unsere heutige Computertechnik.
Susanne Baumann hatte zeitlebens ein Idol. Andere verehrten Popstars, Schauspieler, Fußballspieler oder Maler. An all dem hatte Susanne keinerlei Interesse. Ihr Vorbild war schon vor Jahrhunderten gestorben. Sie nahm einen Zahlmann-Keks aus der Packung und biss sehnsüchtig hinein.
Felix Zahlmann war ein Universalgenie, war Philosoph, Wissenschaftler, Mathematiker, Physiker und Bibliothekar. Er war einer jener Männer, die unsere Vergangenheit und Gegenwart entscheidend beeinflusst haben und dieses auch in der Zukunft tun werden.
Susanne stellte sich oft vor, wie unsere Welt aussehen würde, wenn Zahlmann nicht existiert hätte. Das von ihm entwickelte binäre Zahlensystem legte den Grundstein für unsere heutige Computertechnik. 1-0-1-0-0-1-1, es war so simpel.
Sie träumte oft davon, dass zu konstruieren, was die Menschheit seit Jahrhunderten begehrt, doch niemals erfunden hatte. Ihre Sehnsucht danach, ihrem großen Vorbild eines Tages persönlich gegenüber zu treten, konnte sie nur auf eine Art und Weise in die Realität umsetzen. Sie musste eine Zeitmaschine bauen und in jene Zeit reisen, in der Zahlmann noch lebte.
Susanne war die genialste Studentin, die die Zahlmann-Universität Hannover jemals hatte. Ihr Professor Berthold Waldheim hatte die theoretische Möglichkeit einer Zeitreise erwiesen und die Zeitmaschine gemeinsam mit ihr gebaut. Doch er warnte sie vor all den Risiken einer solchen Unternehmung. Bekanntlich bewegt sich die Erde durch das Weltall, so dass selbst wenn man sich nur um fünfzehn Minuten zeitlich zurücktransportiert, man an einer anderen Stelle im Weltraum wieder auftaucht. Es bedarf präzisester Berechnungen, damit man dort landet, wo es geplant ist. Die Computertechnik war jedoch nicht weit genug entwickelt, um die erwähnten Risiken zu minimieren.
„Susanne, ich muss Sie enttäuschen. Die Rechenkapazität reicht bei weitem nicht, es wäre viel zu gefährlich, persönlich in die Vergangenheit zu reisen. Unser hochmoderner Computer hat eine Rechenkapazität von 32 Bit und auch der Arbeitsspeicher ist viel zu klein. Ich schätze, dass die Technik frühestens in dreißig Jahren, also so um 2041 herum, so weit ist, dass das funktionieren wird.“, erklärte ihr Waldheim. Susanne seufzte, der Professor hatte ja Recht. Alle Versuchstiere und auch die Gegenstände waren zwar verschwunden, nachdem man sie in die Zeitmaschine verbracht hatte, aber niemals zurückgekehrt. „Mir ist jedoch eine Idee gekommen, Susanne“, ergänzte er. „Wie wäre es mit einer Reise in Parallelwelten? Wenn man an Zeitreisen glaubt, ist deren Existenz unvermeidlich.“
„Wäre das nicht genauso riskant, Professor? Wer weiß, was uns da erwartet. Vielleicht verlief dort die Kubakrise von 1962 ganz anders und die Menschheit hat sich atomisiert. Oder Deutschland hat dort den zweiten Weltkrieg gewonnen…“
„Oder es gab 1915 kein Attentat in Sarajevo und somit keinen ersten Weltkrieg. Alles ist möglich, Susanne. Aber eine solche Reise wäre grundsätzlich bei weitem nicht so gefährlich wie eine Zeitreise. Das werde ich Ihnen beweisen.“
Sieben Monate später war die Maschine fertig. Erste Versuche verliefen erfolgreich, alle Gegenstände kehrten unbeschadet zurück, auch die Super 8 – Kamera. Gespannt sahen sich Susanne und der Professor den Film an, als er nach einer Woche entwickelt zurückkam. Nach drei Minuten endete der Film. „Ich muss sagen, ich bin etwas enttäuscht, Professor“, stellte Susanne fest. „Nur ein Wald, in dem ab und zu ein paar Tiere auftauchten.“
