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Kapitel 1

 

Montag, der 18. Juli 2005

 

Tobias Wagener hatte in dieser Nacht schlecht geschlafen. Er wachte gut eine Stunde vor dem Weckerklingeln mit einem tierischen Brummschädel auf. Dabei konnte er sich gar nicht erinnern, gestern viel getrunken zu haben. Träge schleppte sich Tobias ins Badezimmer. Er hatte beschlossen, eine heiße Dusche zu nehmen, um munter zu werden. Sein graugetigerter Kater Lucky schlich ihn um die Beine und brachte ihn fast zu Fall. „Na, Lucky, Hunger?“ Ein Maunzen folgte als Antwort. Rasch wurde sein Napf gefüllt und Lucky stürzte sich wie immer gierig auf sein Futter.

 

Die heiße Dusche tat Tobias gut. Danach fühlte er sich schon viel besser. Er nahm noch ein Aspirin und trank seinen schwarzen, ungesüßten Kaffee. Jetzt war es auch schon fast die richtige Zeit, um ins Büro zu fahren. Tobias nahm die Zeitung aus seinem Briefkasten seines kleinen Häuschens in Faßberg, warf sie auf den Beifahrersitz seines Toyota Avensis und steuerte seinen Arbeitsplatz in Hannover an. Nun arbeitete er schon zehn Jahre bei Newtrix, einem renommierten Unternehmen im IT-Bereich. Vor etwa sechs Jahren war der Firma ein großer Auftrag durch die Lappen gegangen. Sie sollten für einige Staaten der USA elektronische Stimmzählautomaten entwickeln, die die Uralt-Geräte ablösen sollten, die dort immer noch eingesetzt waren. Doch dann kam es zur Katastrophe. Siegmund Berger, der Chef von Tobias, der zugleich sein bester Freund war, sollte mit dem Prototyp des SZA 5000, in die Staaten fliegen. Auf den Weg nach Frankfurt verunglückte Siegmund tödlich mit seinem Auto. Das Fahrzeug wurde völlig zerstört, und somit auch der Automat. Unglücklicherweise waren Siegmunds Skizzen auf seinem Laptop gespeichert, der bei dem Unfall ebenfalls mitverbrannte.

 

Einige Wochen später konnte man zwar den Desktop von Siegmund starten, nachdem man endlich das Passwort geknackt hatte, doch da war es für den Auftrag schon zu spät. Der SZA 5000 kam nie auf dem Markt. Bei all dem Schmerz um den Verlust des großartigen Mitarbeiters kursierte damals bei Newtrix der Witz, dass George W. Bush seine Wahl nur gewonnen hatte, weil die neuen Zählautomaten in Florida nicht eingesetzt worden sind. Tobias musste grinsen, als ihm das durch den Kopf ging. Es war tatsächlich so, dass es seinerzeit in Florida große Probleme mit der Stimmenauszählung gab. Erst ein Gerichtsurteil erklärte die ursprüngliche Auszählung für gültig und somit Bush zum Sieger. Da in den USA das indirekte Wahlrecht gilt, gewann der Kandidat, der zwar weniger Stimmen bekam, aber mehr Wahlmänner auf sich vereinen konnte. Florida war der Staat, der alles entschied.

 

Kurz danach war Tobias traurig, weil er an Siegmund denken musste. Sein Freund hatte ihm den Job bei Newtrix verschafft und damit sein Leben gerettet. Tobias hatte nach seinem Studium lange herumgehangen und keine Arbeit gefunden. Dann traf er seinen alten Studienkollegen zufällig auf der CEBIT an dessen Stand wieder und sie kamen ins Gespräch. Flugs war ein Bewerbungstermin vereinbart. Dafür hatte er sich extra in Schale geworfen, frisch rasiert und ausnahmsweise am Abend zuvor nichts getrunken. Das hatte geholfen - er wurde eingestellt. Anfangs war es nur eine einfache Tätigkeit, doch rasch arbeitete er sich hoch. Jetzt mit Mitte dreißig hatte er eine Führungsposition inne.

 

Tobias beschloss, seine Laune zu bessern. Er schob eine CD in den Player. Es war eine Runrig-CD. Tobias hörte fast täglich Musik von dieser schottischen Folkrock-Gruppe. Seit langer Zeit war er deren Fan. Wie viele Konzerte er besucht hatte, wusste er nicht mehr, aber er wusste genau, welche CDs und DVDs er besaß und welches Stück wann und wo aufgenommen wurde. Da machte ihm keiner etwas vor. Die ersten Töne von „Proterra“ erklangen. Tobias war glücklich. Er sang laut mit und ließ die CD weiterlaufen. Sie würde fast zu Ende sein, wenn er das Parkhaus seiner Firma erreicht hatte.

 

Gut fünfundvierzig Minuten später tauchte der Telemax, der hannoversche Fernsehturm, im Vordergrund auf. Nun war es nur noch ein Katzensprung bis zu seinem Büro in der Karl-Wiechert-Allee. Gerade lief „ A Reiteach“, ein gälisches Stück. Nun musste gleich „Angels From The Ashes“ folgen, das Runrig für die Opfer des 11. September 2001 aufgenommen hatten, genauer gesagt für die Polizisten und Feuerwehrleute, die damals ums Leben kamen. Doch was war das? Das war eindeutig ein anderes Stück. Auch ein Instrumental und wunderschön, aber…

 

Tobias schreckte hoch. Hinter ihm wurde ärgerlich gehupt. Mehrere Autofahrer, die hinter ihm an der Ampel am Weidetorkreisel warteten, waren sauer, weil er nicht weiterfuhr, obwohl es schon einige Sekunden lang Grün war. Das „falsche“ Stück irritierte ihn total. Tobias fuhr weiter und nahm, nachdem er eingeparkt hatte, die CD heraus. Er steckte sie in den Schuber und sah sich das Cover an. Alles ganz normal, wie es sein sollte. Aber bei Stück dreizehn stand tatsächlich nicht „Angels From The Ashes“, sondern „Feasgar an lá“. DAS Stück konnte er auch. Auf Proterra hatte es aber nichts verloren.

 

Wie konnte so etwas geschehen? Tobias war verwirrt. Er nahm seine Zeitung vom Sitz, schloss sein Auto ab und ging zum Fahrstuhl des Verwaltungsgebäudes seiner Firma. Die markante Form des Hauses stach sofort ins Auge. An der einen Seite führten mehrere weiße Betonrippen in einem steilen Winkel nach oben, an deren Seite war eine gerade Glasfront, die an einer Stelle leicht abgeknickt war. Das Firmenzeichen von Newtrix, ein geschwungenes hellblaues N zierte das Dach des Gebäudes. Alles war wie immer.

 

Der Lift war wie meist um diese Zeit leer, so dass Zeit war, ein Blick auf die Schlagzeilen zu werfen. „Al Gore weiht in New Orleans Schutzdeich ein“. Was war hier los? Tobias fühlte sich wie in „Twilight Zone“, oder wie Fähnrich Harry Kim in einer bestimmten Folge von „Star Trek Raumschiff Voyager“, deren Titel ihm gerade nicht einfiel. Aber es war alles real – jedoch nicht so, wie es sein sollte.

 

Die Fahrstuhltür öffnete sich. Tobias wollte gerade in sein Büro gehen, als er eine bekannte Stimme von hinten hörte. Sie gehörte --- Siegmund. Jener Siegmund, der schon sechs Jahre lang auf dem Friedhof liegen sollte. Tobias fing zu zittern an und fiel Siegmund um den Hals, was diesen natürlich sehr überraschte. „Mensch, Tobi, du tust so als hättest du mich jahrelang nicht gesehen. Was ist mit dir los?“

„Was mit mir los sein soll? Lass uns in mein Büro gehen. Ich muss dir etwas erzählen“. Tobias betrat sein Büro, hinter ihm Siegmund. Aber das war gar nicht sein Büro. Alles sah völlig anders aus. Der Schreibtisch stand an anderer Stelle, es hingen andere Bilder an der Wand. Auf dem Tisch stand ein Foto von Siegmunds Familie. Siegmund lachte. „Alter, du bist wirklich von der Rolle. Du solltest unbedingt Urlaub nehmen. Das ist doch MEIN Büro, dein Büro ist nebenan.“

 

Tobias starrte das Schild an: „Siegmund Berger, stellvertretender Geschäftsführer“. Siegmund Berger!! Nicht Tobias Wagener! „Mach bitte die Tür zu. Bitte!“, flehte Tobias. Er setzte sich auf den Besucherstuhl, ein teures Designer-Stück. Er war nicht nur scheußlich, er war auch unbequem. „Nun, leg los“, sagte Siegmund und goss sich und seinem Freund Kaffee ein. Er nahm für sich wie immer viel Milch und drei Stück Zucker und schob Tobias eine Tasse herüber. Er wusste, wie sein Freund den Kaffee trank - schwarz und ungesüßt. „Ach, bevor, ich es vergesse, die Belgier haben noch einmal angerufen. Sie wollen jetzt die Automaten haben, du kannst schon mal die Kalkulation fertig machen.“

 

„Ach, Siggi, du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, dich zu sehen“, antwortete Tobias. „Es ist...es war vielleicht nur ein böser Traum, aber ich war bis vor wenigen Minuten der felsenfesten Meinung, du wärest tot.“

„Tot?? Ich?? Nun mein Arzt meint zwar auch manchmal, dass es bald soweit ist, aber eigentlich fühle ich mich ganz munter. Hast du wieder getrunken? Du siehst elend aus. Sieh dich im Spiegel an!“ Tobias stand auf und begab sich zu dem Wandspiegel, der ebenso geschmacklos wie der Stuhl war.

 

Er betrachtete sich. Sein alter Spezi hatte Recht. Das Gesicht war aschfahl und erste Falten waren zu sehen. Die Haare gingen ihm schon aus, seit er die Uni verlassen hatte, aber so kahlköpfig hatte er sich nicht in Erinnerung gehabt. Für fünfunddreißig sah er schon ganz schön alt aus, das musste er zugeben. Siegmund dagegen war ein Glückskind. Früher schleppte er immer die tollsten Frauen ab. Gleich nach dem Studium hatte er einen guten Job gefunden, kurz danach Margot geheiratet und dann später mit ihr Zwillinge bekommen.

 

„Siggi, du hältst mich jetzt für verrückt, aber ich muss dir ein paar Fragen stellen.“

„Gut, O.K. Aber bitte keine blöden Witze über meinen Tod.“

„Es hängt aber damit zusammen...“ Siegmund zog die Augenbraue hoch.

„Wer ist gerade Präsident der Vereinigten Staaten?“

„Blöde Frage. Al Gore natürlich, der hat nun schon seine zweite Amtszeit. Du weißt doch, dass bei uns immer der Witz kursiert, dass es Newtrix zu verdanken ist, dass er gewählt wurde. Das war damals höllisch knapp. Hätten die in Florida noch ihre schrottigen alten Zählautomaten eingesetzt, wäre doch glatt dieser Bush-Sohn Präsident geworden und hätte sicherlich den nächsten Krieg angezettelt. Und er hätte sich bestimmt nicht für den Klimaschutz engagiert. Das Kyoto-Abkommen hätte dieser Kerl auch nicht unterzeichnet. Mann, der hat einen IQ von unter Hundert. Er wäre eine große Gefahr für die ganze Welt geworden.“ Siegmund lief puterrot an, wie immer, wenn er sich aufregte. „Aber was soll diese Quizfrage? Bei Jauch hätte es noch nicht einmal fünfhundert Euro dafür gegeben. Was möchtest du noch wissen? Wie der Bundeskanzler heißt?“ Tobias verkniff sich eine Nachfrage. Wer weiß, wen sie in dieser verrückten Welt zum Kanzler gewählt hatten.

 

Allmählich wird alles klar, dachte Tobias. Siggi ist nicht verunglückt, dadurch konnte er den SZA 5000 an Florida verkaufen, Al Gore wurde zum Präsidenten gewählt, es gab dank ihm keinen Irakkrieg und die Amerikaner hatten mehr Geld für den Klimaschutz und für die Terroristenbekämpfung. Tobias freute sich nun auf seinen Amerika-Urlaub. Jetzt war es wohl ein Land, wo man sicher war. Er würde viel Spaß an der Südostküste haben.

 

„Eine Frage noch, Siggi.“ Tobias merkte, dass sein Freund unter Zeitdruck stand. „Wie viele Kinder hast du?“

„Nun wirst du aber senil, Tobi. Du warst ja erst vor fünf Wochen bei der Taufe von Julia dabei. Die Zwillinge haben dir doch noch mit den Fahrrädern deinen Wagen zerkratzt. Hast du das inzwischen reparieren lassen? Die Kohle müsstest du von der Versicherung doch schon bekommen haben.“ Auf dem Foto, das auf dem Schreibtisch stand, waren Siggi, Margot, ein Baby und die Zwillinge zu sehen. Margot hielt das Baby in den Armen. In meiner Welt gibt es das Kind nicht, dachte Tobias.

 

 

Kapitel 2

 

Tobias war völlig konsterniert. Er würde heute nicht gut arbeiten können. Erst recht konnte er keine Kalkulation für Belgien erstellen für ein Gerät, das er kaum kannte. Außerdem war er Programmierer und kein Kaufmann. Er ging in sein Büro und fuhr den Rechner hoch. SEIN Büro! Das war vor sechs Jahren zuletzt sein Büro gewesen. Nach Siegmunds Tod trat er seine Nachfolge an und zog in das große Zimmer nebenan. Jetzt hatte die Welt sich enorm verändert. Warum nur? Er wusste es nicht. Gut, solche Geschichten hatten ihn immer fasziniert. DIESE Welt hier schien perfekt. Siegmund lebte, der Firma ging es offenbar blendend und was das Beste war – Bush war nicht mehr Präsident der USA.

 

Nachdem der PC hochgefahren war, erblickte er wie immer ein vertrautes Bild seines Katers auf dem Bildschirm. Na, wenigstens Lucky ist wie immer. Tobias beschloss, im Internet zu surfen. Er war neugierig. Was hatte sich noch getan? Was ist aus Bush geworden? In Wikipedia war nur ein kurzer Artikel über ihn. Nach der gescheiterten Kandidatur trennte er sich von seiner Frau und begann wieder zu trinken. Und Osama bin Laden? Knapp zwanzig Seiten bei Wiki! Das würde einige Zeit dauern, es durchzulesen.

 

Das Handy klingelte. Der Rufton hatte sich nicht verändert. „Guten Tag.“ Das war eine ihm unbekannte Männerstimme. Tobias wusste nicht, was er sagen sollte. Dieser Tag brachte wirklich eine Überraschung nach der anderen. Eigentlich kannte kaum jemand seine Handynummer. „Sie wissen nicht, wer ich bin?“

„Ähhhh, richtig.“

„Das dachte ich mir. Kommen Sie bitte heute Abend um halb neun zu mir. Ich muss Ihnen einiges erklären.“

„Warum sollte ich das tun?“

„Weil ich weiß, was heute mit Ihnen geschehen ist.“

„Und wo finde ich sie?“

„Ich wohne in Munster. Mein Name ist Stefan Elchwerfer. Ich gebe Ihnen gleich meine Adresse.“ Munster war nicht allzu weit von Faßberg entfernt, beides waren Bundeswehr-Standorte in der Lüneburger Heide. Eigentlich todlangweilig. Auf jeden Fall einsam. Er wusste selbst nicht, was ihn damals geritten hatte, ausgerechnet dort zu bauen. Aber das Bauland war billig. In Hannover hätte er sich so ein Haus nicht leisten können. Egal wer dieser Mann war, er würde heute Abend dort sein. Er notierte sich die Adresse und steckte den Zettel ein.

 

Siegmund kam ins Zimmer, mit Papieren in der Hand und warf einen kurzen Blick auf dem Computerschirm, auf dem noch immer die Internet-Seite zu sehen war. „Na, willst du jetzt die Al-Qaida auf mich ansetzen, um mich zu ermorden? Du bist wohl auf meinen Job scharf“, sagte er mit einem leicht ironischen Ton. „Die Unterlagen für Belgien.“ Siegmund warf ihm die Papiere auf den Tisch. „Mach es bitte heute noch fertig“. Er verließ das Büro.

 

Tobias blätterte neugierig die Seiten durch. Wir machen ganz schön Kohle damit, dachte er. Diese kleine Maschine hat Tausende von Menschen das Leben gerettet. In seiner Welt mussten viele Leute durch den Einsturz des WTC sterben. Dass es hier noch stand, war auch geändert worden, das hatte er vorhin ebenfalls recherchiert.

 

Schon wieder das Handy. Diesmal eine bekannte Stimme. Es war seine Mutter. „Hallo, mein Kleiner.“ Tobias hasste es, wenn sie ihn so nannte. Sie konnte sich das einfach nicht abgewöhnen. „Hallo, Mutti.“

„Du denkst doch an heute Nachmittag???“

„Ähh, kannst du mir noch einmal auf die Sprünge helfen?“

„Ich wusste, dass du es wieder vergessen hast. Du wolltest mich doch zum Friedhof fahren. Peters Grab muss bepflanzt werden.“ Peters Grab! Sie meinte offenbar seinen Vater, aber in der Welt, die er kannte, war er gar nicht tot. „Ach, wie konnte ich das nur verschusseln. Aber du weißt, ich habe soviel zu tun.“

„Gut dann bis später. Mach's gut, mein Kleiner.“

„Ja, Mutti. Bis dann.“ Der Tod seines Vaters nahm ihn sehr mit - es gab also auch Schlimmes in dieser Welt.

 

Tobias war trotzdem hungrig. Er beschloss, in die Kantine zu gehen, nicht ohne Frau Kruse, seiner Sekretärin, Bescheid zu sagen. In Gedanken versunken ließ er sein Handy im Büro liegen. Er bestellte sich zwei Leberwurstbrötchen und einen großen Becher Kaffee. Am Fenster war noch ein Zweiertisch frei. Er setzte sich.

 

„Hallo, Herr Kollege.“ Die Worte kamen von Bettina Müller aus der Debitoren-Buchhaltung. „Darf ich mich setzen?“, fuhr sie fort. Am liebsten hätte er „nein“ gesagt, er mochte diese Frau nicht. Für seinen Geschmack war sie viel zu hager. Außerdem hatte sie schlechte Zähne, strähnige, blonde Haare und so gut wie gar keinen Busen. Die Kollegin hingegen war seit Jahren hinter ihm her, das hatte sich anscheinend auch hier nicht geändert. „Wie geht's uns dann heute?“, sagte sie mit einem Lächeln und rückte ein Stück mit dem Stuhl nach vorn. Sie grinste noch mehr und fuhr sich mit der Zunge über ihre Lippen. „Ich habe Karten für den neuen Eichinger-Film. Möchten Sie mitkommen?“

„Wann wäre das dann?“

„Heute Abend im Cinemaxx in der Nikolaistraße.“

„Tut mir leid. Das wird nichts. Ich muss mit meiner Mutter zum Grab meines Vaters fahren. Das wird dann zu knapp.“

„Ihr Vater ist tot? Das wusste ich gar nicht. Ich habe ihn doch noch letzten Monat gesehen, als er Sie besucht hat. Mein Beileid.“ Sie schüttelte ihm die Hand. Jetzt saß er in der Patsche. Augenscheinlich war sein Vater erst vor kurzem gestorben. „Ja, das kam ganz plötzlich. Er hatte einen Herzanfall“, erklärte Tobias.

 

Frau Meyer, die Kantinenfrau winkte ihm zu. „Herr Wagener. Telefon! Ihr Vater.“ Tobias lief rot an. „Ja, gut, ich komme“, entgegnete er. Bettina Müller warf ihm einen bitterbösen Blick zu und sagte: „Wenn Sie nicht mit mir ins Kino wollen, sagen Sie es doch einfach. Aber mit so etwas macht man keine Witze.“ Tobias entschuldigte sich und ging zum Telefon.

 

„Vater, was ist dann?“

„Hallo, mein Sohn. Na, hast du mal wieder dein Handy liegen gelassen? Deine Sekretärin war so freundlich, mir zu verraten, wo du steckst. Deine Mutter hat mir gerade gesagt, dass Ihr nachher zum Tierfriedhof fahrt. Kannst du dann mal bei mir vorbeischauen? Es liegt fast auf dem Weg.“ Peter war also ein Tier – wahrscheinlich ein Hund. Tobias’ Mutter hasste Katzen. „Aber klar doch“, antwortete Tobias. Seine Eltern lebten seit Jahren getrennt, hatten aber noch ein gutes Verhältnis zueinander. Nach der Trennung hatte seine Mutter das Haus in Kirchrode behalten, sein Vater zog nach Bothfeld, beides waren gehobene Wohngegenden. Da der Tierfriedhof in Lahe ist, war das wirklich kein großer Umweg. Tobias kannte diese Einrichtung gut. Zwei seiner Katzen lagen dort auch. „Bis nachher dann!“, sagte er und legte auf.

 

Bettina Müller war unterdessen verschwunden. Na, die bin ich erst einmal los, dachte Tobias. Wozu Missverständnisse doch manchmal gut sind. Er ging zu seinen Arbeitsplatz zurück und machte mit mehr oder weniger Begeisterung die Kalkulation für Belgien fertig.

 

Das zog sich bis zum Mittag hin. Die Kantine hatte heute nichts Gutes im Angebot. Er ging ins Schnellrestaurant gegenüber, das erst vor ein paar Monaten eröffnet hatte. Da Tobias ein Freund schneller Entscheidungen war, hatte er sein Sandwich in kürzester Zeit. Als er dort saß, sah er ein Werbeplakat. „The Fantastic Four“ - der neue Film von Bernd Eichinger. Damit war klar, welchen Film die Müller gemeint hatte.

 

Gestärkt ging er wieder zurück und blätterte sehr flüchtig den Terminkalender der nächsten Tage durch. Nichts Besonderes auf dem Programm. Welch ein Glück. Gegen fünfzehn Uhr machte er Feierabend und fuhr in östlicher Richtung nach Kirchrode, die Karl-Wiechert-Allee entlang, vorbei an der Medizinischen Hochschule. Am Ende der Straße bog er links ab in die Kirchröder Straße. Seine Mutter wohnte in der Tiergartenstraße, so dass er immer nur noch gerade aus musste. Fünfzehn Minuten später war er bei ihr.

 

„Mein Kleiner, Du warst heute irgendwie komisch.“

„Wieso?“

„Ich weiß nicht. Eine Mutter hat so etwas im Gefühl.“

„Es ist aber nichts.“

„Bist du sicher?“

„Jaaaaaaaaaa.“

„Lass uns fahren.“ Sie luden die Pflanzen ins Auto und fuhren los. „Ach, mein Peter“, seufzte sie und schnäuzte sich. „Warum musste er so früh sterben?“

„Das passiert nun mal“, beruhigte sie Tobias. „Das ist aber eine Unverschämtheit! Erst überfährst du ihn und dann ist es für dich das Selbstverständlichste der Welt“, konterte sie. Oh, oh, wieder ins Klo gegriffen. Ich werde vorsichtiger sein müssen mit meinen Äußerungen, dachte Tobias.

 

Der Tierfriedhof lag neben dem großen Laher Friedhof. Seine Mutter bepflanzte das Grab. Peter war tatsächlich ein Hund. Ein Zwergpudel! Ein Foto zierte den Grabstein. Wie konnte sie nur auf die Idee kommen, das Tier ausgerechnet nach meinen Vater zu benennen? Das passte doch überhaupt nicht!, dachte er. Er brachte sie noch zur Stadtbahn und machte sich dann auf den kurzen Weg nach Bothfeld.

 

Dort hatte sich sein Vater ein hübsches Haus gekauft. Es war dort sehr ruhig, ein großer Wald, der an ein Naturschutzgebiet anschloss, lag in der Nähe. Tobias traf gegen 16.30 Uhr bei ihm ein. Sie fielen sich in die Arme. Mit seinem Vater hatte er sich immer besser verstanden als mit seiner Mutter, er war viel unkomplizierter. Es stellte sich heraus, dass er Probleme mit seinem DVD-Player hatte, die sein Sohn aber rasch beheben konnte. Tobias plauderte noch mit ihm und fuhr gegen 18.15 Uhr nach Hause.

 

 

 

Kapitel 3

 

Kein Stau auf der Autobahn, Tobias kam flott voran. Er schaltete das Radio an. Es kamen Nachrichten. Der Sprecher berichtete von einem Terroranschlag in der Türkei am Wochenende. Dort gab es fünf Tote. So ganz perfekt ist diese Parallelwelt offenbar auch nicht. Aber keine Kommentare zu den Londoner Anschlägen auf die U-Bahnen und Busse vor zwei Wochen. Hatten diese in dieser Welt nicht stattgefunden? Nach dem Wetterbericht und dem Verkehrsfunk kam die übliche Dudelmusik. Tobias schob eine gemischte Folkrock-CD in den Player, die er selbst zusammengestellt hatte. Big Country, Clanadonia, Oysterband. Ach, war das schön.

 

Auf der Landstraße, die nach Faßberg führte, war wenig Verkehr. Kurz vor 19.30 Uhr war er daheim. Lucky begrüßte ihn mit einem verärgerten Miauen. „Ich weiß, alter Bursche, ich bin später dran als sonst. Aber tu nur nicht so, als ob du halb verhungert bist!“ Tobias gab ihm eine besonders große Portion Futter und sah sich seine Post an. Nichts Außergewöhnliches. Rechnungen, Werbung – der übliche Kram halt. Bevor er zu dem geheimnisvollen Mann nach Munster aufbrach, öffnete er noch eine Dose gebackene Bohnen und schob den Inhalt in die Mikrowelle. Während seiner Studentenzeit hatte er das Zeug kiloweise verdrückt, er war nach wie vor versessen danach.

 

Danach fuhr er los und kam pünktlich in Munster an. Das Haus, in dem der merkwürdige Mann wohnte, lag gegenüber dem Bahnhof. Es war schmucklos und ziemlich klein. Vor dem Eingang prangte ein Schild: „Stefan Elchwerfer - Psychologe - Sprechstunden nur nach Vereinbarung“. Tobias klingelte. Schritte näherten sich. Die Tür wurde geöffnet. Vor ihm stand ein groß gewachsener Mann, Anfang fünfzig, mit schütteren roten Haaren, die allmählich grau wurden. „Guten Abend, ich…“

„Ich weiß, wer Sie sind, Herr Wagener. Kommen sie bitte herein.“ Tobias folgte dem Mann durch einen langen düsteren Flur in sein Arbeitszimmer. „Setzen Sie sich bitte.“ Der Raum war nur mit dem Notwendigsten ausgerüstet. Ein Schreibtisch, zwei Stühle, eine Kaffeemaschine, ein Computer mit Zubehör und eine Tischlampe – das war alles. Keinerlei Bilder – nur eine Tafel an der Wand mit ein paar seltsamen Skizzen. Kein Bücherregal – ein Psychologe konnte das nicht sein! Tobias machte es sich bequem. „Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“

„Ja, bitte, schwarz und ohne Zucker.“

„Ich weiß. Bitte sehr.“ Der Mann reichte ihm die Tasse. „Sie hatten heute einen außerordentlich ungewöhnlichen Tag, nicht wahr?“

„Das kann man wohl sagen.“

„Nun, ich heiße Sie willkommen. Nicht nur in meinem Haus. Ich heiße Sie in dieser Welt willkommen. Sie ist ja noch recht neu.“ Nun war Tobias noch verwirrter. „Haben Sie sich über meinen Namen gewundert? Er ist ein Anagramm. Sie wissen, was das ist?“ In Deutsch hatte Tobias immer gut aufgepasst. „Ein Wort, das ein neues oder mehrere neue ergibt, wenn man die Buchstaben verdreht“, antwortete er. „Richtig. Bitte: versuchen Sie Ihr Glück.“ Der Mann reichte ihm ein Scrabble-Spiel und die Buchstaben S-T-E-F-A-N-E-L-C-H-W-E-R-F-E-R. „Bilden Sie ein sinnvolles Wort.“ Tobias war viel zu aufgeregt für solche Spielchen. Trotzdem nahm er das Spiel. „Eselhafter WC fern“, „Westfalen Frecher“, „Werten erschlaffe“. Das ergab alles kein Sinn. Doch, wenn er das letzte Ergebnis noch mal etwas drehte: „Weltenerschaffer“. Tobias glotzte, ihm schwante etwas. „Gut gemacht. Ein Teil des Rätsels haben Sie schon gelöst. Jetzt werde ich ihnen den Rest erklären.“

 

Die Wand hinter dem Schreibtisch glitt nach unten. Dahinter war ein Computerraum zu sehen. Das ganze sah aus wie einem Science-Fiction-Film der siebziger Jahre. Blinkende, bunte Lämpchen, merkwürdige Geräusche. „Folgen Sie mir.“ Sie gingen in den anderen Raum. „Beeindruckt?“

„Eher nicht. Aber es sieht aus wie bei Star Trek.“

„Ja, der gute Gene. Schade um ihn.“

„Sie kannten Mr. Roddenberry?“

„Ja, er war einer unserer Botschafter – so wie Sie jetzt.“

„Botschafter?“

„Botschafter von früheren Welten. Sie stammen aus Welt Nummer siebenundsiebzig. Jetzt sind Sie in Welt Nummer achtundsiebzig.“

„Das begreife ich nicht.“

„Wie auch? Ich werde Ihnen einen Film zeigen.“ Einer der Bildschirme wurde hell, eine Fanfare ertönte. Eine fantastische Welt war zu sehen in ferner, ferner Zukunft. In den Schluchten der riesigen, merkwürdig geformten Häuser glitten kleine Flugkörper durch die Straßen. Eine Stimme aus dem Off. „Eine Welt wie sie sein sollte. Kein Hunger, kein Krieg, keine Krankheiten, keine Armut. Wir schreiben das 25. Jahrhundert.“ Das kam Tobias natürlich bekannt vor.

 

Der Bildschirm wurde wieder dunkel. „Es begann damit, dass die Zeitmaschine erfunden wurde. Uns war klar, dass ein Eingriff in die Vergangenheit unmittelbare Auswirkungen auf unsere Gegenwart hat. Daher war es strikt verboten, Gegenstände oder gar Personen zurückzuversetzen. Doch einige Neugierige konnten nicht davon lassen. Sie haben sich zwar nicht sich selbst versetzt, das ist viel zu gefährlich. Bekanntlich bewegt sich die Erde durch das Weltall, so dass selbst wenn Sie nur um fünfzehn Minuten etwas zeitlich zurücktransportieren, dieses Etwas an einer anderen Stelle im Weltraum wieder auftaucht. Das ist für einen Gegenstand nicht weiter tragisch, für Personen schon. Es bedarf präzisester Berechnungen, damit die Sachen dort landen, wo es geplant ist. Die Leute machten sich einen Spaß daraus, kleine Sachen in die Vergangenheit zu versetzen, um ihre Ahnen zu verwirren. Dadurch entstanden viele Parallelwelten. Durch ein physikalisches Gesetz ist die Anzahl der alternativen Welten aber begrenzt, auf neunhundertneunundneunzig. Erschaffen Sie die tausendste Welt, verschwindet die erste.“

„Na, denn haben wir noch mächtig viel Möglichkeiten, wenn wir jetzt in Welt achtundsiebzig sind“, freute sich Tobias. „Leider nein. Unsere ursprüngliche Welt ist bereits verschwunden. Wir sind jedoch bemüht, sie wieder herzustellen. Das können wir jedoch nicht allein, es bedarf Botschafter. Leute wie Sie“, entgegnete der Weltenerschaffer. „Gut, ich habe verstanden. Ich bin also eine Art Informant. Aber warum kann ich mich an all das aus meiner vorherigen Welt erinnern, die anderen aber nicht? Und wie haben Sie es geschafft, die Änderungen zu erzeugen?“, wollte Tobias wissen. „Sie können sich deswegen daran erinnern, weil Sie es waren, der diese Welt erschaffen hat. Insofern gebührt Ihnen der Titel `Weltenerschaffer´. Ich bin gewissermaßen nur ein Gehilfe oder Initiator. Ich sage den Botschaftern, was sie tun sollen.“

„Ich kann mich aber nicht daran erinnern, so etwas getan zu haben.“

„Richtig, DAS haben Sie vergessen. Ich will Ihnen aber auf die Sprünge helfen. Können Sie sich an den 26. Oktober 1999 erinnern?“

„Selbstverständlich. Das ist der Tag, an dem mein Freund und Kollege Siegmund starb, bzw. gestorben ist – in meiner Welt.“

„Wissen Sie noch, was geschah, als Sie ihn dort das letzte Mal sahen?“

„Wir tranken noch einen Kaffee, bevor er losfahren wollte.“

„Und?“

„Der Zucker war alle. Für mich kein Problem, für Siegmund schon. Er ging in die Kantine, um sich welchen zu holen...“

„... und fuhr dadurch etwas später los, als geplant. Alles nur, weil er vergessen hatte, Zucker zu kaufen. Dadurch dass er später los fuhr, war er am Ende des Staus, als der LKW auffuhr. Sein Auto wurde in Flammen gesetzt, er musste sterben. Wäre er rechtzeitig losgefahren, wäre er nicht gestorben.“

„Und wir haben das geändert.“

„Ja, wir haben einfach eine Packung Würfelzucker zurücktransportiert und ihm dadurch den Weg in die Kantine erspart.“

„Und dadurch die Zukunft verändert, bzw. Ihre Vergangenheit.“

„Genau.“

„Wahnsinn.“

 

Tobias atmete durch. Das musste er erst mal verdauen. „Zwei Fragen habe ich noch. Wenn es so gefährlich ist, Personen zurück zu versetzen, warum sind Sie denn hier?“

„Ich bin nicht wirklich da. Ich bin eine Art Hologramm. Man hat mich versetzt, bevor unsere Welt verschwand, ursprünglich um die Parallelwelten zu erforschen. Zum Glück bin ich nicht mitverschwunden. Jetzt ist es meine Aufgabe, wie bereits gesagt, unsere perfekte Welt wieder herzustellen. Und Ihre zweite Frage?“

„War ich erfolgreich mit meiner Mission?“

„Das wissen wir noch nicht. Es ist aber wichtig, dass eine Regel einhalten.“

„Die wäre?“

„Essen Sie keine Bohnen.“ Tobias erschrak. Das war eine sehr seltsame Vorschrift. Diese Regel hatte er heute schon gebrochen. „Ähh, wie oft darf ich dagegen verstoßen?“, wollte er wissen. „Dreimal. Tun Sie es öfter als dreimal, sind Sie gescheitert, wie die anderen zuvor.“

„Gut. Ich werde darauf achten.“

„BITTE tun Sie das. Für heute Abend ist es genug, wir sprechen uns morgen wieder.“ Tobias verabschiedete und fuhr verwirrt nach Hause. Er legte sich ins Bett und fiel in einen tiefen Schlaf.

 

Zur gleichen Zeit hatte Bettina Müller einen schönen Abend. Nachdem sie vergeblich versucht hatte, die überflüssige Karte an der Kasse zurückzugeben, machte ihr die Frau an der Kasse den Vorschlag, dass sie doch versuchen könne, diese vor dem Kino selbst zu verkaufen. Zufälligerweise kam ein netter junger Mann namens Oliver vorbei, der sie ihr abnahm. Nach dem Film lud er sie noch auf ein paar Cocktails in die gegenüberliegende Bar ein, und begleitete sie nach Hause. Ein paar Wochen danach sollte sich Frau Müller an dieses Erlebnis zurückerinnern.

 

Kapitel 4

 

Dienstag, der 19. Juli 2005

 

Tobias hatte wirres Zeug geträumt. Der Wecker klingelte. Zehn Minuten später stand Tobias auf, sprang schnell unter die Dusche, rasierte sich und putzte sich die Zähne. Für Lucky gab es zusätzlich zum Futter noch ein Leckerchen. Die Tageszeitung meldete, dass in Brüssel siebentausend Bauern protestiert hätten. Es ging gegen die Senkung der Zuckerrübenpreise. Das ist mir nun völlig egal, dachte Tobias. Hmm, doch nicht. Immerhin hat eine Packung Zucker die Welt verändert.

 

Auf der A 7 war heute zäher Verkehr, Tobias brauchte zwanzig Minuten mehr als sonst. Um halb acht war er bei seiner Firma angekommen. Er schloss gerade sein Büro auf, als ihn Siegmund ansprach. „Was hast du dir dabei gedacht? Deine Kalkulation von gestern war unter aller Sau. Ich habe das Gefühl du kennst das Gerät gar nicht! Das musst du noch einmal machen – und zwar SOFORT! Ach, noch etwas, wie war gestern dein Spanisch-Kurs?“

„Och, der war ganz gut. Die Dozentin ist wirklich prima.“ Verdammt, dachte Tobias. Schon wieder ein Fettnäpfchen, ich hätte doch genauer in meinem Terminkalender nachgucken sollen. „Dozentin? Macht Herr Gonzales den Kurs nicht mehr? Na egal, du weißt, du musst deine Spanisch-Kenntnisse noch aufpeppen, für die Präsentation in Mexiko.“ Siegmund drückte ihm die Papiere in die Hand und ging in sein Büro.

 

Tobias startete seinen Rechner und rief den Outlook-Kalender auf. Da stand für gestern um achtzehn Uhr tatsächlich: „Spanisch-Kurs Volkshochschule“. Und in zwei Wochen stand die Vorstellung des Stimmenzählautomaten in Mexiko auf dem Programm. Na prima, ich spreche kaum ein Wort Spanisch und habe keine Ahnung von dieser blöden Kiste, dem SZA 5000. Das kann was werden, dachte er.

 

Bettina Müller kam an diesem Morgen zu spät zur Arbeit, war aber glücklich. Oliver hatte sich zwar aus dem Staub gemacht, aber seine Handynummer hinterlassen. Sie würde ihn nachher gleich anrufen.

 

Tobias suchte auf seinem Computer nach früheren Kalkulationen für die Zählmaschine. Er wurde fündig, übernahm die Daten und gab die Mappe wieder bei Siegmund ab. „So, ich hoffe, das ist jetzt besser so.“

„O.K., ich schaue es mir gleich an. Was macht eigentlich Peter?“

„Dem geht es gut. Ich habe ihn gestern besucht. Er hatte Probleme mit seinem DVD-Player.“ Siegmund lachte. „Deine Mutter hat ihrem Hund so ein Gerät gekauft? So etwas Verrücktes.“ „Ach so, nein. Ich dachte, du meintest meinen Vater.“

„Richtig, der heißt ja auch so. Es ist auch ein seltsamer Zufall, dass meine Zwillinge einen Hund auflesen, ihn Peter nennen und dann ausgerechnet an deine Mutter weitergeben. Wir konnten ihn nicht behalten, wegen Julia. Und bei dir mit deinem komischen Kater – das wäre gar nicht gegangen.“ Lucky hatte wirklich einen seltsamen Tick. Er jagte Hunde, jedenfalls die, die kleiner waren als er. „Aber um noch einmal auf meine Frage zurückzukommen: wie geht es dem kleinen Racker? Meine Mädels wollten das wissen.“

„Tja, da muss ich dir etwas erzählen. Er lebt leider nicht mehr.“

„Das ist ja furchtbar. Wie soll ich das nur Yvonne und Sybille beibringen? Was ist dann passiert?“

„Er ist überfahren worden.“ Tobias beschloss, das Ganze nicht noch zu vertiefen. „Echt? Da muss ich mir etwas anderes ausdenken. Das kann ich den beiden so nicht erzählen.“

„Dir wird schon etwas einfallen. Tut mir wirklich leid um den Hund.“

 

Nach diesem unerfreulichen Gespräch gingen die beiden zum Essen. Es gab Chili con Carne in der Kantine. Tobias wollte schon beherzt zugreifen, als ihm die Regel einfiel. Stattdessen nahm er den Rheinischen Sauerbraten mit Rotkohl und Kartoffelklößen. Siegmund wunderte sich zwar, sagte aber nichts.

