Es war ein lausig kalter Wintertag im Jahr 1998, als Markus Köhler auf diese Welt kam. Das Schicksal meinte es nicht gut mit ihm, obwohl er ein Wunschkind war. Seine Eltern waren schon beide über vierzig und waren überglücklich, als sich nach zahllosen Versuchen die Schwangerschaft einstellte.
Am 27. Dezember setzten dann die Wehen ein. Sein Vater fuhr seine schwangere Frau ins Krankenhaus nach Bispingen, es lag hoch Schnee. Trotz der Eile musste er deswegen ziemlich langsam und vorsichtig fahren. Trotzdem kam er noch rechtzeitig im Krankenhaus an. Das Unglück wollte es aber, dass der diensthabende Oberarzt an diesem Tag sehr schlecht drauf war. Er hatte gerade erfahren, dass sich seine Frau von ihm trennen wollte. Darüber hinaus war die Hebamme nicht zugegen, sie hatte sich mit ihrem Auto im Schnee festgefahren. Unter diesen Umständen hätte eine Geburt niemals stattfinden dürfen. Daher gab man Frau Köhler starke Medikamente um die Geburt herauszuzögern. Doch die Natur wollte ihr Recht. Gegen Mitternacht platzte dann die Fruchtblase. Die Hebamme war jedoch immer noch nicht da. Zusätzlich gab es dann noch Komplikationen, das Kind verhakte sich in der Gebärmutter, daher musste eine Zangengeburt zum Einsatz kommen. Markus wurde sozusagen mit Gewalt auf die Welt gebracht, was nicht ohne Folgen blieb. Er reagierte nicht auf dem Klaps auf dem Po und war völlig apathisch.
Die grausame Gewissheit kam nach ein paar Tagen, der Kleine wurde blind und taub geboren. Das Krankenhaus stritt vehement ab, dass dieses die Folge der Zangengeburt war und dass die Bediensteten Schuld hatten. Zunächst nahmen Herr und Frau Köhler ihren Sohn zu sich. Doch schon nach drei Wochen entschieden sie sich dafür, Markus in ein Heim in Hamburg zu geben. Das Jugendamt wurde Vormund. So lernte ich ihn kennen, ich war in dem Heim seit einem halben Jahr als Betreuer angestellt. Wir waren spezialisiert auf solche Fälle, auch wenn die Behinderung von dem Kleinen extrem war. Er nahm nahezu nichts von seiner Umgebung wahr, reagierte aber auf Bewegung, Gerüche und Berührung. Wann immer er dieses angenehm empfand, lächelte er. Es war das bezauberndste Lächeln, das man sich vorstellen konnte. Doch richtig glücklich war Markus nicht.
Die Klage gegen das Krankenhaus auf Entschädigung wurde alsbald eingeleitet. Die Mühlen von Gerichten mahlen oft langsam, doch in diesem Fall ging es sehr schnell. Markus erhielt ein Schmerzensgeld von 50.000 DM, sowie eine monatliche Rente von 4.000 DM, und das ein Leben lang. Davon hatte er jedoch zunächst nichts, da die Heimkosten diese Summe auffraßen.
Es ergab sich zu dieser Zeit, dass ich mich in meine Kollegin Iris verliebte, die mit mir zusammen in der Gruppe von Markus war. Irgendwie waren wir eine Art Elternersatz für ihn. Er spürte ganz genau, wenn wir ihn berührten und streichelten.
Mit dem Beamten vom Jugendamt hatten wir guten Kontakt, er war selbst sehr bewegt von dem Fall. Er brachte uns auf eine glorreiche Idee. „Warum nehmen Sie beide den Kleinen nicht zu sich und kümmern sich ausschließlich um ihn? Mit der monatlichen Rente und einem Zuschuss nach dem Opferentschädigungsgesetz müssten Sie das locker meistern können. Das Jugendamt wäre dann vorerst noch Vermögensverwalter, bis bewiesen ist, dass sie auch dieses übernehmen können.“ Wir waren begeistert und der Jugendamtsmitarbeiter leitete alles in die Wege.
Vier Wochen später zogen Iris und ich mit Markus in eine kleine Wohnung in Bergedorf. Das Kind hatte dort sein eigenes Zimmer, außerdem gab es einen kleinen Garten, in dem wir oft zu dritt saßen. Markus liebte es, wenn die Sonne ihn wärmte und er den Wind spürte. Dann gluckste er zufrieden. Jetzt mit vier Jahren war er der normalen Altersentwicklung eines Kindes weit hinterher. Er konnte logischerweise nicht sprechen und musste auch immer noch gewindelt werden. Trotzdem wirkte er glücklich.
Sein größtes Glück entdeckten wir aber durch Zufall. Bekannte von uns hatten uns auf den Hamburger Dom eingeladen, einen riesigen Rummelplatz im Stadtteil St. Pauli. All die Geräusche und bunten Lichter nahm er natürlich nicht wahr, aber die vielen, wunderbaren Gerüche faszinierten ihn. Als wir vor dem Kettenkarussell standen, fragten unsere Freunde, ob wir nicht mitfahren wollten. Zunächst lehnten wir ab, weil wir das Kind nicht alleine lassen wollten. Doch dann sagte Iris: „Warum nehmen wir ihn nicht mit? Es wäre interessant, zu probieren, wie er reagiert.“ Gesagt, getan. Der „Wellenreiter“ setzte sich langsam in Bewegung, Markus saß mit mir in einer Gondel, Iris daneben. Ich umklammerte ihn fest, Iris hielt ihm die Hand. Markus gluckste. Er spürte die Bewegung, das sanfte Auf und Ab und den Fahrtwind. So glücklich und zufrieden hatten wir ihn noch nie erlebt. Ich hatte seit vielen Jahren kein Kettenkarussell mehr betreten und musste selbst sagen, dass es wunderschön war, ein Gefühl, als ob man fliegen könnte. Für einen Menschen, der nicht hören und sehen kann, muss dieses noch tausendmal intensiver sein. Markus wollte dann gar nicht mehr aussteigen, wir gönnten ihm dann noch fünf weitere Fahrten. Die anderen Besucher bekamen das alles mit und erfreuten sich mit uns mit dem Glücksgefühl des Kindes.
Wir gingen dann noch ein paar Tage lang auf den Rummel, bis er abgebaut wurde. Natürlich konnten wir kein Karussell in dem Garten aufbauen, wir fanden aber einen kleinen Ersatz. Wir erwarben eine frei hängende Schaukel aus Rattan. Markus saß in einer Art Kugel, die sich frei im Wind nach allen Richtungen bewegte. Der Junge hatte sein Glück gefunden.
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Tag der Veröffentlichung: 12.05.2011
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