„Offenbar eine Welt in der es keine Menschen mehr gibt oder nie gegeben hat. Genaues weiß man erst, wenn man selbst dort war. Wir sollten jetzt einen Selbstversuch wagen. Leider reicht die Kapazität unserer Maschine nur für eine Person. Außerdem muss einer von uns beiden das Gerät bedienen. Wollen wir losen?“
Am 22.08.2011 sollte das Experiment gewagt werden. Susanne, die das Los gezogen hatte, war nervös, sie wusste nicht wirklich, was sie erwartete. Würde sie dort vielleicht auf sich selbst treffen? „Nun, Susanne, ich freue mich, dass Sie sich entschieden haben, mitzumachen. Sie werden die Erste sein, die in eine andere Welt reist, seien Sie sich dessen bewusst. Ich bin stolz auf Sie und bewundere Ihren Mut. Treten Sie bitte in diese Umrandung.“ Susanne befolgte die Anweisung ihres Professors. Wenige Sekunden später erfasste sie ein Kribbeln und ein silbriges Sternenmeer.
Sie materialisierte sich in einem Raum. Zunächst dachte sie, etwas wäre schief gegangen, weil er zunächst genau so aussah, wie der den sie gerade verlassen hatte. Aber nein, er war völlig anders. Alles war viel moderner. Die Bildschirme der Computer waren riesig und hatten eine wahnsinnig große Auflösung. Aber es waren keine Rechner zu sehen, nur Tastaturen.
Jemand betrat den Raum – es war der Professor. „Darf ich fragen, was Sie hier machen? Und wie kommen Sie hier herein? Ich werde den Sicherheitsdienst rufen.“ Waldheim griff zu seinem Telefon. Überrascht stellte Susanne fest, dass es keine Schnur hatte. Was war das nur für eine verrückte Welt! Und offensichtlich kannte der Professor sie nicht. „Ich muss Ihnen etwas erklären, Professor Waldheim, ja, ich kenne Ihren Namen. Sie werden es nicht glauben – ich komme aus einer Parallelwelt. Sie glauben doch daran oder auch an Zeitreisen? Mein Name ist übrigens Susanne Baumann.“
„Selbstverständlich, Frau Baumann, ich habe dazu diverse Theorien aufgestellt, aber es mir nie wirklich gelungen, so etwas zu bauen. Ich hatte mal einen sehr begabten Studenten, das ist etwa zwölf Jahre her, er hieß Felix Zahlmann. Er hat mich vor drei Tagen angerufen, dass er es geschafft hätte. Natürlich habe ich ihn nicht geglaubt. Er wollte es mir beweisen, seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.“
Susanne fiel die Kinnlade herunter. Felix Zahlmann hatte hier studiert? Das konnte doch nicht sein, es sei denn… „Professor, diese Frage mag Ihnen seltsam erscheinen, wie heißt diese Universität?“ Waldheim schaute verwundert und antwortete: „Nun, seit ein paar Jahren heißt sie Leibniz-Universität. Benannt nach einem der größten Universalgenies aller Zeiten. Er war Philosoph, Wissenschaftler, Mathematiker, Physiker und Bibliothekar und entwickelte das binäre Zahlensystem. Damit legte er den Grundstein für unsere heutige Computertechnik. Sagen Sie bloß, Sie kennen ihn nicht.“
„Nein, Professor, wirklich nicht. In meiner Welt war es nicht dieser Leibniz – sondern Felix Zahlmann, dem wir das zu verdanken haben. Und unsere Computertechnik ist bei weitem nicht so weit entwickelt, wenn ich mich hier so umschaue.“ Sie deutete auf die Computer und die modernen Telefone, sowie auf die Überwachungskameras. „Nun, da muss ich Ihnen wohl einiges zeigen, Frau Baumann – oder darf ich Susanne sagen?“
„Selbstverständlich, Professor. Ihr anderes Ich hat mich bei uns auch immer so genannt. Er ähnelt Ihnen sehr, allerdings hat er die Haare anders.“ Aus Diskretion verschwieg sie, dass er noch volles Haupthaar hatte.