 

Am Nachmittag war noch genug Zeit, um im Internet zu surfen. Die Widerstände der USA zu dem Kyoto-Protokoll waren Tobias wieder eingefallen. Dank Mr. Bush hatten die Amerikaner es zwar unterzeichnet, aber nicht ratifiziert. Es trat dennoch Mitte Februar dieses Jahres in Kraft – in der „alten“ Welt Nr. siebenundsiebzig. In Welt Nr. achtundsiebzig sah das anders aus. Fast alle Staaten der Welt, auch die USA, hatten es schon spätestens im Jahr 2004 abgesegnet und die entsprechenden Maßnahmen ergriffen. Zwar gab es auch hier in vielen Ländern massive Probleme mit der Durchsetzung, aber insgesamt wurde konsequenter durchgegriffen. Tobias fand noch heraus, dass der Schutzdeich in New Orleans errichtet wurde. Soweit er sich erinnerte, hatte Bush in seiner Welt vor ein paar Jahren den Typ gefeuert, der den Deich bauen wollte.

 

Bettina Müller hatte unterdessen vergeblich versucht, ihre gestrige Eroberung per Handy anzurufen, die Nummer erwies sich als falsch, was sie sehr verärgerte.

 

Um sechzehn Uhr machte Tobias Feierabend und fuhr ohne Umwege nach Hause. Er hatte gerade aufgeschlossen, als sein Telefon klingelte. „Guten Tag. Mein Name ist Schmidt von der Firma Hildebrandt. Spreche ich mit Herrn Tobias Wagener persönlich?“

„Ja, der bin ich.“

„Ich habe eine gute Nachricht für Sie. Sie wurden durch Zufall aus einer Vielzahl von Personen Ihrer Region ausgewählt, exklusiv unsere Qualitätsweine zu testen. Wir möchten Sie deshalb zu einer ganz persönlichen Weinprobe einladen, natürlich kostenlos und völlig unverbindlich...“ Am liebsten hätte er sofort aufgelegt. Aus einer Laune heraus sagte er aber zu. Dabei mochte er gar keinen Wein.

 

Tobias hatte sich eine lange Liste gemacht, er wollte noch sehr viel von dem Weltenerschaffer wissen. „Guten Abend, Herr Elchwerfer.“

„Hallo, Herr Wagener. Schön, Sie zu sehen. Kommen Sie rein.“ Im Arbeitszimmer holte Tobias seine Liste heraus. „Zunächst einmal eine Frage zu der Regel. Wie streng wird die ausgelegt?“

„Warum?“

„Die Regeln gelten für jeden Botschafter individuell. Jeder hat gewisse Gefährdungen, die spezifisch für ihn sind. Bei Ihnen ist es z.B. Ihre Leidenschaft für Bohnen. Es mag merkwürdig klingen, aber dadurch ist die Zukunft bedroht.“

„Na gut. Dann halte ich mich daran. Ich habe noch ein paar Fragen zu dieser Zukunft.“

„Ja?“

„Wie ist der Kontakt zu den außerirdischen Wesen. Sind sie friedlich oder gibt es da Konflikte?“

„Es gibt sie nicht.“

„Es gibt keine Konflikte? Das ist wunderbar.“

„Nein. Es gibt keine außerirdischen Wesen, jedenfalls keine intelligenten. Wir haben den Großteil unserer Galaxis erforscht. Hier und dort gibt es primitives Leben, meistens nur Einzeller oder eine Art Plankton in den Meeren. Auf einigen Planeten existieren verschiedene einfache Pflanzen, aber keine Tierwelt. Wir haben auch noch keine untergegangenen Kulturen auf anderen Planeten gefunden. Die Erde scheint also tatsächlich der einzige Planet zu sein, auf dem sich so etwas wie eine Menschheit entwickelt hat. Nachdem wir dieses feststellen mussten, begann die Einsicht, die Erde zu erhalten. Das hat aber Jahrhunderte gedauert.“ „Jetzt bin ich doch enttäuscht. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir von den Aliens erzählen. Aber was ist mit den UFOS, die ab und zu bei uns auftauchen?“

„Das sind unbemannte Flugkörper aus Ihrer Zukunft, also von uns. Ich habe ja schon erzählt, dass einige die Zeitmaschine missbrauchten.“

„Ein gutes Stichwort. Wann wurde diese erfunden?“

„Das war im 22. Jahrhundert. Ein Deutscher hat sie gebaut.“

„Und hätte man nicht einfach deren Erfindung verhindern können, um Ihr Problem zu lösen?“ „Womit dann? Dazu hätte es doch einer Zeitmaschine bedurft. Wäre sie nicht erfunden worden, hätte auch keine Möglichkeit bestanden, durch eine kleine Veränderung der Vergangenheit ihre Erfindung zu verhindern.“

„Ein echtes Zeitparadoxon.“

„Genau damit gefährdet man die Zukunft. Übrigens werden Sie irgendwann bei einer Party oder etwas ähnlichem jemanden kennen lernen, und dadurch unsere Welt retten. Genaueres wissen wir noch nicht, leider. Es kann morgen geschehen oder erst in zwanzig Jahren.“

 

Tobias war perplex. Sollte tatsächlich er zum Retter der Zukunft werden? Jedenfalls musste er künftig jeden seiner Schritte genau überlegen. „Waren die anderen Botschafter alle so leichtsinnig, dass das bislang immer schief ging?“

„Ich würde eher sagen: sie waren unvorsichtig. Dabei sind wir immer so besorgt, die Richtigen auszuwählen.“

„Kenne ich noch andere außer Herrn Roddenberry?“

„Ich denke schon. Douglas Adams zum Beispiel. Ich werde Ihnen morgen mal die komplette Liste unserer Botschafter vorlegen. Für heute lassen wir es genug sein.“

 

Kapitel 5

 

Mittwoch, der 20. Juli 2005

 

Allmählich gewöhnte sich Tobias an diese Parallelwelt. Es kam ihm vor, als ob man an einem Ort Urlaub machte, an dem man zuvor noch nicht war. Nach zwei bis drei Tagen hat man sich angepasst und findet sich zurecht.

 

Im Internet hatte er herausgefunden, dass der amerikanische Geheimdienst im September 2001 durch gute Recherche mehrere schwere Anschläge von Terroristen verhindert hatte. Die Menschen hatten aber wahrscheinlich keine Ahnung, was ihnen erspart blieb.

 

Siegmund machte sich Sorgen um seinen alten Kumpel Tobias. Seit vorgestern war er wie verwandelt. Was sollten diese verrückten Fragen von ihm? Warum war er auf einmal nicht mehr in der Lage, eine simple Kalkulation fertig zu machen, obwohl er seit geraumer Zeit nicht mehr programmierte, sondern hauptsächlich kaufmännische Aufgaben hatte? Auch seine zweite Aufstellung war unterirdisch. Den Belgiern konnte man doch mehr Geld abknüpfen als Staaten wie Kolumbien oder Panama. Er würde mal ein ernstes Wort mit Tobias reden müssen.

 

Mandy Summer von der Firma Rushmore war zufrieden und blickte hinunter aus dem Fenster ihres Büros des Nordturms des World Trade Centers. Sie genoss diesen Blick auf New York. Es war eine gute Idee gewesen, die Zentrale von South Carolina hierher zu verlegen, auch wenn die Produktion immer noch in der alten Heimat war. Aber es gab das Firmenlogo. Die fünf Präsidenten-Köpfe von Mount Rushmore! Es war schon eine Ironie des Schicksals, dass diese Deutschen Al Gore zum Sieg bei der Wahl verhalfen und er dann auf die Idee kam, seinen Kopf in den Berg hineinhämmern zu lassen, wodurch wir unser Firmenzeichen verändern mussten. Zwar war der Kopf von Al Gore noch nicht fertig, aber lange würde es nicht mehr dauern. Bei der gemeinsamen Präsentation in Mexiko City in ein paar Tagen, werde ich aber schon dafür sorgen, dass wir den Zuschlag bekommen, dachte Mandy.

 

 

 

Am Nachmittag kam eine schockierende Nachricht für Tobias im Radio. James Doohan war gestorben, der „Scotty“ aus der Original-Enterprise-Serie. Das nahm Tobias doch sehr mit, er war einer seiner Lieblingsdarsteller. Zu Hause trank er einen großen Whisky zu seinen Ehren, einen fünfundzwanzig Jahre alten Single Malt aus Inverness namens Tomatin. Auch wenn Mr. Doohan kein Schotte, sondern Kanadier war – das musste sein. Kanada und Schottland passten ohnehin gut zueinander. Natürlich blieb es nicht bei dem einen Whisky. Es wurden zwei, drei, vier… bis die Flasche leer war. Das war immer sein Problem – wenn er erst einmal angefangen hatte zu trinken, konnte er nicht mehr aufhören. Er trank dann bis zur Besinnungslosigkeit. Besonders, wenn er traurig oder wütend war. Gegen zwanzig Uhr fiel ihm die Verabredung mit dem Weltenerschaffer ein. Lallend rief er dort an und sagte für heute ab. Danach trank er noch mehrere Flaschen Bier und fiel gegen Mitternacht sturzbetrunken ins Bett.

 

Der Weltenerschaffer machte sich Sorgen um seinen Botschafter. Schon wieder ein Alkoholiker! Es bestand große Gefahr, dass er deswegen versagte, wie so viele vor ihm.

 

 

Donnerstag, der 21. Juli 2005

 

Tobias schlief und schlief. In seinem Suff hatte er gestern Abend vergessen, den Wecker zu stellen. Um neun Uhr sprang ein verärgerter Lucky auf sein Bett und weckte ihn damit. „Verrrdammtt, du Mistvieh, was soll das. Lass mich schlafen.“ Im Umdrehen warf er einen Blick auf die Uhr und fuhr hoch. Scheiße! Verschlafen. Alles um ihn herum drehte sich. Er war noch immer völlig betrunken. Zur Arbeit kann ich heute nicht fahren, dachte Tobias. Aber ich muss mich beim Chef melden, das muss sein. Noch völlig verwirrt hatte er aus dem Kopf verloren, dass er nicht mehr in seiner alten Welt war und rief direkt bei seinem obersten Boss an. Frau Koslowski, seine Sekretärin ging ans Telefon. Tobias räusperte sich. „Ja, hier Wagener. Verbinden Sie mich bitte mal mit Herrn Altmann.“ Die gute Frau dachte sich nichts dabei und stellte durch. „Hier Altmann.“

„Guten Morgen, Herr Altmann. Hier Wagener. Ich kann heute leider nicht zur Arbeit kommen. Ich habe massive Kreislaufprobleme.“

„Guten Morgen, Herr Wagener. Ja, gut. Aber warum rufen Sie deswegen bei mir an? Konnten Sie Herrn Berger nicht erreichen?“ Siedend heiß fielen Tobias die Ereignisse der letzten Tage wieder ein. „Ja, richtig. Er war nicht in seinem Büro. Können Sie ihm bitte ausrichten, dass ich heute krank bin?“

„Gut. Das mache ich – und gute Besserung.“ Robert Altmann legte auf und drückte auf den Knopf der Sprechanlage. „Frau Koslowski, lassen Sie bitte mal Herrn Berger zu mir kommen. Es ist dringend.“ Er schüttelte den Kopf. Der Berger hatte gestern schon Andeutungen gemacht, dass mit dem Wagener etwas nicht stimmte. Er verhielt sich total seltsam und machte seine Arbeit nicht mehr ordentlich, dachte er.

 

Unterdessen war Tobias den Tränen nah. „Schöne neue Welt. Verdammte neue Welt. Das ist alles so eine Kacke.“ Noch vor ein paar Tagen war alles, wie es sein sollte. Ein toller, gut bezahlter Job, keine Verantwortung für die Menschheit! Und jetzt? Er sollte die Welt retten! Er! Ein Alkoholiker, der keine Frau herum bekam – na ja, fast keine. Das durfte alles nicht wahr sein. Er musste diesen Kerl anrufen, der ihm das eingebrockt hatte. Er wollte in seine alte Welt zurück!

 

Siegmund betrat das Büro seines Vorgesetzten und machte es sich auf den Stuhl bequem. Herr Altmann schüttelte ihm die Hand und sagte: „Ich muss mit Ihnen über Herrn Wagener reden. Sie hatten mir gestern erzählt, dass da etwas faul ist. Er kommt übrigens heute nicht zur Arbeit, er rief deswegen vorhin bei mir an. Ich hatte den Eindruck, als ob er nicht ganz nüchtern war.“

„Das kann gut sein. Er hat schon immer gerne einen über den Durst getrunken, allerdings dachte ich, dass er sich jetzt besser im Griff hat. Offensichtlich ist das nicht so. Hat er gesagt, warum er nicht kommt und warum er sich nicht bei mir gemeldet hat?“

„Angeblich hat er Kreislaufprobleme. Das glaube ich aber nicht. Warten wir mal ab, ob er morgen wieder zur Arbeit kommt. Er hat übrigens gesagt, dass er Sie nicht erreicht hat.“

„Ich war die ganze Zeit in meinem Büro.“

„Aha. Also noch eine Lüge. Und Sie sagen, dass er seit Montag irgendwie verwirrt ist?“ Siegmund lachte. „Das kann man wohl sagen. Erst meinte er, ich wäre tot, und dann stellt er lauter so komische Fragen.“

„Was für Fragen?“

„Er wollte zum Beispiel wissen, wie der amerikanische Präsident heißt. Lauter so ein Mist. Nee, nee, irgendetwas stimmt nicht mit ihm.“

„Ist er verrückt geworden?“

„Möglich. Ich werde auf jeden Fall ein Auge auf ihn werfen. Nicht dass er uns noch den Auftrag aus Mexiko versaut.“

„Wie sieht eigentlich seine Präsentation aus? Schon einmal überprüft?“

„Das wollte ich heute machen. Aber sie ist auf seinem Rechner gespeichert.“

„Gut, Herr Berger. Sie sind ein guter Mann, Sie bekommen das bestimmt in Griff.“

„Danke. War es das?“

„Ja, aber rufen Sie mich morgen noch einmal an, und sagen mir was da nun da los ist.“

„O.K.“ Siegmund verabschiedete sich und ging in sein Büro. Er hatte keinerlei Skrupel seinen alten Freund und Studienkollegen in die Pfanne zu hauen, das Wohl der Firma war ihm wichtiger. Außerdem war der Altmann auch nicht mehr der Jüngste. Eines Tages würde ER, Siegmund der Chef von Newtrix sein.

 

Gegen Mittag war Tobias ausgenüchtert. Er hatte Hunger. Im Vorratsschrank waren etliche Dosen gebackene Bohnen. Fast war er versucht, eine zu öffnen. Jetzt war ohnehin alles egal. Er riss sich aber zusammen und rief stattdessen seinen Vater an. Da dieser auch noch nichts gegessen hatte, vereinbarten beide sich zu treffen, um gemeinsam das Mittagsmahl einzunehmen.

 

Auf dem Weg nach Bothfeld schaltete Tobias das Autoradio ein. Nachrichten. Der Bundespräsident hatte den Bundestag aufgelöst und Neuwahlen angesetzt. Na prima. Ob das was bringt? Tobias hatte da seine Zweifel.

 

Um 13.30 Uhr kam er beim Haus seines Vaters an. Sie gingen ein Stück spazieren und kehrten danach in die Gaststätte „Fasanenkrug“ an der gleichnamigen Stadtbahnendhaltestelle ein. Gerne hätten sie sich in den Biergarten gesetzt, der war aber noch nicht geöffnet. Aber sie konnten sich auf die benachbarte Terrasse setzen und hatten zumindest einen Blick darauf. Eine wunderschöne Anlage, viel Gras, alte Bäume, ein paar Büsche und zwei kleine Häuschen, von der die Gäste des Biergartens versorgt wurden. Heute musste aber die normale Speisekarte des Lokals herhalten. Tobias bestellte sich Thunfisch-Pizza und sein Vater Batamog-Schweinefilet mit Palmen-Herzen, Sambal-Creme und dazu Bratkartoffeln. „Komisch, dass es das nur in Hannover gibt“, bemerkte Peter. „Ja, ich habe mal gelesen, dass es von einem Wirt am Kröpcke erfunden wurde. Nur bei uns hat sich das durchgesetzt. Dabei ist es so lecker.“

„Und dann bestellst du Pizza?“

„Stimmt. Du hast Recht. Nächstes Mal nehme ich es wieder.“

 

Da die Terrasse bei dem wunderbaren Wetter gut gefüllt war, mussten sie einige Zeit auf das Essen warten. Tobias erzählte seinem Vater von den Ereignissen der letzten Tage. Dieser hörte interessiert zu, schüttelte ab und zu den Kopf und lachte an einigen Stellen, besonders als Tobias von der misslungenen Kino-Einladung von Bettina erzählte. Als das Essen kam, war er gerade mit seiner Erzählung fertig. Sie aßen und schwiegen dabei. In ihrer Familie galt es immer als unhöflich, während des Essens zu sprechen.

 

Nachdem beide aufgegessen hatten, sagte Peter: „Das hört sich nach einer deiner Science-Fiction-Geschichten an, die du immer so gern liest. Erwartest du wirklich, dass ich dir das glaube?“

„Ich hatte schon befürchtet, dass du mir nicht glaubst. Ich schlage vor, dass du nachher mit mir mitkommst, wenn ich nach Munster fahre.“

„Einverstanden. Das ist eine gute Idee.“

 

Sie bezahlten und fuhren gleich los. Als Tobias in Munster in die Bahnhofsstraße abbog und sich seinem Ziel näherte, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Das Haus des Weltenerschaffers war verschwunden. Dort war nun ein brachliegendes Grundstück. „Hier müsste es sein. Das verstehe ich nicht.“ Sein Vater lachte. „Also wirklich Tobias, du warst immer schon etwas weltfremd. Ich wusste gleich, dass das nicht stimmt. Ich schlage vor, du fährst mich zurück.“ Weltfremd!, dachte Tobias. Du weißt gar nicht, wie Recht du damit hast.

 

Kapitel 6

 

Tobias setzte seinen Vater wieder zu Hause ab und stieg in sein Auto, als sein Handy klingelte. „Guten Tag, Herr Wagener. Sie haben einen Fehler gemacht.“ Es war der Weltenerschaffer.

 

Tobias wurde wütend: „Ich habe das Ganze allmählich satt. Das wird mir alles zu viel. Ich habe das Gefühl, Sie haben einen Spaß daran mich zu verunsichern und zu blamieren. Wie stehe ich dann jetzt vor meinem Vater da? Der denkt doch, ich wäre verrückt.“

„Tut mir leid, Ihnen Unannehmlichkeiten zu bereiten, aber außer Ihnen darf niemand von der ganze Geschichte erfahren. Abgesehen davon, wird Ihnen sowieso keiner glauben. Das war bisher bei allen Ihren Vorgängern so. Darum tarne ich mich als Psychologe.“

„Dann möchte ich aber auch dafür bezahlt werden, sozusagen als Schmerzensgeld oder Aufwandsentschädigung.“

„Kein Problem. Ich werde das Notwendige veranlassen.“

„Na, da bin ich mal gespannt.“

 

Der Weltenerschaffer ging zum Teleporter und legte die Goldbarren, die er vorsorglich besorgt hatte, hinein. Er schaltete das Gerät ein und transferierte sie. „Schauen Sie in Ihren Kofferraum. Sie werden gleich eine Überraschung erleben.“ Tobias stieg aus seinem Auto und schaute nach. Dabei fiel ihm auf, dass sich sein Wagen merklich nach hinten bog. Er öffnete den Kofferraum und fand ihn voll mit Goldbarren. „Das müssen Hunderte von Barren sein. Vielen Dank! Wie haben Sie das gemacht?“

„Das möchte ich Ihnen persönlich erörtern. Sie kommen doch nachher?“

„Na klar. Soll ich gleich kommen?“

„Das wäre mir recht. Bis dann.“

„O.K., ich fahr jetzt los. Tschüss, und vielen Dank noch einmal.“

 

Tobias legte auf und fuhr los. Kurz vor der Autobahnauffahrt näherte sich ihm ein Streifenwagen. Den beiden Beamten fiel sofort auf, dass das Fahrzeug offensichtlich völlig überladen war und sie überholten es. Sie hielten die Kelle heraus und stoppte den Toyota. „Schönen guten Abend. Allgemeine Verkehrskontrolle. Zeigen Sie uns bitte Ihren Führerschein und die Fahrzeugpapiere. Und kann das sein, dass Ihr Wagen etwas überladen ist? Öffnen Sie bitte mal den Kofferraum.“ Tobias wurde blass und stammelte. „Ja, ähhh, einen Moment bitte. Ich habe es recht eilig.“

„Das entscheiden wir, ob Sie es eilig haben.“ Notgedrungen öffnete Tobias die Verriegelung und die Kofferraumklappe sprang auf.

 

Polizeimeister Neumann und Polizeiobermeister Seiboldt, die beiden Polizisten staunten nicht schlecht, als sie das Gold sahen. Seiboldt ging zu Tobias zurück. „Ich denke, Sie sind uns eine Erklärung schuldig.“

„Ich habe eine Erbschaft gemacht und…“

„Ach wirklich, dann haben Sie doch sicherlich Unterlagen darüber?“

„Die habe ich zu Hause.“

„Und das Gold fahren Sie einfach so spazieren? Das glauben Sie doch selbst nicht. Ich schlage vor, Sie begleiten uns erst einmal zum Revier. Ihr Fahrzeug ist konfisziert.“ Unterdessen hatte Neumann Verstärkung gerufen. Nach wenigen Minuten traf eine Grüne Minna ein und Tobias wurde abgeführt. Die Kontrolle seiner Personendaten brachte keine negativen Eintragungen. Trotzdem war der Besitz von so viel Gold natürlich verdächtig. Ein Raub in diesem Ausmaß war aber auch nicht bekannt.

 

Im zuständigen Laher Polizeirevier wurde Tobias mehrere Stunden verhört. Tobias nutzte den ihm zustehenden Anruf, um den Weltenerschaffer darüber zu informieren, dass er heute auch nicht kommen würde. Doch dieser wusste schon Bescheid – wie immer.

 

 

Freitag, der 22. Juli 2005

 

Hauptkommissar Sander wurde allmählich sauer: „Herr Wagener, ich verliere gleich die Geduld. Sie haben mir immer noch keine glaubwürdige Erklärung geliefert, wieso Sie fünfhundert Kilo reinen Goldes durch die Gegend fahren. Wissen Sie, wie viel das wert ist?“ „Keine Ahnung. Eine Million Euro vielleicht?“

„Etwa viermal soviel. Ich glaube kaum, dass Sie soviel verdienen oder dass Sie das erspart haben und das mit Ihrer angeblichen Erbschaft glaube ich Ihnen auch nicht. Wir haben das überprüft. Keiner Ihrer Verwandten ist in letzter Zeit verstorben. Oder wollen Sie mir jetzt weiß machen, es gäbe da einen Erbonkel aus Amerika? Ich sage Ihnen, das ist ein ganz faules Ding. Sie dürfen aber jetzt erst einmal nach Hause fahren, weil wir Ihnen nichts beweisen können, müssen sich aber regelmäßig alle zwei Tage bei dem für Sie zuständigen Polizeirevier melden. Außerdem dürfen Sie bis auf weiteres das Land nicht verlassen. Wir haben einen entsprechenden Sperrvermerk angebracht. Haben Sie das verstanden?“

„Ja, aber ich muss in ein paar Tagen dienstlich nach Mexiko reisen…“

„Dann klären Sie das mit dem Gold bis dahin, dann dürfen Sie auch ausreisen, vorher nicht.“

 

Tobias seufzte. Welch ein Schlamassel! Wie komme ich da bloß wieder heraus, dachte er. Er ließ sich von den Beamten seine Papiere und seinen Fahrzeugschlüssel aushändigen und stieg in sein Auto, das man zum Revier gefahren hatte. Tobias hätte sich gewünscht, dass ihm der Weltenerschaffer Diamanten statt Gold geschickt hätte, aber das auch nicht in solchen Mengen.

 

Kurz entschlossen fuhr er nicht mehr nach Hause, sondern stattdessen in die Innenstadt von Hannover. Im Hauptbahnhof ging er zunächst in ein Hamburger-Restaurant und verschlang ein Riesen-Menü mit Pommes frites und Cola. Danach ging er auf die Bahnhofstoilette, da er dort auch duschen konnte. Außerdem gab es hier Einweg-Rasierer. Er konnte unmöglich so unrasiert zur Arbeit erscheinen. Bei dem schlechten Eindruck, den er die letzten Tage hinterlassen hatte, durfte er keinen Fehler mehr machen. Siegmund würde ihm sowieso die Meinung sagen, da war er ganz sicher.

 

Es war jetzt vier Uhr morgens. Noch ein paar Stunden Zeit, bis er ins Büro fahren konnte. Vor sieben Uhr ließ ihn das Kartensystem nicht hinein. Also musste er die Zeit totschlagen, zum Schlafen war viel zu aufgedreht. Auf der Lister Meile, die Fußgängerzone, die hinterm Bahnhof die beiden hannoverschen Stadtteile Oststadt und List teilte, war natürlich nichts los. Tobias stoppte vor dem Schaufenster einer esoterischen Buchhandlung in der Nähe des Weiße Kreuz Platzes und sah sich die Auslagen an. Was es alles so für seltsame Bücher gibt, dachte er. Vielleicht sollte ich meine Erlebnisse in einem Buch veröffentlichen, das hat man mir nicht verboten. Wenn ich es als Roman tarne, könnte der Weltenerschaffer nichts sagen, dachte er.

 

Tobias ging zurück zum Bahnhof, Richtung Innenstadt. Vorbei am Ernst-August-Denkmal, dem beliebten Treffpunkt der Hannoveraner, der von allen „Unterm Schwanz“ genannt wurde, schlenderte er Richtung Kurt-Schumacher-Straße zur Hauptpost. Bald würde hier alles anders aussehen. Der gesamte Block sollte abgerissen werden, und ein großes Einkaufszentrum sollte dort entstehen. Jedenfalls war das in seiner alten Welt so geplant, aber warum sollte es hier anders sein. Andererseits hatten ein paar Stück Zucker schon sehr viel verändert. Er kam an einem Werbeplakat eines bekannten Kaffeerösters vorbei: „Jede Woche eine neue Welt“. Er musste herzhaft lachen. So hatte er den Spruch noch nie wahrgenommen.

 

Tobias hatte unterdessen die Herrenstraße erreicht, ironischerweise war gerade hier in der Nähe der hannoversche Straßenstrich. Um diese Zeit war aber selbst da kein Verkehr mehr. Ihm fiel aber eine alte Pinte ganz in der Nähe ein, die nachts geöffnet hatte. Das „Odeon“ war eine bekannte Musikkneipe, wo man auch noch fünf Uhr morgens Bier trinken und etwas essen konnte. Nach beiden stand ihm jetzt zwar nicht der Sinn, dann gegessen hatte er gerade erst, und mit einer Fahne wollte er nicht zum Dienst erscheinen. Dort konnte er aber eine Cola trinken.

 

Im Odeon in der gleichnamigen Straße war es tatsächlich noch brechend voll. Tobias fand noch einen freien Stuhl an einem kleinen Zweiertisch. Die Bedienung, eine hübsche rothaarige Frau von Anfang dreißig sprach ihn an: „Mensch, Tobi, du warst ja ewig nicht hier. Wie immer ein Bier und eine Portion Chili?“

„Ach, du bist es, Karola. Nein bitte nur eine große Cola.“

„Was ist dann mit dir los?“ Karola setzte sich auf dem freien Platz neben ihn. Sie hatten vor ein paar Jahren eine Beziehung gehabt. Eigentlich hatten sie prima zusammen gepasst, aber es lief halt auseinander. „Das ist eine lange Geschichte, Karola. Lass uns telefonieren, ich kann dir das jetzt nicht erzählen. Hast du noch meine Telefonnummer?“

„Na klar, Tobi. Ich lösche nie die Nummern meiner Freunde.“

„Prima. Dann ruf mich heute Abend mal an.“

„Du kannst mich auch anrufen.“ Sie steckte ihm ihre Visitenkarte zu, weil sie zu Recht befürchtete, dass er ihre Nummer vergessen hatte. Dann kniff sie ein Auge zu, streichelte ihn kurz über die Wange und ging glücklich zum Tresen zurück. Tobias war froh, hierher gegangen zu sein. Manchmal liegt etwas Gutes im Bösen.

 

Kapitel 7

 

 

Auf dem Weg zur Arbeit hörte Tobias Nachrichten. Der US-Präsident würde nächste Woche einen Europabesuch machen. Berlin sollte die erste Station werden. Danach würden Rom, Madrid, Paris und London folgen. Proteste waren nirgendwo zu erwarten. Tobias musste daran denken, wie unbeliebt dagegen George W. Bush in seiner Welt gewesen war.

 

Er hatte kaum sein Büro aufgeschlossen, als er schon von hinten angesprochen wurde. „Tobias, ich muss dringend mit dir sprechen. Es ist ernst.“ Wenn Siegmund ihn schon „Tobias“ nannte, konnte das nichts Gutes bedeuten. „O.K., ich komm gleich herüber“, antwortete Tobias, legte seine Aktentasche ab und ging durch die Verbindungstür ins Nachbarbüro. Siegmund forderte ihn durch eine schroffe Geste auf, sich zu setzen und schloss die Tür zum Flur.

 

„Tobias, was ist los mit dir? Du machst deine Arbeit nicht richtig, stellst verrückte Fragen, und machst einfach blau, weil du dich mal wieder zugesoffen hast.“ Tobias wollte gerade beschwichtigend einwirken, als Siegmund ihn unterbrach. „Ich bin noch nicht fertig. Du surfst in den letzten Tagen ständig im Internet. Das ist zwar nicht verboten, aber die Arbeit darf nicht darunter leiden. Genau das ist bei dir aber der Fall. Du bekommst nichts mehr auf die Reihe. Bei aller Freundschaft, aber das können wir nicht hinnehmen. Unserer Firma geht es zwar sehr gut, aber die Konkurrenz schläft nicht. Die von Rushmore scharren schon mit den Hufen.“ Tobias kochte innerlich vor Wut. Er war von seinem alten Spezi enttäuscht, aber er hatte diese Standpauke erwartet. Trotzdem riss er sich zusammen und sagte: „Siggi, du hast Recht, ich hänge im Moment ziemlich durch. Ich kann dir aber nicht sagen, warum das so ist. Es ist eine total verrückte Geschichte, die du niemals glauben würdest. Aber für Mexiko werde ich mein Bestes geben. Ich garantiere dir, dass ich den Auftrag an Land ziehe.“

„Das möchte dir auch raten. In diesem Zusammenhang möchte ich mir mal deine Präsentation ansehen. Du hast sie doch schon fertig?“

„Natürlich. Das ist längst erledigt. Inhaltlich sowieso, und die spanische Übersetzung geht auch klar.“ Das war eine glatte Lüge, aber Tobias hoffte, sich auch aus dieser Misere wieder herauswinden zu können. „Ich werde gegen Mittag deine Arbeit begutachten, jetzt habe ich keine Zeit dafür“, antwortete Siegmund. Tobias war froh über diese Schonfrist und ging wieder in sein Büro, doch er war nicht in der Lage zu arbeiten.

 

Seine Situation wurde immer prekärer. Jetzt brauchte er erst mal einen Kaffee. Er ging in die Kantine, um seinen Koffeinbedarf zu decken. Dort kaufte er sich außerdem eine Zeitung, denn sein Exemplar lag noch in seinem Briefkasten in Faßberg.

 

Als er wieder die Tür zu seinem Büro öffnete, traute er seinen Augen nicht: Das Gold von gestern lag mitten auf seinem Schreibtisch. Tobias ahnte, wer dahinter stand. Es war klar, dass er nun noch mehr Ärger bekommen würde. Das Telefon klingelte. Herr Sander war dran. „Guten Morgen, Herr Wagener. Sagen Sie mal, Sie Witzbold, machen Sie immer solche Scherze?“

„Was meinen Sie?“, fragte Tobias irritiert. „Wir haben Ihr angebliches Gold im Labor untersuchen lassen. Es handelt sich um angemalte Barren aus Blei. Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?“ „Wir brauchten das für eine Theateraufführung.“

„Wie bitte?“

„Für eine…“

„Ich habe das schon vernommen. Ich bin nur erstaunt, das Sie erst jetzt damit herauskommen.“

„Es war mir peinlich.“

„Peinlich? Da lassen Sie sich stundenlang verhören, nur weil Sie sich nicht trauen, das zuzugeben?“

„Tja, ähhhh…“

„Gut, Herr Wagener. Die Sache ist vorerst erledigt. Trotzdem werden Sie noch von uns hören. Ganz ohne Strafe kommen Sie nicht davon, auch wenn es nur für das Fahren eines überladenen Fahrzeugs ist. Schönen Tag noch und holen Sie Ihr Zeug hier so schnell wie möglich ab.“ Herr Sander knallte den Hörer auf die Gabel und war richtig wütend. Den Kerl würde er im Auge behalten. Das hatte er ihm auch deutlich zu verstehen gegeben.

 

Tobias war zumindest erleichtert. Er griff zu seinem Handy, um Herrn Elchwerfer anzurufen. „Da haben Sie mir ganz schön was eingebrockt. Trotzdem vielen Dank für Ihre Hilfe. Können Sie zaubern oder wie?“

„Nein, natürlich nicht. Aber wir haben da gewisse technische Möglichkeiten.“

„Schon klasse. Ist das Gold, das hier bei mir liegt, dann nun echt?“

„Ja, das ist das richtige. Ich habe es vom Polizeirevier zu Ihnen transferiert und dort für Ersatz gesorgt.“

„Prima, jetzt muss ich nur noch diesen Kram nach Hause bekommen, und zwar ohne aufzufallen. Wohlgemerkt: OHNE aufzufallen.“

„Geht klar.“ Es bildete sich um das Gold ein glitzerndes Feld und es verschwand innerhalb von Sekunden. „So, das ist erledigt. Haben Sie noch weitere Wünsche?“

„Ja, zum einen muss ich das Ersatzgold von der Polizei abholen.“

„Legen Sie es doch einfach in Ihr Auto.“

„Ha, ha. Damit ich von der nächsten Streife angehalten werde? Nein danke.“

„Gut dann lasse ich mir etwas anderes einfallen. Ist noch etwas?“

„Ja. Ich dachte zwar, Sie wissen alles, aber gut. Ich muss bis heute Mittag diese spanische Präsentation fertig haben.“

„Sie ist fertig. Schauen Sie auf Ihren Rechner nach.“

„Danke, ich bin heute Nachmittag bei Ihnen.“

 

Tobias schaute nach. Er fand nicht nur die Präsentation für die Mexikaner, sondern auch die Kalkulation für Belgien. Klasse, dachte er, so erledigt sich die Arbeit von selbst. Tobias schloss noch ein paar weitere Arbeiten ab und überspielte die Präsentation auf Siegmunds Rechner und ging danach zu ihm herüber, mit der Kalkulationsmappe in der Hand. Siegmund blätterte diese kurz durch und nickte anerkennend. „Na, das sieht doch schon viel besser aus. Wenn jetzt das andere auch noch in Ordnung ist, kannst du für heute Feierabend machen.“ „O.K., dann gehe ich erst mal essen. Bis nachher“.

 

Siegmund sah sich Tobias Arbeit genauer an und war von dieser begeistert. Auch an der Präsentation gab es nichts auszusetzen. Das Spanisch war erstklassig und die Aufmachung auch. Warum nicht gleich so. Er rief bei Herrn Altmann an und berichtete ihm davon. Fast schon hätte er die Flugtickets auf sich umgebucht und wäre selbst nach Mexiko geflogen. Das konnte er sich jetzt ersparen.

 

„Tobi, mein Freund, ich bin stolz auf dich. Ich wusste doch, dass ich mich auf dich verlassen kann. Dann kann ich dir die Reiseunterlagen ja gleich geben. Geh mal nach Hause. Ich wünsche dir ein schönes Wochenende.“ „Ich dir auch, Siggi.“

 

Am liebsten wäre Tobias vor lauter Freude in die Luft gesprungen. Das läuft jetzt prima. Im Parkhaus wartete eine Überraschung auf ihn. An seinem Toyota war ein Anhänger angekuppelt. „Kälte-Klima-Technik Meisterbetrieb Gerdes“ stand dort in sympathischen himmelblauen Buchstaben. Tobias stieg ein und fuhr los. Etwas ungewohnt war die Fahrerei mit dem Gespann schon, aber er kam ohne größere Probleme bei der Polizei in Lahe an. Auf dem Weg in das Lager, lief ihm Hauptkommissar Sander über den Weg. „Na, Herr Wagener, lange nicht gesehen. Wollen Sie Ihr Gold abholen?“, fragte dieser spöttisch. „Ja, ich habe mir einen Anhänger geliehen.“

„Gut, gut. Aber wie gesagt: Ohne Strafe kommen Sie nicht davon.“

 

Tobias lud das „Gold“ ein und fuhr los. Er machte jedoch an der nächsten Ecke halt, weil ihm Bedenken gekommen waren, und griff zu seinem Handy. „Ja, Hallo Herr Elchwerfer. Das Zeug ist jetzt aufgeladen aber wo kommt der Anhänger her? Ich möchte nicht schon wieder Ärger haben.“

„Ich habe ihn organisiert.“

„Dann organisieren Sie ihn mal wieder weg.“ Mitsamt seinem Inhalt verschwand das Gefährt vor seinen Augen. „O.K., das haben Sie auch erledigt. Ich bin dann nachher bei Ihnen.“

 

 

Kapitel 8

 

 

 

 

Als Tobias seine Garage aufschloss, musste er feststellen, dass sich dort in der Ecke das echte Gold materialisiert hatte. Mit Mühe und Not bugsierte er sein Auto herein und begab sich zu seinem Haus. Ihm kam ein zufriedener und sehr satter Lucky entgegen, als er die Haustür öffnete. Nicht nur dass der Fressnapf gut gefüllt war, auch das Katzenklo war gereinigt. Es war klar, wer sich darum gekümmert hatte. Der Briefkasten war jedoch nicht geleert, Tobias fand einen Brief von der Weinfirma vor, die ihn am Dienstag angerufen hatte. Nächste Woche am Mittwoch wollte ein Herr Niemann vorbeikommen, mitsamt „wertvoller, exklusiver Weine aus aller Welt zu unglaublich günstigen Preisen“.

 

Bevor Tobias nach Munster aufbrach, rief er noch Karola an, die sich sehr darüber freute. Heute Abend hatte sie Dienst, aber ohnehin hätte sich Tobias für ein sofortiges Treffen zu müde gefühlt. Sie verabredeten sich folglich für den morgigen Tag um zwanzig Uhr an der Kröpcke-Uhr im Zentrum von Hannover. Man wollte dann spontan entscheiden, wo man einkehren wollte. Wahrscheinlich würde es ein nettes Pub werden, da beide die Leidenschaft für Whisky, Guinness und Folkmusik teilten.

