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Gerecht gerächt?

 

 

Nicole Schneider war besessen von dem Gedanken, den Mörder ihrer kleinen Tochter zu finden und sich an ihm zu rächen. Alle sagten ihr, dass er eigentlich gar kein Mörder war. Es war ein Unfall. Der Täter war betrunken. Er hatte Yvonne überfahren und dabei getötet, direkt vor ihrer Haustür. Die Zeugen hatten ausgesagt, dass das Auto ein orangeroter Fiat 127 war. Davon gab es nur noch drei Exemplare in ganz Deutschland, der Kreis der Verdächtigen war daher gering.

 

Nicole wollte sich jedoch nicht auf die Polizei verlassen, sie nahm die Ermittlungen selbst in die Hand. Die Ermittlungen über das Internet brachten sie jedoch nicht voran. Offenbar war dieses Modell auch bei Oldtimer-Foren nicht gefragt, oder es wollte sich keiner damit brüsten. Daher beschloss sie, ihre Taktik zu ändern. Sie griff zum Telefon, um den zuständigen Ermittler, Herrn Hohmann, anzurufen.

 

„Hallo, Herr Kommissar, hier spricht Frau Schneider, ich wollte wissen, ob es etwas Neues gibt.“

„Tut mir leid, Frau Schneider, wir haben den Täter noch nicht ermitteln können. Von den drei Besitzern haben wir erst zwei aufsuchen können, die beiden scheiden schon einmal aus. Sie haben wasserfeste Alibis. Außerdem waren deren Autos unbeschädigt, bzw. sind nicht vor Kurzem repariert worden. Aber machen Sie sich keine Sorge, wir finden schon den Schuldigen. Ich kann verstehen, wie verzweifelt Sie sind. Auch ich habe mein Kind vor einiger Zeit verloren.“

„Auch durch einen Unfall?“

„Nein, es war Krebs.“

„Wie furchtbar.“ Nicole sprach dann noch über eine halbe Stunde mit dem Kommissar. Das Gespräch wurde immer persönlicher. Es stellte sich heraus, dass die Ehefrau von Herrn Hohmann ebenfalls verstorben war und dass er keine Partnerin hatte. Nicole witterte ihre Chance. Als attraktive Frau in den besten Jahren fiel es ihr leicht, diesen Mann zu umgarnen. Sie selbst war ebenfalls partnerlos, aber auch wenn es anders gewesen wäre, wäre es ihr egal gewesen. Die Rache für den Tod ihres Kindes war ihr wichtiger. Sie hatte Yvonne über alles geliebt.

 

Es gelang ihr, sich mit Kommissar Hohmann zu verabreden. Sie trafen sich in der hannoverschen Innenstadt, direkt vor dem Hauptbahnhof, am Ernst-August-Denkmal. Gegenüber war eine Kaffeehauskette, dort kehrte man ein. Er war überhaupt nicht ihr Typ, kleinwüchsig und dickleibig mit Vollglatze. Das ließ sie sich aber nicht anmerken. Sie flirtete, was das Zeug hielt. Als er auf Toilette ging, war die Gelegenheit gekommen, seine Aktentasche zu durchsuchen. Schnell fand sie, wonach sie suchte. Sie steckte die Adressenliste der Verdächtigen zügig ein und legte die Tasche sofort an ihren Platz zurück, bevor er zurückkam. Danach verabschiedete sie sich schleunigst, mit der Ausrede, einen Migräneanfall zu haben.

 

Nicole fuhr danach mit der S-Bahn zurück nach Hause. Am Bahnhof in Wunstorf stand ihr Auto. In ihrer Wohnung ging sie zu dem Schrein, den sie für Yvonne errichtet hatte. Er war ganz in Rosa gehalten, das war Yvonnes Lieblingsfarbe. In der Mitte war ihr Foto, daneben rechts und links etliche „Hello, Kitty“ – Utensilien. Nicole betete. Sie war nie besonders gläubig gewesen, jetzt jedoch hoffte sie, dadurch Rückhalt zu finden.

 

Nicole stieg in ihr Auto und fuhr los. Auf der Liste war nicht markiert, wer von den Dreien aus dem Kreis der Verdächtigen ausgeschieden war. Zwei von ihnen lebten in Niedersachsen, der andere in Hessen. Nicole beschloss, zunächst diejenigen aufzusuchen, die am nächsten wohnten.

 

Die Pistole, die sie sich besorgt hatte, war geladen und entsichert. Als ehemalige Sportschützin konnte sie damit umgehen.

 

Als Erstes suchte sie einen Mann in Gifhorn auf, der aber nicht der Täter sein konnte. Er saß im Rollstuhl und hatte sein Auto seit Jahren nicht gefahren, es stand verstaubt in der Garage. Der zweite Verdächtige in Göttingen schied ebenfalls aus, er war auch offenbar einer von den beiden, den die Polizei schon kontrolliert hatte.

 

Nicole übernachtete in einem Hotel in der Nähe von Kassel. Morgen früh würde sie den dritten der Kandidaten aufsuchen. Dieser musste der Täter sein.

 

Um zehn morgens stand sie vor seinem Haus. Der Fiat stand dort am Straßenrand. Er war tatsächlich am rechten Kotflügel beschädigt. Sie klingelte. Der Mann, ein Mittfünfziger mit schütteren Haaren, öffnete die Tür. Mit glasigen Augen und torkelnd stand er vor ihr. Ohne zu Zögern schoss sie auf ihn. Er war sofort tot. Ohne Reue lief sie davon.

 

Das Handy klingelte. „Hallo, Frau Schneider. Hier Hohmann. Ich wollte Ihnen mitteilen, dass wir den Täter haben. Er hat alles sofort zugegeben. Wir haben übrigens einen Fehler gemacht. Der Fiat 127 wurde in den siebziger Jahren nicht nur in Italien, sondern auch in Polen und Spanien gebaut. Und, siehe da, einer von den Besitzern der SEATs war es dann tatsächlich. Zuvor hatten wir einen Mann in Kassel im Visier, dessen FIAT tatsächlich auch beschädigt war. Er war es aber nicht. Ich hoffe, Sie sind beruhigt. Hallo, Frau Schneider, Sie sagen ja nichts. Hallo, Frau Schneider, Frau Schneider?“

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Tag der Veröffentlichung: 03.06.2011

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