Waldheim erklärte Susanne in groben Zügen die Funktionsweise seines Computers und des Telefons. Selbst mit diesem konnte man die kleinen bunten Bilder sehen, die er ihr zuvor auf dem Laptop, wie er ihn nannte, gezeigt hatte. Völlig begeistert war sie von dem, was Internet genannt wurde. Sie hätte sich niemals träumen lassen, dass so etwas möglich ist.
„Sehen Sie, Susanne, ich kann Ihnen sogar zeigen, wo Felix Zahlmann wohnt.“ Eine Art Stadtplan erschien auf dem Bildschirm. Es war Hannover – so, wie sie es kannte. Das heißt, es war fast so wie zu Hause. Offenbar gab es hier die Stadtbahn schon wesentlich länger. Das Netz war erheblich größer als gewohnt. Der Stadtteil Kirchrode wurde sichtbar. In der Nähe des Tiergartens konnte sie einen Pfeil sehen. Daneben stand die Adresse ihres Idols – Brabeckstraße 12 und seine Telefonnummer.
„Da geht niemand ran“, sagte Waldheim, nachdem er vergeblich versucht hatte, Felix anzurufen. „Nach dem, was Sie mir so erzählt haben, fange ich an, mir Sorgen zu machen. Ich fürchte fast, wir haben es mit einem Zeitparadoxon zu tun. Nach der Chaos-Theorie kann der Flügelschlag eines Schmetterlings woanders einen Wirbelsturm auslösen. Wir sollten zu Felix Zahlmann fahren, um uns davon zu überzeugen, dass nichts passiert ist. Ich bin aber in großer Sorge.“
Susanne staunte Bauklötze, als sie in das Auto vom Professor stieg. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Da waren viele bunte Lichter und anstelle des gewohnten Tachos gab es eine Art Digitalanzeige in einem grellen Rot. In der Mitte des Armaturenbrettes erblickte sie einen kleinen Bildschirm mit einer Straßenkarte. Sie erschrak. Eine Frauenstimme ertönte: „An der nächsten Kreuzung bitte links abbiegen.“
„Das ist ein Navigationsgerät. Es sagt mir, wo ich lang fahren muss“, erklärte Waldheim. „Mir scheint, dass Ihre Welt der unsrigen in vielen Dingen circa dreißig Jahren hinterherhinkt. Woran mag das nur liegen? Die Existenz eines einigen Menschen kann doch nicht soviel verändern. Ach, wenn sie Hunger haben, im Handschuhfach sind Butterkekse.“ Neugierig öffnete Susanne es. Was sie sah, war das, was sie befürchtet hatte. Die Packung sah aus wie gewohnt. Die gleiche Farbe, die gleiche Schrift – nur der Name war falsch. Dort stand nicht Zahlmann-Kekse, wie sie es kannte. Sie nahm einen Keks heraus, er sah auch aus wie immer und schmeckte auch so. „In meiner Welt…“, begann sie.
„… heißen sie Zahlmann-Kekse, nicht wahr?“, ergänzte der Professor. „Wenn schon ein Zeitparadoxon, dann ein richtiges.“
Kurz vor Erreichen des Zieles ertönte erneut die Frauenstimme, die eben dieses verkündete. „Ein Wunderwerk“, bemerkte Susanne. Nachdem Waldmann eingeparkt hatte, was im Übrigen geschah, ohne dass er dazu das Lenkrad berührte, öffnete er die Beifahrertür und wies auf die gegenüberliegende Straßenseite. „Dort drüben ist es. Da wohnt Felix Zahlmann.“ Er wies auf ein kleines, aber sehr schönes Einfamilienhaus. Susanne hatte zwar immer gehofft, ihrem Idol eines Tages persönlich gegenüber zustehen, aber wenn man logisch dachte, konnte es eigentlich hier nicht passieren. Das Schlimmste war zu befürchten.