 

Es war für Tobias nicht verwunderlich, dass sich das Haus des Weltenerschaffers genau wieder dort befand, wo er es das letzte Mal gesehen hatte. Man begrüßte sich freundlich und gab sich die Hand. „Ich muss sagen, Herr Elchwerfer, Sie kümmern sich wirklich um alles. Vielen Dank für die Versorgung von Lucky und dass Sie mir mit dem Gold aus der Patsche geholfen haben. Die Herren von der Polizei waren aber wirklich sehr hartnäckig. Es ging noch gut. Kann das jedoch sein, dass Sie oft nicht ahnen, was geschieht, wenn Sie es etwas tun? Ich dachte, Sie kommen aus der Zukunft, und wissen schon alles.“

„Ich weiß FAST alles. Über die Reaktionen der jetzigen Menschen bin ich aber oft überrascht, zu meiner Zeit sind die Leute ganz anders. Bei uns gibt es zum Beispiel keinerlei Misstrauen oder auch keine Lügen. Wozu auch, das haben wir schon lange abgeschafft. Ach, ehe ich es vergesse, kommen Sie bitte mal näher.“ Tobias tat, wie ihm geheißen und schrie auf. Etwas hatte ihn gestochen, ein kurzer aber heftiger Schmerz. „Aua, was soll das?“, rief er aus. „Ich habe Ihnen einen Chip eingepflanzt, eine Art Universalübersetzer, damit verstehen und sprechen Sie alle Sprachen und Dialekte dieser Welt.“

„Ganz sicherlich hilfreich, ich hatte schon Bammel wegen Mexiko und mein Englisch ist auch nicht so toll.“

„Damit werden Sie nie wieder Probleme haben, man wird beeindruckt von Ihnen sein. Brauchen Sie noch etwas? Ich kann Ihnen beschaffen, was Sie sich wünschen.“

„Sie wollten mir doch die Liste geben, die mit den früheren Botschaftern.“

„Hier ist sie.“ Tobias warf einen flüchtigen Blick darauf, alles bekannte Leute, aber alle schon tot, soweit er es erkennen konnte oder es in Erinnerung hatte. Er sah die Namen von Kepler, Leibniz, Kopernikus, Albert Einstein, Philipp K. Dick, John F. Kennedy und viele mehr. „Mann, oh, Mann, lauter Prominente, da bin ich aber ein kleines Licht.“

„Das wird sich ändern, Herr Wagener. Lassen Sie sich überraschen.“

„Überraschungen hatte ich in den letzten Tagen reichlich, leider auch unangenehme.“ Die beiden plauderten noch eine Weile, danach verabschiedete sich Tobias, weil er nun sechsunddreißig Stunden auf den Beinen war und reichlich Schlaf brauchte.

 

 

Samstag, der 23. Juli 2005

 

 

Gegen zehn Uhr morgens erwachte Tobias. Er hatte von Karola geträumt und hoffte, dass der heutige Abend ebenso verlaufen würde wie in seinem Traum. Nach einem kräftigen Frühstück holte er sich seine Zeitung aus dem Briefkasten. In den Kommentaren und in einigen Leserbriefen wurde die Auflösung des Bundestages diskutiert beziehungsweise die Rede von Bundespräsident Köhler dazu. Ansonsten war nicht viel passiert, es war nun einmal das typische Sommerloch. Auch wieder kein Wort zu den Anschlägen in London, die nun wohl wirklich in dieser Welt nicht stattgefunden hatten.

 

Tobias suchte nach seinem alten Fotoalbum, um die Aufnahmen von seiner Reise mit Karola nach Schottland im Jahre 1998 zu betrachten. Es war alles wie in seiner Erinnerung. Er sah die Bilder von Loch Ness, aus Edinburgh und Glasgow, von Donan Castle sowie von der Insel Skye. Ach, war das schön. Er war dort sehr glücklich mit Karola und plante schon mit ihr eine gemeinsame Zukunft. Sie sprach damals sogar von Kindern.

 

Aber jetzt würde wieder alles gut werden, da war er sich sicher. Er überlegte gerade, wie er das mit der Fahrerei machen wollte, als das Telefon klingelte. Es war Karola. „Freust du dich auch schon auf heute Abend?“

„Na klar, ich habe auch gerade an dich gedacht.“

„Schön, ich auch. Du kannst deinen Wagen übrigens bei mir abstellen, wir fahren dann mit der Stadtbahn in die City. Es ist ja nicht weit.“

„Wohnst du dann immer noch in der Südstadt?“

„Aber klar. Hast du dann meine Visitenkarte nicht angeguckt?“

„Tja, äähh.“

„Na, gib es zu, du alter Schlawiner.“

„O.K., du hast recht…“

 

Sie telefonierten noch eine ganze Stunde. Tobias fuhr danach zum nahe gelegenen Blumenladen und kaufte dort einen riesigen Strauß orangefarbener Rosen, das war Karolas Lieblingsfarbe, wie ihm einfiel. Fast hätte er auch noch in der benachbarten Apotheke Kondome erworben, aber er verkniff es sich. Wenn es für die Existenz potentieller Nachkommen und die Zukunft der Menschheit besser wäre, wäre es vielleicht klug, darauf zu verzichten.

 

Um halb acht abends klingelte er bei Karola in der Geibelstraße, die ihm freudestrahlend um den Hals fiel. Sie freute sich sehr über die schönen Blumen und reichte ihm ein Glas roten Sekt, der gut gekühlt war. Augenscheinlich hatte auch sie sich gut vorbereitet. Von hinten näherte sich Pia, eine von Karolas Siamkatzen. Pias Zeichnung war exakt die gleiche, wie die ihrer Schwester Sia, nur dass diese bei ihr spiegelverkehrt war. „Na, Pia, kennst du mich noch?“ Anscheinend war das nicht der Fall, dann sie zog sich ängstlich zurück. „Lass uns doch etwas hinsetzen“, hauchte Karola. „Hier im Flur ist es so ungemütlich.“ Die beiden gingen ins Wohnzimmer, das sich gehörig verändert, seit Tobias das letzte Mal hier war. Die alten Möbel waren verschwunden und durch eine moderne Einrichtung ersetzt worden. Alles war schwarz und silbern und gefiel Tobias außerordentlich. Nur die Wandfarbe war für seinen Geschmack viel zu grell und unpassend, sie war in einem kräftigen Orange gehalten. Im Hintergrund lief eine CD von Doro. Auf dem Sofa legte Karola den Arm um Tobias und schmiegte sich an ihn. „Schön, dass du wieder in mein Leben getreten bist, Tobi.“ Er streichelte sie und sagte: „Ja, das finde ich auch. Ich war zu blöd, dass ich damals mit dir Schluss gemacht hatte.“

„Na, ja, dafür gab es ja auch einen Grund, du Schlingel.“ Tobias fiel sein Fauxpas im Pub in Dundee ein. Kurz vor der Sperrstunde, der Barkeeper hatte gerade „Last Orders“ gerufen, hatte er ein einheimisches Mädchen angemacht und das vor Karolas Augen. Die war darüber natürlich gar nicht amüsiert und hatte ihn wüst beschimpft. Als ein anderer Gast, der südländisch aussah, eingreifen wollte, hatte Tobias in der Wut dessen Bier auf den Boden geworfen. Nachschub gab es keinen mehr, weil mittlerweile nichts mehr ausgeschenkt werden durfte. Der Kontrahent schnappte sich folglich das Bier von Tobias und trank es ohne abzusetzen aus. Jetzt schlug Tobias zu und versetzte dem Mann einen Fausthieb. Natürlich flog Tobias sofort aus der Bar und erhielt Hausverbot. Die folgende Nacht war, wie sich denken lässt, ziemlich unerfreulich, da seine Freundin nicht aufhörte zu zetern. Das führte letztendlich zur Trennung.

 

„Diesmal wird alles gut, Karola.“ Durch Zufall lief in diesem Moment „Alles ist gut“ von Doro an. Beide mussten lachen. „Ein gutes Omen, nicht wahr?“, bemerkte sie. Ohne zu fragen gab er ihr einen dicken Kuss auf die Lippen und drückte sie noch mehr an sich.

 

Tobias gab vor, auf Toilette zu müssen. Er wurde neugierig. Dort waren erfreulicherweise keine Männerutensilien zu finden. Er freute sich. Als er in die Stube zurückkehrte, bemerkte er, dass sie noch mal Sekt nachgeschenkt hatte. „Auf unsere Zukunft, mein Schatz.“ Diesmal war sie es, die ihm einen Kuss aufdrückte. Unterdessen hatte sie eine andere CD aufgelegt, es lief jetzt „The One I Love“ von R.E.M. „Die Scheibe habe ich mir letzte Woche gerade gekauft.“, bemerkte sie. „Es passt jetzt um so mehr. Wollen wir dann los, oder…?“

„Ja, lass uns fahren. Alles andere können wir später erledigen.“

„Na, da ist jemand stürmisch geworden“ sagte sie lachend und kniff ihm ein Auge zu. Sie küssten sich erneut und gingen aus der Wohnung. Da es draußen immer noch sehr warm war, nahm sie keine Jacke mit. Arm im Arm gingen sie zur nahegelegenen Stadtbahnhaltestelle und fuhren mit der Linie 2 bis zum Kröpcke. Hier in der Innenstadt hatten sie viele Möglichkeiten für einen netten Abend zu zweit. Spontan entschieden sie sich für das nahe gelegenen Jack the Ripper’s, einem sehr guten English Pub. Das Lokal hatte Karola empfohlen. Tobias kannte sich in Hannovers Gastro-Szene nicht mehr so gut aus, seitdem er in Faßberg wohnte.

 

Die beiden gingen die alte Holztreppe herunter, an den Wänden hingen alte Stiche aus England. Am Ende der Treppe blieben sie kurz stehen. Das Bild zeigte einen Stadtplan von London aus dem 19. Jahrhundert. „Schau mal, wie groß die Stadt damals schon war“, stellte Karola fest und Tobias antwortete: „Ja, verblüffend. Und da in der Mitte liegt der Stadtteil White Chapel. Dort hat Jack the Ripper sein Unwesen getrieben.“ Von hinten kam eine Stimme: „Dürfte ich bitte mal durch?“, fragte ein hochgewachsener Kellner, der zwei Teller mit Chili con Carne in den Händen hatte. „Natürlich, wir gehen aus dem Weg“, antwortete Tobias. Es war hier wirklich etwas eng, und sie gingen deshalb weiter. Der Gewölbekeller war von Rauch geschwängert, es war ziemlich voll. Tobias hustete und sagte: „Es wird Zeit, dass bei uns das Rauchen in Lokalen verboten wird, zumindest da, wo gegessen wird.“ „Das finde ich auch. Ich muss mir jeden Tag neue Klamotten anziehen und die alten Sachen nach der Arbeit gleich in die Wäsche tun. Das stinkt ohne Ende. Im Odeon wird noch mehr geraucht als hier.“ „Wolltest du dir nicht schon längst mal was anderes suchen?“ „Ja, das stimmt. Aber andererseits liebe ich meinen Job und das Odeon ist ein toller Laden.“

 

Am Tresen aus schwarzem Holz waren in der Mitte noch zwei Barhocker frei. Sie nahmen Platz. Tobias bewunderte die zahlreichen englischen Zapfhebel an der Theke, wo der Barkeeper emsig beschäftigt war, die Gläser zu füllen. Der Tresen stand vor einer unverputzten gemauerten Wand, die Spirituosen waren angenehm ausgeleuchtet. „Die haben eine gute Bierauswahl“, bemerkte Tobias, als er in die Karte ansah. „Aber es gibt kein Guinness. Wie schade.“

„Dafür haben wir Beamish, das schmeckt fast genau so. Wir sind ein englisches Pub“, erklärte der wohlbeleibte lockenköpfige Kellner. „Gut, dann probiere ich das Mal. Für dich auch, Schatz?“

„Ja, gerne. Und für das Essen gucken wir noch.“

„Alles klar.“ Karola flüsterte ihrem Freund ins Ohr: „Das sagen die jedes Mal hier, wenn jemand Guinness bestellen will. Es stimmt zwar, dass das Beamish auch so lecker ist, aber schau mal.“ Sie deutete auf den Bierdeckel. Dort stand: „Beamish – brewed in Ireland“. „Vielleicht sollten wir ihm das mal zeigen. Irgendwann mache ich mir den Spaß“, ergänzte Karola.

 

Die Pints waren schnell gezapft. Wie es sich gehörte, warteten sie, bis sich der weiße Schaum vollständig vom schwarzen Bier getrennt hatte. „Irische Gedenkminuten“ nannte man das in Kennerkreisen. Der Schaum war fest, und ihm schmeckte das Bier hervorragend. „Aaaahhh, wirklich sehr gut. Das könnte ich nicht unterscheiden“, stellte Tobias fest. „Stimmt, ich auch nicht.“

„Aber beim Whisky kannst du locker zehn verschiedene Malts auseinanderhalten.“ „Mittlerweile schaffe ich deutlich mehr, nämlich drei dutzend, natürlich nicht gleichzeitig.“ Der Kellner mischte sich ein: „Und was darf ich zu essen bringen?“

„Hmm, für mich den Hähnchen-Korb. Und du, Tobi nimmst doch sicherlich Chili?“

„Nein, heute nicht. Ich nehme Shepherd’s Pie.“

„Du hast deine Gewohnheiten verändert, Schatz?“, wollte Karola wissen. „Das ist eine lange Geschichte. Lass uns über etwas anderes reden.“

„Ja, über uns.“ Erneut küsste sie ihn. Im Hintergrund hörte Tobias, wie sich zwei junge Männer auf Polnisch unterhielten. „Guck mal, diese geile rothaarige Schnecke da drüben an der Theke. So eine klasse Frau. Der hässliche Typ daneben hat sie gar nicht verdient.“

„Ja, dass solche Arschlöcher immer die besten Weiber abschleppen.“

„Wirklich unglaublich. Die Schlampe macht das bestimmt nur, weil der Kerl viel Kohle hat.“ Dank seines Sprachchips hatte Tobias alles verstanden. Er ging zu den beiden hin und sagte: „Jungs, da irrt Ihr Euch. Solche Ärsche wie Ihr beide könnten reich wie Bill Gates sein, sie würde Euch niemals anfassen.“ Völlig verblüfft darüber, dass jemand hier ihre Sprache konnte, machten die beiden große Augen und sagten gar nichts mehr. Tobias kehrte zur Bar zurück. „Ich wusste gar nicht, dass du so gut Russisch sprichst, Schätzchen. Was haben die dann gesagt?“, wollte Karola wissen.

„Das war Polnisch. Ich erkläre es dir nachher.“

„Trotzdem meinen Glückwunsch. Was hast du noch für Qualitäten erworben?“

„Das wirst du heute Nacht sehen.“ Sie lachte laut auf.

 

Das Essen kam. Karola wusste noch, dass Tobias während seiner Mahlzeiten schwieg und hielt sich daran. Doch er sprach sie überraschenderweise an: „Wie ist dein Chicken?“

„Oh, die Wings sind wirklich lecker, die Panade ist köstlich. Aber die Nuggets sind nicht so toll. Probier mal.“ Sie hatte recht, da halfen auch die Dips nichts. „Und dein Essen?“ „Es schmeckt großartig. Das Hackfleisch ist gut gewürzt und das Gemüse bissfest. Dazu die leckere Kartoffelbreikruste. Hmmmm.“ „Trinken wir danach noch einen Malt?“ „Gute Idee.“ In der liebevoll gestalteten Spezialkarte hatte er einen seiner Lieblingsmalts entdeckt, einen sechzehn Jahre alten Lagavulin von der Insel Islay. Laut Beschreibung sollte dieser bernsteinfarben sein und einen kraftvollen Körper mit Torfnote haben. Karola wählte jedoch einen vierzehn Jahre alten Oban aus den westlichen Highlands mit torfigen Rauchton und trockenem, malzigem Geschmack. Die edlen Tropfen wurden selbstverständlich erst serviert, nachdem sie zu Ende gespeist hatten.

 

„Können Sie sich vorstellen, dass neulich jemand den Lagavulin mit Eis und Zitrone bestellt hat?“, fragte der Barkeeper. Sie sahen ihn mit großen Augen an. „Es war ein Amerikaner. Ich brachte ihm drei Gläser. Eines mit dem Whisky, eines mit einem Eiswürfel und eines mit einer Zitrone. Ich sagte: `Servieren kann ich Ihnen das so, wie Sie möchten. Wenn Sie den Whisky zerstören wollen, müssen Sie das schon selber tun`.“ Großes Gelächter. „Eine tolle Antwort, das muss ich mir merken“, bemerkte Karola. Sie genossen die flüssigen Kostbarkeiten in kleinen Schlucken und sahen sich verliebt an. „Ich weiß, wo es noch eine bessere Malt-Auswahl gibt.“ „Bei dir, Karola?“ „Nein, aber hier ganz in der Nähe.“

 

Tobias zahlte und sie gingen wieder nach oben. Arm in Arm schlenderten sie die elegante Georgstraße entlang, hier reihte sich ein teures Geschäft an das andere. Das Opernhaus war hell erleuchtet, davor war es menschenleer, es war gerade Sommerpause. Die Flaniermeile gegenüber jedoch war gut gefüllt. Alle Menschen schienen fröhlich zu sein und hatten gute Laute. Vor dem Oscar’s blieben sie stehen.

„Das ist einer der besten Bars Deutschland“, erklärte Karola. „Ja, ich weiß. Laut Playboy die Nummer zwei nach einem Lokal in München.“

„Du liest den Playboy?“

„Natürlich nur wegen der interessanten Berichte.“

„Ha, Ha.“ Am Holzfass vor dem Eingang zur Bar saßen einige junge Leute und tranken Cocktails. Tobias und Karola gingen vorbei und setzten sich an die Theke. Es erklang Musik von Sade. Der kahlköpfige Barkeeper fragte nach ihren Wünschen. „Wir würden gerne ein Blind Tasting machen. Bringen Sie uns drei Malts und wir erraten, was es ist“, antwortete Karola. „Sehr wohl. Drehen Sie sich bitte um.“ Nachdem die wertvollen Tropfen serviert waren, bekamen Sie jeweils drei kleine Zettel und einen Kuli. Karola schnüffelte an dem ersten Glas. Leuchtendes Gold erfüllte es. Sie nahm einen kleinen Schluck, dann noch einen und nickte, schrieb etwas auf und legte den Zettel beiseite. Der Whisky im zweiten Glas war deutlich dunkler, schon fast mahagonifarben. Hier musste sie mehrfach probieren und war sich nicht sicher. Doch dann kam ihre Entscheidung und sie füllte den Bogen aus. Nummer drei war an der Reihe. Ohne zu Zögern traf Karola hier ihre Wahl und legte alle drei Zettel umgekehrt auf den Tresen. Tobias war sich unterdessen völlig unsicher. Er war ziemlich aufgeregt und war davon überzeugt, nur zweiter Sieger zu werden. Karola begann mit ihrer Lösung: „Also Nummer eins müsste ein Glenmorangie Port Wood Finish sein. Weich und saftig mit Anklängen an Vanillecreme. Achtzehn Jahre alt, würde ich sagen. Der zweite hatte Sherrytöne mit Aprikosenkompott. Ein Glenfarcles 21 würde ich sagen, Alter hmmm, fünfundzwanzig Jahre? Beim dritten bin ich davon überzeugt, dass es ein achtzehnjähriger Ardbeg 77 ist. Der Pfefferminzgeschmack und der Torfrauch sind typisch.“

„Mein Glückwunsch, gnädige Frau, alles völlig richtig. Das hat hier noch niemand geschafft“, antwortete der verblüffte Kellner. Tobias hatte hingegen dreimal völlig falsch gelegen und steckte seine Ergebnisse diskret ein. Er sagte zu Karola: „Du solltest damit bei Wetten, dass… auftreten, Schätzchen.“

„Tja, leider nehmen die keine Wetten mit Alkohol und außerdem ist aus der Sendung die Luft heraus, seitdem der Gottschalk nicht mehr da ist.“

„Ach, der hat das abgegeben, das wusste ich gar nicht.“

„Tobias, du bist senil oder geschmacklos. Hast du vergessen, dass er vor fast sechs Jahren tödlich verunglückt ist? Er war doch auf der Autobahn kurz vor Frankfurt, als der Laster auffuhr. Wirklich tragisch, ich mochte ihn immer gern.“ Tobias war schlagartig klar, wieso die Veränderung aufgetreten war. Er schwieg deshalb lieber.

 

 

 

Kapitel 9

 

 

Sonntag, der 24. Juli 2005

 

 

Nach einer wundervollen Nacht erwachte Tobias in Karolas Bett vom Duft frischen Kaffees. „Guten Morgen, Liebling. Das Frühstück ist fertig“, rief sie von der Küche aus. Tobias blickte auf den Wecker. Es war kurz vor zehn. Er fühlte sich großartig. Der vorherige Abend war noch schöner gewesen als in seinem Traum letzte Nacht. Sie hatten noch je zwei weitere Malts getrunken und sind danach den kurzen Weg zu ihrer Wohnung gegangen, um den sternenklare Nachthimmel zu bewundern.

 

Tobias trottete nur mit seiner Unterhose bekleidet in die Küche. Karola war jedoch schon angezogen. Sie hatte groß aufgefahren: Auf dem Tisch standen Lachs, Krabben, Müsli, Porridge, gebratene Würstchen, Rühreier mit Speck, frisch gepresster Orangensaft, drei Sorten Marmelade, Honig, ein Korb mit frischen Brötchen und – gebackene Bohnen. Außerdem lag ein Aspirin auf seiner Seite des Tisches. Diese Frau dachte einfach an alles. Er langte kräftig zu, wobei er natürlich die Bohnen verschmähte. Karola ignorierte dieses, wunderte sich aber erneut über ihren Freund. „Wollen wir nachher noch schwimmen gehen? Es ist immer noch brütend heiß draußen“, schlug sie vor. „Gute Idee. Und wo?“

„Die Ricklinger Kiesteiche sind nicht weit…“Offenbar hatte sie den dortigen Nacktbadestrand ins Auge gefasst, deshalb stimmte er begeistert zu.

 

Sie verzichteten nach dem opulenten Frühstück auf ein Mittagessen und fuhren gegen vierzehn Uhr an den See. Zwischendurch hatten sie über alte Zeiten geplaudert und schöne Musik gehört. Pia und Sia hatten ihre Zurückhaltung überwunden und sich Tobias genähert. Es war eine wunderbare Harmonie.

 

Am Strand war viel los, mit Mühe fanden Sie noch einen Platz in Ufernähe. Mutig sprang Karola als erste in Wasser. „Komm herein, es ist nicht kalt“, rief sie ihm zu. Sie hatte recht, das gar nicht kühle Nass hatte mindestens fünfundzwanzig Grad, aufgeheizt durch die tagelange Hitze. Nachdem sie ausgiebig geschwommen hatten, kehrten sie an die Badetücher zurück und verspeisten die Reste des Frühstücks, dazu gab es stilles Mineralwasser für Karola und Cola für Tobias. „Du solltest nicht ständig dieses braune Gesöff trinken“, warf sie ihm vor. „Ja, ja.“

„Schwarzer Kaffee, Cola, Whisky und Bier – hast du jemals in letzter Zeit etwas anderes getrunken?“

„Ja, deinen Sekt gestern.“

„Stimmt, den habe ich vergessen. Aber man kann auch Wasser trinken.“

„Wasser bekommt bei mir nur Lucky.“

„Ach, dein neuer Kater. Den kenne ich noch nicht.“

„Das soll sich bald ändern. Hast du am Mittwoch frei?“

„Ja, das passt, ich muss morgen und übermorgen arbeiten und habe dann einen Tag frei.“ „Wunderbar, ich hole dich dann ab.“ Gegen 17.30 Uhr brachen sie auf, er setzte sie zu Hause ab und fuhr nach Faßberg zurück. Lucky war verärgert, dass er schon wieder solange allein gelassen worden war und musste durch kräftige Streicheleinheiten entschädigt werden.

 

 

 

Montag, der 25. Juli 2005

 

In der Nacht hatte es ein starkes Gewitter gegeben, es hatte geschüttet ohne Ende. Die brütende Hitze war angenehmen neunzehn Grad gewichen, die Straßen waren zum Teil überflutet. Tobias konnte nur langsam und vorsichtig auf der Landstraße fahren. Er schaltete das Radio ein. In den Nachrichten wurde von einem Anschlag in Äthiopien berichtet, bei dem fünf Leute getötet worden sind. Außerdem hatten die USA und Nordkorea hatten wieder bilaterale Verhandlungen aufgenommen. In manchen Regionen der Erde wird es wohl nie Ruhe geben, dachte Tobias. Bis zum 25. Jahrhundert ist zwar noch Zeit, aber… Er wurde aufgeschreckt. Der rote Polo vor ihm war auf der nassen Fahrbahn in Schleudern gekommen. Fast wäre dieser gegen einen Baum gefahren. Tobias kam dank seines ABS rechtzeitig zum Stehen. Er stieg aus und half dem Fahrer des VWs dabei, dessen Auto wieder auf die Fahrbahn zu schieben. Dieser bedankte sich und beide setzten ihre Fahrt fort. Auf der Autobahn ging es dann problemlos voran. Tobias gelangte pünktlich in sein Büro und stürzte sich auf die Arbeit. Die Firma hatte schon wieder einen neuen Auftrag an Land gezogen, es war ein richtig großer Fisch. Japan hatte die Geräte bestellt. Diesmal hatte Tobias keine Probleme mit der Kalkulation. Kurz vor Mittag erhielt er noch einen Anruf, dass auch Portugal Interesse an den Stimmenzählautomaten hätte. Das könnte so weiter gehen.

 

In der Kantine begegnete er Bettina Müller, die ihn immer noch verärgert ansah. Tobias genoss seinen Wildlachs mit Basmati-Reis danach umso mehr. Für den Nachmittag war eine Konferenz der Geschäftsführung vorgesehen. Herr Altmann, Siegmund, Tobias und die beiden Buchhaltungschefs Becker und Schwarze wollten die aktuelle Geschäftslage erörtern.

 

Gestärkt von dem köstlichen Essen betrat er als erster den Konferenzraum. Dort hing eine Weltkarte. Die einzelnen Länder waren zum größten Teil blau oder rot gefärbt. Ein kleiner Teil war grün, ein noch geringerer war orange, der Rest war noch weiß. Die Zuteilung war klar: Hellblau für Newtrix, rot für Rushmore, grün für Sindhu aus Indien und orange für Ulsan aus Südkorea. Der weltweite Markt war fast ganz aufgeteilt, es gab nur noch wenige weiße Flecken, darunter leider auch Deutschland.

 

Herr Altmann kam ins Zimmer und ging freudestrahlend auf Tobias zu und sagte: „Mein lieber Herr Wagener, ich gratuliere Ihnen. Ich habe mir heute Morgen Ihre Präsentation angesehen und bin begeistert. Ganz große Arbeit! So holen wir ganze sicher den Mexiko-Auftrag.“ Unterdessen waren Siegmund und die Herren Becker und Schwarze in das Zimmer gefolgt und hatten sich auf ihre Plätze gesetzt.

 

Herr Altmann erhob das Wort: „Meine Herren, ich begrüße Sie zu unserer heutigen Besprechung. Herr Wagener wird Ihnen zunächst die mexikanische Präsentation für nächste Woche zeigen, danach werden wir das letzte Geschäftsjahr erörtern und zum Schluss einen Ausblick auf kommende Aufträge für die Stimmenzählautomaten werfen. Über unsere weiteren Geschäftsgebiete sprechen wir dann in sechs Wochen. So, bitte Herr Wagener, beginnen Sie.“

 

Tobias präsentierte seine Arbeit, sie war speziell zugeschnitten für Mexiko. Es war wie immer erforderlich, das Programm und somit auch die Präsentation dem jeweiligen Wahlsystem des betreffenden Landes anzupassen. Das Instituto Federal Electoral, die mexikanische Wahlbehörde, musste für die im nächsten Jahr bevorstehende Wahl überzeugt werden, sich für die Newtrix-Produkte zu entscheiden. Gewisse Korruptionen und Manipulationen sind in Lateinamerika leider an der Tagesordnung, deswegen drängten einige Parteien aus Mexiko, damit die Wahl diesmal ordnungsgemäß ablief.

 

Als Tobias fertig war. wurde freundlich applaudiert und man ging zum nächsten Tagesordnungspunkt über. Das Geschäftsjahr 2004 war in allen Tätigkeitsbereichen hervorragend verlaufen. Die Firma produzierte außer den Stimmenzählautomaten auch noch Geld – und Fahrkartenautomaten sowie Selbst-Eincheck-Terminals für Flughäfen und jene Geräte, die man in Supermärkten fand, um als Kunde den Preis von Waren abzufragen. Der Umsatz hatte Rekordhöhen erreicht und das Auftragsbuch war voll. Die fünf Produktionsstätten in Isernhagen, Wolfenbüttel, Kassel, Münster und Bremerhaven waren sehr gut ausgelastet. „Deswegen, meine Herren, müssen wir weiter expandieren. Alle unserer Werke können zusätzliches Personal einstellen. Wir werden überlegen, eine sechste Fabrik zu eröffnen. Die Entwicklung unseres SZA 5000 war das Beste, was uns je widerfahren ist. Nachdem Florida die Dinger gekauft hatte, boomte das Geschäft. Viele weitere Staaten der USA folgten und auch andere Länder hatten die Geräte bestellt. Unser Aktienkurs schoss wieder nach oben, nachdem er zuvor so in den Keller gegangen war.“ Herr Altmann war überglücklich, als er dieses verkündete. Noch 1999 hatte das ganz anders ausgesehen.

 

Er fuhr fort: „Tagesordnungspunkt drei, meine Herren. Ich erteile erneut Herrn Wagener das Wort.“ Tobias berichtete von den Aufträgen aus Belgien und Japan, sowie der Anfrage aus Portugal. Man diskutierte dann noch, wie man endlich die deutsche Regierung von den Vorteilen der automatischen Stimmenzählung überzeugen konnte. Ausgerechnet im eigenen Land nicht präsent zu sein, war schon etwas peinlich. Dass China und Nordkorea noch weiße Flecken waren, war hingegen nicht verwunderlich und würde sich auch auf absehbare Zeit nicht ändern. Der Tagesordnungspunkt „Formelle Verlegung des Firmensitzes nach Salzgitter“ wurde verschoben. Es hätte den Vorteil, dass alle Firmenfahrzeuge das Kennzeichen „SZ-A...“bekommen könnten. Ganz besonders „SZ-A 5000“ wären sehr begehrenswert. Hier waren aber noch zahlreiche logistische Fragen zu klären. Am Ende der Konferenz ging der Chef noch einmal auf Tobias zu und wünschte ihm alles Gute für Mexiko.

 

Nach einem sehr erfreulichen Arbeitstag fuhr er in die Innenstadt, aß am Steintor eine große Portion Pommes frites mit Ketchup und kaufte noch bei einem Juwelier in der Georgstraße eine wunderschöne Bernsteinkette mit einem kleinen Rubinanhänger für Karola. Sie hatte diese vorgestern bewundert und er hatte so getan, als ob er es nicht bemerkte. Am Aegi bog Tobias in den Friedrichswall ab, und erreichte sein Ziel, die Volkshochschule. Dort glänzte er beim Spanisch-Kurs und brachte den Dozenten, Herrn Gonzales zum Erstaunen. Dieser lud ihn anschließend noch auf ein Bier in die benachbarte Philharmonie ein, einer sehr beliebten Musikkneipe. Bevor er zu seinem Auto zurückkehrte, schrieb Tobias noch eine lange Liebes-SMS an Karola und fuhr beschwingt nach Hause.

 

 

 

Kapitel 10

 

 

Dienstag, der 26. Juli 2005

 

 

Oliver Niemann hatte Druck von seiner Chefin bekommen. Seit Wochen hatte er keinen größeren Auftrag mehr ans Land gezogen. Anscheinend wollten die Leute im Sommer keinen Wein kaufen. Dann gestern noch der Beinaheunfall auf der L 240 ein paar Kilometer vom Ortsausgang Müden… Zum Glück war nichts passiert, auch dem Wein im Kofferraum nicht. Morgen musste er abends nach Faßberg. Laut seiner Chefin ein vielversprechender Kunde. Vielleicht habe ich diesmal wieder Glück, so wie letzte Woche Montag in Hannover, dachte er.

 

Dieser Arbeitstag verlief für Tobias nochmals sehr erfolgreich. Am Morgen kam dann auch noch eine ganze Batterie von Liebesbotschaften per SMS von seiner Freundin. Zurzeit lief wirklich alles prima, das würde er heute Abend auch Stefan erzählen. Man hatte sich unterdessen auf das „Du“ geeinigt. Siegmund kam in sein Büro. „Hallo Tobi, du strahlst ja wie ein Honigkuchenpferd. Habe ich etwas verpasst?“ Daraufhin erzählte Tobias seinem altem Kumpanen von dem Zusammenkommen mit Karola, wobei er jedoch verschwieg, dass die erste Wiederbegegnung an einem Freitagmorgen um kurz nach fünf stattgefunden hatte. „Na, denn kann man nur gratulieren. Ich kenne Karola noch von früher. Ihr hättet damals zusammenbleiben sollen, du hattest mit deiner Sauferei alles verdorben. Übrigens grillen wir am Samstag. Hast du Lust zu kommen und Karola mitzubringen?“

„Ja, ich würde gerne kommen. Ob Karola Zeit hat, werde ich heute Abend erfragen. Jetzt schläft sie.“

„Prima, das freut mich. Das Wetter wird wohl so bleiben.“

„Hoffentlich.“

 

Auf der Heimfahrt hörte Tobias in den Nachrichten, dass Al Gore in Berlin frenetisch empfangen worden ist. Nach dem Eintrag ins Goldene Buch der Stadt und dem Empfang bei Bundeskanzler Schröder hielt der US-Präsident eine beeindruckende Rede am Platz an der Siegessäule. Er wies auf die Bedeutung des Umweltschutzes hin und sagte, dass der Weltfrieden eines der wichtigsten Güter der Menschheit wäre. Immerhin waren die USA nunmehr seit fünf Jahren nicht mehr in einem militärischen Konflikt mit dem Ausland. Das hatte es lange nicht mehr gegeben. Tobias grinste zufrieden.

 

Zu Hause sah er sich seine alten Monty Python-DVDs in der Originalversion an. Dank des Sprachchips verstand er jetzt alles und musste herzlich lachen. Er war froh, nicht mehr auf die Untertitel angewiesen zu sein.

 

Stefan begrüßte ihn freundlich. Bislang lief es mit diesem Botschafter, abgesehen von ein paar Pannen, hervorragend und auch der diesmalige Eingriff in die Weltgeschichte war viel versprechend. Das sah anfangs gar nicht danach aus. „Stefan, ich bin glücklich. Beruflich läuft jetzt alles bestens, ich habe jetzt ein Vermögen und ich habe eine liebe Freundin wieder gefunden. Was will man mehr?“

„Vergiss deine eigentliche Aufgabe nicht. Unsere friedliche Welt muss wieder hergestellt werden. Noch habe ich kein Signal von der Zentrale bekommen.“

„Das wird schon kommen, ich bin Optimist.“

„Vor ein paar Tagen klang das noch ganz anders.“

„Ja, ja. Ich bin nun mal manchmal ein wenig manisch-depressiv. Kann ich das Gold eigentlich bedenkenlos verkaufen? Ich möchte nicht schon wieder Ärger bekommen. Du hast das doch sicherlich irgendwo hergeholt.“

„Ja, das stimmt. Es stammt aus dem Tresor eines untergegangenen Schiffes, wird also nirgendwo vermisst werden. Du kannst es bedenkenlos zu Geld machen.“

„Klasse, dann ist alles in Ordnung. Noch eine Bitte: wenn ich mal wieder in eine peinliche oder unangenehme Situation gerate, könnte ich dir dann mit einem Signalgeber davon Kenntnis geben?“

„Das lässt sich machen. Bis übermorgen habe ich den fertig, morgen hast du ohnehin keine Zeit.“

„Ja, Karola kommt.“

„Und der Weinvertreter.“

„Den hatte ich völlig vergessen. Mist.“

„Mag Karola dann Wein?“

„Nein, auch nicht.“

 

Stefan zeigte Tobias dann, wie er zu ihm gefunden hatte. In dem Video war zu sehen, wie der Weltenerschaffer in Tobias alter Welt eine Annonce aufgab mit folgendem Inhalt: „Sie sind deprimiert, weil Sie vor einiger Zeit einen lieben Angehörigen oder Freund durch dessen Tod verloren haben? Ich kann Ihnen helfen, dieses zu überwinden.“ Nachdem sich einige Kandidaten gemeldet hatten, wurde Tobias ausgewählt und eingeladen. Ihm wurde erklärt, worum es tatsächlich ging und dass es eine Möglichkeit gäbe, die Geschehnisse zu verändern. Tobias war begeistert, führte die Aktion durch und erhielt abschließend einen Trunk, durch den er am nächsten Morgen alles wieder vergessen hatte.

 

Als der Film beendet war, räusperte sich Tobias und sprach: „War das mit den Vergessen dann unbedingt nötig?“.

„Ja, unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass es besser ist, so zu verfahren. Die Botschafter werden Stück für Stück an die Wahrheit herangeführt.“

 

Auf der Heimfahrt lief im Radio „Bobby Brown“ von Frank Zappa. Tobias lachte. Er hatte schon davon gehört, dass der Text etwas unanständig war. Verstanden hat er ihn erst jetzt.

 

Das Telefonat mit Karola ergab, dass sie erneut am Wochenende frei hatte und gerne zum Grillen mitkam. Sie freute sich auch schon sehr auf den morgigen Tag.

 

 

 

Kapitel 11

 

Mittwoch, der 27. Juli 2005

 

 

Die Arbeit wurde bei Tobias zur Routine. Er war aber ohnehin in Gedanken nur bei Karola. So viele Jahre waren vergangen, doch jetzt war es so schön wie noch nie mit ihr. Er hatte versprochen, sie um sechzehn Uhr abzuholen. Jetzt galt es nur noch, den Weinvertreter so schnell wie möglich abzuwimmeln. Hätte er doch bloß nicht zugesagt. Nicht nur, dass er und seine Freundin keine Weinliebhaber waren, auch seine und ihre Eltern waren eher Biertrinker. Allenfalls hätte man Siggi am Wochenende eine gute Flasche mitbringen können, aber bis dahin wäre die bestimmt noch nicht geliefert und für eine Flasche beauftragt man keinen Weinhändler.

 

Auf seinem Desktop war Luckys Foto einer Aufnahme von Karola gewichen, die er zufällig noch auf dem Firmenrechner hatte. Sie entstand am Loch Ness, direkt vor der Skulptur von Nessie. Ein cleverer Restaurantchef hatte sie vor vielen Jahren aufgestellt, sie ist bestimmt schon hunderttausendfach von den Touristen fotografiert worden.

 

Die Kalkulation für Japan wurde von Siggi anstandslos akzeptiert, und die Portugiesen hatten Ende September um eine Vorführung gebeten, wie üblich gleichzeitig mit den Mitbewerbern. Man würde sich folglich innerhalb weniger Wochen zweimal sehen, wobei das Mexiko-Geschäft eindeutig lukrativer war, da dort viel mehr Geräte benötigt werden. Tobias freute sich aber auf ein Wiedersehen mit Lissabon. Er liebte diese Stadt, allein schon wegen der vielen Hügel, der engen Straßen und der alten Straßenbahnen.