Sie klingelten, niemand öffnete. „Lassen Sie uns schauen, ob er vielleicht im Garten ist und uns nicht hört“, sagte Waldheim zur Beruhigung, doch ihm war klar, dass das illusorisch war. Als sie die Glastür zum Garten erblickten, sahen sie, dass diese eingeschlagen war. Die Scherben lagen jedoch draußen, nicht drinnen. „Das war kein Einbrecher, sondern ein Ausbrecher“, stellte Susanne fest. „Messerscharf kombiniert, junge Frau“, antwortete der Professor und klopfte ihr auf die Schulter. Ehe sie etwas erwidern konnte, war er durch das Loch gestiegen und rief: „Nur Mut, Susanne. Wer auch immer hier war, er wird nicht mehr da sein.“
Es war ein riesiges Chaos, alle Schränke und Schubladen waren geöffnet und durchwühlt. In einer Ecke eines Raumes lag ein Haufen Skizzen, daneben ein kleines Buch. Waldheim blätterte darin und rief begeistert aus: „Er hat es geschafft, er hat es tatsächlich geschafft.“
„Und das dahinten ist sie dann wohl, die Zeitmaschine!“, ergänzte Susanne und deutete auf ein kleines silbernes Kästchen. „Schauen Sie, Professor, welches Datum da auf dem Bildschirm steht.“
Es war der 26. Oktober 1678. „Das ist in etwa der Zeitraum, in dem in den Chroniken in meiner Welt erstmals von Zahlmann die Rede ist. Er soll damals beim hannoverschen Hofe angefangen haben, nachdem sein Vorgänger plötzlich und unerwartet verstarb. Jetzt fällt es mir auch wieder ein, dieser hieß Gottfried Wilhelm Leibniz…“, sagte Susanne.
Sie war entsetzt. Offenbar hatte Felix Zahlmann tatsächlich erfolgreich eine Zeitreise gemacht, war aber nie zurückgekehrt. Dafür aber jemand anderes, nämlich jener, der alles durchwühlt hatte. Was war nur geschehen?
Der Professor raufte sich die wenigen Haare. „Das ist einfach unglaublich. Welch ein Genie!“, rief er anerkennend aus und ergänzte: „Wir müssen jetzt genau überlegen, was zu tun ist. Susanne, geben Sie mir doch bitte mal dieses kleine Buch dahinten. Es ist offenbar eine Art Gebrauchsanweisung.“ So war es auch. Es stellte sich heraus, dass zu der Zeitmaschine ein Gegengerät gehörte, dass derjenige mitführte, der reiste. „So hätte ich es auch konstruiert“, erklärte Waldheim, nachdem er mit dem Durchlesen fertig war. „Im Prinzip, dass was wir auch machen wollten, nur uns fehlte ja die Technik für die Sicherheit des Zeitreisens“, antwortete Susanne.
Waldheim erstrahlte. „Susanne, sehen Sie: diese tolle Konstruktion ist völlig sinnlos für uns. Irgendjemand muss Zahlmann seinerzeit das Gegengerät gestohlen haben, und statt seiner in unsere Zeit zurückgekehrt sein. Er erschien in diesem Raum, geriet in Panik, durchwühlte alles und schlug dann die Scheibe ein.“
„Dann müssen wir ihn also finden und...“
„Nein, Susanne, es gibt noch eine andere Möglichkeit. Sie haben eine Zeitmaschine in Ihrer Welt, ich habe die moderne Computertechnik. Ich schlage vor, Sie reisen in Ihre Parallelwelt zurück und nehmen einen meiner kleinen Computer mit und verbinden diesen mit Ihrem Gerät.“
„Na, da wird Ihr anderes Ich aber Bauklötze staunen.“
„Bestimmt. Ich werde einen Gruß für ihn beifügen, in Form einer Video-Botschaft.“ Susanne wusste zwar nicht so ganz, wovon Waldheim sprach, nickte aber zustimmend.
Sie fuhren in die Universität zurück, ohnehin war Eile geboten, weil Susannes Rückkehr in drei Stunden bevorstand. Ein vernünftiger Plan, dachte sie. So würde es funktionieren. Voller Vorfreude dachte sie an die bevorstehenden Ereignisse. Würde sie ihrem Idol doch bald gegenüberstehen?
In der Uni erklärte ihr der Professor, was man unter einer Video-Botschaft verstand und drückte ihr ein Tablet in die Hand. „Einfach nur auf diesen Knopf drücken und auf mich halten, Susanne. Das ist ganz einfach.“ So war es tatsächlich, doch sie war verblüfft über das Ergebnis. „Diesen Computer nehmen Sie mit, Susanne. Das mit dem Anschluss schaffen Sie schon. Zeit spielt ja keine Rolle.“. Ein netter Scherz, sie musste grinsen. „Wenn wir es geschafft haben, werden wir uns bei Ihnen melden, wie auch immer.“
„Das hoffe ich doch. Zugern würde ich Ihnen folgen, Susanne, aber das geht ja nicht. Denken Sie noch an die Kopien aus Zahlmanns Unterlagen.“
Wenige Minuten später verabschiedete sich Susanne und kehrte in ihre Welt zurück. Der andere Waldheim war begeistert von ihrer Schilderung. Richtig euphorisch wurde er, als er das Tablet und das Video sah. „Ein Wunder, ein Wunder“, rief er aus. Waldheim bekam sich gar nicht wieder ein.
Es folgten Wochen der Vorbereitung für die Reise ins 17. Jahrhundert, welche Susanne antreten sollte. „Das haben Sie sich mehr als verdient, meine Gute!“, erklärte der Professor. Mittels der Kopien von Zahlmanns Papieren erhielten sie Kenntnisse, die sie ansonsten mangels Internet in der Kürze der Zeit niemals so schnell zusammengebracht hätten. Münzen, Kleidung, eine Uhr - das musste alles stimmig sein. Eine alleinreisende Frau, die niemand kannte, war in jener Zeit sowieso suspekt. Susanne trainierte sich auch die Sprechweise des 17. Jahrhunderts an, das war gar nicht so leicht. Sie wollte sich als entfernte Cousine Zahlmanns ausgeben.
Zielzeit war der 24. Oktober 1680, also zwei Jahre nach dem Eintreffen von Susannes Idol. Dieser hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon etabliert und seine Stellung gefestigt.
„Susanne, heute ist der 30.09.2011, Sie werden nun gut 331 Jahre zurückreisen, nachdem unsere Tests alle erfolgreich waren. Aber seien Sie bloß vorsichtig. Nicht nur Ihnen selbst droht Gefahr, auch der gesamten Welt, wenn es schief geht.“
„Na, ja, Professor, immerhin verdankt unsere Welt ja einem Fehler ihre Existenz.“
„Oder es war so vorbestimmt, wer weiß. Wie auch immer: jetzt ist es soweit.“
Sie machte einen Schritt vorwärts zur Zeitmaschine. Der Professor drückte ein paar Knöpfe. Es surrte. Das Gegengerät war unter Susannes Hut versteckt und hatte die Größe einer Zigarettenschachtel. Natürlich wäre es angenehmer gewesen, wenn man etwas Kleines, Handliches benutzt hätte, doch das ließ die Technik von Susannes Welt nicht zu.