 

Karola empfing ihn mit strahlenden Augen. Danach sagte er: „Schließe die Augen, Liebste.“ Sie tat, wie ihr gesagt wurde und Tobias legte ihr die Kette um den Hals, wobei er etwas Probleme mit dem Verschluss hatte. „Augen auf!“

„Ooooohhh, du bist verrückt geworden. Danke, Liebling. Aber ich habe auch etwas für dich.“ Sie ging nach hinten und holte einen kleinen Umschlag aus der Schublade der Flurgarderobe. Tobias öffnete ihn und fand je eine Eintrittskarte für die Runrig-Konzerte in Glasgow und Edinburgh für die diesjährige Christmas-Tour. „Super, vielen Dank, da freue ich mich richtig. Ich nehme an, du kommst mit. Wir können übrigens fliegen, ich habe noch einige Bonusmeilen zur Verfügung.“

„Na klar komme ich mit, oder hast du etwas dagegen?“

„Hm, mal sehen. Nein, natürlich nicht. Das wird bestimmt toll. Die Stimmung in Barrowland ist großartig. Das muss man mal mitgemacht haben.“

„Davon habe ich auch schon gehört. Das andere Konzert in Edinburgh ist in der Usher Hall, das wird sicherlich etwas ganz anderes. Aber bestimmt auch schön.“

„Lass uns fahren. Um 17.30 Uhr kommt noch Besuch.“

„Besuch? Konntest du das nicht verhindern?“

„Nur so ein blöder Weinvertreter. Aber ich hoffe, er verschwindet bald wieder.“

„DAS hoffe ich auch. Seit wann trinkst du dann Wein?“

„Ich mag ihn nach wie vor nicht. Letzte Woche kam so ein Werbeanruf, da habe ich mich einfach überrumpeln lassen.“

 

Als sie in Faßberg ankamen, stand ein roter Polo vor dem Haus, ein Mann stieg aus. „Guten Abend, …oh, Sie sind das?“, stellte er erstaunt fest. „Ach ja, so sieht man sich wieder. Das ist übrigens meine Freundin“, erklärte Tobias. „Ihr kennt Euch?“, wollte Karola wissen. „Ja, ich hatte dir doch von dem Mann erzählt, dem ich vorgestern auf der Landstraße geholfen hatte. Das ist er.“

„So ein Zufall.“

„Zufälle gibt es nicht, es ist alles vorbestimmt im Leben. Na gut, lass uns reingehen.“

„Willst du nicht in die Garage fahren?“

„Das Schloss klemmt im Moment.“ Ihm war das Gold eingefallen, er wäre gehörig in Erklärungsnot gekommen.

 

Oliver Niemann nahm seinen Musterkoffer aus dem Kofferraum und folgte den beiden ins Haus. Lucky begrüßte alle und stürzte sich sofort auf die Leckerchen, die ihm Karola mitgebracht hatte. Tobias schwor sich, nächstes Mal auch an Pia und Sia zu denken, wenn er Karola besuchen würde.

 

Entnervt öffnete der Weinvertreter die vierte Flasche Wein. „Pinot noir, Spätburgunder, stammt aus dem Elsass, kräftiges Aroma.“ Er goss davon ein. Tobias kostete und schüttelte den Kopf: „Der schmeckt nach Kork.“

„DAS bezweifele ich. Die Flasche hat einen Schraubverschluss.“ Karola kicherte und bemerkte: „Das ist nichts Negatives. Für den Erhalt des Aromas ist das sogar besser als ein normaler echter Korken.“

„Da kennt sich jemand aus.“

„Ja, ich arbeite in der Gastronomie.“

„Ein Weinlokal?“

„Nein, eine Musikkneipe in Hannover. Kennen Sie das Odeon?“

„Ich war noch nie da. Aber es soll sehr beliebt sein.“

„Das kann man sagen, der Laden läuft sehr gut.“

„Hätte Ihr Chef nicht Interesse, sein Weinsortiment zu erweitern?“

„Wir haben unsere festen Lieferanten, das wird wohl nichts.“ Fast hätte Niemann geantwortet: „Hier wird das wohl auch nichts“, doch er riss sich zusammen und sagte stattdessen: „Darf ich Ihnen eventuell unser Sektsortiment präsentieren?“

„Gute Idee, ich hole mal die Gläser dafür“, antwortete Tobias.

 

So wurde man sich dann doch noch handelseinig und Oliver Niemann konnte immerhin achtzehn Flaschen eines roten Sektes in sein Bestellbuch eintragen, viel weniger, als er erhofft und seine Chefin gefordert hatte. Trotzdem waren ihm die beiden sympathisch, auch wenn der Typ offensichtlich keinerlei Ahnung von Wein hatte. „Wir können nächste Woche schon liefern, wenn Sie möchten.“

„Das wird nichts, da bin ich dienstlich verhindert.“

„Gut, dann rufe ich Sie danach an.“

„Prima, und guten Heimweg. Haben Sie es noch weit?“

„Nein, ich wohne in Hermannsburg, sozusagen gleich um die Ecke.“

 

Als die Tür ins Schloss fiel sagte Tobias: „So, jetzt zum gemütlichen Teil des Abends. Ich habe da etwas vorbereitet. Komm mit auf die Terrasse.“ Er schob den Vorhang beiseite und Karola machte große Augen. Dort war ein kleines Büfett mit schottischen und irischen Spezialitäten aufgebaut. Es gab Haggis, Stockfisch und als Nachtisch Selkirk Bannock auf der schottischen Seite des Tisches und auf der irischen Seite Irish Stew mit Brownbread sowie natürlich Guinness. Das Ganze war liebevoll dekoriert mit den jeweiligen Nationalflaggen. „Wer soll das alles essen? Erwartest du noch eine Fußballmannschaft?“

„Nein, heute kommt keiner mehr. Lass es dir schmecken.“

„Das ist einfach wundervoll, alles Dinge, die ich sehr gerne esse. Schatz, du bist grandios. Aber wie hast du das hergezaubert?“ Tobias beantwortete die Frage natürlich nicht wahrheitsgemäß, sondern sagte: „Das hat ein Catering-Service geliefert.“ Das war natürlich gelogen, denn Stefan hat das alles hergezaubert. Karola hätte natürlich zu gerne gewusst, wie die Catering-Leute in das Haus gekommen waren, und warum alles noch heiß war, aber sie unterdrückte ihre Neugier. Immerhin lieferte ihr Freund ständig neue Überraschungen. Beide langten kräftig zu. Der Haggis, ein Gericht aus Schafsinnereien, Zwiebeln und Hafermehl, schmeckte Karola besser als jeden, den sie je in Schottland gegessen hatte. Auch das Irish stew war vorzüglich. Der Eintopf aus Lammfleisch und Kohl war perfekt gewürzt und ein Hochgenuss. Stefan hatte sogar eine Zapfanlage für das Bier organisiert, denn Guinness aus Flaschen oder gar aus Dosen ist nicht das Richtige. Für den Nachtisch blieb da kaum noch Platz, doch der Hefekuchen musste zumindest probiert werden.

 

Sie kehrten in die Wohnstube zurück, während Lucky unbemerkt auf die Terrasse huschte. Neugierig roch er an den Schüsseln und machte sich über den Stockfisch her. Die anderen Gerichte verschmähte er jedoch. „Das hast du ganz wunderbar gemacht, Liebster.“

„Ich wollte mich für das tolle Frühstück revanchieren. Du möchtest doch sicher noch einen Malt?“

„Aber klar, du kennst mich doch.“ Sie schloss die Augen: „Lass mich raten, welcher es ist.“ Tobias holte eine Flasche mit einem sehr hellen Whisky hervor und schenkte ein. „Oh, das ist leicht. Ein Dalwhinnie, fünfzehn Jahre alt.“

„Stimmt genau, aber den hätte ich auch sofort erkannt. Nächstes Mal wird es wieder schwerer.“ Ein Scheppern drang herüber. Sie sprangen vom Sofa auf und sahen die Bescherung. Der restliche Fisch lag auf dem Fußboden, die Schüssel daneben. Lucky nutzte die Gelegenheit und lief ins Haus zurück. „Na, Du kleiner Räuber, man darf dich auch nicht fünf Minuten aus den Augen lassen.“, rief Tobias aus. „So sind Katzen nun einmal. Sia und Pia hätten am Sonntag auch fast unsere Krabben weggefuttert, ich konnte das gerade noch verhindern.“

 

Sie gingen wieder zurück, um das Heute-Journal zu schauen, die Sendung war schon fast zu Ende. Gerade lief noch ein Bericht über den Al Gore - Besuch. Tobias war erstaunt, dass es doch Proteste gab. Eine Gruppe junger Leute hatte sich als Indianer verkleidet und hielt Plakate hoch. „Stop Al Gore“, „Save Mount Rushmore“ und „Lakoto forever“ war zu lesen. Tobias war verwirrt: „Wogegen protestieren die dann?“

„Na, das ist doch wohl klar. Dieser Kerl will sich doch als fünften Kopf in den Berg hämmern lassen. Für die Indianer ist der Mount Rushmore heilig, die hatten damals schon etwas dagegen.“ Das war wieder einer jener Momente, an denen es für Tobias besser war, nichts zu sagen. Der letzte Film zeigte die Vorbereitungen einer Bergung eines Schiffes, das 1594 vor den Azoren unterging. Die „La Cinque Chagas“ hatte eine kostbare Fracht an Bord: Perlen, Elfenbein Porzellan, Diamanten und --- Goldbarren. Ein Sprecher berichtete stolz, dass die Frachtpapiere komplett und unversehrt vorlagen und somit auf das Gramm genau bekannt war, was noch auf dem Meeresgrund lag. Tobias beschloss, sich seine Barren morgen genau anzusehen.

 

 

 

Kapitel 12

 

 

 

 

Donnerstag, der 28. Juli 2005

 

Der kleine Umweg zu Karola führte dazu, dass Tobias seinen Arbeitsplatz erst in letzter Minute erreichte. Siegmund empfing ihn frohgelaunt: „Hallo, Tobi, es gibt gute Neuigkeiten. Wir haben bald einen Konkurrenten weniger.“

„Das ist ja super. Wen hat es dann erwischt? Doch wohl kaum Rushmore?“

„Das wäre zu schön. Nein, Ulsan aus Südkorea steht kurz vor dem Aus. Sie könnten sich nur noch retten, wenn sie einen fetten Auftrag an Land ziehen. Mit Mexiko wird das kaum klappen.“

„Na, viele Kunden hatten die ohnehin nicht.“

„Richtig, nur Vietnam, Kambodscha, Laos, Indonesien und natürlich Südkorea selbst.“

„Soll ich schon einmal diese Länder anschreiben?“

„Gute Idee, wir können mal Prospekte verschicken. Der frühe Vogel fängt den Wurm.“ „Mache ich dann gleich, mit netten Begleitschreiben.“ Tobias verschwieg, dass er die Briefe in den jeweiligen Landessprachen verschicken würde.

 

Mit dem Brief an Vietnam fing er an. Die Prospekte waren natürlich auf Englisch, das konnte er so schnell nicht ändern. Bei diesem Anschreiben galt es, diplomatisch vorzugehen, da in dem Land immer noch die kommunistische Partei das Sagen hatte. Das fiel Tobias nicht leicht, jedenfalls war es wesentlich schwerer als die Bewerbung an sich. Gegen elf Uhr war er fertig. Nach dem Essen wollte er dann das Schreiben für Indonesien machen, der Rest sollte dann morgen folgen. Von den fünf Ländern war Indonesien der größte potentielle Kunde, es ist immerhin der viertgrößte Staat der Welt gemessen an der Einwohnerzahl. Es war schon seltsam, dass sich dieses Land damals ausgerechnet für den kleinsten der vier Anbieter entschieden hatte. Aber genau das war wahrscheinlich der Grund für die bevorstehende Pleite von Ulsan, sie hatten sich schlichtweg damit übernommen.

 

Tobias kam gerade aus der Kantine, als sein Handy klingelte. Es war Stefan. „Hallo Tobi, bleibt es bei heute Abend?“

„Ja, sicherlich. Ich freue mich schon.“

„Gut, ich habe nämlich etwas geplant. Sei gespannt.“

 

Indonesien war auch deswegen ein interessanter Kunde, weil dort seit der Wahl im letzten Jahr endlich Demokratie herrschte. Im Gegensatz zu dem Schreiben für Vietnam konnte hier daher wesentlich offener formuliert werden. Tobias war mit seiner Arbeit gerade fertig, als sein Freund Siegmund das Zimmer betrat. „Vietnam und Indonesien sind erledigt, der Rest kommt morgen“, erklärte Tobias. „Es wäre wirklich schön, ein paar neue Länder hinzuzugewinnen, der weltweite Markt ist fast abgegrast. Sollte es mit Mexiko und den fünf Ex-Ulsan-Kunden klappen, hätten wir Rushmore überholt und wären die Nummer eins. Wann fährst du eigentlich am Montag los?“

„Ich wollte gegen sieben Uhr aufbrechen. Kurz nach zehn wäre ich dann am Flughafen, die Maschine geht dann um 14.15 Uhr. Das müsste reichen.“

„Wann bist Du in Mexiko-City?“

„Um 19.25 Uhr Ortszeit. Dann bin ich bestimmt ganz schön kaputt, über zwölf Stunden Flug – das schlaucht.“ „Gut, dass die Präsentation erst am Mittwoch ist, da hast Du dann noch einen ganz Tag zum Relaxen. Trink aber nicht zu viel Tequila.“

 

Auf dem Heimweg hörte Tobias mal wieder seine Folkrockmusik. Kurz nach sechzehn Uhr schaltete er das Radio ein und hörte noch die letzte Meldung der Nachrichten. Die Führung der Provisional IRA hatte angeordnet, den bewaffneten Kampf zu beenden. Die Mitglieder wurden angewiesen, sich ihrer Waffen zu entledigen. Wunderbar, dachte er, der Weltfriede weitete sich aus.

 

In der Garage musste Tobias feststellen, dass das Gold tatsächlich portugiesische Stempel hatte. Es konnte also durchaus von dem Schiff stammen, das geborgen werden sollte. Zum Glück hatte er noch nichts davon verkauft. Das Dinner von gestern Abend war unterdessen zum großen Bedauern von Tobias verschwunden. Er hätte gerne noch etwas von dem Haggis gegessen, manchmal war Stefan einfach zu gründlich.

 

Stefan überreichte ihm ein kleines Gerät, das wie ein handelsüblicher MP3-Player aussah. „Dein Signalgeber. Falls du mal wieder in eine peinliche Situation gerätst, musst du einfach diese schwarze Taste drücken. Ich bin dann sofort mit dir verbunden.“

„Danke, das ist unauffälliger als wenn ich mein Handy hervorholen würde. Übrigens mache ich mir erneut Sorgen wegen des Goldes. Stammt es tatsächlich von dem Schiff, das da vor den Azoren gesunken ist?“

„Das weiß ich noch nicht genau. Sei lieber vorsichtig. Wir warten die nächsten Tage ab.“ „Geht klar. Du sagtest vorhin am Telefon, dass du etwas geplant hast.“

„Ja, wir wollen eine Zwischenbilanz erstellen.“

„Zwischenbilanz?“

„Ja, eine Aufstellung, was sich in dieser neue Welt verändert hat. Wir listen die positiven und die negativen Dinge auf, damit wir abwägen können, ob wir dem Ziel näher kommen. Wichtig sind vielleicht die kleinsten Veränderungen, auch die privaten.“

„Prima fangen wir mit den positiven an. Als erstes fällt mir natürlich ein, dass Siggi lebt, und dass es meiner Firma nun viel besser geht. Dann natürlich die internationalen Auswirkungen: Al Gore ist Präsident statt Bush junior, es gab keinen Irakkrieg und überhaupt keine militärischen Konflikten der USA in den letzten fünf Jahren.“

„Und weiter?“

„Infolgedessen hatten die Amis mehr Geld für den Umweltschutz und für die Terroristenbekämpfung, somit gab es keine Anschläge auf das WTC, das Pentagon und in London. Ja, und nicht zu vergessen: das Kyoto-Protokoll trat schneller in Kraft.“

„Was fällt Dir noch ein? Denk nach!“

„Na, ja, ich bin wieder mit Karola zusammen. Das ist für mich auch sehr wichtig.“

„War das alles?“

„Hmm, ich überlege. Ach ja, Siegmund hat ein weiteres Kind, die kleine Julia.“

„Ja, das könnte für die Zukunft wichtig werden, vielleicht macht sie in dreißig Jahren eine tolle Erfindung oder Entdeckung, oder sie heiratet später eines deiner Kinder.“

„Ich habe doch gar keine.“

„Noch nicht, Tobi. Noch nicht, also halte dich ran.“ Tobias lachte. Er konnte sich jetzt durchaus vorstellen, Vater zu werden. „Kommen wir nunmehr zu den negativen Änderungen in dieser Welt.“

„Also: ich bin nicht mehr stellvertretender Geschäftsführer und ich habe ein kleineres Büro. Aber ich verdiene jetzt trotzdem mehr als zuvor.“

„Also noch etwas Positives. Was ist noch negativ?“

„Tja, der Verlust von Thomas Gottschalk.“

„Wirklich tragisch, das könnte tatsächlich für die Zukunft negative Folgen haben.“

„Wo wir gerade bei Verlusten sind, da ist noch dieser Zwergpudel…“

„Wir listen es mal auf. Der Computer wird analysieren, ob sich das auswirkt.“

„Als letztes fällt mir noch Mount Rushmore ein, bzw. der geplante fünfte Präsidentenkopf. In vielen Science-Fiction-Filmen war das schon Thema. Nun ist es bald Realität.“

„Ja, wirklich erstaunlich. Das hätte ich auch nicht erwartet. So, war es das jetzt?“

„Mir fällt nichts mehr ein. Höchstens noch, dass sich die Runrig-CD verändert hat.“

„Das ordnen wir mal unter neutral ein.“

„Ja, es ist viel passiert. Wenn man der Chaos-Theorie folgt, dann…“

„… bewirkt der Flügelschlag eines Schmetterlings unter Umständen einen Wirbelsturm am anderen Teil der Welt.“

„Ganz genau. Ich sehe, ich habe da einen Experten vor mir. Du bist doch ein guter Botschafter. Ich danke dir für die Auflistung und werde ein Organigramm daraus basteln, mit den entsprechenden Querverweisen.“

„Bei drei Dingen ich mir nicht sicher, ob sie nicht auch ohne unsere Manipulationen passiert wären: Der Tod von Scotty, der Friede in Nordirland und die Auflösung des Bundestages.“ „Ich checke das durch und gebe dir dann Nachricht. Sehen wir uns noch vor deiner Abreise nach Mexiko?“

„Wahrscheinlich nicht.“

„Dann wünsche ich dir einen guten Flug und viel Erfolg für deine Firma. Und denke immer an die Regel.“

„Klar doch, ich passe auf.“

 

Der Abend war noch jung, darum kam Tobias die spontane Idee, nicht direkt nach Hause zu fahren, sondern einen Abstecher in eine bekannte Diskothek von Munster zu machen. Der „Waldkater“ war bei den stationierten Soldaten und auch bei der einheimischen weiblichen Bevölkerung höchst beliebt, von montags bis donnerstags war dort immer viel los. Tobias kannte den Laden noch sehr gut aus seiner Bundeswehrzeit. Er traf dort um kurz nach einundzwanzig Uhr ein. Es war gerammelt voll, aber dennoch war an der Theke noch ein Platz frei. Tobias hatte gerade sein Bier bestellt, als er von der Seite angesprochen wurde. „Mensch, das gibt es gar nicht. Jetzt sehen wir uns schon zum dritten Mal innerhalb kürzester Zeit. Guten Abend, Herr Wagener.“ Es war der Weinvertreter. „Hallo, Herr Niemann. Freut mich, Sie zu sehen.“ Oliver entgegnete: „Ja, ich freue mich auch, obwohl ich mir gewünscht hätte, dass Sie etwas mehr gekauft hätten. Das Bier geht trotzdem auf meine Rechnung, als Dank für die Hilfe von Montag.“

„Na, dann Prost.“ Sie stießen miteinander an. „Hier kann man übrigens prima Weiber aufreißen“, erwähnte Oliver. „Dafür ist der Waldkater bekannt. Aber deswegen bin ich nicht hier, ich habe eine Freundin. Ich wollte nur ein oder zwei Bier trinken. Wir können übrigens „Du“ sagen. Ich heiße Tobias.“

„Ich bin Oliver. Du bist wirklich nett und deine Freundin auch. Aber soll ich dir etwas sagen?“

„Ja?“

„Von Wein hast du keine Ahnung. Du bist der typische Biertrinker.“

„Du hast mich ertappt. Und, macht dir dein Beruf Spaß?“

„Eher nicht, Spaß machen mir ganz andere Dinge. Letzte Woche Montag war es zum Beispiel ganz nett. Da habe ich in Hannover so eine Tussi abgeschleppt. Ich habe sie zufällig vorm Kino getroffen. Sie hatten noch eine Karte übrig gehabt. Nach dem Kino sind wir dann noch in die gegenüberliegende Cocktailbar gegangen und danach ging es zu ihr nach Hause.“

„Wie sah sie aus?“

„Ach, nichts besonderes. Sie war viel zu hager. Außerdem hatte sie schlechte Zähne, strähnige, blonde Haare und so gut wie gar keinen Busen.“ Tobias hatte gerade einen großen Schluck Bier genommen und prustete es über den Tresen. „Lass mich raten: Sie hieß Bettina.“ „Das stimmt, woher weißt du das?“

„Und der Film war der neue von dem Eichinger.“

„Ja, es war The Fantastic Four. Ich bin völlig verdattert.“

„Na, dann kläre ich dich mal auf.“ Er erzählte ihm die Geschichte von seiner Kollegin und dass er es gewissermaßen ihm zu verdanken hatte, dass er dieses Erlebnis hatte. Die beiden tranken dann noch ein Bier und beschlossen sich noch öfter zu treffen.

 

 

Kapitel 13

 

 

 

 

Freitag, der 29. Juli 2005

 

Tobias machte sich frohgelaunt an die Arbeit. Das gestrige Erlebnis im Waldkater hatte ihn sehr amüsiert. Er glaubte ja nicht an Zufälle, sondern daran dass alles vorbestimmt ist. Es sollte eben so kommen, dass eine abgelehnte Kinoeinladung zu einem amüsanten Abend zweier Leute werden sollte, die er unabhängig voneinander kannte.

 

Kambodscha war nur eines der kleineren Fische, aber auch diese galt es zu fangen. Wirtschaftlich war dieses Land im südostasiatischen Raum relativ bedeutend, erstaunlicherweise war es dennoch eines der ärmsten Länder der Welt. In Abstimmung mit Siegmund hatte er entschieden, den König von Kambodscha persönlich anzuschreiben. Das würde gewiss Eindruck machen. Aber Kambodscha hatte leider nicht unbedingt die Demokratie auf den Fahnen geschrieben, das hatte letztes Jahr auch die UNO gerügt. Doch hier interessierte nur das Geschäft der Firma. Laos folgte als Nächstes. Eigentlich waren hier Stimmenzählautomaten fast überflüssig, da es dort ein Einparteiensystem gab. Das machte natürlich ein etwaiges Programm viel einfacher, da man nur die Kandidaten auswählen konnte. Ohnehin war es erstaunlich, dass ein solches Land so etwas eingeführt hatte.

 

Mit diesen beiden Ländern war er recht schnell fertig, bis zum Mittag erledigte Tobias dann noch ein paar andere Dinge und konnte es sich auch nicht verkneifen, Siegmund von den Neuigkeiten über Kollegin Müller zu erzählen. Bald würde es ohnehin die ganze Firma wissen, da seine Sekretärin durch eine Panne mit der Sprechanlage alles mitgehört hatte.

 

Südkorea – das war ein Sahnehäubchen. Man durfte dort aber nichts Positives über den nördlichen Nachbarn sagen, das war verpönt. An eine Wiedervereinigung mit Nordkorea war derzeit nicht zu denken, auch aus wirtschaftlichen Gründen. Dessen ungeachtet galt es diesen Kunden zu gewinnen. Tobias war sich sicher, dass das klappen würde, er hatte ein gutes Gefühl, bei den anderen Ländern war er nicht so sicher.

 

Tobias hatte mit Karola vereinbart, dass er sie heute Abend besuchen würde, um dann morgen nach Siegmund zum Grillen zu fahren. Sie musste bis 21 Uhr arbeiten. Um die Zeit zu überbrücken fuhr er zum Shoppen in die Innenstadt. Er erstand im Kaufhof an der Bahnhofstraße einen guten Malt-Whisky für Karola und eine Flasche Weißwein für Siegmund. Weitere Mitbringsel für morgen erwarb er bei Karstadt: gute alkoholfreie Pralinen für Margot, Überraschungseier für die Zwillinge und ein kleines Stofftier für das Baby. Außerdem kaufte er bei Samen-Meisert in der Schmiedestraße eine große Tube Maltpaste für Sia und Pia, die meisten Katzen waren danach verrückt. Bei Schmorl und von Seefeld kaufte er für sich einen Reiseführer über Louisiana. Nur noch vier Wochen, dann würde er dort Urlaub machen. Am meisten freute er sich auf New Orleans, auch wenn Jazz nicht gerade seine Lieblingsmusik war. Diese Stadt musste man aber mal gesehen haben. Natürlich wäre es mit Karola noch schöner gewesen, aber das war leider nicht möglich, da sie in dieser Zeit keinen Urlaub bekam. Außerdem hatte er die Reise schon lange im Voraus geplant. Um 19.30 Uhr war er mit dem Einkaufen fertig, es war noch Zeit für ein Bierchen. Das hätte er natürlich auch im „Odeon“ trinken können, er hatte aber Lust noch einmal in das Jack the Ripper’s zu gehen, zumal es von dem Buchladen nur ein paar Schritte bis dahin waren. Heute war es dort ziemlich leer. Nur vier Gäste verteilten sich in den Räumlichkeiten. Er setzte sich neben einen kahlköpfigen, dicklichen Mann, der etwa sechzig Jahre alt war. Nachdem sein Beamish serviert war, prostete er ihm zu. „Sie sehen irgendwie traurig aus, ist es passiert?“

„Ach, das ist eine so blöde Geschichte, die glaubt einem keiner. Ich bin Klempnermeister. Letzte Woche Freitag wollte ich mein Material in den Anhänger meines Kombis legen, als ich verblüfft feststellte, dass dieser verschwunden war. Dabei war ich doch nur fünf Minuten in meiner Werkstatt gewesen!“

„Und weiter?“

„Ich fuhr umgehend zur Polizei und wollte Anzeige erstatten. Doch leider war dort gerade geschlossen. Wie ich einem Zettel entnahm, wäre erst in zwei Stunden wieder jemand dort.“ „Das ist Pech.“

„Warten Sie. Es geht noch weiter. Ich bin dann später noch einmal zum Polizeirevier gefahren. Der Beamte hatte gerade die Anzeige aufgenommen, als ein Kollege in das Schreibzimmer hereinstürmte. Er deutete auf mich und rief: `Sagen Sie mal, gehört Ihnen das Fahrzeug da draußen?´ `Ja, warum?´ habe ich gefragt. `Ihr Anhänger blockiert die ganze Einfahrt! Fahren Sie den Wagen umgehend fort.´ Ich sagte überrascht: `Mein was, bitte?´ Der Polizist: `Sind sie taub? Ich kann es Ihnen zeigen´. Wir gingen alle heraus und tatsächlich: Der Anhänger war wieder da! `Na, dann können wir Ihre Anzeige wohl vergessen. Unterlassen Sie solche Scherze´ sagte dann der erste Beamte.“

„Das ist ja eine verrückte Geschichte.“ Tobias ahnte, was passiert war. Der Mann erzählte weiter: „Ich bestieg irritiert meinen Kombi und fuhr weg. Mir fiel auf, dass sich der Wagen irgendwie anders fuhr, ignorierte es aber und machte Feierabend, ohne nachzusehen.“

„Was passierte dann?“

„Am Montag danach ging ich am Morgen gut gelaunt mit dem Werkzeug zu meinem Fahrzeug und stellte befriedigt fest, dass sich der Anhänger nicht von der Stelle gerührt hatte. Ich hob die Plane und – erschrak. Hunderte von Goldbarren blendeten mich. Ich schlug die Plane zurück, hob sie erneut an – das Gold war immer noch da. Ich schaute mich besorgt um, ob das jemand beobachtet hatte und ging ins Haus, um meiner Frau davon zu erzählen. Sie glaubte mir aber kein Wort von der Geschichte. Erst die Sache mit dem Anhänger, der sich in Luft aufgelöst hatte und dann urplötzlich wieder auftauchte und dann ist dieser mit Gold gefüllt. Sie hielt mich für verrückt. Ich beteuerte, die Wahrheit gesagt zu haben und ging mit ihr nach draußen. `Hier bitte, gleich wirst du sehen, dass ich Recht habe.´ sagte ich. Ich deutete auf den Anhänger, doch dieser – war leer. Nicht ein Klumpen Gold. Schreiend warf ich mich zu Boden und trommelte mit den Fäusten, während meine Alte in schallendes Gelächter ausbrach.“

„Und das ist tatsächlich passiert?“

„Ich schwöre es, bei allem was mir heilig ist. Meine Frau hat schon mit Scheidung gedroht, weil ich nicht davon Abstand nehme. Sie sagte: `Entweder gehst du jetzt zu einem Seelenklempner oder ich verlasse dich.´“.

„Kommt auf die Frau an, für was man sich entscheidet.“

„Ich will sie nicht verlieren. Kennen Sie zufällig jemanden, der mir helfen kann?“ „Tatsächlich, da kenne ich einen. Geben Sie mir bitte Ihre Karte.“

„Hier bitte sehr.“ Tobias war sonnenklar, was dort in sympathischen himmelblauen Buchstaben stand: „Kälte-Klima-Technik Meisterbetrieb Gerdes“. Der Farbton war fast genau der gleiche, wie der des Newtrix-Logos. „Ich rufe Sie dann an“, sagte Tobias und wandte sich wieder seinem Bier zu.

 

Karola hatte gute Laune. Sie freute sich auf das bevorstehende Wochenende und den bevorstehenden Abend mit Tobias. In der heutigen Frühschicht war es ausgesprochen ruhig, sie hatte jetzt frei bis Sonntagabend. Ihr Freund stand pünktlich um 21 Uhr vor dem Eingang. Zur Begrüßung gab er ihr einen dicken Kuss. „Schön, dich wiederzusehen. Endlich haben wir mal zwei volle Tage für uns.“

„Ja, und dann bist du eine ganze Woche weg.“

„Das lässt sich leider nicht verhindern. Das ist ein ganz wichtiges Geschäft für meine Firma. Im Moment läuft es da prima, wir sind drauf und dran Weltmarktführer zu werden.“ Sie gingen dann zu Fuß zum Parkhaus in der Mehlstraße und fuhren zu Karolas Wohnung. Dort machten sie es sich auf dem Sofa gemütlich. Pia und Sia schleckten die Maltpaste auf, die ihnen Tobias reichte. „Gib ihnen nicht zu viel davon. Das macht dick.“

„Keine Sorge, da passe ich auf. Ich habe übrigens auch etwas für dich. Hole bitte mal Whisky-Gläser.“

„Malt für alle sozusagen.“

„Genau. Mach bitte die Augen zu.“ Er goss von dem einundzwanzig Jahre alten Glenfarcles ein. Bernsteinfarben funkelte er in den Gläsern. Ohne Probleme erkannte ihn Karola, nur verschätzte sie sich beim Alter des edlen Tropfens. „Duuu, Schatz.“

„Ja, meine Süße?“

„Hast du dir schon einmal überlegt, wie wir unsere Kinder nennen werden?“

„Na, jedenfalls keine Mischung aus unseren Vornamen.“

„Warum dann nicht?“

„Na setze mal Karola und Tobias zusammen. Das ergibt entweder Karias, das klingt wie Karies oder es wird Tobola, das klingt wie Tombola.“

„Stimmt, das wäre total beknackt. Aber jetzt mal im Ernst, ich fände Elias sehr schön, wenn es ein Junge wird.“

„Ja, das gefällt mir auch. Und bei einem Mädchen würde mir Marika zusagen.“

„Da sind wir uns schon einig. Willst du dann ernsthaft Kinder?“

„Wir sind dazu im besten Alter. Auch wenn es vielleicht doof klingt, aber wir könnten sie uns auch leisten.“

„Nein, das ist schon wichtig. Soll ich dann die Pille absetzen?“

„Nur wenn du es auch möchtest.“

„Sonst hätte ich nicht gefragt.“ Feierlich versenkten sie daraufhin Karolas Pillenschachtel im Mülleimer und gingen zu Bett.

 

 

Kapitel 14

 

 

 

Samstag, der 30. Juli 2005

 

Ein strahlend schöner Sommertag. Gegen zehn Uhr standen beide auf und nahmen angesichts des bevorstehenden Grillens nur ein leichtes Frühstück zu sich. Danach brachen sie auf, aber nicht direkt zu den Bergers. Spontan hatten sie beschlossen, nach langer Zeit mal wieder einen Bummel über den hannoverschen Flohmarkt zu machen. Dieser fand jeden Samstag am Ufer der Leine statt. Dort gab es alte Schallplatten, Keramik-Werbeschilder, Puppen, Teddybären, Münzen, Briefmarken, Kronleuchter, Schmuck, Bilder, Spielzeug und vieles mehr. Früher wurde dort auch Kleidung und sogar lebendige Tiere verkauft, aber das war seit langem verboten. Um halb zwölf herrschte dort ein dichtes Gedränge.

 

„Schau mal, die großen Guinness-Werbetafeln! Die bekommt man nur ganz selten in Deutschland.“ Karola war entzückt. „Was sollen die kosten?“, fragte Tobias den Händler. „Das Stück fünfundzwanzig Euro, wenn Sie drei nehmen kosten sie pro Stück zwanzig.“ Karola flüsterte ihm zu: „Das ist recht günstig.“ Trotzdem entgegnete Tobias: „Ich biete fünfzig für drei.“

„Nein, das geht nicht.“

„Fünfundfünfzig.“

„O.K., da haben Sie aber ein gutes Geschäft gemacht“, seufzte der Verkäufer. Tobias gab ihm das Geld und erhielt die Tafeln. Nachdem sie einige Meter entfernt waren, klopfte Karola ihn auf die Schulter und sagte: „Gut gemacht. Ich hätte mir das nicht zugetraut.“

„Ach, ich versuche das immer wieder. Du siehst, es klappt. Lass uns da noch mal bei den LPs gucken.“

„Du hast noch einen Plattenspieler?“

„Nein, ich nicht, aber mein Vater. Er kommt mit den modernen Geräten nicht so gut zurecht.“ Der Händler, der seinen Stand bei den Nanas aufgebaut hatte, hatte eine große Auswahl an alten Scheiben. Es gab Platten mit Jazz, Hardrock, progressiven Rock, Folk, Klassik, Elektropop, Beat, Blues, einfach alles. „Da kann man stundenlang stöbern, was mag dein Vater noch einmal besonders?“, wollte Karola wissen.

„Er ist ein großer Jazzfan, besonders die alten Swingnummern.“

„Da finden wir doch bestimmt etwas für ihn.“ Karola stöberte in dem Karton, als sie vom Händler angesprochen wurde: „Suchen Sie etwas Bestimmtes?“

„Ja, für meinen Schwiegervater. Er liebt die alten Jazzsachen.“

„Da hätte ich hier eine Scheibe von Bill Ramsey…“ Er zog die Platte zielsicher aus dem Stapel. „Der? Ich kenne nur das Lied mit der Zuckerpuppe von ihm.“

„Da tun sie ihm aber unrecht. Er ist ein großer Jazzer. Diese LP heißt „Die andere Seite“, da hat er Nummern von Nat King Cole und anderen Jazzgrößen interpretiert.“

„Was soll sie kosten?“

„Ganze drei Euro.“

„Gekauft.“

„Na, da freut sich mein Vater bestimmt, aber ich wusste gar nicht, dass wir verheiratet sind“, sagte Tobias schelmisch, als sie weitergegangen waren. „Was nicht ist, kann ja noch kommen. Wollen wir die LP nachher bei Peter vorbeibringen? Es liegt ja auf dem Weg.“

„Ja, das ist kein Umweg. Auf dem Weg nach Isernhagen zu Siggi kommen wir in Bothfeld vorbei. Lass uns vorher aber noch ein Eis essen, genug Zeit haben wir ja.“ Sie gingen zurück Richtung Schloßstraße, und weiter die Kramerstraße entlang. Die hannoversche Altstadt ist recht klein. Hier und in der Burgstraße hatte man nach dem Krieg die wenigen erhaltenen Fachwerkhäuser zusammengetragen und wieder aufgebaut. An der mächtigen Marktkirche vorbei schlenderten Karola und Tobias durch die Große Packhofstraße zum Kröpcke, und von dort durch die Bahnhofstraße zum Hauptbahnhof. Mit Glück ergatterten sie dort im Eiscafé zwei Außenplätze. Karola bestellte Spaghetti-Eis und Tobias einen Erdbeerbecher. Sehr rasch kam das Gewünschte, wobei die Portionen, besonders die von Tobias sehr mächtig waren. „Wirklich gut“, bemerkte Tobias. „Ja, ich hier noch nie enttäuscht worden. Vor allem prahlen die hier nicht mit mächtigen Eiskarten. Woanders sehen die Fotos immer viel besser aus als die Wirklichkeit“, antwortete Karola. Die Karte war wirklich sehr schlicht gehalten, es gab nur kurze Beschreibungen mit den Zutaten. Geordnet waren die Becher, danach ob sie Alkohol enthielten oder nicht, und ob sie vorwiegend aus Früchten oder anderen Zutaten bestanden. Karola und Tobias waren gegen halb zwei fertig, bezahlten und brachen auf.

 

Peter hatte es sich gerade mit einem Bier auf der Terrasse gemütlich gemacht, als es klingelte. „Wer kann das denn jetzt sein?“, murmelte er vor sich hin. Er öffnete die Tür. „Überraschung! Hallo, Vater!“

„Mensch, das ist aber wirklich eine große Freude, Euch beide zu sehen. Warum habt ihr nicht vorher angerufen? Ich habe jetzt gar nichts vorbereitet.“

„Wir bleiben auch nicht lange, wir sind auf dem Weg zu Siggi, er hat uns zum Grillen eingeladen. Karola hat dir etwas mitgebracht.“ Sie zog die Platte hervor, die sie bislang hinter ihrem Rücken verborgen hielt. „Hallo, Peter. Ich freue mich auch, dich wiederzusehen. Hoffentlich hast du sie noch nicht.“

Bill Ramsey! Das ist ja super, wo habt Ihr die dann ergattert? Die fehlt wirklich noch in meiner Sammlung.“

„Wir haben die Scheibe vorhin auf dem Flohmarkt entdeckt, und Karola wollte dir diese kleine Freude machen.“

„Das ist dir wirklich gelungen, liebe Karola. Aber kommt doch herein. Für einen kleinen Schluck wird doch Zeit sein. Was möchtet ihr? Bier? Cola? Limonade? Oder soll ich einen Kaffee machen?“

„Für mich reicht ein Wasser“, entgegnete Karola. „Ich hätte gerne eine Cola.“, ergänzte Tobias. Peter holte das Gewünschte und legte danach die Schallplatte auf. Es ertönte „Something Lingers“. „Das hat er selbst komponiert“, erörterte Peter. „Wirklich wunderschön. Vielen Dank nochmals, Karola. Es ist schön, dass Ihr wieder zusammen seid.“ „Und das bleiben wir jetzt auch – für immer!“ Karola strahlte, als Tobias das sagte und ergänzte: „Wir haben auch gerade gestern die Anti-Baby-Pillen entsorgt.“

„Wirklich? Na, dann habe ich doch noch eine Chance Opa zu werden“, antwortete Peter. Nach zwanzig Minuten netter Plauderei verabschiedeten sich Karola und Tobias und fuhren auf der L 381 das langgestreckte Gemeindegebiet von Isernhagen entlang. Siegmund wohnte im Ortsteil Hohenhorster Bauernschaft, in der Nähe der „Blues-Garage“, einem urigen Live-Club, der im amerikanischen Stil eingerichtet ist. Sie hatten noch ein gutes Stück zu fahren. „Das zieht sich, wenn durch Isernhagen fährt. Aber es gefällt mir hier“, erklärte Tobias.„Immerhin ist es nicht so weit vom Schuss wie dein Faßberg“, entgegnete Karola.

 

Der Duft des Grillgutes drang schon in ihre Nasen, als die beiden vor der Tür der Bergers standen. Margot öffnete. Sie hatte sich enorm zu ihrem Vorteil verändert, seit Tobias sie das letzte Mal gesehen hatte – in seiner alten Welt. Dort war sie am Tode ihres Mannes zerbrochen und hatte angefangen, Drogen zu nehmen. Schlussendlich führte das dazu, dass man ihr die Kinder wegnahm und diese in eine Pflegefamilie verbrachte. Also noch eine positive Veränderung, dachte Tobias. „Hallo, schön dass Ihr da seid. Siggi hat den Grill schon angeworfen.“

„Hallo, Margot, das haben wir schon draußen gerochen. Wir haben wirklich Glück mit dem Wetter.“

„Das kann man wohl sagen. Aber kommt doch durch in den Garten.“

„Wir haben Euch auch allen etwas mitgebracht. Bitte sehr.“ Tobias überreichte die Präsente. Die Zwillinge kamen angestürmt, sie waren wieder so fröhlich wie früher. „Die Süßigkeiten gibt es später, nach dem Essen“, sagte Margot zu ihnen. „Occchhh, menno“, antworteten beide. „Keine Widerrede!“, bestimmte Margot. Siggi kam hinzu: „Hallo, Ihr beiden. Setzt Euch doch. Meine Nachbarn sind auch schon da.“ Familie Schmidt vom rechten Nachbarhaus und der Herr Grünfeldt von der linken Seite hatten sich bereits auf der Hollywood-Schaukel und den Stühlen platziert. „Was wollt Ihr trinken? Ein Bierchen?“, bot Siggi an.

„Warum nicht, der Tag ist noch lang“, antwortete Tobias.

„Ihr könnt auch bei uns übernachten, wenn Ihr wollt.“

„Mal sehen. Vielen Dank schon einmal für das freundliche Angebot.“

 

Kurze Zeit später waren die ersten Würstchen fertig, die Nackensteaks und die Lamm-Koteletts brauchten hingegen noch ein bisschen. „Erwin, was macht dein Hausverkauf? Schon einen Interessenten gefunden?“, fragte Siegmund Herrn Grünfeldt. „Ach, das war alles bislang noch nichts. Die wollen das alle für ein Butterbrot haben, aber ich bin doch nicht blöde“, antwortete der Angesprochene. Tobias hörte interessiert zu und fragte: „Sie wollen Ihr Haus verkaufen?“

„Ja, ich möchte zu meiner Tochter nach Stuttgart ziehen. Meine Frau ist vor einem halben Jahr gestorben, und das wird mir hier alleine allmählich alles zu viel. Ich bin jetzt fast siebzig.“

„Das sieht man Ihnen aber nicht an, ehrlich. Könnten wir uns das Domizil mal ansehen?“ Siggi fiel in das Gespräch ein. „Lass mich raten, Ihr wollt zusammenziehen?“

„Zumindest denken wir darüber danach. Ständig diese Fahrerei zwischen Faßberg und Hannover, das nervt“, antwortete Tobias. „Bei mir wäre auch zu wenig Platz und in dieses Bundeswehrkaff kriegen mich keine zehn Pferde“, ergänzte Karola. „Ja, selbstverständlich können Sie sich das gerne ansehen“, sagte Erwin Grünfeldt und freute sich. Er ergänzte: „Das Haus ist übrigens exakt das gleiche wie dieses, nur spiegelverkehrt.“

„Es wäre doch schön, wenn wir Nachbarn werden würden. Lasst uns anstoßen“, sprach Siegmund und erhob sein Glas. „Freunde, Kollegen und Nachbarn in einem, das hat doch etwas“, antwortete Tobias.

 

Nachdem alle satt waren, und Tobias einige Bierchen getrunken hatte, begab er sich mit Karola in das Haus des Nachbarn. Es war in einem Topzustand und hatte den großen Vorteil, dass alle Räume mit Laminat ausgelegt, bzw. gefliest waren, das war für Katzenbesitzer ein großer Vorteil. Das Haus hatte etwa einhundertundsiebzig Quadratmeter Wohnfläche und sechs Zimmer. „Das sieht hervorragend aus“, stellte Tobias fest. Er und Karola waren ganz begeistert. „Und was soll das Ganze kosten?“, wollte er wissen.

„Nun, ich hatte an 400.000 Euro gedacht, das hat der Gutachter in etwa so errechnet.“

„Kann ich das mal nachlesen?“

„Warten Sie, ich hole die Bewertung.“ Karola stieß Tobias an, als Herr Grünfeldt den Raum verlassen hatte: „Das ist alles wunderschön. Aber kannst du dir das leisten? Du weißt ja, ich habe nicht viel Geld.“

„Nun, für meine Klitsche in Faßberg bekomme ich höchstens 80.000, aber ich habe noch etwas auf der hohen Kante.“

„Und das reicht?“ Tobias wollte gerade antworten, als der Besitzer zurückkam. „Hier bitte sehr, das Gutachten.“ Er und Karola blätterten es durch, es las sich sehr gut. „Wir möchten heute noch nicht zusagen, aber wir haben großes Interesse. Geben Sie mir doch bitte mal Ihre Telefonnummer, ich melde mich bestimmt. Allerdings bin ich ab Montag für eine Woche dienstlich in Mexiko.“

„Na, prima. Warten Sie, ich schreibe sie Ihnen auf.“ Auch Tobias überreichte Herrn Grünfeldt noch seine Visitenkarte. Alle gingen danach wieder zurück zu den Bergers. Es wurde dann noch ein gemütlicher Abend. Tobias sprach noch reichlich dem Alkohol zu, und auch Karola hatte einiges intus, so dass beide gerne das Angebot annahmen, dort zu übernachten.

 

 

Kapitel 15

 

 

 

 

Sonntag, der 31. Juli 2005

 

Gegen drei Uhr wurden sie unsanft geweckt. Julia machte sich bemerkbar. Nachdem das Baby gestern Nachmittag so brav geschlafen hatte und nur am Abend nach seinem Fläschchen verlangt hatte, war nunmehr der Teufel los. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Karola stand schließlich auf, um Margot behilflich zu sein. „Guten Morgen, na was hat dann die Kleine?“

„Ich weiß nicht genau, die Windel ist jedenfalls nicht voll. Hunger hat sie auch nicht.“

„Darf ich sie mal halten?“

„Ja, versuche dein Glück.“ Karola übernahm das Kind und wog es sanft in ihren Armen. Wie durch ein Wunder beruhigte sich Julia sofort und lächelte. „Das glaube ich jetzt nicht, wie hast du das denn gemacht?“, fragte Margot. „Keine Ahnung, vielleicht habe ich dafür ein Händchen. Bei meinen drei Nichten klappt das auch immer.“

„Bist du so eine Art Kinderflüsterin?“

„Ich konnte jedenfalls schon immer gut mit Kindern umgehen.“

„Dann hast du dir aber den falschen Beruf ausgesucht.“

„Na, ja, meine Gäste sind manchmal auch wie Kinder, ganz besonders, wenn sie zu viel getrunken haben.“

„Das kann ich mir gut vorstellen. Apropos Trinken: Möchtest du einen Kaffee?“

„Ja, gerne.“ Sie gingen hinunter ins Erdgeschoss und begaben sich in die Küche. Während die Kaffeemaschine, eines von diesen teuren Modellen, die die Bohnen frisch mahlten, vor sich hin brodelte, fragte Margot neugierig: „Habt Ihr dann schon an Kinder gedacht?“

„Ja, in der Tat. Vorgestern haben wir meine Pillen weggeworfen. Wir haben uns sogar schon Namen ausgesucht.“

„Na, Ihr geht aber ran, wenn man bedenkt, dass Ihr erst wieder seit ein paar Tagen zusammen seid.“

„Wenn Tobi damals nicht so eine Scheiße gebaut hätte, wären wir schon lange verheiratet und jetzt Eltern.“

„Was ist denn da genau passiert? Ich weiß nur noch, dass Siggi erzählt hatte, dass Ihr auseinander seid.“ Karola erzählte ihr daraufhin die Geschichte von Dundee. Margot bemerkte: „Da hätte ich auch so reagiert. Befürchtest du nicht, dass sich das wiederholt?“ „Saufen tut er immer noch, das wird sich wohl nie ändern. Gut, ich kann da ja mithalten, aber so exzessiv wie bei ihm ist es bei mir nicht. Ob er noch andere Frauen hinterher schaut, kann ich zurzeit nicht beurteilen. Ich hoffe mal, dass hat sich gegeben. Und ein Schläger ist Tobi eigentlich auch nicht. Er hat sich halt von dem Typ provoziert gefühlt.“

„Ich drücke dir mal die Daumen, dass alles gut geht.“

„Ja, vielen Dank.“

 

Tobias war bereits wieder eingeschlafen, als Karola zurückkehrte. Er schlief noch, als seine Freundin gegen acht wieder wach wurde. Sie frühstückte dann gemütlich mit Margot und den Zwillingen. Yvonne und Sybille waren quengelig, weil sie nachmittags ins Kino wollten, aber ihre Mutter konnte nicht mitkommen, weil sie das Baby nicht alleine lassen konnte und ihr Vater hatte keine Zeit. Siegmund musste dringend die Steuererklärung machen, er hatte das schon oft verschoben. „Was wolltet Ihr Euch dann angucken?“, fragte Karola. „Der Film heißt Siegfried. Der soll voll lustig sein“, erklärte Yvonne. „Worum geht es da?“, wollte Karola wissen. Margot fiel ins Wort: „Ach, das ist der neue Film mit Tom Gerhardt. Eine Version der Nibelungen-Sage, aber kindgerecht, der ist ab sechs freigegeben. Die haben neulich eine Vorschau im Fernsehen gezeigt, dort wurde der Held Siggi genannt. Das fanden meine beiden natürlich sehr lustig, weil sie an ihren Papa dachten.“ Karola lachte, und sagte: „Das glaube ich gerne. Wie wäre es denn, wenn Ihr beiden Mäuse mit mir und Tobi ins Kino gehen würdet?“

„Oh, jaaaaa….“, krähten die Mädchen. „Mutti, bitte, bitte.“

„Na, da kann ich wohl nicht nein sagen“, antwortete diese. Ein erneuter Jubel folgte, als Siggi gerade die Küche betrat. Er sagte: „Na, meine Mädels, worüber freut Ihr Euch dann so?“

„Die Karola geht mit uns ins Kino“, antworteten beide singend. „Ach, habt Ihr jetzt ein Opfer gefunden. Ihr drängelt ja schon seit Donnerstag deswegen“, sagte Siggi lachend und ergänzte: „Da müsst Ihr mir dann unbedingt erzählen, wie mein Namensvetter sich da durchschlägt.“ Zu Karola gewandt sagte er: „Das ist ganz lieb von dir. Weiß Tobi schon von seinem Glück?“ „Wovon soll ich etwas wissen?“, fragte Tobias, der in diesem Moment hinzukam. Karola erklärte: „Wir gehen heute Nachmittag ins Kino, mit den Kiddies.“ Ihm entglitten die Gesichtszüge, aber er riss sich zusammen. Natürlich hatte er Besseres vorgehabt, als mit zwei Neunjährigen einen Film anzugucken, zumal er seine Freundin fast eine Woche lang nicht sehen würde. Für Karola hingegen war das Ganze auch ein Test, sie wollte zu gerne wissen, ob ihr Partner nur vorgab Kinder zu mögen, oder ob er wirklich mit ihnen umgehen konnte.

 

Nach dem Mittagessen fuhren sie los und kamen gegen halb zwei am Kino an. „Verwöhne sie nicht zu sehr“, hatte Margot noch warnend vorausgeschickt. Das nahm sich Karola zum Herzen, doch die beiden Kleinen waren lieb und bescheiden. Sie wollten weder Popcorn, noch Eis oder Cola. Nur bei dem Fruchtgummi konnten sie nicht widerstehen und stellten sich eine bunte Tüte zusammen, aus der sie dann beide während der Vorstellung naschten. Der Film war – wie es zu erwarten war – reichlich albern und hatte wenig mit der Volkssage zu tun. Yvonne und Sybille amüsierten sich prächtig, wie die anderen Kinder im Kino auch. Tobias war dagegen ziemlich gelangweilt, machte aber gute Miene zum bösen Spiel. Karola erwies sich erneut als ideale Ersatzmutter und plauderte nach dem Film noch mit den beiden Mädchen über den Inhalt. Um halb fünf wurden sie dann von ihrer Mutter abgeholt, so dass Tobias dann noch wenigstens ein paar Stunden mit seiner Liebsten verbringen konnte. Um neun abends kam er zu Hause an, packte seinen Koffer und ging dann schlafen. Die kommenden Tage würden aufregend werden und er brauchte den Schlaf.

 

 

 

Kapitel 16

 

 

 

 

Montag, der 1. August 2005

 

Tobias hatte seinen Wecker auf sechs Uhr gestellt und wachte kurz vorher auf. Er trank zum Frühstück nur einen Kaffee. Bei längeren Autofahrten vermied er stets einen vollen Magen. Lucky wurde ausgiebig geknuddelt, schließlich würden sie sich erst Ende der Woche wiedersehen. Der Catsitter war wieder Stefan – es war praktisch, so einen Freund zu haben, auch wenn dieser nur virtuell war. Gerne hätte er auch noch Karola angerufen, aber sie schlief jetzt, da sie gestern Abend noch arbeiten musste. Stattdessen schickte er ihr eine lange SMS. Kurz vor dem Abflug würde er sich erneut melden. Um Viertel vor sieben brach er auf.

 

Die Autobahn war zunächst recht voll, so dass die Fahrt doch länger dauerte, als geplant. Es war gut, dass er zeitlich großzügig kalkuliert hatte. Kurz hinter Kassel ging es aber dann flott weiter. Um 11.30 Uhr erreichte er den Airport, parkte sein Auto und ging zum Einchecken. Der Frankfurter Flughafen ist bekanntlich nichts für Fußkranke oder für Leute, die nicht gerne liefen. Heute bekomme ich Kilometergeld, dachte Tobias. Die freundliche Dame am Schalter, wies ihn darauf hin, dass seine Maschine alle Voraussicht nach pünktlich abfliegen würde. Nachdem er sein Gepäck aufgegeben hatte, war noch Zeit für einen kleinen Drink. Tobias bestellte sich einen Tequila Sunrise, sozusagen als Vorgeschmack für Mexiko. Es muss nicht immer Whisky sein, dachte er. Der Cocktail war vorzüglich und besserte seine Laune ungemein. Ihm war klar, dass er ohne Alkohol nicht mehr leben konnte, aber das war ihm egal. „Passagiere gebucht nach Mexiko-City, Abflug 14.15 Uhr, werden gebeten sich an Bord der Maschine zu begeben, die Fluggäste der Reihen Eins bis Vierzehn bitte zuerst“, tönte es aus dem Lautsprecher. Tobias nahm noch einen letzten Schluck, zahlte und betrat den Bus, der ihn zum Flugzeug brachte. Das Wetter war prachtvoll, es war keine Wolke am Himmel. Mit Glück hatte er einen Platz am Gang erwischt, da er dieses aus mehrerlei Gründen bevorzugte. Zum einen war das beim Servieren der Speisen und Getränke von Vorteil, zum zweiten war es bequemer, weil man zumindest an einer Seite mehr Platz für den Arm hatte und zum dritten war man schneller beim Toilettengang und beim Aussteigen. Die Lufthansa-Maschine war fast vollständig ausgebucht, es waren hauptsächlich Geschäftsreisende an Bord. Jedenfalls wirkten die anderen Fluggäste so auf Tobias. Der Passagier neben ihn war offenbar Mexikaner und sehr redselig. Nachdem er herausgefunden hatte, dass Tobias perfekt spanisch sprach, hatte Pablo, der Sitznachbar, ihm schon fast seine halbe Lebensgeschichte erzählt, bevor die Reiseflughöhe erreicht war. Das Ganze war relativ uninteressant, bis sich herausstellte, dass sein Pablo auch schon oft in Schottland war. Da wurde Tobi natürlich hellhörig, und man tauschte ausgiebig Geschichten aus. Als gerade die Getränke ausgegeben wurden, begann das Plappermaul ein weiteres Erlebnis zu erzählen: „Es war vor sieben Jahren in Dundee, kurz vor der Sperrstunde in einem netten Pub. Der Barkeeper rief: `Last Orders´ und ich bestellte noch schnell ein Pint. Neben mir war so ein Typ, der ein einheimisches Mädchen anmachte, vor den Augen seiner Freundin. Da musste ich mich natürlich einmischen, so etwas mag ich gar nicht. Für mich ist Treue das Allerwichtigste. Dieser Kerl jedoch – stellen Sie sich das mal vor - hatte in der Wut mein Bier auf den Boden geworfen. Da es keinen Nachschub mehr gab, weil mittlerweile nichts mehr ausgeschenkt werden durfte, schnappte ich mir folglich das Bier von dem Typ und trank es aus. Dieses Arschloch schlug zu und versetzte mir einen Fausthieb. Zum Glück flog er danach sofort aus der Bar.“ Tobias stockte der Atem. Am liebsten wäre er im Boden versunken. Jetzt wäre der Signalgeber des Weltenerschaffers praktisch gewesen, doch an Bord durfte er ihn nicht benutzen. „Äh, würden Sie ihn wieder erkennen?“, fragte Tobias dennoch mutig. „Nein, ich weiß nur noch, dass es kein Schotte war, sein Englisch war fürchterlich. Ich kann mich auch nicht erinnern, wie er aussah. Aber an seine Freundin, an die erinnere ich gut. Eine hübsche rothaarige Frau, mittelgroß, so Mitte Zwanzig.“ Tobias war erleichtert. Einfach unglaublich, dass mir ständig Leute über den Weg laufen, die ich schon einmal getroffen habe oder deren Leben ich beeinflusst habe, dachte er. In diesem Moment wurde das Essen serviert. Es gab wahlweise Rinderbraten mit dunkler Soße und grünen Bohnen oder einen vegetarischen Kartoffelauflauf. Da gab es keine Alternative für Tobias, auch wenn ihm der Braten besser geschmeckt hätte.

 

Pablo redete auch während des Essens ununterbrochen weiter, schilderte ausführlich sein Heimatdorf und zeigte Tobias Fotos seiner Familie. Davon nahm Tobi Abstand. Zwar hatte er natürlich Aufnahmen seiner Eltern im Portemonnaie, aber da auch die Fotografien von Karola dabei waren, war es klug darauf zu verzichten, sie ihm zu zeigen. Er war schon froh, dass das Anschalten des Laptops verboten war. Auch dieses hätte ihn verraten. Als das Licht abgedimmt wurde, hatte Tobias endlich seine Ruhe. Pablo nickte ein. Somit hatte Tobias Zeit zum Lesen. Er blätterte die Zeitung durch. Die Schlagzeile war „Wim Duisenberg tot aufgefunden“. Der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank wurde tot am Schwimmbecken seines Hauses in Frankreich aufgefunden, näheres war noch nicht bekannt. Außerdem wurde gemeldet, dass Al Gore seine Europareise beendet hatte, und wieder in den Staaten gelandet war. In den Kommentaren beschäftigte man sich mit den Protesten in Berlin. Auch in Rom, Madrid, Paris und London hatte es Ausschreitungen von den Indianer-Sympathisanten gegeben. Der Karikaturist hatte auch seinen Senf dazu gegeben. Die Freiheitsstatue hatte in der Zeichnung ein neues Gesicht erhalten, nämlich das des Präsidenten, darunter stand „Projekt 2009“. „Noch einen Getränkewunsch? Wir servieren gleich noch etwas, danach haben wir für die nächsten Stunden eine Ruhephase.“ Die freundliche Stewardess hatte Tobias angesprochen. „Ja, ein Bier hätte ich gerne.“ Die junge Dame brachte ihm rasch das Gewünschte. Nachdem er sein Bier ausgetrunken hatte, versuchte er zu schlafen, was ihm nicht gelang. Es war jetzt 20 Uhr nach deutscher Zeit, die Hälfte der Flugzeit war in etwa herum. Wie schade, dass das Teleporten noch nicht erfunden ist, dachte Tobias. Dass ein Teleporter funktioniert, hatte ihm Stefan gezeigt. Allerdings wurde er nur für Gegenstände benutzt, ebenso wie die Zeitmaschine. Tobias fand beides sehr bedauerlich. Er hätte die Zukunft nur zu gerne mit eigenen Augen gesehen. Aber im Moment war diese Welt ja nicht vorhanden. Stefan hatte ihm von den vorherigen Versuchen, der Wiederherstellung erzählt. Die Weltgeschichte war einige Male erheblich verändert worden. Viele Botschafter hatten direkt eingegriffen: Kepler, Leibniz, Kopernikus und Einstein hatten die Geschichte durch ihre Erfindungen und Entdeckungen beeinflusst, Philipp K. Dick, Gene Roddenberry und Douglas Adams durch ihre Bücher, Filme und Fernsehserien. John F. Kennedy, Mahatma Gandhi und Martin Luther King waren als Kämpfer für den Frieden tätig, bis sie ermordet worden sind. Alle waren durch den Weltenerschaffer dazu animiert worden, tätig zu werden. Tobias konnte sich gar nicht vorstellen, wie die Welten ohne diese großartigen Menschen ausgesehen hätten, aber das war vielleicht auch besser so.

 

Der Flug verlief ohne Zwischenfälle. Mit leichter Verspätung landeten sie kurz nach halb acht Ortszeit in der mexikanischen Hauptstadt. Tobias hatte schon einige Metropolen gesehen, aber diese Stadt war von ihrer Größe schon sehr beeindruckend, ähnlich wie Kairo oder New York. Nachdem er sein Gepäck entgegengenommen hatte, nahm sich Tobias ein Taxi und ließ sich zu seinem Hotel ins Zentrum bringen, das acht Kilometer entfernt war. Der Taxifahrer namens Manuel war fast so redselig wie Pablo. Während der Fahrt erfuhr Tobias einiges über die Stadt und das Land. Die Mexikaner bezeichneten ihre Hauptstadt als México oder el D.F., während das Land selbst La República genannt wurde. Tobias hatte das wirklich nicht gewusst, das war eine wertvolle Information für ihn. „Stört Sie die dicke Luft?“, wollte Manuel wissen. „Nein, Sie können ruhig weiter rauchen“, antwortete Tobias prompt. „Das meinte ich nicht. Ich meinte diesen – wie sagt man noch – Smog.“

„Ach, so. Ja, das ist ehrlich gesagt schlimmer als erwartet. Ich war schon in Rom und in Athen, aber so arg wie hier war es dort nie. Aber ansonsten ist die Stadt wunderschön.“ „Danke, Sie sprechen übrigens ganz hervorragend unsere Sprache. Wo kommen Sie her?“ „Ich komme aus Deutschland, genauer gesagt aus Hannover.“

„Das kenne ich nicht, Hannover meine ich. Wie groß ist das?“

„Also mit dem Umland haben wir etwa eine Million Einwohner.“

„Immerhin. Berlin kenne ich aber, das ist unsere Partnerstadt.“ In diesem Moment waren sie am Holyday-Inn-Hotel angekommen. Tobias gab dem netten Fahrer ein gutes Trinkgeld und begab sich in die Empfangshalle. Nach dem langen Flug und aufgrund der Zeitumstellung war er hundemüde und legte sich gleich schlafen.

 

 

 

 

 

 

Kapitel 17

 

 

Dienstag, der 2. August 2005

 

Tobias nutzte seinen freien Tag, um die Stadt zu erkunden. Sein Hotel lag recht zentral, die Kathedrale, der Nationalpalast und die Regierungsgebäude lagen sozusagen um die Ecke. Sie waren am Zócalo, also an dem Platz der Verfassung zu finden. Dieser war riesig und machte einen großen Eindruck auf ihn. Zahlreiche Straßenhändler boten Souvenirs und kalte Getränke an. Tobias vermied den Kitsch, erwarb aber für Karola ein Halstuch, natürlich in Orange. Nach dem Besuch der Kathedrale, die wirklich sehenswert war, schlenderte er zur Ausgrabungsstätte Templo Mayor und ging danach in Richtung eines kleinen Parks, der ihm vom Hotelportier empfohlen worden war. Er hieß Alameda Central. Nach so viel Kultur brauchte Tobias etwas Entspannung. Außerdem war es brütend heiß, da taten ein paar schattige Bäume recht gut. Er fand eine Parkbank neben einem kleinen Springbrunnen und ruhte sich aus. Das Lärmen der Kinder störte ihn ein wenig. Nachdem Karola sich so ernsthaft nach Nachwuchs sehnte, musste er sich allmählich daran gewöhnen, dass die Kleinen nun einmal etwas lauter sein können. Nicht alle sind so lieb und leise wie Siegmunds Zwillinge. Die beiden waren vorgestern super artig gewesen.

 

An einem Kiosk kaufte sich Tobias eine einheimische Zeitung. Der Aufmacher war die bevorstehende Entscheidung über die Anschaffung der Stimmenzählautomaten. Im Innenteil wurden alle vier Bewerberfirmen vorgestellt, es waren auch Fotos der Vertreter abgedruckt. Die Aufnahme von Tobias schmeichelte ihm, sie war geschätzte zehn Jahre alt. Weiß der Teufel, wo die die herhaben, dachte er. Auch die Mexikaner hatten von den Schwierigkeiten von Ulsan Wind bekommen. Das war den Chancen der Südkoreaner natürlich nicht förderlich. Der Kommentar ging davon aus, dass es auf ein Rennen zwischen Newtrix und Rushmore hinauslaufen würde. Damit dürfte er wohl Recht behalten.

 

Tobias bekam Hunger. Ein kleines Lokal in einer Nebenstraße sah verlockend aus. Im Innern war es leicht schmuddelig, aber das störte ihn nicht. Es gab keine Speisekarte. Man musste zum Tresen gehen, und sich dort aus den Töpfen das Gewünschte aussuchen. Ratlos stand Tobias davor. Pepe, der nette Kellner sprach ihn auf Spanisch an und erklärte die Gerichte. Spontan entschied Tobias sich für Mole Poblano. Wie ihm gesagt wurde, bestand das Gericht aus Truthahn mit einer Soße aus Chili, Schokolade und verschiedenen Gewürzen. Es war die Nationalspeise Mexikos. Dazu gab es Tortillas, die man in die Soße tunken musste. „Schmeckt es Ihnen?“, wollte der Kellner wissen. „Ganz hervorragend, auch wenn es ein wenig pikant ist“, antwortete Tobi. Das war leicht untertrieben, für eine europäische Zunge war es höllisch scharf. Er nahm einen großen Schluck Bier, um es abzumildern. „Haben Sie nicht Burritos und Nachos vermisst?“, wollte Pepe wissen. Tobias nickte, da er gerade den Mund voll hatte. „Das sind gar keine mexikanischen Spezialitäten, genauso wenig wie Chili con carne. Die meisten Mexikaner kennen das gar nicht. Diese Gerichte stammen aus Kalifornien und Texas.“

„Interessant, das ist mir neu. Bei uns in Deutschland findet man das in jedem mexikanischen Restaurant.“

„Sie sind Deutscher? Ich hatte gedacht, Sie kämen aus Spanien, so gut wie sie die Sprache können. Möchten Sie einen Mezcal? Der geht aufs Haus.“

„Sehr gerne.“ Pepe holte die Flasche und zwei Gläser und goss diese voll. Sie prosteten sich zu, und tranken sie in einem Zug aus. „Noch einen?“

„Nein danke, ich muss noch etwas arbeiten.“ Das war nicht gelogen, denn Tobias hatte sich vorgenommen, für die morgige Präsentation zu üben. Außerdem stieg ihm der Alkohol bei der Hitze doch mächtig in den Kopf, auch wenn er gewohnt war, viel zu trinken. Er bestellte sich zum Nachtisch noch eine Art Mousse au Chocolat, die auch mit Chili gewürzt war. Ein ungewohnter Geschmack, aber nicht schlecht, dachte Tobias. „Es hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen. Ich hoffe, Sie sind recht bald wieder unser Gast“, sagte Pepe, als er die Rechnung brachte. „Ganz bestimmt, aber morgen kann ich leider nicht. Am Donnerstag komme ich dann wieder. Freitag reise ich wieder ab.“

„Ach, Sie sind nur so kurz in unserem Land?“

„Ja, ich bin geschäftlich hier. Aber ich werde bestimmt auch mal Urlaub machen. Es gefällt mir sehr gut hier.“

 

Tobias ging zurück ins Hotel. Er hatte dort einen kleinen Konferenzraum gemietet, um seine Präsentation zu simulieren. Das Hotel hatte ihm einen Beamer zur Verfügung gestellt, an dem er seinen Laptop anschloss. Die Steckdose entsprach dem US-amerikanischen Standard, so dass sein Rechner mit Hilfe des Adapters eigentlich Strom bekommen sollte. Dennoch merkte Tobias, dass keiner floss, der Laptop lief nur über Batterie. Eine Nachfrage bei der Rezeption brachte Aufklärung. Die Stromspannung Mexikos ist geringfügig höher als in den Staaten, nämlich 127 statt 120 Volt. Das führte dazu, dass das Gerät nicht genug Saft bekam. Tobias lieh sich einen anderen Adapter und es funktionierte. Gut, dass ich das vorher getestet habe, dachte er. Das hätte morgen böse enden können. Er fühlte sich topfit und sicher. Eigentlich müsste jetzt alles glatt gehen.

 

Um 18 Uhr öffnete die Hotelbar, Tobias konnte nicht widerstehen, sie aufzusuchen. Die Bar war auf dem Dach, die Tische und Stühle waren unterm freien Himmel. Er bestellte sich ein Guinness, da das Whisky-Sortiment nicht seinem Geschmack entsprach. Es gab überhaupt keinen Malt, nur vier Sorten Scotch, dafür eine größere Auswahl an Bourbon. Immerhin war das Bier anständig gezapft. Eine junge, attraktive Frau mit langen, schwarzen Haaren näherte sich. „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte sie in Englisch mit spanischem Akzent. Tobias antwortete auf Spanisch: „Selbstverständlich. Darf ich Ihnen einen Drink spendieren?“ Sie setzte sich, lächelte und sagte: „Das ist sehr freundlich, ich hätte gerne ein Horchata.“ Tobias winkte den Kellner herbei und bestellte das Gewünschte. „Das ist hier sehr beliebt. Haben Sie das schon einmal probiert?“

„Ich kenne die spanische Variante aus Mandeln.“

„Wir verwenden bei uns dafür Reis und Zimt, wie fast überall in Lateinamerika.“ Der Ober brachte das Getränk. „Ich heiße übrigens Shania. Und Sie?“

„Ich bin Tobias, meine Freunde nennen mich Tobi.“

„Auf dein Wohl, Tobi.“ Sie stießen miteinander an und flirteten eine ganze Weile, als Shania plötzlich ihren Fächer fallen lies. Tobias bückte sich, um ihn aufzuheben. Sie nutzte das aus, und goss unbemerkt eine farblose Flüssigkeit in sein Bierglas. Tobias übergab ihr den Fächer und nahm einen großen Schluck. Er merkte nichts von den K.O.- Tropfen. Zehn Minuten später wurde ihn übel und schwindelig, außerdem war er urplötzlich hundemüde.

 

Einige Stunden später erwachte Tobias in einem ihm unbekannten Raum. Er war mit den Händen am Bettpfosten gefesselt und lag splitterfasernackt auf einer schmutzigen Matratze. Seine Kleidung lag einige Zentimeter entfernt. Tobias hatte einen Filmriss, er konnte sich an nichts erinnern, was zuletzt vorgefallen war. Instinktiv rief er laut um Hilfe, vorsichtshalber in mehreren Sprachen. Die Tür wurde aufgeschlossen. Ein kleiner, dicker Mann betrat das Zimmer. „Soll ich die Polizei rufen?“, wollte er wissen. „Ja, auf jeden Fall. Wo bin ich hier?“ Es stellte sich heraus, dass man Tobias in ein Stundenhotel verschleppt hatte. Der Dicke war eine Art Portier. Natürlich hatte er keine Schlüssel für die Handschellen. So blieb Tobias nichts anderes übrig, als auf die Polizisten zu warten. Gerne hätte er auch mit dem Signalgeber eine Meldung an Stefan geschickt, doch dieser war unerreichbar in seiner Hose.

 

Erst vierzig Minuten später kamen die Ordnungshüter und er wurde befreit. Man hatte ihm nichts gestohlen, es war absolut rätselhaft, warum man ihn ausgezogen und gefesselt hatte. Erst am nächsten Morgen sollte sich herausstellen, wer dahintersteckte.

 

 

Kapitel 18

 

 

Mittwoch, der 3. August 2005

 

Gegen acht Uhr erwachte Tobias. Er hatte tierische Kopfschmerzen und immer noch keine Erinnerung an die gestrigen Vorgänge. Als er den Frühstücksraum betrat, bemerkte er, dass ihn das gesamte Personal merkwürdig angrinste. Das kam ihm seltsam vor. Sein Frühstück beschränkte sich mal wieder auf eine Tasse schwarzen Kaffee. Er nahm die Tageszeitung vom Haken und bekam sogleich die Erklärung für das Verhalten des Personals geliefert. Das Boulevardblatt hatte ein großes Foto von ihm abgedruckt. Es war offensichtlich gestern Abend in dem Stundenhotel aufgenommen worden. Tobias war in eindeutiger Pose mit Shania zu sehen – gefesselt und nackt. Die Schlagzeile vermeldete: „So vergnügen sich die Deutschen“ und darunter etwas kleiner: „Ist Newtrix die richtige Wahl?“. Ach, du Scheiße, dachte Tobias. Er wäre am liebsten im Erdboden versunken. Das war natürlich keine gute Option für die Vorstellung nachher bei der mexikanischen Wahlbehörde. Im Institudo Federal Electoral würden sie bestimmt schon Bescheid wissen. Tobias drückte seinen Signalgeber, um sich Rat von Stefan zu holen.

 

Als Tobias sein Hotelzimmer betrat, war Stefan schon erschienen. „Hologramme reisen schnell“, sagte er lachend. „Was ist passiert?“

„Ich dachte, du wüsstest schon Bescheid.“

„Nein, diesmal nicht. Ich hatte mich gestern kurzzeitig deaktiviert. Von Zeit zu Zeit muss ich das machen, um das Programm neu zu starten.“

„Nun, dann schau mal.“ Tobias reichte ihm die Zeitung. „Oh, oh. Was hast du denn da gemacht? Lass das bloß nicht Karola sehen.“

„Karola ist nicht das größte Problem, sondern die heutige Präsentation. Halb Mexiko kennt schon meine Geschichte.“

„Wie ist es dann überhaupt dazu gekommen?“ Tobias erzählte das, an was er sich erinnerte. Als er fertig war, wand Stefan ein: „Du glaubst ja nicht an Zufälle, Tobias. Das ist auch gut so. Aber in diesem Fall ist es auch keine Vorbestimmung, sondern Manipulation.“

„Meinst du? Und von wem?“

„Na, wer könnte wohl Interesse daran haben, dass du heute ausfällst oder dich blamierst?“ Tobias war blitzartig klar, wen Stefan meinte. „Traust du das den Rushmore-Leuten wirklich zu?“

„Du hast mir doch erzählt, wie hart Euer Konkurrenzkampf ist. Die anderen beiden Firmen würden das sicherlich nicht machen. Natürlich käme auch jemand aus Mexiko in Frage, der nicht möchte, dass Automaten zur Stimmenzählung eingeführt werden. Das glaube ich aber nicht, da sich dieser Anschlag direkt an Newtrix richtet. Nein, da steckt bestimmt Rushmore dahinter. Ich werde nachher mitkommen, um das Ganze zu beobachten.“

 

Tobias begab sich gegen halb elf in die Behörde. Nach dem Sicherheitscheck wurde er vom Leiter freundlich begrüßt: „Senior Wagener, ich heiße Sie willkommen. Mein Name ist Rodriguez. Wir sind schon sehr gespannt auf Ihren Vortrag – natürlich auch auf den Ihrer Konkurrenz. Seniora Summer von Rushmore ist auch gerade eingetroffen, ebenso Senior Prakash von Sindhu. Wir warten nur noch auf Senior Park, den Vertreter von Ulsan.“ Die Präsentation sollte um elf Uhr beginnen. Vorher war ausgelost worden, in welcher Reihenfolge die Bewerberfirmen ihre Geräte und Programme vorstellen durften. Sindhu durfte beginnen, danach folgte Ulsan, dann Rushmore und abschließend Newtrix. Tobias war froh über diese Auslosung, dann so hatte er noch etwas mehr Zeit, um den Vorfall von gestern aufzuklären. Die Polizei hatte sich sehr bedeckt gehalten. Seine Einlassung, dass er keine Erinnerung an die Geschehnisse hatte, wurde achselzuckend aufgenommen. Offenbar war man gewohnt, dass so etwas geschah.

 

Das Handy von Tobias klingelte. Stefan war dran. „Ich bin jetzt hier. Geh mal bitte auf Toilette. Dort besprechen wir alles Weitere.“ Tobias tat wie ihm geheißen. Als Hologramm hatte Stefan keine Probleme, durch die Sicherheitskontrolle zu kommen. Sie trafen sich im Waschraum. „Ich habe etwas herausgefunden“, sagte Stefan. „Ach ja, und was?“

„Ich hatte mit meiner Vermutung Recht. Vor dem Haus hat Mandy Summer telefoniert. Rate mal, mit wem.“

„Mit Shania?“

„Bingo. Deine Konkurrentin hat sich bei ihr für die gute Arbeit bedankt und ihr eine fürstliche Belohnung versprochen.“

„Na, klasse. Hoffentlich glaubt man mir das.“

„Ich habe das Gespräch auf meinem Handy mitgeschnitten. Ich werde auch nachher im Saal sein, um die Sache zu verfolgen.“

 

Um 10.55 Uhr traf – spürbar abgehetzt – der letzte der vier Bewerber ein. Herrn Park war sichtlich anzumerken, dass er unter Druck stand. Sein Chef hatte ihm noch einmal klar gemacht, wie ernst die Situation für die Firma war. Dass er so gut wie chancenlos war, machte das Ganze noch schlimmer. Alle vier Bewerber wurden in den Vortragssaal hineingebeten. Man hatte dort die vier Firmenlogos sowie die jeweiligen Nationalflaggen an der Wand befestigt. Eine nette Idee, dachte Tobias. Herr Rodriguez begrüßte nochmals die Kandidaten. Jeder hatte dreißig Minuten für seinen Vortrag.