Ein Kribbeln erfasste die junge Frau. Wenige Augenblicke später nach dem Transport wurde es dunkel. Im diffusen Licht erkannte sie das alte Rathaus Hannovers, direkt neben der Marktkirche. Zwei Glockenschläge ertönten. Es stank ungemein. Susanne frohlockte. Anscheinend hatte alles wunderbar geklappt. Jetzt musste sie nur noch Kontakt zu Zahlmann aufnehmen.
„Werte Dame, darf ich fragen, was Ihr um diese Stunde hier macht? Auch des Nachts treibt sich hier allerlei Gesindel herum. Ihr solltet Eure Gemächer aufsuchen.“ Vor Susanne stand ein älterer bärtiger Mann, mit einer Öllampe in der Hand, offenbar ein Nachtwächter. Mist, dachte sie. Das hätte nicht passieren sollen. „Nun, mein Herr. Ich habe mich ein wenig verlaufen. Ich bin fremd in dieser Stadt und erst vor ein paar Stunden angereist. Wo finde ich die Seilwinderstraße?“ Balthasar, der Nachtwächter war verwundert. Das war fast so seltsam, wie vor zwei Jahren, als der fremde Herr aus Hildesheim hier auftauchte und sich nach dem schrecklichen Tode von Leibniz hier als königlicher Hofbibliothekar verdingte. Er schüttelte leicht den Kopf und wies mit der Hand in nördliche Richtung: „Werte Dame, diese Gasse dort drüben hinter der Kirche. Aber seid vorsichtig und begebt Euch zu Bette.“ Susanne bedankte sich und ging gemächlichen Schrittes vorwärts. Ihr langes, altrosafarbenes Kleid war zwar wunderschön, aber alles andere als bequem.
Wenige Stunden später, als der Morgen graute, begab sie sich in die nahe gelegene Osterstraße. Dort hatte sie das Rekrutierungsbüro des Königs entdeckt. Sie gab sich – wie geplant – als entfernte Cousine von Felix aus und durfte ihn auch sogleich aufsuchen. Als dieser davon hörte, wurde er natürlich misstrauisch, da es von ihm keine Verwandten in dieser Zeit geben durfte. Dennoch hegte er eine gewisse Hoffnung. Durch dieses Missgeschick vor zwei Jahren war er in dieser Zeit gefangen – vermutlich für immer.
Nachdem Susanne in Zahlmanns Büro eintrat war sie starr vor Schreck und zugleich vor Freude entzückt. Ihr Idol sah genauso so aus, wie sie es erwartet hatte und wie er auf zahllosen Zeichnungen dargestellt wurde, allerdings etwas magerer als sie ihn kannte. „Nun, setzt Euch. Darf ich fragen, wer Ihr seid? Meine Cousine doch wohl kaum.“
„Nun, ich bin gewissermaßen den gleichen Weg gegangen, den Ihr auch gegangen seid, jedoch auf einem Umwege.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Nun, dann seht Euch dieses an.“ Susanne holte etwas Kleines, Braunes aus ihrem Gewand hervor. Es war zwar leicht zerdrückt und bröckelig, aber man konnte die Aufschrift deutlich erkennen.“
Felix erstarrte. „Mein Gott, das ist doch unmöglich. Wie konnte das geschehen?“, rief er aus. „Ich glaube, Ihr seid mir eine Erklärung schuldig. Ach, lassen wir diese alberne Sprache, offensichtlich entstammen wir der gleichen Welt, oder doch nicht?“
„Nicht ganz, Felix. Es ist etwas komplizierter. Ich darf doch du sagen? Es war nämlich so...“
Susanne erzählte Felix die ganze Geschichte, woraufhin dieser seine Erlebnisse schilderte. Als er an der Stelle ankam, an der Leibniz tödlich verunglückte, kamen ihm die Tränen. „Was habe ich nur angerichtet. Was habe ich nur angerichtet“, rief er aus. „Nun, du hast eine neue Welt geschaffen, nämlich die, in der ich lebe. Ohne dich gäbe es mich nicht.“
„Was so ein kleines Besäufnis doch alles bewirken kann. Aber gewissermaßen liegt auch etwas Gutes im Bösen. Ein Keks, der nach mir benannt ist. Ich der Begründer des binären Zahlensystems, und großer Philosoph und Erfinder.“
„Du kannst stolz auf dich sein. Straßen und Plätze sind nach dir benannt, und auch Schulen.“
„Aber Leibniz ist in Eurer Welt fast vergessen.“
„Das stimmt leider. Ich konnte mich aber noch an ihn erinnern, als der Professor ihn erwähnte.“
„Bist du hungrig? Hier um die Ecke gibt es ein hervorragendes kleines Lokal in der Kramerstraße. Allerdings ist die Kost dieser Zeit etwas gewöhnungsbedürftig. Es gibt fast nur Fleisch. Kaum Gemüse, das gilt als Schweinefutter. Und Kartoffeln wurden hier auch erst vor ein paar Jahrzehnten eingeführt. Die wenigen die es gibt, sind teuer und sie schmecken nicht. Niemand kann sie richtig zubereiten. Ach, wie vermisse ich Bratkartoffeln.“
„So richtig mit Speck und Zwiebeln? Ja, das ist herrlich. Die esse ich auch sehr gerne. Ich bekomme die übrigens ganz hervorragend hin.“
„Da kommt mir eine andere Idee. Gehen wir zum Markt und besorgen uns die Zutaten.“
Auf dem Markt herrschte hektisches Treiben. Die wenigen Zutaten waren rasch besorgt, wobei die Kartoffeln fast ein viertel von Zahlmanns Monatssalär kosteten. Susanne gab ein paar Löser dazu, das war es ihr wert. Sie begaben sich zu seiner Unterkunft in der Knochenhauerstraße. Die Wirtin von Felix war von der vorzeitigen Ankunft ihres Mieters sichtlich überrascht, zumal dieser noch niemals zuvor eine Frau mitgebracht hatte. Und dann bat dieses Weibsbild auch noch darum, dass sie ein eigenartiges Gericht in der Küche zubereiten dürfe! Die Wirtin ergriff die Flucht, als sie den Gestank der Speise wahrnahm.
„Das hat ganz wunderbar geschmeckt, Susanne. Du hast nicht zuviel versprochen. Du musst mir unbedingt, das Rezept aufschreiben. Ich bin sicher, dass schon bald die Leute auf dem Geschmack kommen.“
„Das mache ich doch gerne. Was wäre die Welt ohne Bratkartoffeln?“
„Sicherlich ein Stück langweiliger. Wollen wir noch einen Ausflug in die königlichen Gärten machen? Ich muss da ohnehin etwas kontrollieren.“
„Nach Herrenhausen? Ich bin gespannt, wie das dort um diese Zeit aussieht.“
Felix und Susanne verbrachten noch einige glückliche Stunden miteinander. Um zwei Uhr des nächsten Tages kehrte sie überglücklich in ihre Welt zurück.
Die Kartoffeln traten einen ungeheuren Siegeszug in der Küche der Deutschen an, ganz besonders in gebratener Form. Am 12. März 1910 bereitete die hochschwangere Maria Zuse für ihren Mann Emil in Deutsch-Wilmersdorf das Abendessen zu: Spiegeleier mit Bratkartoffeln nach einem Originalrezept aus dem 17. Jahrhundert. Durch eine Unvorsichtigkeit fing die Pfanne Feuer. Maria versuchte sie zu löschen, doch leider brannte die gesamte Wohnung ab. Ihr Kind verlor sie dabei. So wurde Konrad Zuse in der Welt von Susanne nie geboren. Der Z1, der erste Rechner, der mit binären Zahlen arbeitete wurde von ihm nie gebaut. Dieses hatte zur Folge, dass sich die Computertechnik in dieser Parallelwelt weitaus langsamer entwickelte.
So kommt eins zum anderen.
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Tag der Veröffentlichung: 24.08.2011
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