 

Der indische Kandidat trug seine Präsentation gewandt und souverän mit einer Prise Humor vor gemäß dem Motto: „Wir haben zwar kaum eine Chance, aber wir nutzen sie“. Er bekam anerkennenden Beifall. Herr Park hingegen setzte seinen Vortrag in den Sand. Er verhaspelte sich ständig, und musste permanent auf seinen Zettel schauen. Außerdem war sein Spanisch kaum verständlich. Zu allem Unglück hatte er mit seinem Laptop auch noch technische Probleme, dieser stürzte mittendrin ab. Konsequenterweise wurde nur spärlich applaudiert. Nun war Mandy Summer an der Reihe. Sie begann wie folgt: „Meine Damen und Herren, Sie haben die Wahl. Sie können ein Produkt wählen, das aus einem Land stammt, in dem soziale Probleme herrschen und Bombenterror an der Tagesordnung ist. Oder Sie wählen ein Gerät, das schon in Kürze nicht mehr gewartet werden kann, weil der Hersteller pleite ist. Vielleicht entscheiden Sie auch für die Firma, deren Mitarbeiter sich mit Frauen vom Straßenstrich vergnügen. Oder Sie wählen ein Produkt aus einem Land, das frei ist und von einer Firma stammt, die wirtschaftlich solide dasteht und deren Mitarbeiter moralisch einwandfrei sind. Die Entscheidung liegt bei Ihnen.“ Mandys Rede wurde von Buhrufen und Unruhe im Saal unterbrochen. Ihre Ansprache kam gar nicht gut an. Ungerührt fuhr sie mit Ihrer Präsentation fort, die vor spitzen Anmerkungen gegen die Konkurrenz nur so strotzte. Als sie fertig war, wurde erneut gebuht und gepfiffen. Obwohl Amerikaner Pfiffe normalerweise positiv deuten, war ihr klar, dass sie zu weit gegangen war. Dessen ungeachtet ging sie, ohne sich zu entschuldigen, auf ihren Platz zurück. Tobias begab sich, bevor er mit dem Vortrag begann, zu Stefan, der ihm sein Handy in die Hand drückte. Jeder im Saal war nun auf die Reaktion von Tobias gespannt. „Meine Damen und Herren. Ich freue mich in La República zu sein, und Ihnen ein wirkliches Qualitätsprodukt vorzustellen. Wir sind überzeugt davon, die Besten zu sein. Und wir sind sicher, dass unsere Mitarbeiter moralisch einwandfrei sind. Ganz im Gegensatz zu gewissen Konkurrenten.“ Er schloss das Handy von Stefan an den Computer an und drückte einen Knopf. Man hörte eine Frauenstimme: „Ja, hallo, Shania. Hier ist Mandy. Ich sehe, es hat alles wunderbar geklappt. Dieser blöde Deutsche ist dir voll in die Falle gelaufen. Du hast ganz hervorragende Arbeit geleistet. Ja, deine Belohnung ist dir sicher.“ Gemurmel im Saal setzte ein. Tobias fuhr fort: „Sehen Sie, meine verehrten Damen und Herren. Das ist die Moral der Konkurrenz.“ Tosender Applaus folgte. Danach setzte Tobias den Vortrag souverän fort. Er wies darauf hin, dass Newtrix sozusagen der Erfinder der modernen automatischen Stimmenauszählung ist und dass es seiner Firma zu verdanken war, dass der jetzige Präsident in den U. S. A. an die Macht kam und dadurch der Weltfriede gesichert worden ist. Das überzeugte. Er erhielt stehende Ovationen und nochmals viel Beifall. Hocherfreut und mit einem Grinsen ging er auf seinen Platz zurück. Herr Rodriguez bedankte sich bei allen Vortragenden und teilte mit, dass die Entscheidung schon in den nächsten Tagen erfolgen würde.

 

Um 13.30 Uhr ging Tobias, nachdem ihn einige Journalisten interviewt hatten, ins Hotel zurück und nahm dort einen kleinen Imbiss zu sich. Danach rief er angesichts der späten Stunde in Deutschland privat bei Siegmund an, und teilte ihm mit, wie es gelaufen war. Dabei verschwieg er auch nicht das Erlebnis mit Shania, bat aber darum, dass dieses nicht weiter breit getreten würde. Siggi sicherte ihm Diskretion zu.

 

 

Kapitel 19

 

 

 

Donnerstag, der 4. August 2005

 

Nach einer durchzechten Nacht erwachte Tobias am nächsten Morgen frisch und munter. Er fühlte sich großartig und konnte gar nicht abwarten, ein Blick in die heimische Presse zu werfen. An einem nahegelegenen Kiosk besorgte er sich zweiunddreißig verschiedene Tageszeitungen. Besonders die konservativen Blätter überschlugen sich mit euphorischen Berichten über die gestrige Vorführung in der Wahlbehörde. Genüsslich wurde die US-amerikanische Präsentation niedergemacht und Mandy Summer mit deutlicher Kritik bestraft. Wie zu erwarten war, kam ihr Vortrag gar nicht gut an. Nicht nur der Versuch der Denunziation von Tobias wurde beschimpft, sondern auch ihre Einlassungen gegen die übrige Konkurrenz. Tobias dagegen wurde als Held gefeiert. Na, den Auftrag haben wir wohl in der Tasche, freute er sich. Er blätterte aus Neugier noch die Zeitungen nach dem weiteren Weltgeschehen durch. Im kolumbianischen Bogota hatte ein Killer aus Versehen in einem Hotelzimmer einen Mann getötet. Es handelt sich um eine Verwechselung, da zuvor ein Namensvetter dort genächtigt hatte. In Oslo hatten Diebe drei Gemälde von Edvard Munch erbeutet und Pech gehabt. Es waren nur Imitate. Hingegen waren Gauner in Russland erfolgreicher. Sie stahlen dort aus einem Museum zwei vierzig Tonnen schwere Lokomotiven. Was alles so auf der Welt geschieht, dachte Tobias. Es ist noch viel zu tun, bis es keine Verbrechen mehr gibt.

 

Das Handy klingelte. Siegmund war dran. In Deutschland wurde nichts über die Vorfälle in Mexiko berichtet, was nicht weiter verwunderlich war. Aber dadurch würde Karola auch nichts von dem Abenteuer mit Shania erfahren. Siegmund war sehr erfreut über die positive Resonanz in der mexikanischen Presse. „Wie ich dich kenne, hast du gestern noch tüchtig gefeiert, oder?“ Tobias räusperte sich und sagte: „Na, der eine oder andere Tequila und Mezcal ist schon geflossen, und auch ein paar einheimische Biere.“

„Kein Sekt?“

„Damit wollte ich warten, bis wir die positive Entscheidung sicher haben.“

„Wir werden schon einmal den Schampus kalt stellen“, sagte Siegmund. Er rieb sich die Hände und legte auf. So war das zwar nicht geplant, aber es sieht hervorragend aus, dachte er.

 

Gegen Mittag ging Tobias in das nette kleine Lokal von vorgestern. Der Kellner erkannte ihn sofort wieder und begrüßte ihn freundlich. Er hatte keine Zeitungen gelesen, aber im Fernsehen von den Vorfällen erfahren. Pepe war begeistert und hocherfreut, einen solchen Gast zu haben. „Sie sind heute unser Gast. Alles was Sie essen und trinken geht aufs Haus“, verkündete er. Das ließ sich Tobias nicht zweimal sagen. Er bestellte sich Cochinta Pibil, ein gulaschähnliches Gericht. Es war wieder hervorragend. Dazu trank er einige einheimische Biere. Tobias gab, obwohl Pepe ihn eingeladen hatte, ein fürstliches Trinkgeld und ging satt und zufrieden ins Hotel zurück. Dort wartete eine Nachricht auf ihn. Auf den Zettel stand: „Ich muss dich unbedingt sprechen. S.“ Tobias rief die Nummer sofort an. Ihm war klar, wer sich melden würde. „Ja, hallo?“, sagte die Frau am anderen Ende. „Ich nehme an, du bist Shania“, antwortete er kühl. Shania entgegnete: „Können wir uns irgendwo treffen?“

„Warum sollten wir das? Du hast genug angerichtet.“

„Ich weiß, es tut mir unendlich leid. Ich entschuldige mich tausendmal.“

„O.K., Entschuldigung angenommen. Aber wozu noch ein Treffen?“

„Das möchte ich dir selbst sagen.“

„Na, gut. Wann und wo?“

„Gleich bei deinem Hotel um die Ecke ist eine kleine Bar. Sie heißt Cocada, so wie die Süßigkeit. Ich bin in zwanzig Minuten da.“

„Gut, bis gleich.“ Tobias legte auf. Er war von sich selbst überrascht. Was wird sie nur wollen, dachte er. Kurzzeitig dachte er darüber nach, Stefan um Ratschlag zu bitten, doch dann verwarf er es. Stefan würde ohnehin alles erfahren und wenn etwas schief gehen sollte, hatte Tobias immer noch seinen Signalgeber, um Alarm zu schlagen.

 

Die Bar war winzig. Shania war schon da, als Tobias dort eintraf. Sie war der einzige Gast. Eine wirklich wunderschöne Frau, dachte er. „Hallo Shania“, sagte er und setzte sich. „Können wir offen reden?“, wollte Tobias wissen.

„Ja, die Bar gehört meinem Bruder Miguel.. Er weiß Bescheid. Ach, Tobi, es tut mir so leid, ich wollte das eigentlich nicht gar nicht, weil du mir wirklich sympathisch bist. Aber Mandy hat mir viel Geld dafür versprochen, das kann ich jetzt wohl vergessen.“ Sie deutete auf die Ausgabe der El Universal, die auf dem Tresen lag. Das Zitat von Tobias über die Moral war der Aufmacher, daneben ein Foto von ihm. „Wundert dich das?“, fragte er.

„Nicht wirklich. Aber ich verstehe immer noch nicht, wie Ihr unser Telefongespräch abhören konntet.“

„Das ist unser Geheimnis. Übrigens: wie hast du das geschafft, dass ich diesen Blackout hatte?“ Sie holte ein kleines Fläschchen hervor. Tobias staunte, als er die K.O. Tropfen sah. „Ich dachte immer, damit kann man nur Frauen herum kriegen. Offensichtlich ist das nicht so.“

„Nein, das klappt auch bei Euch Kerlen. Die Nummer mit den Tropfen und dem anschließenden Foto ist meine Spezialität. Meistens werden damit Politiker oder Leute aus der Wirtschaft in peinliche Lagen gebracht. Man will sie absägen, beziehungsweise wirtschaftlich ruinieren.“

„Du machst das also öfter?“

„Ja, schon einige Male. Man wird gut dafür bezahlt. Immer noch besser, als auf den Strich zu gehen.“

„Ich weiß nicht, ob ich das besser finden soll.“

„Ich kann selber bestimmen, was läuft. Das können die Nutten nicht.“

„Und sagst du jedem deiner Opfer hinterher, dass du sie magst?“

„Nein, das ist das erste Mal. Ich meine es wirklich ernst.“

„Dann will ich das mal glauben. Ist noch etwas?“

„Ja.“ Shania druckste herum und fuhr fort: „Ich kriege ja nun kein Geld von Mandy und…“ „:.. jetzt willst du von mir die Kohle“, ergänzte Tobias. „Ja, ich bin hier in Mexiko nach der Geschichte raus aus dem Geschäft, nachdem das solche Schlagzeilen gemacht hat.“

„Aber auf dem Foto erkennt man dich doch gar nicht.“

„Ja, aber mein Name ist bekannt.“

„Du heißt wirklich Shania?“

„So ist es. Gefällt dir der Name nicht?“

„Doch durchaus, trotzdem dachte ich, er wäre falsch.“

„Ich kann dir meinen Ausweis zeigen.“

„Nicht nötig. Wie viel brauchst du?“

„Soviel, dass ich woanders neu beginnen kann.“

„Werde konkreter.“

„Ich dachte an 10.000 Euro.“

„Eine Menge Zaster.“

„Ist es dir das nicht wert? Immerhin, habe ich wohl dafür gesorgt, dass Eure Firma den Auftrag bekommt.“

„Aber nicht absichtlich. Na gut. Wenn das tatsächlich klappt, kriegst du die Mäuse. Aber kein Wort zu irgendjemand. Das musst du schwören.“ Shania sprang vor Freude auf und umarmte ihn. „Das werde ich dir nie vergessen. Niemals“, rief sie. Tobias lächelte. Irgendwie mochte er die junge Frau, trotz alledem.

 

Wieder im Hotelzimmer angekommen, dachte Tobias über alles nach. Es gibt keine Zufälle, es ist alles vorbestimmt. Aber wer auch immer da oben an den Schalthebeln sitzt, er hat eine verdammt perverse Fantasie. Er packte seinen Koffer. Morgen früh um 9.40 Uhr ging der Rückflug, diesmal leider nicht direkt. Die Maschine der American Airlines würde einen Zwischenstopp in Dallas machen. Nach einer Flugdauer von vierzehneinhalb Stunden sollte das Flugzeug planmäßig um 7.05 Uhr in Frankfurt landen.

 

 

Kapitel 20

 

 

 

Freitag, der 5. August 2005

 

Um sechs klingelte der Wecker und Tobias stand umgehend auf. Er fühlte sich großartig, hatte aber noch keinen Hunger. Er würde nachher am Flughafen einen Kaffee trinken und im Flugzeug frühstücken. Diesmal hatte Tobias einen Taxifahrer erwischt, der schweigsam war. Das war ihm ganz recht. Um 7.00 Uhr war er am Flughafen und checkte ein, was zügig voranging. Die Maschine war nur zur Hälfte gebucht. Tobias ging nach Aufgabe seines Gepäcks in eine Bar und bestellte einen Kaffee. Er war stark, so stark, dass jeder normale Mensch Zucker hinein getan hätte. Doch Tobias änderte seine Gewohnheiten nicht, auch wenn diese Substanz die Weltgeschichte gehörig verändert hatte. In der Bar lief im Fernseher ein Nachrichtensender. Zunächst wurde noch einmal über die Präsentation vom Mittwoch berichtet. Der Sprecher ereiferte sich ebenso wie seine Kollegen von der schreibenden Zunft über das unmögliche Verhalten der US-Amerikanerin. Herr Prakash wurde als Erster interviewt. Er war zutiefst beleidigt und zornig, was durchaus verständlich war. Anschließend wurde das Gespräch mit Tobias gezeigt. Natürlich wollten die Presseleute wissen, wie Newtrix an das Telefonat der Konkurrenz gelangen konnte, doch er verriet es nicht. Im zweiten Bericht ging es um die Bergung des untergegangenen Schiffes vor den Azoren, welche gestern erfolgt war. Zum Entsetzen von Tobias hatten tatsächlich fünfhundert Kilo Gold gefehlt. Die Staatsanwaltschaft kündigte eine Untersuchung an. Der Sprecher der Bergungsfirma, der noch vor ein paar Tagen so stolz darauf war, dass die Fracht grammgenau bekannt war, hielt sich nun bedeckt. Er meinte, dass es vielleicht doch nicht so sicher war, dass die Frachtpapiere hundertprozentig stimmten. Der nächste Film lief an. Indianeraktivisten hatten in den U. S. A. für den heutigen Tag eine Großdemonstration gegen Al Gore angekündigt, man wusste aber noch nicht wo.

 

Das Flugzeug hob pünktlich ab. Just in diesem Moment brach auf dem Großflughafen in Dallas / Fort Worth der Teufel aus. Die Al Gore - Gegner hatten sämtliche sieben Start- und Landebahnen blockiert und hielten riesige Transparente in ihren Händen. Sie ketteten sich aneinander und betonierten sich auf die Flächen der Bahnen. Das Sicherheitspersonal war nicht in der Lage, die Sache schnell in den Griff zu bekommen. Keine Maschine durfte starten oder landen, diejenigen die im Landeanflug waren, mussten auf die umliegenden Flughäfen umgeleitet werden. Tobias hatte es sich gerade gemütlich gemacht, als eine Ansage kam: „Meine Damen und Herren, ich bitte um Aufmerksamkeit. Auf Grund einer unerwarteten Störung können wir nicht wie geplant in Dallas landen. Wir werden auf einen der nächst gelegenen Flughäfen in Arizona, New Mexiko oder Kalifornien umgeleitet. Ich melde mich wieder, sobald wir Näheres wissen.“ Panik ab Bord. Fast jeder wollte sofort wissen, was los war. „Meine Damen und Herren, ich melde mich erneut. Wir werden nach Los Angeles umgeleitet. Wie es von dort weitergeht, erfahren Sie in Kürze.“ Tobias war stocksauer.

 

Nachdem das Flugzeug in Los Angeles gelandet war, wurden die Passagiere aufgefordert, die Maschine zu verlassen. Der Flugplan war total durcheinandergeraten mit der Folge, dass nicht klar war, ob eine direkte Fortsetzung des Fluges nach Frankfurt möglich war. Dieses klärte sich auch in den nächsten Stunden nicht, was für Unmut sorgte. Immerhin war die Versorgung mit kalten Getränken und Snacks geregelt, und auch die Kinderbetreuung war organisiert. Es sickerte dann durch, dass alle Maschinen am Boden gehalten wurden, weil man weitere Stör-Aktionen von den Anti-Al-Gore-Aktivisten befürchtete. Dieses erwies sich doch als völlig unbegründet. Nur der Flughafen von Dallas war betroffen. Daher entschied man sich gegen sechzehn Uhr Ortszeit, den Flugbetrieb wieder aufzunehmen. Der Flug von Tobias wurde dann auf Grund des entsprechenden Chaos erst gegen 19.30 Uhr abgefertigt und ging um einundzwanzig Uhr ab. Immerhin hatte diese Aktion zehn Stunden Verspätung gebracht, was zur Folge hatte, dass die Besatzung gewechselt werden musste. Tobias war hundemüde und schlief sehr bald ein. Er träumte von den Ereignissen der letzten Tage und insbesondere von Shania, die ihm doch ans Herz gewachsen war.

 

 

Samstag, der 6. August 2005

 

 

Tobias erwachte, als die Sonne schon hoch am Himmel stand, das Frühstück war schon ausgegeben. Die freundliche Stewardess brachte ihm noch eine Portion und auch einen Kaffee, der allerdings schrecklich schmeckte. Er war sehr dünn, typisch nordamerikanisch. Tobias verzog das Gesicht, mit Grauen dachte er daran, dass er in ein paar Wochen in seinem Urlaub jeden Tag so etwas vorgesetzt bekommen würde. Deswegen würde er aber bestimmt nicht zum Teetrinker werden. „Möchten Sie noch einen Kaffee?“, wollte die Flugbegleiterin wissen. „Nein, danke. Lieber einen Orangensaft“, antwortete er. Dieser war nicht zu beanstanden, Tobias spülte damit den schlechten Geschmack des Kaffees herunter. Der Flug verlief problemlos und ohne Turbulenzen. Kurz vor zwanzig Uhr landete die Maschine in Frankfurt bei starkem Regen und Tobias konnte eine Stunde später nach Hause fahren, nachdem er sich noch bei Siegmund gemeldet hatte. Tobias erreichte sein zu Hause um Mitternacht und ging gleich ins Bett.

 

 

 

 

 

Kapitel 21

 

Sonntag, der 7. August 2005

 

 

Gegen neun Uhr klingelte das Telefon. Karola war dran, sie war leicht angesäuert, weil sie seit Stunden nichts von Tobias gehört hatte. Als er ihr jedoch die Ursache der Verspätung des Fluges und des Chaos auf dem Flughafen erklärte, besserte sich ihre Laune erheblich. So, wie es aussah, hatte sie tatsächlich nichts von seinen Erlebnissen mit Shania mitbekommen. Karola war keine intensive Internet-Userin. Manch anderer hätte sich durch Surfen auf den entsprechenden Seiten aus Mexiko schlau gemacht. Insofern war es auch positiv für Tobias, dass sie kein Spanisch sprach. Hätte der Vorfall in Irland oder Großbritannien stattgefunden, hätte es durchaus anders ausgesehen. Man verabredete sich für den heutigen Nachmittag, Karola hatte einen Besuch des Maschseefestes vorgeschlagen. Da es auch dann noch regnen sollte, würde es nicht allzu voll werden. Aber an der Löwenbastion am Nordufer spielten Franz Ferdinand, das konnten sie sich als Folkrock-Fans nicht entgehen lassen.

 

Nach dem Frühstück rief Tobias bei Stefan an, um die Situation zu erörtern. Ihn brannte das Problem mit dem Gold auf den Nägeln. Stefan hatte mal wieder eine geniale Idee. Er wollte die Stempel einfach verschwinden lassen, mittels eines Lasers. Dafür materialisierte er sich in Tobias‘ Garage. „Drück nur nicht auf den falschen Knopf“, scherzte Tobias. „Ich habe ihn auf Betäubung eingestellt, nicht auf Töten.“, entgegnete Stefan lachend. Das Gold wurde von einem blauen Strahl getroffen. Mit gekonnter Präzision führte der Weltenerschaffer den Laser über das Gold, und tatsächlich – die Stempel verschwanden. „Nettes Spielzeug, dieser Laser. So etwas hätte ich auch gerne.“

„Hmm, Tobi, ich weiß nicht. Du bist in solchen Dingen etwas ungeübt, auch wenn du das schon tausendmal bei Star Trek gesehen hast. Außerdem dürfen die Menschen deiner Zeit, nicht alles in die Hände bekommen.“

„Beim Universalübersetzer hat dich das aber auch nicht gestört.“

„Richtig, aber den sieht man auch nicht. Gedulde dich, du wirst schon nach und nach an die Erfindungen herangeführt, die dem Weltfrieden nützlich sind. Das ist diese Waffe nicht, auch wenn sie hier hilfreich war und unserer Sache gedient hat.“

 

Nach einem kleinen Imbiss in Form eines Salami-Baguettes fuhr er um dreizehn Uhr los. Der Regen ließ allmählich nach, Tobias konnte zügig fahren, und wunderte sich, dass er von einem ganzen Pulk Corvettes überholt wurde. Gegen 14.30 Uhr traf er bei seiner Freundin ein. Sie freute sich sehr über das orangefarbene Halstuch. Man ging von ihrer Wohnung zu Fuß zum Maschsee, es war ja nicht weit. Unterdessen hatte sich der Himmel aufgeklart, die Sonne strahlte und es wurde richtig warm. „Das hätte man nicht gedacht, dass es wieder so schön wird“, stellte Karola fest und ergänzte: „Du bist übrigens richtig braun geworden. Ich dachte, du hast da in Mexiko gearbeitet, und nicht in der Sonne gelegen. Aber es steht dir gut. Aber nun erzähl mal: wie war es dann nun? Bekommt Ihr den Auftrag?“

„Ja, es sieht blendend aus, ich denke, wir können schon mal darauf anstoßen.“ Auch wenn er zu Siegmund gesagt hatte, dass er erst feiern wollte, wenn die Sache in trockenen Tüchern war, wollte er mit seiner Freundin schon vorher den Erfolg begießen. Unterdessen waren sie am Nordufer des Sees, der mitten im Zentrum Hannovers lag, angekommen. Gegenüber dem ZDF Gebäude war am Ufer ein Stand aufgebaut, an dem Sekt, Fischspezialitäten und weitere Leckereien angeboten wurden.

 

„Der Champagner ist wirklich gut, aber auch ganz schön teuer. Aber du scheinst ja keine Geldsorgen mehr zu haben, Süßer.“

„Ja das stimmt. Und künftig noch weniger, ich denke, ich habe mir eine kräftige Gehaltserhöhung verdient. Jetzt werde ich dir erst einmal erzählen, was da in Mexiko so alles passiert ist.“ Natürlich wurden von ihm die pikanten Details ausgespart, wobei er sich ganz schön zusammenreißen musste, die Geschichte so hinzubiegen, dass sie stimmig und glaubwürdig war. Als er gerade fertig war, ertönte vom Weg, der an dem Ufer vorbeiführte ein helles Stimmchen, das begeistert rief: „Guckt mal, da sind Karola und Tobi.“ Es gehörte Yvonne, die mit ihrer Schwester auf sie zustürmten. Siegmund und Margot, die das Baby in einem Tragetuch transportierte, winkten ihnen fröhlich zu. „Setzt Euch doch, hier ist noch genug Platz“, rief Tobias erfreut aus, als sie sich genähert hatten.

 

„Na, wird hier schon gefeiert, es ist doch noch gar nichts entschieden. Oder gibt es etwa einen anderen Grund?“, wollte Siggi wissen. „Es ist schon eine kleine Vorfeier für Mexiko. Karola hat nächste Woche Spätdienst, da werden wir uns nicht sehen. Und glaube mir: ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass es geklappt hat.“

„Nachdem was du da so erlebt hast, hattest du außerdem auch noch viel Spaß gehabt“, entgegnete Siegmund und kniff ein Auge zu. Tobias räusperte sich, zum Glück hakte Karola nicht nach. „Ich habe übrigens tolle Fotos gemacht. Schaut mal.“ Er holte sein Handy hervor und zeigte die Aufnahmen. Wie gut, dass ich Shanias Fotos vorhin nach dem Überspielen gelöscht habe, dachte er.

 

„Wir wollen übrigens noch an die Löwenbastion. Franz Ferdinand spielen dort. Kommt Ihr mit?“

„Tobi, für mich ist das eher wohl nichts. Und was meint Ihr?“, antwortete Siggi an seine Familie gewandt. Er wurde dann von den anderen überstimmt, was Tobias sehr freute. Der Auftritt der schottischen Folkgruppe überzeugte Siegmund dann aber doch, obwohl er sonst nur Schlager hörte.

 

Tobias übernachtete bei Karola. Zum einen hatte er etliche Biere getrunken, und zum anderen war ihm der Weg nach Hause zu weit. Für Karola gab es dann noch eine große Überraschung, als sie Kratzspuren am Rücken ihres Freundes entdeckt. Er war jedoch schon eingeschlafen. Morgen würde sie ihn zur Rede stellen, zumal er im Traum immer diesen einen Namen gemurmelt hatte: Shania.

 

 

Kapitel 22

 

 

Montag, der 8. August 2005

 

 

Zur Überraschung von Tobias erwiderte seine Freundin seine Liebkosungen nicht, als er erwachte. Stattdessen saß sie aufrecht im Bett und blickte böse. Bissig sprach sie ihn an: „Gut geschlafen, Herr Wagener?“ So hatte sie Tobias seit Jahren nicht mehr genannt. Er räusperte sich und antwortete: „Ja, durchaus. Ist irgendetwas?“

„Die Katzen in Mexiko scheinen wild zu sein.“ Tobias lief puterrot an. Sie ergänzte: „Ganz besonders, wenn sie Shania heißen.“ Oh, Gott, dachte er. „Ich schlage vor, du fährst jetzt zur Arbeit. Wir sprechen uns noch.“ Wortlos zog er sich an. Es war jetzt besser, nichts zu sagen. Vielleicht hatten Stefan oder Siegmund eine Idee, wie er aus dem Dilemma heraus kam.

 

Tobias hatte kaum die Tür ins Schloss geworfen, da hatte Karola auch schon ihren Computer eingeschaltet. Doch mit ihren mangelnden Spanisch-Kenntnissen kam sie nicht sehr weit, auch nicht mit dem Übersetzungsprogramm. Karola dachte nach. Ihr fiel ihre alte Freundin und Schulkameradin Melanie Krüger ein. Zwar hatte sie sich schon lange nicht mehr bei ihr gemeldet, aber das machte nichts. Melanie konnte helfen, sie war ein Fremdsprachengenie.

 

Erfreulicherweise ging Melanie sofort an ihr Handy. Sie freute sich sehr über Karolas Anruf. Diese fiel nicht gleich mit der Tür ins Haus, sondern schlug vor, sich am Nachmittag im Waterloo-Biergarten zu treffen. Das Wetter war immer noch prachtvoll, es sprach also nichts dagegen, „über alte Zeiten zu plaudern“, wie Karola es formulierte.

 

Unterdessen stand Tobias der Schrecken im Gesicht geschrieben. Siegmund bemerkte dieses sofort, und bat ihn gleich in sein Büro, als er ihn im Flur des Newtrix-Gebäudes traf. „Na, Alter, da hat aber jemand schlechte Laune, was ist passiert? Ich dachte, mit Mexiko wäre alles klar“, sagte Siegmund, als er die Tür geschlossen hatte. „Ach, Siggi, darum mache ich mir keine Sorgen. Es ist – wegen Karola.“

„Das habe ich fast befürchtet. Hattet Ihr Streit?“

„Nicht direkt, aber sie hat da heute Morgen Andeutungen gemacht.“

„Oh, oh. Ich würde sagen, wir sprechen da nachher bei einem Bierchen darüber.“

„Gute Idee. Lass uns ins Jack the Ripper’s gehen.“

„Prima. Kopf hoch, Tobi. Mach dich an die Arbeit. Vielleicht können wir unser Männergespräch heute Abend mit einer Feier verbinden, wenn wir den Auftrag ans Land gezogen haben.“

 

Karola traf um halb fünf pünktlich im Waterloo-Biergarten ein. Melanie war noch nicht da, soweit Karola das wunderschöne, weitläufige Areal überblicken konnte. Sie holte sich ein Wasser von der Getränkeausgabe und setzte sich an ein schattiges Plätzchen in der Nähe des Haupteingangs. Zehn Minuten später traf Melanie ein. Sie war offensichtlich abgehetzt und stürmte sofort auf Karola zu, als sie sie sah.

 

„Hallo, Kleine, wie schön dich wieder mal zu sehen. Du hast dich aber rar gemacht“, begrüßte sie Melanie und fiel ihr um den Hals. Die beiden hatten seit jeher kaum Geheimnisse. „Ach, Süße, es ist alles nicht so einfach. Die Männer sind alle nur Schweine.“

„Neuigkeiten sehen anders aus. Ich hole mir nur rasch etwas zu trinken, dann kannst du erzählen, was da so abgeht.“

 

Karola schilderte lang und ausführlich die Geschehnisse der letzten zwei Wochen. Als sie fertig war, runzelte ihre Freundin die Stirn und hob eine Augenbraue. Sie seufzte und sagte: „Ach, Kleine. Das hört sich nicht gut an. Tobias wird sich wohl nie ändern. Ich kenne ihn ja noch gut von früher. Weißt du eigentlich, dass er mich damals angebaggert hat, nach Eurer Trennung wegen dieser Scheiße in Dundee? Ich habe dir das nie erzählt, weil ich dich nicht noch wütender machen wollte. Lass mich raten: du brauchst jetzt meinen Rat, ob du wieder Schluss machen sollst.“

„Nein, vorerst noch nicht. Es ist noch nichts bewiesen, Melli. Aber ich brauche deine Hilfe. Du kannst doch Spanisch.“ Die Angesprochene nickte. Karola fuhr fort: „Klasse. Dann surf doch bitte mal im Internet, und versuche heraus zu bekommen, was da in Mexiko passiert ist. Besonders interessiert mich, was mit dieser Shania ist.“

„Alles klar, Karo. Kann ich dich nachher anrufen? Musst du arbeiten?“

„Ja, ich muss gleich zum Dienst. Mein Handy lasse ich eingeschaltet.“

„Prima, das macht mich jetzt auch neugierig. Ich melde mich dann.“

 

Fast zeitgleich saßen Tobias und Siegmund am Tresen vom Jack the Ripper’s. Das Beamish war gerade serviert worden. „Na, Tobi, da hast dich in etwas hineingeritten. Nun sag schon, was hat deine Karola herausgefunden?“

„Sie hat irgendetwas von wilden Katzen gefaselt – und sie hat den Namen `Shania´ genannt. Ich muss wohl im Schlaf gesprochen haben. Ich weiß nur nicht, was das mit den Katzen bedeuten soll.“

„Also: Genaues weiß sie nicht?“

„Nein, Sie spricht kein Spanisch und ich glaube nicht, dass sie durchs Internet etwas herausgefunden hat.“

„Das wäre auch schlecht, weil es nicht unbedingt hier breit getreten werden muss. Prost erst mal.“

„Slainte.“

„Was heißt das?“, wollte Siegmund wissen. Der wohlbeleibte Barkeeper lachte. Er kannte das Wort. „Das ist Gälisch. Es bedeutet: Prost“, antwortete Tobias. In diesem Moment klingelte Siegmunds Handy. Er sah die Nummer und hob einen Zeigefinger. „Guten Abend Herr Altmann. Gibt es etwas Neues?“ „Ja, Herr Berger. Ich gratuliere. Wir haben es geschafft. Gerade hat die mexikanische Wahlbehörde angerufen. Wir haben den Auftrag. Morgen werden wir groß feiern. Sagen Sie, ich kann Herrn Wagener nicht erreichen...“

„Der sitzt hier neben mir. Wir haben eine private Besprechung. Möchten sie ihn sprechen?“

„Nicht nötig. Aber Sie können ihm ausrichten, dass ich mich sehr freue, dass er es geschafft hat. Und – es soll nicht zu seinem Schaden sein.“ Tobias hatte alles mitgehört, da Altmann – wie immer – sehr laut ins Telefon sprach.

 

Nachdem Siegmund aufgelegt hatte, orderte er Champagner. „Nun hat der Tag doch noch ein glückliches Ende gefunden, mein lieber Tobi“, rief er begeistert aus.

 

Melanie hatte mittels Google alles erfahren, was zu erfahren war und rief um 21.30 Uhr ihre Freundin an: „Hallo Karo. Hier ist Melli. Setz dich erst einmal. Ich muss dir etwas erzählen.“

 

 

 

Kapitel 23

 

 

Dienstag, der 9. August 2005

 

 

Frohgelaunt fuhr Tobias zur Arbeit, er war sich sicher das kleine Problem mit Karola gerade biegen zu können. Falls das nicht gelingen sollte, wäre das auch nicht allzu schlimm. Viel wichtiger war, dass der Coup in Mexiko gelungen war, und ihm daher eine fette Gehaltserhöhung sicher war. In den Nachrichten fand dieses Ereignis erwartungsgemäß keinerlei Erwähnung. Der Aufmacher war ein spektakulärer Bankraub in Brasilien. Gestern hatten Ganoven 3,5 Tonnen Bargeld im Wert von umgerechnet sechsundfünfzig Millionen Euro erbeutet. Die Banknoten waren zur Vernichtung bestimmt, und die Täter hatten einen Tunnel zur Bank gegraben. Gelangweilt schaltete Tobias das Radio ab und legte eine CD von Reamonn ein.

 

In der Firma wurde er mit einem großen Hallo begrüßt. Die gesamte Führungsetage stand Spalier und klatschte Beifall. Alle waren bester Stimmung. Die Firma hatte schließlich einen großen Auftrag ans Land gezogen, damit war es fast sicher, dass man bald Weltmarktführer wurde. Jetzt musste es nur noch mit den fünf Ex-Ulsan-Kunden klappen, dann wäre Rushmore überholt und Newtrix wäre die Nummer eins. Die Pleite von Ulsan war ohnehin nicht mehr abzuwenden.

 

Herr Altmann hatte ein exquisites Büfett kommen lassen – es war üppig, und alles war nur vom Feinsten. Alle griffen beherzt zu, wobei Tobias die Flüssigkeiten den festen Speisen bevorzugte. Der Chef hatte sogar verschiedene Malts geordert, er kannte die Vorlieben seiner Mitarbeiter.

 

Um elf Uhr, als Tobias dahin gehen wollte, wo sich auch der Kaiser zu Fuß hinbegab, bemerkte er, dass sein Handy klingelte. Offenbar nicht das erste Mal, im Display standen „Acht Anrufe in Abwesenheit“. Obwohl dieses nicht der richtige Ort für eine Korrespondenz war, ging er ran – dann es war Karolas Nummer.

 

„Na, geht der Herr endlich mal ans Telefon? Ich habe mir schon die Finger wund telefoniert. Hast du Arschloch jetzt Zeit mit mir zu sprechen? Dass du es überhaupt gewagt hast, mir unter die Augen zu treten, nachdem du dich mit dieser mexikanischen Schlampe Shania vergnügt hast. Du bist ein Schwein, es war ein großer Fehler, mit dir wieder etwas anzufangen. Melanie hat mich aufgeklärt, ich habe genug von dir. Es ist mir auch scheißegal, wie viel Geld du jetzt hast.“

 

Unglücklicherweise betrat gerade in diesen Moment Herr Altmann die Örtlichkeiten. Tobias schaltete geistesgegenwärtig sein Handy ab, das war ihm jetzt zu peinlich. Sein Chef musste auch nicht alles wissen. Tobias dachte über Karola nach, und dass was Stefan über Siegmunds Baby gesagt hatte: „Ja, das könnte für die Zukunft wichtig werden, vielleicht macht sie in dreißig Jahren eine tolle Erfindung oder Entdeckung, oder sie heiratet später eines deiner Kinder.“ Tobias konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihm Stefan etwas zu seiner Zukunft verschwieg. Eine Trennung von seiner Freundin könnte gewaltige Auswirkungen auf das künftige Weltgeschehen haben. Aber war es dann vorgesehen, dass er diese Nachkommen mit Karola haben sollte?

 

Tobias beschloss, nachher Shania anzurufen. Zum einen musste der Geldtransfer geklärt werden, nachdem jetzt der Erfolg ihrer „Maßnahme“ feststand, und zum anderen… Diese Frau konnte er einfach nicht vergessen.

 

Gegen zwölf Uhr traf eine weitere gute Nachricht bei Newtrix ein: Ulsan hatte Konkurs angemeldet. Die Südkoreaner hatten – wie erwartet – aufgegeben. Somit ging die Feier bis in den späten Nachmittag, gearbeitet wurde heute nicht.

 

Um 15.30 Uhr erinnerte sich Tobias an Shania. In Mexiko war es jetzt 8.30 Uhr, da musste sie schon wach sein. Er wählte ihre Nummer. Nach einigen Sekunden Funkstille war das mexikanische Freizeichen zu hören. Shania meldete sich umgehend. „Hallo, Tobi“, hauchte sie ins Telefon, anscheinend hatte sie seine Nummer abgespeichert. „Hallo, meine Schöne, du ahnst, warum ich anrufe?“

„Ja, ich habe es gehört, dass Ihr die Ausschreibung gewonnen habt. Meinen Glückwunsch nochmals.“

„Tja, ohne deine unfreiwillige Hilfe hätte das nicht geklappt. Deine Belohnung ist dir sicher, ich habe das mit meinen Chefs abgeklärt. Aber es sollte keine normale Überweisung werden, dass muss nicht über die Bücher laufen. Wir werden das über Western Union machen, einverstanden?“

„Natürlich, Tobi, davon habe ich schon gehört. Was meinst du, wie lange es dauert?“

„Ich denke, spätestens am Freitag hast du die Kohle.“

 

Das Gespräch dauerte dann noch eine halbe Stunde. Danach machte Tobias Feierabend, angesichts des doch erheblichen Alkoholkonsums hätte er eigentlich nicht mehr fahren dürfen, aber als Gewohnheitstrinker konnte er das riskieren.

 

Zu Hause angekommen fand er zwei Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, keine davon war von Karola. Stattdessen hatte sich die Weinfirma gemeldet, der Sekt konnte geliefert werden. Der andere Anrufer war Siegmunds Nachbar, Herr Grünfeldt. Auch wenn sich die Verhältnisse geändert hatten: Tobias war nach wie an dem Haus interessiert, egal ob mit oder ohne Frau. Er rief daher umgehend zurück. Die Probleme mit seiner Freundin verschwieg er allerdings. Man vereinbarte ein gemeinsames Gespräch für Freitag.

 

Danach telefonierte Tobias mit Stefan, um ihm alles zu erzählen. Dieser reagierte höchst zufrieden, was die Angelegenheiten von Newtrix betraf. Zu dem Karola-Problem hielt er sich bedeckt. Anscheinend kam das nicht unerwartet für ihn.

 

Mit einer Flasche Glenfarcles setzte sich Tobias vor seinen Fernseher und legte eine DVD in den Player. Es war ein Runrig-Konzert-Mitschnitt. Mit blendender Laune genoss Tobias seinen Malt und die Musik. Das war ein großartiger Tag, von dieser einen Sache mal abgesehen.

 

 

Kapitel 24

 

 

Mittwoch, der 10. August 2005

 

 

Als Tobias an diesem Morgen an dem Pförtner vorbeiging, winkte ihn dieser heran. „Hier ist etwas für Sie abgegeben worden, gestern als Sie alle am Feiern waren. Meinen Glückwunsch übrigens zu Ihrem Erfolg.“ Neugierig nahm Tobias den kleinen Karton entgegen. Er schüttelte ihn. Es klapperte. Oben im Büro, als er ihn öffnete, war ihm klar, wer die Abgebende war. In dem Päckchen befanden sich all die Geschenke, die er Karola in den letzten vierzehn Tagen gemacht hatte: die Bernsteinkette, das Halstuch, der Whisky und sogar die Maltpaste für Pia und Sia. Kurz überlegte er, ob er die Konzertkarte auch zurücksenden sollte, aber er verwarf den Gedanken. Ihm war aber auch klar, dass das wohl das endgültige Aus von Karola war.

 

Das Erste, was er heute erledigte war die Transaktion an Shania. Die Gebühren dafür waren erträglich. Es war auch nicht allzu schwierig, dieses Geschäft über die Schwarzgeldkasse laufen zu lassen. Da das Finanzamt erst vor ein paar Monaten die Firma geprüft hatte, würde das nicht so schnell ans Licht kommen.

 

Siegmund betrat das Büro. „Oh, schon wieder dieses Honigkuchenpferd-Strahlen, Tobi. Hat sich das mit Karola wieder eingerenkt?“

„Eher nicht. Aber...“

„Sag nicht, du spekulierst auf diese Tussi aus Mexiko?“

„Das ist keine Tussi. Sie hat Niveau.“ Siegmund lachte und antwortete: „Na, ja, was für ein Niveau sie hat, hat man wohl gesehen. Alter, mach nur keinen Fehler.“

„Keine Bange, Siggi. Aber sie ist wirklich eine tolle Frau, und...“

„Ich versteh dich nicht. Für diese Schlampe lässt du Karola sausen? Mannomann, du bist unverbesserlich. Denk an Dundee.“

 

Siegmund ging ohne weitere Worte. Er konnte es nicht fassen. Warum war dieser Kerl so unbeständig? Er kannte ihn nun schon ewig, aber richtig schlau wurde er nie aus ihm. Wie kann sich ein Mensch nur immer wieder in diese Schwierigkeiten begeben?

Tobias war von dieser Standpauke relativ unberührt. Er änderte sein Desktop-Bild. Lucky kam wieder zum Vorschein. Katzen sind doch die besseren Menschen, dachte er. Ferner beschloss er, heute Abend einen drauf zu machen. Das würde seine Laune bessern.

 

Gegen zwölf Uhr klingelte sein Handy. Sein Vater war dran. „Sag mal, Tobias, was ist dann jetzt wieder los? Karola hat sich gerade bei mir ausgeweint. Sie war völlig fertig. Was hast du nur wieder angestellt? Junge, Junge, ich war so froh, dass Ihr wieder zusammen seid. Und jetzt? Du hast alles wieder kaputt gemacht.“

„Vater, das ist mein Problem und meine Entscheidung.“

„Na toll, mein Sohn. Ich bin tief enttäuscht. Deine Sauferei ist schon schlimm genug, aber das du das mit den Weibern nicht lassen kannst, ist unverzeihlich.“

„Lass mich bitte in Ruhe. Du hast mir nichts zu sagen, gar nichts.“

 

Wutentbrannt legte Tobias auf. Dieser Tag verlief bislang gar nicht gut. Aber das konnte sich noch ins Positive verändern. Er entschied sich, heute noch einmal aufs Maschseefest zu gehen. Wer weiß, wie lange das gute Wetter noch anhielt. Ihm fiel Oliver ein, mit ihm würde es bestimmt ein lustiger Abend werden.

 

Oliver war von dem Vorschlag begeistert. Seine Geschäfte liefen immer noch schlecht, die Chefin hatte schon mit Entlassung gedroht. Auch ihm war danach, mal wieder etwas klar zu machen.

 

Die beiden hatten sich um sechzehn Uhr am Fackelträger verabredet, am Nordufer des Maschsees. Als Tobias eintraf, hatte Oliver gerade eine Blondine angebaggert, die aber wenig Interesse zeigte. Er sagte: „C'est la vie, mein Lieber. Es kann nicht immer klappen. Aber sage mal : wo hast du deine Freundin gelassen?“

„Die muss arbeiten. Und noch etwas: es ist Aus mit uns.“

„Echt? Na, dann hast du heute wieder freie Bahn. Schau: da hinten die Schnecke da am Bratwurststand, wäre das nichts?“ Die „Schnecke am Bratwurststand“ hieß Lena und war Studentin der Tiermedizin, sie hatte noch eine Freundin namens Iris dabei.

 

Wie es Olivers Art war, umgarnte er die Mädels und verteilte Komplimente. Beide sahen wirklich nicht schlecht aus. Lena war blond, schlank und ziemlich groß. Ihre Oberweite ließ nichts zu wünschen übrig. Iris hatte brünette Haare, und war klein und zierlich.

 

Es waren sehr erbauliche Gespräche, die zwei Stunden später mit einer Überraschung für einige Beteiligte endeten. Von hinten näherte sich jemand, es war Bettina Müller. Sie klopfte Tobias auf die Schulter und begrüßte ihn freundlich, offenbar hatte sie ihm verziehen. Doch als Oliver sich umdrehte, entglitten ihr die Gesichtszüge. Das hat dieser auch nicht erwartet. „Na, hast du mich schon vergessen, du Arschloch?“, rief sie aus. Tobias musste grinsen, was wiederum die beiden Studentinnen irritierte. Sie verabschiedeten sich daraufhin recht bald.

 

Nach diesen Turbulenzen begaben sich Oliver und Tobias an den nächsten Bierstand und ließen sich volllaufen. Tobias erzählte seinem Freund von dem Abenteuer in Mexiko und der Reaktion Karolas. Oliver zeigte sich sehr interessiert, und wollte nur allzu gern die Fotos von Shania sehen, doch waren diese auf dem Handy ja nicht mehr vorhanden.

 

An Autofahren war nicht mehr zu denken, und mit Lena und Iris hatte sich das auch erledigt. Um 21.30 Uhr rief Tobias mit lallender Stimme bei seiner Mutter an. Diese war von der späten Störung wenig entzückt, war aber dennoch bereit, die beiden bei sich übernachten zu lassen. Tobias und Oliver fuhren mit dem 253er Bus bis zum Aegidientorplatz und stiegen dort in die Stadtbahnlinie 5 um, um mit dieser nach Kirchrode, dem Wohnort von Tobias‘ Mutter zu gelangen.

 

Die Bahn war nur schwach besetzt, aber die wenigen vorhandenen Leute darin hatten nur ein Thema, das sie angeregt diskutierten: Offenbar hatte der amerikanische Präsident eine wichtige Erklärung abgegeben. Davon hatten Tobias und Oliver nichts mitbekommen. Da die Stadtbahn, mit der sie fuhren, ein älteres Modell ohne Fahrgastfernsehen war, konnten sich die beiden auch nicht diesbezüglich informieren. Kurzerhand fragte Tobias einen Herrn im mittleren Alter nach den Geschehnissen. „Na, Al Gore hat sich zu diesem vierten Kopf im Mount Rushmore geäußert. Das Ganze war wohl nur ein großer Spaß von ihm. Er hatte nie vor, sich dort verewigen zu lassen. Wir sind alle darauf herein gefallen“, antwortete der Mann und lachte. So fand dieser Abend doch noch einen amüsanten Abschluss. Bei Rushmore fand die Nachricht natürlich wenig Freude. Man hatte erst vor einiger Zeit das Firmenlogo geändert und den zusätzlichen Kopf dazu gefügt, nun musste alles wieder zurückgenommen werden.

 

 

Kapitel 25

Donnerstag, der 11. August 2005

Tobias hatte an diesem Morgen einen kurzen Weg zur Arbeit, er fuhr mit der Linie 5 bis zum „Nackenberg“, und von da mit dem 123er Bus bis zur Haltestelle „Stadtfelddamm“. Gleich gegenüber lag das Bürogebäude von Newtrix. Oliver hingegen musste seinen Wagen, in dem sich der Wein befand, vom Neuen Rathaus abholen. Er fuhr mit der Stadtbahn bis zum Aegi, allerdings ohne Fahrkarte. Leichtsinnigerweise hatte er angenommen, dass er diese beim Fahrer erwerben könnte, das gab es in Hannover in den Bahnen aber schon lange nicht mehr. Prompt wurde er kontrolliert und erwischt. Der nächste Ärger erwartete ihm beim Auto. Es stand auf dem Behördenparkplatz, wo man zwar nachts kostenlos parken konnte, aber am frühen Morgen eben nicht mehr. Die Politessen waren fleißig an diesem Donnerstagmorgen und hatten ihn schon aufgeschrieben. Zu allem Überfluss hatten Vandalen seinen Polo aufgebrochen und den ganzen Wein geklaut. Verdammte Scheiße, dachte Oliver. Kleinlaut rief er bei seiner Chefin an, um alles zu berichten. Diese war natürlich wenig davon erbaut.

Bei Newtrix herrschte unterdessen Hochstimmung und eine gewisse Schadenfreude zum Al Gore - Statement. Mal wieder war die Konkurrenz auf die Nase gefallen. Diese Nachricht war natürlich auch der Aufmacher beim täglichen Firmen-Rundbrief. An dessen Ende standen die Stellenausschreibungen. Unter anderem wurde ein neuer Handelsvertreter für die Preisabfrage-Geräte in den Supermärkten gesucht. Man wollte diese künftig auch an Bau- und Elektromärkten verkaufen. Der Tätigkeitsbereich umfasste Niedersachsen, Bremen und Hamburg.

Gegen 14 Uhr meldete sich Shania per Handy. Das Geld war schon angekommen. Sie hatte sich tatsächlich dazu entschlossen, Mexiko zu verlassen, und wollte künftig in New Orleans leben. Das passte sehr gut zu den Urlaubsplänen von Tobias. „Dann sehen wir uns dort in zwei Wochen“, erzählte er ihr. Sie nahm das mit großer Freude auf. Mal wieder war das eine Bestätigung für Tobias, dass es keine Zufälle gab und alles vorbestimmt war.

Er machte zwei Stunden später Feierabend und fuhr frohgelaunt nach Hause, nachdem er seinen Wagen vom Maschsee abgeholt hatte. Lucky empfing mit einem beleidigten Maunzen. Er war in den letzten Tagen stark vernachlässigt worden, auch wenn Stefan ihn immer mit Futter und Wasser versorgt hatte. Aber Lucky schien schon zu merken, dass Stefan kein Mensch war.

Kurz darauf klingelte das Telefon. Oliver war dran und schilderte sein Malheur. Spontan fiel Tobias die Stellenausschreibung ein. „Das wäre doch etwas für dich, Oliver!“ Dieser zeigte Interesse an der Stelle. „Ein guter Verkäufer kann alles verkaufen, egal ob Autos, Waschmittel, Wein oder Eure Automaten“, erklärte er. Da konnte Tobias nur zustimmen. Oliver wollte seine Bewerbung noch heute abschicken. „Dann wünsche ich dir viel Glück dabei. Besser als bei deiner Weinklitsche ist das jeden Fall“, sagte Tobias und beendete das Gespräch.

Tobias schaltete den Fernseher an, es liefen Nachrichten. Noch immer war die Erklärung von Al Gore das Hauptthema. Dass ein Präsident der U. S. A. sich einen solchen Spaß erlaubt hatte, hatte es noch nie zuvor gegeben. Es hob seine Sympathiewerte aber ungemein. Die Plane am Mount Rushmore, unter der angeblich der Al Gore - Kopf sein sollte, war enthüllt worden. Darunter war nur der nackte Fels. Außerdem wurde über die bevorstehende Bundestagswahl berichtet, die für den 18. September angesetzt war. Es würde wohl auf eine Große Koalition hinaus laufen, so der Tenor. Fraglich war nur, unter wessen Führung. Außerdem wurde über einen Hubschrauberabsturz in Estland berichtet, bei dem am Vortag vierzehn Menschen ums Leben kamen. Die ersten Toten waren geborgen worden. Ferner hatte der bayrische Verwaltungsgerichtshof in einer Eilentscheidung eine Gedenkveranstaltung in Wunsiedel zum Todestag von Rudolf Heß verboten.

Um auf andere Gedanken zu kommen, zappte Tobias danach durch die Kanäle, es lief aber nichts Interessantes. Daher schaltete er den Fernseher aus und legte stattdessen eine Runrig-CD ein. Mit den Klängen von Access All Areas Volume 7 ertönte. Das war eine seltene Fan-Edition, ein Live-Mitschnitt, allerdings in bester Qualität. Tobias hatte sogleich bessere Laune, auch wenn seine Gedanken wieder zu Karola abglitten. Was für Musik wohl Shania mag, dachte er danach. Darüber hatte sie bislang noch nicht gesprochen. Vielleicht war sie Jazz-Fan und hatte sich deswegen für New Orleans entschieden.

 

Freitag, der 12. August 2005

Der nächste Morgen lieferte eine freudige Überraschung. Siegmund hatte in der Post eine Antwort aus Indonesien erhalten. Der Ex-Ulsan-Kunde hatte sich sehr schnell für Newtrix entschieden, das würde viel Geld einbringen, allein schon wegen der Größe des Landes. Kaum war Tobias eingetroffen, da präsentierte ihm sein Chef auch schon diese erfreuliche Nachricht. „Gut gemacht, Tobi. Darauf stoßen wir heute Abend an. Komm doch zu uns herüber, nachdem du mit Grünfeldt verhandelt hast“, sagte Siegmund und rieb sich die Hände. So schnell ändert sich die Sachlage, dachte er. Tobias nahm die Einladung gerne an.

Um 14.00 Uhr machte er Feierabend und fuhr Richtung Isernhagen/HB. Herr Grünfeldt erwartete ihn schon, war aber leicht enttäuscht, dass Karola nicht dabei war. Tobias wollte ihm nicht die ganze Geschichte erzählen und entschuldigte sie damit, dass sie krank sei. Man wurde sich rasch handelseinig und vereinbarte eine Kaufsumme von 380.000 Euro für das Haus. Notariell sollte das Ganze nach der Rückkehr von Tobias aus New Orleans über die Bühne gehen.

Der anschließende Umtrunk bei Siegmund zog sich in die Länge, so dass Tobias mal wieder aushäusig nächtigte.

 

Kapitel 26

 

Samstag, der 13. August 2005

Erst gegen 11 Uhr saßen Siegmund und Tobias am Frühstückstisch. Siegmunds Frau und die Kinder waren früh aufgestanden und hatten zwei Stunden zuvor das Haus verlassen. So konnten die beiden Männer ungestört miteinander plaudern.

„Es freut mich, dass das mit dem Grünfeldt-Haus klappt, und dass wir Nachbarn werden, Tobi. Aber sag mal: wie finanzierst du das? Hast du noch soviel Rücklagen? Ich bin nicht nur dein Chef, sondern auch dein Freund und ich möchte nicht, dass du dich übernimmst und in eine wirtschaftliche Schieflage gerätst.“ Tobias räusperte sich und antwortete: „Nun, ich werde 80.000 Euro für mein Haus in Faßberg bekommen. Mit Grünfeldt habe ich mich auf 380.000 geeinigt, es bleiben also 300.000 Euro. Ich habe noch etwas gespart und für den Rest nehme ich einen Kredit auf.“ Das war glatt gelogen, aber Tobias wollte aus gutem Grund nicht die Karten auf dem Tisch legen.

Siggi runzelte die Stirn und sagte dann: „Na, gut, ich glaube dir das mal. Aber etwas seltsam ist das schon, das musst du zugeben.“ Um abzulenken, warf Tobias ein: „Ach, das habe ich dir noch gar nicht erzählt: beim Flug nach Mexiko habe ich jemanden getroffen.“ „Und wen?“ „Du hat mich doch neulich an diese Geschichte vor sieben Jahren in Dundee in der Bar erinnert.“ „Ja, und?“ „Nun, dieser Typ, mit dem ich damals die Auseinandersetzung dort hatte, saß im Flugzeug neben mir.“ „Hat er dich erkannt?“ „Zum Glück nicht, aber er hat die Story geschildert.“ Siegmund lachte und erwiderte: „Na, da hast du aber Glück gehabt. Das hätte ins Auge gehen können, im wahrsten Sinne des Wortes.“ „Wie auch immer. Auf jeden Fall bestätigt dass mal wieder, dass es im Leben keine Zufälle gibt, und dass alles vorbestimmt ist.“ „Gilt das auch für die Sache mit Karola? Ich habe dir schon gesagt, dass ich das nicht gut finde!“ „Nun, das ist wohl meine Sache. Außerdem ist das noch nicht endgültig. Ich lasse Karola erst einmal zappeln.“

Siegmund seufzte und ging zur Kaffeemaschine. Jetzt brauchte er Koffein, aber selbstverständlich mit viel Zucker. Tobias ignorierte das Seufzen seines Freundes und fuhr fort: „Karola hat mir übrigens all die Geschenke, die ich ihr in letzter Zeit gemacht habe, zurückgeschickt.“ „Echt jetzt? Das finde ich jetzt aber auch übertrieben.“ „Sie hat sie noch nicht einmal zu mir nach Hause geschickt, sondern bei unserem Pförtner abgegeben. Das war am Dienstag, als wir alle gefeiert haben.“ Siegmund lachte, irgendwie war das doch komisch. Karola war wirklich sehr impulsiv.

Zwei Stunden später machte sich Tobias auf dem Heimweg. Er fand mehrere Nachrichten auf dem Anrufbeantworter vor, nicht von Karola und nicht von Shania, sondern von Lena, die „Schnecke vom Bratwurststand“ vom Mittwoch. Tobias war überrascht, da er ihr nicht seine Telefonnummer gegeben hatte. Diese hatte sie von Oliver erhalten, der sie erfolglos angebaggert hatte.

Tobias setzte sich erst einmal und dachte nach. Mit Karola war es wohl doch aus und Shania lebte weit weg. Lena war hingegen in der Nähe und dazu noch attraktiv. Kurz entschlossen rief er ihre Handynummer an. Sie meldete sich umgehend. Ihre Stimme klang angenehm und sinnlich. Die beiden flirteten eine knappe Stunde und verabredeten sich für den Abend am Fackelträger am Nordufer des Maschsees.

Kurz vor 19 Uhr traf Tobias dort ein. Er brauchte nicht lange warten. Lena hatte sich chic gemacht und stürmte freudestrahlend auf ihn zu. Sie war wirklich sehr groß und überragte Tobias fast um einen Kopf. Hochhackige Schuhe trug sie nicht. „Schön, dass du gekommen bist!“, sagte sie und grinste. Tobias antwortete: „Aber klar doch. Am Mittwoch endete das sehr abrupt. Ich hätte mich gerne länger mit Euch unterhalten, speziell mit dir. Oliver wird dir wohl schon genauer erzählt haben, was da alles vorgefallen ist.“ „Ja, wir haben ein paar Mal telefoniert. Er ist ganz schön hartnäckig, was Frauen angeht. Das mag ich nicht. Du hingegen bist anders.“ „Nun, Oliver ist Verkäufer, da muss man hartnäckig sein. Das bin ich übrigens auch.“ „Du bist auch hartnäckig?“ „Nein, ich bin auch Verkäufer, aber globaler.“ Lena lachte, nachdem sie für ein paar Sekunden enttäuscht war. Dann fragte sie. „Was verkaufst du denn?“ „Stimmenzählautomaten. Ich arbeite bei Newtrix, wenn dir das etwas sagt.“

Tobias erzählte Lena kurz und knapp etwas über seine Firma und speziell über die Zählautomaten, während sie die Uferpromenade in Richtung Löwenbastion entlang schlenderten. Die junge Frau war sehr interessiert und fragte ein paar Mal nach. Besonders spannend fand sie es, dass Newtrix die Präsidentenwahl in Amerika beeinflusst hatte. „Denn bist du ja eine kleine Berühmtheit“, meinte sie. Tobias antwortete: „Nun, ja, aber ein ganz kleine. Die Maschine selbst hat mein Chef entworfen und gebaut.“ „Stell dir mal vor, wie die Welt aussehen würde, wenn Ihr das Gerät nicht herausgebracht hättet. Dann wäre doch glatt dieser Bush-Sohn Präsident geworden und hätte sicherlich den nächsten Krieg angezettelt. Und er hätte sich bestimmt nicht für den Klimaschutz engagiert.“

Tobias konnte ein Lachen gerade noch unterdrücken, denn er konnte sich eine solche Welt sehr wohl vorstellen, das war fast die gleiche Welt wie diese, aber nur fast. Außerdem waren das genau die Worte, die Siegmund benutzt hatte. Um abzulenken, fragte Tobias: „Weißt du zufällig, wer nachher in der Löwenbastion auftritt? Ich habe gar nicht nachgeguckt.“ Lena holte einen Zettel aus ihrer Handtasche und sagte dann: „Cool! Da treten Lunik auf, die kommen aus der Schweiz. Von denen habe ich schon gehört.“ „Ich noch nicht. Was machen die für Musik?“ „Pop, mit etwas Hip-Hop, eine klasse Mischung.“ „Na, ja, das ist nun nicht unbedingt meine Musikrichtung. Aber warum nicht? Wir können uns das ja mal anhören.“ „Es wird dir gefallen. Da bin ich mir sicher.“ „Wusstet du übrigens, dass die Löwenbastion eigentlich eine Krokodilsbastion werden sollte? Die damaligen Machthaber wollten aber lieber Löwen haben.“

Auch wenn Tobias nicht gerade begeistert von der Gruppe war, so ließ er sich das nicht anmerken. Seine Aufmerksamkeit galt ohnehin eher Lena. Kurz vor 22 Uhr endete der Auftritt von Lunik, gleich darauf begann das große Feuerwerk, zum letzten Mal in diesem Jahr, denn morgen war der letzte Tag der Seesause. Die beiden hatten einen wunderbaren Blick auf das Feuerwerk und genossen es. „Schade, dass die das Fest nicht verlängert haben“, bemerkte Lena. „Nun, irgendwann muss Schluss sein. Und die Anwohner wollen auch mal wieder ihre Ruhe haben.“ „Es war ein wunderschöner Abend, nicht wahr. Das sollten wir bald wiederholen“, antworte Lena und blickte sehnsüchtig. „Aber sicher doch. Unsere Telefonnummern haben wir ja jetzt. Ruf mich einfach an.“ „Das mache ich bestimmt, Tobi.“

Beseelt fuhr Tobias nach Hause. Lena hatte Recht, das war wirklich ein schöner Abend gewesen.

 

Kapitel 27

 

Sonntag, der 14. August 2005

Tobias wachte gegen 9 Uhr auf. Spontan schickte er noch im Bett eine SMS an Lena: „Danke für den schönen Abend. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder“. Die Antwort kam postwendend – von Karola: „Welche Schlampe hast du da schon wieder aufgegabelt? Ich hasse dich !!!!“ Anscheinend war er beim Absenden um eine Zeile verrutscht. Das war sehr ärgerlich. Jetzt bedauerte es Tobias, in seinem Bekanntenkreis keinen Karsten, Klaus oder Konrad zu haben. Das hätte zwar auch eine Erklärung erfordert, aber es wäre nicht so peinlich gewesen. Kurzzeitig erwog Tobias, Stefan anzupeilen, um ihn zu bitten, das wieder rückgängig zu machen. Das hätte er bestimmt gekonnt. Stattdessen schickte er die SMS erneut ab, diesmal aber wirklich an Lena. Er stand auf, fütterte Lucky und duschte ausgiebig.

Das Frühstück fiel mal wieder karg aus: Es gab eine große Tasse schwarzer Kaffee und ein Marmeladenbrot. Tobias schaltete das Radio ein, es war jetzt kurz vor zehn. In den Nachrichten wurde über die Büste von Nofretete berichtet, die seit gestern nach 66 Jahren wieder im Alten Museum auf der Berliner Museumsinsel zu sehen war. Außerdem gab es einen Kurzbericht vom SPD-Wahlkampfauftakt in Hannover, bei dem sich Bundeskanzler Gerhard Schröder lobend über den US-Präsidenten äußerte, auch zu dessen Spaß mit Mount Rushmore.

Kaum waren die letzten Worte des Nachrichtensprechers verklungen, klingelte das Handy von Tobias. Lena war dran. Sie war gerade aufgestanden und hatte sich sehr über die SMS gefreut. Er vermied es, zu erwähnen, dass diese sie erst im zweiten Anlauf erreicht hatte. „Was machst du heute Abend?“, wollte Lena wissen. „Nun, ich habe noch nichts vor“, antwortete Tobias wahrheitsgemäß. „Kennst du das kleine Museum in Linden in der Grotestraße?“ „Nein, aber so spät abends ins Museum gehen, ich weiß nicht.“ Lena lachte und entgegnete „Hi, hi. Das ist kein Museum, sondern eine urige Kneipe. Mit alten Antiquitäten, unter anderem hängen Krokodile unter der Decke. Außerdem gibt es dutzende von verschiedenen Bieren.“ Das klang verlockend für ihn, wobei ihm der Gerstensaft weitaus mehr als die Einrichtung interessierte.

Um kurz nach 19 Uhr traf Tobias in der Kneipe ein, ihm beeindruckten die beiden Totempfähle, die am Eingang standen. Die Gaststätte wurde von alten Straßenlaternen schummrig ausgeleuchtet, die Stühle waren aus dunklem Holz, die Sitze aus rotem Leder. Die Tischplatten waren dagegen hell, vermutlich Buchenholz. Das war sehr gemütlich, ihm gefiel das Lokal. Tobias setzte sich an einen kleinen Tisch, von Lena war noch nichts zu sehen. Kurz darauf sprach ihn die junge Kellnerin an, sie hatte langes, lockiges Haar: „Möchtest du schon etwas trinken? Wir haben viele Biersorten.“ Tobias lachte, auch wenn er noch nie hier war, offenbar erkannte man seine Getränkevorlieben sofort. „Dann hätte ich gerne die Karte. Ich bin gespannt. Man hat mir schon berichtet, dass es bei Euch eine große Auswahl gibt.“ Ihm störte nicht, dass er gleich geduzt wurde. Das war in diesem Stadtteil so üblich.

Kurz darauf traf Lena ein. Sie kam gleich auf ihn zu und setzte sich zu ihm. „Schön, dass du gekommen bist“, sagte sie und lächelte. „Ich freue mich auch. Hattest du es denn weit?“ „Nein, nicht wirklich. Ich wohne gleich um die Ecke, in der Elisenstraße, gegenüber vom Havana.“ „Ach, das kenne ich. Da war ich aber seit Jahren nicht mehr. Das ist auch toll. Aber hier gefällt es mir noch besser, das war ein toller Tipp, Lena.“

Unterdessen brachte die Bedienung das von Tobias bestellte Krusovice-Bier. „Oh, schon durstig“, stellte Lena fest und sagte zu ihr: „Das sieht gut aus. So ein Bier hätte ich auch gerne.“ „Sehr wohl. Wollt Ihr auch etwas essen?“ „Gerne, ich auf jeden Fall“, antwortete Lena. „Ich auch. Die Karte haben wir ja noch“, ergänzte Tobias. „Currywurst wirst du hier nicht finden. Vor einem Jahr hat ein Franzose das Lokal übernommen“, erklärte Lena. „Das habe ich schon gesehen. Kannst du etwas empfehlen?“ „Die wilde Küchenfee ist sehr gut.“ „Das klingt lustig. Was ist das?“ „Schweinefilet mit gebratenen Champignons bedeckt, mit Preiselbeersoße, dazu Salat.“ „Oh, lecker, das nehme ich.“ „Ich auch.“

„Super. Dann zweimal die Küchenfee. Und wenn du noch einen Job suchst, kannst du bei uns anfangen, Lena“, sagte die Kellnerin, lachte und wandte sich ab. „Ach, man kennt dich hier, Lena?“ „Ja, Tobias. Ich bin öfter hier.“ „Super. Aber eigentlich weiß ich fast nichts von dir, außer, dass du Tiermedizin studierst.“ „Richtig. Aber dem Krokodil da oben an der Decke kann ich nicht mehr helfen.“ Tobias lachte, das war wirklich witzig. „Aber meinem Kater könntest du schon helfen?“ Er holte ein Foto von Lucky hervor. Es zeigte ihn, wie er lang ausgestreckt auf dem Sofa lag. „Na, klar. Auch wenn du nicht gerade in der Nähe wohnst, wie ich aus deiner Vorwahl schließe. Wo ist das denn eigentlich?“ „In Faßberg, mitten in der Lüneburger Heide.“ „Oh, das ist ganz schön weit weg.“ „Ja, aber ich ziehe demnächst näher nach Hannover. Die ewige Fahrerei nervt auf Dauer.“

Tobias berichtete von dem Haus in Isernhagen, das er kaufen wollte. Lena hörte interessiert zu. „Ich komme übrigens aus Linden, aber nicht aus Hannover“, erzählte sie, als er mit seiner Ausführung fertig war. Tobias war irritiert, dann erklärte Lena: „In Wolfenbüttel gibt es auch einen Stadtteil, der Linden heißt. Das ist meine Heimat.“ Tobias fasste sich an den Kopf und sagte: „Ach ja, in Wolfenbüttel haben wir auch ein Werk, unser kleinstes.“

In diesem Moment brachte die Bedienung das Essen sowie das Bier für Lena, Tobias orderte bei der Gelegenheit ein weiteres Glas. Sie ließen es sich schmecken und plauderten danach fast zwei Stunden. „Kommst du noch mit zu mir?“, fragte Lena, als Tobias gerade sein viertes Bier geleert hatte. Er vermied es, zu sagen, dass er sich durchaus noch fahrtüchtig fühlte, und antwortete stattdessen: „Aber gerne doch!“, und signalisierte, dass er zahlen wolle und übernahm die komplette Rechnung.

Sie schlenderten dann gemächlich zu ihrer Wohnung. Es war ein lauer Sommerabend, nur ein leichter Wind ging. „Schön hast du es hier“, sagte Tobias, als er bei ihrem Zuhause angekommen war. Das war sein Ernst, denn hier fehlte jeglicher Schnickschnack, stattdessen lagen Unmengen Bücher herum. Sie hatte offenbar Sinn für das Wichtige im Leben. „Meine Freundinnen halten mich alle für bescheuert, die haben alle mehr Schuhe als Bücher. Das kann ich nicht verstehen. Ich gucke auch kaum Fernsehen, das hemmt die Fantasie. Hingegen wenn man liest...“, sprach Lena. Weiter kam sie nicht, denn Tobias legte seine Arme um Lena und drückte sie an sich.

 

Kapitel 28

Montag, der 15. August 2005

 

 

Tobias erwachte um kurz nach vier Uhr morgens, im Bett von Lena. Zufrieden dachte er an die vergangene Nacht, und daran, dass er jetzt innerhalb von drei Wochen mit drei verschiedenen Frauen geschlafen hatte, auch wenn das mit Shania nicht freiwillig geschah. Ob es daran lag, dass er jetzt Geld hatte, dass das mit den Frauen jetzt besser klappte? In seiner alten Welt hatte er jedenfalls nicht soviel Erfolg. Er drehte sich noch einmal um, und programmierte bei seinem Handy einen Weckruf um 6.30 Uhr, das war genau richtig, um pünktlich zur Arbeit zu kommen.

 

Der Weckruf ertönte, Tobias wachte auf und zog sich an, ohne Lena aufzuwecken. Für eine Studentin war es noch zu früh zum Aufstehen. Er hätte sie aber auch problemlos mitnehmen können, da die Hochschule auf seinem Weg lag.

 

Kaum hatte Tobias sein Büro betreten, klingelte auch schon sein Telefon. Es war Frau Kruse, seine Sekretärin. Das war sehr ungewöhnlich. Sie bat ihm um Rücksprache. Gespannt ging Tobias in ihr Büro. Er konnte sich noch nicht einmal setzen, als Frau Kruse auch schon los plapperte: „Wissen Sie schon, wer schwanger ist?“ Tobias schüttelte den Kopf und antwortete: „Keine Ahnung, aber sie werden es mir sicherlich gleich sagen.“ „Die Frau Müller aus der Debitoren-Buchhaltung, dabei hat sie doch gar keinen festen Freund!“ „Nein, das gibt es doch gar nicht, Frau Kruse. Woher wissen Sie das denn?“ „Die Müller hat es Frau Koslowski erzählt, und die hat es Frau Meyer aus der Kantine weitererzählt, von der weiß ich es.“ Tobias kannte die Tratschfreudigkeit seiner Sekretärin, aber in diesem Fall war er durchaus interessiert und fragte nach, obwohl er die Wahrheit kannte: „Weiß sie schon, wer der Vater ist?“ „Das soll ein junger Mann, den sie im Kino kennen gelernt hat. Angeblich sollen Sie sogar wissen, wer das ist.“ Tobias war klar, wer gemeint war und nickte deshalb.

 

Zwanzig Minuten später, als Tobias wieder in seinem Büro war, klingelte erneut das Telefon. Er ahnte schon, wer es sein könnte, und tatsächlich: Bettina Müller war dran. Sie war völlig aufgelöst. „Ich muss Sie unbedingt sprechen“, begann sie und setzte dann fort: „Sie haben wohl schon vom Flurfunk gehört, was mir passiert ist.“ „Ja, Frau Müller.“ „Offensichtlich kennen Sie diesen Oliver wohl, woher auch immer.“ „Das stimmt, er ist Weinvertreter und ich bin sein Kunde. Wir haben uns angefreundet.“ „Na gut. Dann sagen Sie bitte ihrem Freund, dass er sich unbedingt bei mir melden soll, heute noch. Die Telefonnummer, die er mir gegeben hat, war falsch.“ „Das mache ich umgehend, ich garantiere es Ihnen.“ „Danke.“

 

Tobias nahm sein Handy und wählte die Nummer von Oliver. Der ging sofort ran und sagte: „Hallo, Tobi. Gibt es was Neues? Wie war es mit Lena?“ „Das erzähle ich dir später. Zunächst einmal habe ich eine Überraschung für dich.“ „Überraschung? Um meine Bewerbung kann es wohl nicht gehen. Oder habt Ihr euch so schnell entschieden?“ „Nein, natürlich nicht. Das wird mindestens noch eine Woche dauern. Aber denk mal an Eichinger!“ Oliver war kurz irritiert, dann antwortete er: „Ach, geht es um diese Bettina? Will sie mich doch noch mal sehen?“ „Richtig, aber ganz so erfreulich wird das nicht für dich.“ „Wieso das denn?“ „Nun, Euer kleines Erlebnis hat Folgen gehabt. Ziemlich teure für dich!“

 

Oliver schluckte und kombinierte dann: „Ist diese Schlampe etwa schwanger? Das kann ich jetzt gar nicht brauchen.“ „So ist es. Hast du heute Abend Zeit? Dann können wir ausführlich darüber sprechen.“ „Ja, ich muss sowieso noch den Sekt bei dir ausliefern. Dann komme ich heute Abend bei dir vorbei. Passt es dir so kurz nach sieben?“ „Ja, das geht. Lena trifft sich heute mit ihren Freundinnen.“

 

Das war schon eine harte Nummer, dachte Tobias. In gewisser Weise hatte er das verschuldet. Während des Telefonats mit Oliver musste sich Tobias sehr zusammenreißen, um nicht laut loszuprusten, als er Eichinger erwähnt hatte, weil ihm der Titel des Films wieder eingefallen war: „The Fantastic Four“. Es wäre ein Riesengag, wenn Frau Müller Vierlinge bekommen würde, aber für Oliver wäre das wahrscheinlich nicht so lustig.

 

Stefan meldete sich kurz danach und bat ihm, heute Nachmittag bei ihm vorbei zu kommen. Zum Einem war es mal wieder Zeit für eine Besprechung, zum Anderen hatte er etwas Neues für ihm, was hilfreich für ihn sein würde.

 

Gegen 16 Uhr machte Tobias Feierabend und fuhr schnurstracks nach Munster, wo er etwa eine Stunde später ankam. Stefan begrüßte ihn freundlich und bot ihm einen Stuhl an. Nachdem sich Tobias gesetzt hatte, sagte Stefan: „Zunächst einmal muss ich dir sagen, dass ich sehr zufrieden bin mit dem was du in letzter Zeit gemacht hast. Darum habe ich zwei Belohnungen für dich. Gib bitte mal den Signalgeber her.“ Tobias tat, was ihm gesagt wurde, war aber verwundert. Der Weltenerschaffer steckte das Gerät ein und holte stattdessen ein ähnliches aus dem Schreibtisch, was etwas größer war und mehrere Knöpfe hatte, außerdem ein kleines Display.

 

Stefan erklärte: „Der schwarze Knopf ist wie gewohnt der Signalknopf, um mich herbei zu rufen. Mit dem roten Knopf da, kannst du die Zeit anhalten, aber längstens für zehn Minuten. Dafür ist das Display, das die verbliebene Zeit anzeigt. Mit dem grünen Knopf kannst du die Zeit wieder fortsetzen.“ „Das ist klasse! Und das funktioniert wirklich?“ „Natürlich. Du kannst es mal ausprobieren. Auf mich wirkt sich das jedoch nicht aus, Hologramme leben außerhalb des Zeitgefüges. Aber schau mal nach draußen!“

 

Die beiden begaben sich zum Fenster und drückte den roten Knopf. Draußen fuhr gerade ein Radfahrer vorbei. Dieser blieb mitten in seiner Bewegung stehen. Auf der anderen Straßenseite ging eine ältere Frau mit ihrem Hund spazieren. Auch diese verharrte in einer Starre. Tobias war begeistert, erhielt aber von Stefan die Warnung, dass er diesen Effekt nur im äußersten Notfall anwenden sollte, zum Beispiel, wenn er bedroht wurde oder es Komplikationen gab.

 

„Und nun zur zweiten Überraschung für heute. Folge mir bitte“, sagte Stefan und ging mit Tobias in einen Nebenraum. Da stand ein seltsamer Elektro-Rollstuhl, der aber keine Räder hatte, sondern Beine, wie ein Roboter. Er war wesentlich schmaler als ein normaler Rollstuhl und auch höher. „Was ist das größte Problem für Rollstuhlfahrer?“, wollte Stefan wissen. „Nun, ich würde sagen: Treppen!“, antwortete Tobias. Stefan nickte und erklärte: „Damit nicht mehr. Das Ding überwindet mühelos jede Treppe, ist absolut standsicher und viel schneller als herkömmliche Rollstühle.“ „Super. Aber ich bin doch nicht behindert, und ich kenne auch niemand, der das ist.“ „Aber Eure Firma kann das bauen und verkaufen. Das wird sicherlich ein großer Erfolg.“ „Na, klar. Wir könnten die Elektronik beisteuern, für den mechanischen Teil findet sich bestimmt eine andere Firma.“

 

Stefan reichte seinem Freund die Blaupausen für die Konstruktion und klopfte ihm auf die Schulter. Dieser bedankte sich überschwänglich. Mit den Worten von Stefan: „Dann noch eine nette Unterhaltung mit Oliver“ verabschiedeten sie sich und Tobias fuhr hocherfreut nach Hause. Dort kam er gerade noch rechtzeitig zur Verabredung mit Oliver. Fünf Minuten später traf dieser ein und lud den Sekt aus. „Normalerweise ist das nicht meine Aufgabe, aber für dich mache ich gerne eine Ausnahme“, sagte er. Er verschwieg, dass ihm seine Chefin dazu gedrängt hatte.

 

Es war angenehm warm, und daher setzten sich die beiden mit je einem Bier auf die Terrasse zum Plaudern. „Erst mal Prost“, eröffnete Tobias das Gespräch und ergänzte: „Da hast du dir ganz schön was eingebrockt.“ „Das kann man wohl sagen. Warum hat diese alte Fotze auch nicht verhütet.“ „Na, du hättest auch daran denken können.“ „Ich hasse diese Gummidinger, das nimmt den ganzen Spaß.“ „Aber besser wäre es gewesen, wenn du sie benutzt hättest.“ „Es ist nun mal passiert. Jetzt habe ich den Salat. Glaubst du, dass sie das Kind behalten will?“ „Ich denke schon. Sie war heute morgen zwar verzweifelt, aber sie ist katholisch, also kommt eine Abtreibung nicht in Frage.“ „Stell dir vor, du wärst mit ihr ins Kino gegangen, dann hättest du jetzt das Problem.“ Tobias lachte und antwortete: „Unwahrscheinlich. Ich mochte diese Tucke noch nie – aber die Lena die mag ich schon sehr. Vielen Dank noch einmal.“ „Nicht zu danken. Dann musst du aber auch erzählen, wie es mit ihr war.“

 

Tobias schilderte ausführlich seine Treffs mit Lena und sparte kein Detail aus. Zur gleichen Zeit saß Lena mit Iris und zwei weiteren Freundinnen namens Sylvia und Nadine in der Destille, einer beliebten Studentenkneipe in der hannoverschen Nordstadt. Die drei anderen Mädels waren natürlich ebenso neugierig und so hätten Tobias ganz schön die Ohren geklingelt, wenn er gehört hätte, was Lena berichtete. Das Getratsche ging bis spät in die Nacht und wurde am nächsten Morgen vorgesetzt.

 

 

Kapitel 29

Dienstag, der 16. August 2005

Mit sehr guter Laune fuhr Tobias zur Arbeit. Die Blaupausen für den Gehstuhl hatte er in seine Aktentasche verstaut und wollte sie gleich Siegmund präsentieren. Die Bezeichnung „Gehstuhl“ für die Konstruktion war nur vorläufig, weil ihm noch nichts Besseres eingefallen war. Für die internationale Vermarktung war das sicherlich unpassend. „Gorator“ wäre zwar ein verkaufsfähiger Name, aber traf die eigentliche Funktion des Gerätes auch nicht. Aber darüber sollten sich andere Gedanken machen. Er war nur der Konstrukteur, jedenfalls wollte Tobias sich als solcher ausgeben. Er konnte ja schlecht die Wahrheit präsentieren.

Tobias legte die Aktentasche ab und nahm die Blaupausen heraus, als er sein Büro betrat. Der Plan sofort zu Siegmund herüberzugehen, wurde vereitelt, weil das Telefon klingelte. Bettina Müller war dran. Sie wollte wissen, was Oliver zu der Neuigkeit gesagt hatte. Offenbar hatte er sich noch nicht bei ihr gemeldet, obwohl er das Tobias versprochen hatte. Tobias sicherte ihr zu, Oliver noch einmal Bescheid zu stoßen.

Danach ging Tobias zu Siegmunds Büro herüber, die Blaupausen in der Hand. Da dieser gerade telefonierte, setzte sich Tobias auf den scheußlichen Besucherstuhl und wartete. Nach Ende des Telefonats sagte Siegmund: „Guten Morgen, Tobi. Das war gerade der Makler wegen der neuen Fabrikhalle. Es gibt da ein Angebot in Buxtehude, das Objekt ist aber viel zu groß für uns.“ „Na, das trifft sich doch gut, Siggi. Schau mal, was ich hier habe. Da können wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen“, antworte Tobias und reichte ihm die Entwürfe. Dieser sah sie sich interessiert an und sagte dann: „Mensch, Tobi, das ist eine ganz tolle Sache! Das da noch keiner drauf gekommen ist! Aber: das ist doch gar nicht unsere Baustelle, was die Produktpalette betrifft.“ „Das stimmt, Siggi, aber was nicht ist, kann noch werden. Für den mechanischen Teil finden wir bestimmt noch eine andere Firma. Und in Buxtehude könnten wir das Ganze produzieren. Ich habe nur noch keinen verkaufsfähigen Namen gefunden. Hast du eine Idee?“ „Wie wäre es mit Gorator?“ „Daran habe ich auch schon gedacht, aber so ganz passt das nicht.“ „Weißt Du was? Wir machen eine Mitarbeiteraktion daraus. Derjenige, der den besten Namen findet, bekommt eine Prämie.“ Und so beschlossen die beiden, dass in der nächsten Woche auf einer außerordentlichen Dienstbesprechung darüber abgestimmt werden sollte, ob das Gerät in Produktion gehen sollte und ob die die Mitarbeiteraktion in die Wege geleitet werden sollte.

Zur gleichen Zeit frühstückten Lena, Iris, Sylvia und Nadine im Café Safran und lästerten über Männer. Nadine kicherte und prustete, als Lena wieder einen Spruch über Tobias gemacht hatte: „Das war klasse, Lena. Ich lach mich schlapp!“ Sylvia die gerade auf Toilette war, und nichts mitbekommen hatte, fragte: „Nun, lasst mich nicht dumm sterben. Was war so lustig?“ Nadine antwortet: „Ich hatte gefragt, wie dieser alte Sack im Bett ist und Lena hat gesagt, dass er sich dabei nicht als Granate erwies, sondern eher einer Platzpatrone glich.“ Jetzt lachte auch Sylvia aus vollem Hals. Iris ergänzte: „Na, so toll sieht er auch nicht aus. Ich sage nur: Halbglatze!“ Lena grinste und nickte. Dann sagte sie: „Aber ein Prädikat hat er: Kohle, und das nicht zu knapp.“ Iris wollte wissen: „Hat er dir das gesagt?“ „Nein, aber Oliver, dieser Blödmann vom Maschseefest. Er hat mich doch angebaggert und mehrmals angerufen. Dann kamen wir auf Tobias zu sprechen. Und da konnte ich mich nicht zurückhalten. Scheißegal, wie er aussieht und wie alt er ist.“ Sylvia wand ein: „Deswegen muss das nicht stimmen mit der Kohle, nur weil der andere Typ das sagt.“ „Doch, Sylvia, im Halbschlaf hat Tobias ein paar Mal etwas davon gefaselt, dass er sein Gold loswerden muss!“ Nadine ergänzte: „Na, dabei wirst du ihm doch sicherlich behilflich sein, wie ich dich kenne!“ Alle Mädels lachten und bestellten noch Prosecco, um auf Lenas möglichen Erfolg anzustoßen.

Um 11.30 Uhr meldete sich Oliver bei Tobias, nachdem dieser ihm zuvor eine dringliche SMS geschickt hatte. Er ließ sich die Durchwahl von Bettina geben und sagte zu, sie umgehend anzurufen, was er denn auch tat. Eine Stunde später, als Tobias in der Kantine saß und seinen bayrischen Schweinebraten mit Rotkohl und Salzkartoffeln genoss, kam Frau Müller auf ihn zu und setzte sich neben ihn. Sie blickte ihm voller Dankbarkeit in die Augen und erzählte, dass sie sich am Nachmittag mit Oliver zu einem „ernsten Gespräch“ in einem Café treffen wolle. Tobias war gespannt, was daraus werden würde.

Gegen 14 Uhr, als Tobias in seinem Büro saß und die Verkaufslisten der letzten Wochen kontrollierte, klingelte sein Handy. Es war – Karola! Das war wirklich eine Überraschung. Genervt sagte Tobias zu ihr: „Was willst du denn? Stänkern?“ „Nein. Ganz im Gegenteil. Ich wollte fragen, wie es mit deiner neuen Freundin läuft – der Lena!“ Nun war Tobias erneut überrascht. Er fragte: „Woher weißt du von ihr? Und was geht dich das an?“ „Das geht mich eigentlich nichts an, das stimmt. Aber du solltest sie mal fragen, wie es heute morgen im Café Safran war.“ Dann legte Karola ohne ein weiteres Wort auf. Tobias war ziemlich konsterniert und wusste zunächst nicht, was er tun solle. Er entschloss sich danach, Lena anzurufen. Er wollte nun wissen, was Sache ist.

Lena war jedoch nicht erreichbar, nur die Mailbox sprang an. Tobias hinterließ eine kurze Nachricht und bat um Rückruf. Immer noch verwirrt setzte er seine Arbeit fort und fuhr innerlich aufgewühlt um 16.30 Uhr nach Hause. Kaum war er dort angekommen, als auch schon Lena anrief. „Na, Schatz, was möchtest du denn? Hast du Sehnsucht?“, sagte sie scheinheilig. Tobias antwortete: „Ich wollte wissen, ob dir dein Frühstück geschmeckt hat – im Café Safran.“ Die sichtlich überraschte Lena schwieg ein paar Sekunden, dann erwiderte sie: „Ja, das war sehr gut. Aber woher weißt du das? Spionierst du mir nach?“ Am liebsten hätte Tobias gesagt: „Das würde ich gerne!“ Stattdessen entgegnete er: „Nein, aber man hat seine Leute.“ Ohne ein weiteres Wort beendete Tobias das Gespräch.

Nun war er erpicht, zu erfahren, woher seine Ex diese Information hatte. Karola ging sofort ran, als er sie anrief. „Zunächst vielen Dank für die Info. Lena war tatsächlich in dem Café. Aber was war dann da los? Und woher weißt du das?“, wollte er wissen. Karola kicherte höhnisch und erklärte dann: „Wenn man in der Gastro-Szene arbeitet, dann hat man seine Connections. Also: eine gute Freundin von mir, die Melanie, arbeitet in diesem Café. Und sie hat durch Zufall ein Gespräch von vier Tussen mitangehört. Es ging eindeutig um dich. Du solltest dir übrigens abgewöhnen, im Schlaf zu reden.“ Tobias schluckte. Ja, das mit dem Reden im Schlaf hatten ihm schon einige Male Ärger bereitet. Daraufhin schilderte Karola alles, was Melanie aufgeschnappt hatte. Tobias bedankte sich und vereinbarte ein Treffen mit Karola für den morgigen Abend.

Mit einer Flasche Glenfarcles setzte sich Tobias vor dem Fernseher. Es war doch immer wieder der gleiche Mist mit den Frauen, irgendwie hatte er da kein Glück. Lucky sprang ihm auf den Schoß, schnurrte und schmiegte sich an. „Du verlässt mich nicht, alter Bursche“, sagte Tobias und streichelte seinen Kater.

 

Kapitel 30

Mittwoch, der 17. August 2005

Missmutig blickte Tobias am nächsten Morgen auf den Couchtisch. Da lag die leere Malt-Flasche und mindestens fünf Bierpullen. Er wagte es nicht, einen Blick in seine Bar zu werfen, er wollte nicht wissen, was dort alles dezimiert war. Lucky maunzte vorwurfsvoll. Ich sollte wirklich weniger saufen, dachte Tobias. Immer wieder diese blöden Weiber, die mich alle nur ausnutzen wollen! Entsprechend schlecht gelaunt fuhr er zur Arbeit. Auch die Folkrock-CD konnte seine Stimmung nicht bessern.

Siggi bemerkte den schlechten Zustand seines Freundes, schwieg aber. Allerdings hatte er eine gute Nachricht für ihn: „Tobi, wir haben ein Fax bekommen. Vietnam hat geantwortet. Das haben wir auch im Sack. Jetzt fehlen nur noch Kambodscha, Laos und Südkorea.“ Tobias strahlte und sagte: „Viel bringt Vietnam zwar nicht ein, aber Kleinvieh macht auch Mist.“ „Richtig, Tobi. Das waren fünf Euro ins Phrasenschwein. Für Laos und Kambodscha gilt das sicherlich auch. Aber mit Südkorea muss das unbedingt noch klappen, dann haben wir Rushmore endgültig überholt.“

Tobias‘ schlechte Laune von heute Morgen war fast verflogen, er brauchte aber dringend Koffeinnachschub und ging daher in die Kantine. Der ungesüßte Kaffee weckte wieder seine Lebensgeister. Bettina kam ihm in den Sinn, er wollte nun unbedingt wissen, was aus ihrem Treff mit Oliver geworden war. Gleich nach der Rückkehr ins Büro wählte er ihre Nummer. Niemand ging ran, das war ungewöhnlich für Frau Müller. Auch drei weitere Versuche waren erfolglos. Beim fünften Anruf, es war etwa 11.30 Uhr meldete sich überraschenderweise ihr Chef, Herr Becker. Von ihm erfuhr er, dass Frau Müller heute nicht zur Arbeit gekommen war und sich auch nicht krank gemeldet hatte. Tobias begann, sich Sorgen zu machen. So gut kannte er Oliver doch noch nicht. Vielleicht war er doch ausgerastet? Der Verdacht wurde nicht entkräftet, nachdem auch Oliver nicht über Handy erreichbar war.

Tobias ermittelte über die Firmendaten die Adresse: von Bettina: Pertzstraße 2 in Kleefeld. Das war nicht weit vom Newtrix-Gebäude entfernt und daher beschloss Tobias, dort nachzusehen. Da er ohnehin nicht direkt nach Hause waren, wollte, da er sich mit Karola treffen wollte, lag das auf dem Weg zur Innenstadt sogar auf der Strecke. Nach Rücksprache mit Siegmund machte Tobias heute schon um 14.30 Uhr Feierabend.

Eine viertel Stunde später stand Tobias vor dem Wohnhaus von Bettina. Alles grau in grau, ein Haus sah aus wie das andere. Zielsicher ging er zu dem Gebäude, in dem Bettina wohnte. Zum Glück gab es da nicht viele Mieter und auch nur ein Klingelschild mit der Aufschrift „Müller“. Tobias klingelte. Niemand reagierte. Im ersten Stock öffnete sich ein Fenster. Eine ältere, dickleibige Frau beugte sich heraus und fragte: „Zu wem möchten Sie dann?“ Tobias war einerseits genervt, dass die Nachbarin so neugierig war, andererseits war er froh darüber. Vielleicht konnte die Frau etwas zum Verbleib von Bettina sagen. Daher antwortete er: „Ich möchte zu Frau Müller. Wissen Sie zufällig, ob sie zu Hause ist? Ich bin Tobias Wagener, ein Kollege von ihr.“ „Kommen Sie hoch, hier am Fenster kann ich das schlecht erklären. Klingeln Sie bei Nolte.“

Tobias ging das Treppenhaus hinauf, es machte einen schmuddeligen Eindruck. Offenbar war hier schon lange nicht mehr sauber gemacht worden. Frau Nolte stand bereits an der Eingangstür ihrer Wohnung. Sie sagte: „Kommen Sie nur herein, junger Mann. Stören Sie sich bitte nicht daran, dass es etwas unaufgeräumt ist. Ich bekomme so selten Besuch. Meine beiden Kinder wohnen weit weg. Mein Sohn, der Rainer, der wohnt in Berlin, und die Renate, meine Tochter, lebt in Wiesbaden. Ab und zu rufen die mal an. An Ostern, an Weihnachten oder wenn ich Geburtstag habe. Ja, so sind sie, die jungen Leute.“ Tobias hörte freundlich zu und begab sich mit der Dame in ihr Wohnzimmer. Es war tatsächlich ein ziemliches Durcheinander. Eine stark übergewichtige Katze mit langem, schwarzem Fell stürmte sogleich auf Tobias zu und strich ihn um die Beine. „Das ist Minka. Eigentlich geht sie nicht zu Menschen, die sie nicht kennt. Sie müssen eine besonderes Ausstrahlung haben“, stellte Frau Nolte fest. Tobias antwortete: „Ich habe auch eine Katze, genauer gesagt einen Kater. Er heißt Lucky.“ „Ach, daher. Aber setzen Sie doch, junger Mann.“

Tobias nahm auf dem uralten Sofa Platz, das leicht nach Katzenurin roch. Aber das störte ihn nicht. Er räusperte sich und erzählte: „Nun, Frau Nolte. Ich bin, wie gesagt, ein Kollege von Frau Müller. Sie ist heute nicht zu Arbeit gekommen und hat sich auch nicht krank gemeldet. An sich ist sie sehr zuverlässig. Daher machen wir uns Sorgen.“ „Ja, die Frau Müller. Sie ist seit Kurzem ganz aufgedreht, gar nicht wie sonst. Was da passiert ist, weiß ich natürlich nicht. Das geht mich auch nichts an. Vor vier Wochen wollte sie mit einem Kollegen ins Kino und hatte auch schon Karten gekauft. Doch dieser Kollege hat sie versetzt, mit einer ganz dummen Ausrede. Sie ist dann trotzdem ins Kino gegangen und hat da einen anderen jungen Mann kennen gelernt. Den hat sie anschließend mit nach Hause gebracht. Das war schon ungewöhnlich für Frau Müller. Das hat sie sonst nie gemacht.“ Das war Tobias natürlich bekannt, er ließ sich das aber nicht anmerken. Schon gar nicht wollte er erwähnen, dass er derjenige war, der das verursacht hatte.

Stattdessen sagte er: „Sehr interessant, Frau Nolte. Aber wissen Sie, was seit gestern Abend mit ihr passiert ist?“ „Nun, sie ist um drei Uhr nach Hause gekommen und eine halbe Stunde später wieder aufgetakelt und schnurstracks nach unten gestürmt. Ich wollte sie noch fragen, wo sie dann hin wollte. Nicht, dass ich neugierig bin, aber man möchte doch wissen, wie es den Nachbarn so geht. Jedenfalls habe ich sie seitdem nicht mehr gesehen.“ Von dem geplanten Treffen mit Oliver wusste Tobias, es minderte seine Sorgen aber nicht, dass Bettina die Nacht offenbar nicht zu Hause verbracht hatte. Er hakte nach: „Diesen jungen Mann, den Sie erwähnten, haben Sie den nochmals gesehen?“ „Nein, den habe ich damals nicht gesehen. Gehört aber schon, wenn Sie verstehen, was ich meine. Die Wände sind hier sehr dünn.“ Tobias nickte und dachte nach. Dann fragte er: „Frau Nolte, wissen Sie, ob Frau Müller noch irgendwelche Angehörige hat, die man anrufen könnte?“ „Nun, da ist noch ein Bruder von ihr. Der wohnt auch in Hannover. Irgendwo habe ich auch die Adresse, warten Sie!“ Frau Nolte stand auf und kramte gefühlte fünfzehn Minuten in ihrem Wohnzimmerschrank herum. Dann rief sie: „Ach, da ist der Zettel! Hier, bitte!“

Tobias blickte auf das leicht zerknitterte Papier. Die Schrift war leicht lesbar, anscheinend hatte Bettina das geschrieben. „Norbert Müller, Calenberger Straße 10“ las er. Das lag etwa in der Innenstadt. Die Handynummer notierte er sich, rief aber auch gleich an. Niemand ging ran, die Mailbox sprang an. Tobias hinterließ eine kurze Nachricht. „Darf ich Ihnen noch etwas anbieten, Herr Wagener? Einen Kaffee? Oder einen selbstgemachten Eierlikör?“, fragte Frau Nolte. „Ja, ein Kaffee wäre sehr gut. Ohne Milch und ohne Zucker“, antwortete Tobias. Während Frau Nolte in die Küche ging, überlegte Tobias die weitere Vorgehensweise. Er könnte sämtliche Krankenhäuser abtelefonieren, aber vermutlich würde man ihm keine Auskunft geben. Nach etwa zehn Minuten kam die ältere Dame mit dem Kaffee zurück. Dazu gab es Kekse, die so altbacken waren, dass sie vermutlich noch von Weihnachten waren. Tobias tunkte sie in den Kaffee, damit ging es halbwegs. Es war kurz vor 16 Uhr, als sich Tobias verabschiedete und für alles bedankte. Kurzentschlossen fuhr er zu Bettinas Bruder.

Dort öffnete ein kleiner, untersetzter Mann, der Anfang vierzig sein mochte, die Tür. Er hatte eine Alkoholfahne. Das Haar sah aus, als ob es, seit Monaten nicht gewaschen worden war. Er brauchte einige Minuten, bis er realisiert hatte, was Tobias von ihm wollte, um dann zu erklären: „Meine Schwester, die blöde Kuh, habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen. Es ist mir auch scheißegal, was die macht. Und nun hauen sie ab!“ Dann knallte er die Tür zu.

Tobias ging frustriert und fand in der Straße eine nette, kleine Bäckerei, wo er sich einen schönen, starken Kaffee gönnte. Hier konnte er nachdenken. Das war eine verzwickte Situation. Auch Stefan würde hier nicht weiterhelfen können. Oder doch? Tobias drückte den roten Knopf des Signalgebers. Augenblicklich blieb die Zeit stehen. Die Bäckereiverkäuferin goss gerade einem anderen Kunden einen Kaffee ein. Der Strahl verharrte mitten in der Luft. Dann drückte Tobias den schwarzen Knopf, um Stefan herbeizurufen.

Stefan hatte tatsächlich eine Lösung. Er wollte sich in die Computer sämtlicher hannoverscher Krankenhäuser einhacken. Leider gab es keine Vernetzung der verschiedenen Träger untereinander, so dass er etwas Zeit brauchte. Nach fünf Minuten hatte er das Resultat. Bettina lag tatsächlich in einem Krankenhaus, und zwar im Friederikenstift. Das war zum Glück gleich hier um die Ecke. Stefan verschwand wieder und Tobias drückte den grünen Knopf. Die Zeit lief weiter. Verwundert bemerkte die Verkäuferin, dass Tobias seinen Kaffee scheinbar innerhalb weniger Sekunden ausgetrunken hatte, obwohl er so heiß war. „Da hat aber jemand Durst gehabt. Ich könnte ihn nicht so schnell trinken!“, sagte sie. Verdammt, dachte Tobias, hatte aber keine Lust für eine Erklärung. Er zahlte und ging auf die andere Straßenseite zum Krankenhaus.

Dort begab sich Tobias unverzüglich zur Rezeption. Wie befürchtet, gab man ihm dort nur eine sehr spärliche Auskunft. Er erfuhr zumindest, dass Bettina auf der Intensivstation lag, aber außer Lebensgefahr war. Was genau passiert mit ihr war, erfuhr Tobias nicht. Er konnte ihr aber eine Nachricht zukommen lassen. Einigermaßen beruhigt ging er in Richtung der nahegelegenen Altstadt, seinen Wagen ließ er stehen. Bis zum Treffen mit Karola war noch viel Zeit, daher wollte er bis dahin ein, zwei Bier trinken.

In der Kramerstraße war die Schateke, eine nette, gemütliche Gaststätte, die er früher gerne aufgesucht hatte, man konnte dort auch draußen sitzen. Die Tische waren fast vollständig belegt, bei dem schönen Wetter war das kein Wunder. Tobias fand in der Nähe des Eingangs noch Platz und orderte ein Weizenbier. Essen wollte er erst später. Kaum hatte er den ersten Schluck genommen, als sich aus Richtung der Leinebrücke eine wohlbekannte Person näherte: Oliver! Er sah übernächtigt aus und wäre fast vorbei gelaufen, wenn ihn Tobias nicht angesprochen hätte.

„Mensch, Alter, du siehst furchtbar aus. Setz dich doch“, sagte Tobias und wies auf dem freien Platz neben ihn. „Ich komme gerade vom Krankenhaus. Fast einen ganzen Tag war ich dort“, erklärte Oliver und setzte sich. Er ergänzte: „Bettina hatte einen Unfall!“

 

Kapitel 31

 

Tobias antwortete: „Dass Bettina im Krankenhaus liegt, weiß ich schon. Sie ist heute nicht zur Arbeit gekommen. Daraufhin war ich bei ihr zu Hause. Eine nette Nachbarin hat mir dann die Adresse von ihrem Bruder gegeben, der wohnt hier ganz in der Nähe. Mir hat man im Friederikenstift nur gesagt, dass sie auf der Intensivstation liegt, aber außer Lebensgefahr ist. Was ist dann nun passiert?“ „Wir hatten uns in dem Eiscafé am Hauptbahnhof getroffen und ausgesprochen. Das Gespräch verlief eigentlich sehr gut. Bettina war ziemlich entspannt. Danach sind wir Richtung Kröpcke gegangen. Vor dem Kaufhof kam von rechts eine Straßenbahn und hat sie erfasst. Zum Glück fuhr die Bahn sehr langsam, trotzdem wurde Bettina erfasst.“ „Das ist ja furchtbar! Konntest du das nicht verhindern?“ „Leider nein. Ich habe es noch versucht, aber es war zu spät.“ „Was ist mit dem Kind?“ „Bettina hat es nicht verloren. Man sagte mir, dass das auch an dem frühen Stadium der Schwangerschaft lag.“

Tobias nahm einen großen Schluck Bier und bestellte auch noch eines für Oliver, zur Beruhigung. „Danke, das kann ich jetzt gut gebrauchen. Ich bin zwar nicht mit ihr zusammen, aber das hat mich doch sehr aufgewühlt, man hat doch Verantwortung“, sagte dieser. Tobias nickte und antwortete: „Das stimmt und das ehrt dich. Hoffentlich bekommst du keinen Ärger mit deiner Chefin, weil du nicht zur Arbeit gekommen bist.“ „Ach, du Scheiße. Das habe ich in der Aufregung glatt vergessen. Ich habe mich nicht gemeldet!“

Oliver nahm sein Handy und wählte die Nummer seiner Chefin. Diese war ziemlich brastig und las ihm die Leviten. Ein Wort gab das andere und schließlich unterbrach Oliver entnervt die Verbindung. „Die wollen mich rausschmeißen“, erklärte er und haute mit der Faust auf dem Tisch. Tobias‘ Bier wäre fast umgefallen. Alle anderen Gäste drehten sich zu ihm um. Die Bedienung, die ihm gerade das Weizenbier für Oliver hinstellen wollte, tadelte: „Immer sachte, junger Mann.“ Tobias hob beschwichtigend die Arme und entgegnete: „Mein Freund hat gerade viel mitgemacht. An Oliver gewandt sagte er: „Mensch, Alter. Du hättest aber dich etwas eher bei deiner Firma melden müssen.“ Oliver nickte und trank einen Schluck Bier. „Ich habe da schon längst keinen Bock mehr auf dem Scheißladen. Aber mal etwas anderes: Wie geht es Lena?“

Tobias seufzte und antwortete: „Das hat sich erledigt mit der blöden Kuh. Es hat sich herausgestellt, dass sie nur hinter meinem Geld her ist.“ In kurzen Worten erzählte er seinem Freund das, was vorgefallen war und schloss mit den Worten: „Ich treffe mich übrigens nachher mit Karola.“ Oliver war sichtlich überrascht von den Neuigkeiten. Er resümierte: „Das ist fast wie der Lindenstraße!“ „Stimmt. Fast könnte man meinen, das hätte sich ein blöder Autor ausgedacht. Aber es ist Realität“, antwortete Tobias und trank sein Bierglas leer. Mit einem Schnipsen orderte er sogleich Nachschub. Oliver verabschiedete sich bald darauf und Tobias dachte daran, was wohl nachher das Treffen mit Karola ergeben würde. Irgendwie liebte er sie immer noch.

Um 19 Uhr stand Tobias an der Kröpcke-Uhr und wartete auf sie. Nur zwei Minuten später traf sie ein und umarmte ihn. Davon war er ziemlich überrascht. Das hatte er nicht unbedingt erwartet. Sie begaben sich ins Jack the Ripper’s und setzten sich diesmal auf Karolas Wunsch nicht an den Tresen, sondern in einer der Nischen an der Wand. Einmal mehr bewunderte Tobias die liebevolle Ausstattung des Lokals. „Nun, da ist ja einiges passiert“, begann Karola das Gespräch. „Das kann man wohl sagen, Karola“, antwortete Tobias und nickte. Er ergänzte: „Da muss ich wohl bei dir bedanken, wegen der Sache mit Lena.“ „Eigentlich eher bei Melanie. Aber die ist heute nicht hier, sie muss arbeiten.“ „Richte ihr noch einmal meinen Dank aus. Aber es ist so wie ich immer sage: es gibt...“ „… keine Zufälle, alles im Leben ist vorbestimmt.“ Beide lachten lauthals.

Die Bedienung hatte das mitgehört und pflichtete bei: „Genau das sage ich auch immer.“ Es war der hochgewachsene Kellner, den Karola und Tobias bei ihrem ersten gemeinsamen Besuch in dem Lokal gesehen hatten. Sie bestellten jeweils Shepherd’s Pie und Beamish. Den Malt wollten sie später trinken. Karola sagte, als sich der Mann abgewandt hatte: „Jetzt mal Butter bei die Fische, wie man so schön sagt. Was wolltest du von dieser blöden Tussi? Sie ist doch viel zu jung für dich!“ „Das stimmt, Karola. Aber ich hätte auch nicht gedacht, dass sie so ein hinterlistiges Luder ist.“

Karola lachte und blickte Tobias tief in die Augen und legte ihre Hände in die seine. Nach einer Minute des Schweigens fragte sie: „Aber was ist jetzt mit dem Gold? Davon hast du bislang noch nichts erzählt. Nicht, dass ich neugierig bin...“ „Nun, das ist eine verrückte Geschichte. Ich habe eine Erbschaft gemacht, von einem Onkel aus Australien, der mir bis dahin völlig unbekannt war. Keine Ahnung, warum er ausgerechnet mich bedacht hat, und nicht meinen Vater, dessen Bruder er war.“ „Das ist doch nichts Schlimmes. Warum hältst du das so geheim?“ „Der Onkel war in Drogengeschäfte verwickelt. Das hat mir mein Vater erzählt, als ich ihn darauf ansprach.“ Karola runzelte die Stirn, das kam ihr merkwürdig vor. Sie wollte nachhaken, aber die in diesem Moment kam das Bier, und gleich danach das Essen. Es schmeckte wunderbar, wie immer. Einige Malt folgten der Mahlzeit. Entsprechend angeheitert beschlossen die beiden, die Nacht gemeinsam zu verbringen, natürlich bei Karola.

 

Donnerstag, der 18. August 2005

 

In dieser Nacht war Tobias schweigsam, Karola hatte gehofft, dass ihr Freund wieder im Schlaf reden würde. Außer Schnarchen gab er jedoch keine Geräusche von sich. Diese Geschichte mit dem Drogen-Gold war völlig unglaubwürdig, es musste etwas anderes dahinter stecken. Davon war Karola überzeugt. Sie wollte ihm beim Frühstück darauf ansprechen. Doch als sie aufwachte, war Tobias schon verschwunden. Sie fand lediglich einen kleinen Zettel von ihm auf dem Nachttisch vor.

Im Büro schaltete Tobias das Radio an. Siggi war noch nicht da. Sobald sein Freund aufkreuzte, wollte und musste Tobias ihm unbedingt von Bettina berichten. Es liefen die Nachrichten. Zunächst wurde gemeldet, dass die Streitkräfte von Russland und China ihr erstes gemeinsames Manöver begannen, und zwar in Wladiwostok und in Shandong. Danach berichtete man über den Papstbesuch in Köln anlässlich des Weltjugendtages. Der dritte Aufmacher beschäftigte sich mit dem Auffinden der Leiche von Günther Messner am Himalaya, der dort im Jahre 1970 verunglückte. Er wurde von seinem Bruder Reinhold identifiziert. Tobias schalte danach das Radio ab und legte eine Runrig-CD ein.

Kaum waren die ersten Töne erklungen, als es an Tobias‘ Tür klopfte. Es war Siegmund, der sich nach dem Befinden von Bettina Müller erkundigte. Tobias erzählte, dass was er wusste, und verschwieg aber wohlweislich, woher er wusste, in welchem Krankenhaus die Kollegin lag. Zum Glück hakte Siegmund nicht nach.

Zur gleichen Zeit telefonierte die neugierige Karola mit Tobias‘ Vater. Sie schilderte zunächst, dass sie wieder mit seinem Sohn zusammen sei. Als dieser hocherfreut reagierte und keinerlei Zeichen von Trauer zeigte, erwähnte Karola den Tod seines vermeintlichen Bruders, was ihn sehr erstaunte, denn er sagte: „Ich habe gar keinen Bruder!“ Karola entgegnete: „Oh, denn habe ich wohl etwas falsch verstanden.“ Insgeheim freute sie sich, Tobias mal wieder bei einer Lüge ertappt zu haben. Aber was war nun wirklich das Geheimnis des Goldes? Das musste sie unbedingt herausfinden.

Siegmund war einerseits froh, dass der Verbleib von Bettina geklärt war, andererseits machte er sich natürlich ernsthafte Sorgen um die Mitarbeiterin und nahm sich vor, im Krankenhaus anzurufen und sich mit Bettina verbinden zu lassen, sobald dieses erlaubt war. Nachdem er Tobias‘ Büro verlassen hatte, orderte Tobias einen großen Blumenstrauß mit Genesungswünschen der Firma.

Kurz darauf klingelte das Telefon, es war Oliver, der ziemlich missgelaunt war. Erschrocken fragte ihn Tobias: „Ist etwas mit Bettina?“ Doch Oliver antwortete: „Nein, das ist es nicht. Da gibt es nichts Neues. Aber die haben mich rausgeschmissen! Fristlos entlassen!“ Am liebsten hätte Tobias gesagt: „Das hatte ich schon erwartet.“ Stattdessen sagte er: „Mann, das tut mir echt leid, Oliver. Ich hoffe, du findest bald wieder einen Job. Auf jeden Fall werde ich für dich ein gutes Wort bei uns wegen deiner Bewerbung einlegen. Es wird aber noch etwas dauern. Vermutlich musstest du auch deinen Dienstwagen abgeben, oder?“ „Ja, leider. Ich habe mir jetzt einen Mietwagen genommen, damit ich Bettina besuchen kann. Und danke für deine Unterstützung!“

Tobias war davon angetan, dass Oliver sich so für Bettina einsetzte, immerhin war es keine feste Beziehung zwischen den beiden. Es war schon erstaunlich, wie sich manche Sachen vom Negativen ins Positive entwickeln. Tobias vereinbarte mit Oliver, dass sie sich treffen wollten, sobald es Bettina wieder besser ging.

Kaum war das Gespräch beendet, als das Handy klingelte. Karola war dran und plauderte zwanglos mit Tobias, ohne ihre neuen Erkenntnisse zu erwähnen. Sie bedauerte, dass sie an diesem Abend arbeiten musste und keine Zeit für ein Treffen hatte. Ihre Neugier musste somit noch gezähmt werden. Aber für den morgigen Tag wollte man sich wieder verabreden.

 

Kapitel 32

 

Freitag, der 19. August 2005

Tobias hatte nicht gut geschlafen, irgendwie spürte er, dass Karola Misstrauen hegte. Die Idee mit der angeblichen Erbschaft war vielleicht doch nicht die Beste. Das Gold musste jetzt unbedingt verschwinden, natürlich so, dass er Bares dafür bekam. Es gab zwar zahlreiche Läden in Hannover, wo man Gold verkaufen konnte, aber solche Mengen ließen sich bestimmt nicht so leicht veräußern. Aber man könnte die Barren natürlich in kleineren Chargen veräußern. Schon morgen wollte Tobias damit beginnen.

Auf dem Weg zur Arbeit hörte er in den Nachrichten, dass bei einem Granatenangriff auf US-Kriegsschiffe im Hafen der jordanischen Stadt Akaba ein einheimischer Soldat getötet wurde. Es gab also immer noch Terror in dieser Welt. Frustriert schaltete Tobias das Radio ab und legte eine CD ein, diesmal kein Folk, sondern etwas von UB 40. Tobias war zwar kein Reggae-Fan, aber diese Gruppe mochte er sehr. Ein älterer Freund hatte ihn mal auf diese Band aufmerksam gemacht.

Ohne große Verzögerung kam Tobias an seinen Arbeitsplatz an. Dort teilte ihm Siegmund mit, dass Bettina auf dem Wege der Besserung sei. Sie konnte zwar noch nicht telefonieren und erst recht nicht aufstehen, aber sie war ansprechbar. Über die Blumen hatte sie sich sehr gefreut, und auch darüber dass Oliver die ganze Zeit bei ihr war. „Hat er ihr erzählt, dass er deswegen seinen Job verloren hat?“, wollte Tobias wissen. Siegmund antwortete: „Bestimmt nicht. Das wusste ich auch noch nicht. Ist das nicht der, der sich bei uns für diesen Handelsvertreterjob beworben hat?“ „Ganz genau. Ich habe das zwar nicht zu entscheiden, aber ich hoffe, er hat Glück und bekommt den Job. Er hätte es verdient.“

Kurz vor dem Mittagessen rief Oliver an. Er teilte mit, dass Bettina den Wunsch geäußert hatte, dass Tobias sie besuchen sollte. Die Rezeption war dementsprechend informiert. Daher machte er schon um 14 Uhr und fuhr danach direkt zum Krankenhaus. Oliver wartete am Empfang und beide fuhren mit dem Lift in die 4. Etage. Keiner sprach ein Wort. Bettina lag auf Zimmer 408. Den Vorschriften entsprechend mussten sie einen grünen Kittel umlegen und einen Mundschutz tragen.

Die junge, hübsche Krankenschwester begleitete die beiden auf die Intensivstation. Es war bedrückend. Bettina lag in einem großen Raum mit zwei anderen Patientinnen, allerdings abgeschirmt durch Trennwände. Sie war bei Bewusstsein und lächelte. Man merkte aber, dass sie sich über den Besuch freute. Es gelang ihr aber nicht, sich zu erheben. „Dafür ist sie noch zu schwach“, sagte Oliver leise zu Tobias. Dieser ging zum Krankenbett und drückte Bettina die Hand. „Na, Sie machen aber auch Sachen!“, erklärte Tobias, gespielt vorwurfsvoll. „Glauben Sie mir, es war keine Absicht“, erwiderte Bettina. Jetzt lächelte Tobias. Sie hatte offenbar ihren Humor nicht verloren.

„Es ist zwar ein ungewöhnlicher Ort dafür, aber wir können auch Du sagen“, sagte Tobias und ergänzte: „Ich heiße Tobias.“ „Und ich Bettina. Aber das weißt du ja“, antwortete sie mit schwacher Stimme. Das Sprechen fiel ihr offensichtlich schwer. „In der Firma bleibt es aber beim Sie“, fuhr Tobias fort. Er hatte keine Lust darauf, den Flurfunk zu fördern. Bettina nickte und lächelte erneut.

Nach fünf Minuten verabschiedete sich Tobias und ließ die beiden allein. Er begab sich zu der Bäckerei, wo er schon vorgestern war. Der Kaffee war dort sehr gut und er hatte jetzt Lust darauf. Und ein kleines Stück Kuchen oder ein Plunder konnte auch nicht schaden. Die Verkäuferin erkannte ihn sofort wieder, als er den Laden betrat. „Na, einen schnellen Kaffee, der Herr?“, fragte sie und grinste dabei. Tobias nickte und antwortete: „Ja, und ein Stück Erdbeerkuchen dazu. Der sieht lecker aus.“ Der Kuchen sah nicht nur lecker aus, er schmeckte auch hervorragend. Auf Sahne verzichtete Tobias jedoch. Das war nicht sein Ding.

Während Tobias seinen Kaffee und den Kuchen genoss, klingelte sein Handy. Es war Karola. Sie teilte mit, dass sie etwas später kommen wollte. Daher verabredeten die beiden, dass sie sich diesmal nicht an der Kröpcke-Uhr, sondern gleich im Oscar’s treffen wollten. Tobias sollte dort ab 20 Uhr auf sie warten. Ihm blieb also viel Zeit bis dahin. Daher entschied er sich für einen weiteren Abstecher in die Altstadt.

Regen setzte ein, so dass an Draußensitzen nicht zu denken war. Daher betrat Tobias die Schateke und setzte sich an einen Fensterplatz. So konnte er wenigstens die Leute beobachten, die vorbei gingen. Die meisten gingen schnellen Schrittes vorbei, kaum einer hatte einen Schirm dabei. Der Wetterumschwung kam wohl für die meisten überraschend. Bislang war dieser Sommer sehr schön, jedenfalls in dieser Welt. In der Welt, die Tobias vor einigen Wochen verlassen hatte, konnte das ganz anders sein.

Tobias orderte ein Weizenbier und eine Thunfisch-Pizza. Danach war ihm jetzt. Als sein Essen und das Bier eintraf, erblickte er draußen zwei Frauen, die er lieber nicht gesehen hätte, nämlich Lena und Iris. Damit nicht genug: sie betraten tatsächlich das Lokal und entdeckten ihn sofort. Mit einem spöttischen Grinsen und ohne einen Gruß gingen die beiden an ihm vorbei und setzten sich an die Theke, die im hinteren Bereich der Gaststätte war. Die Frauen tuschelten und redeten offenbar über ihn.

Tobias ignorierte sie und widmete sich lieber der Pizza und dem Bier. Es schmeckte und so vergaß er fast die unangenehmen Gäste. Doch ganz gelang ihm das nicht, denn nach dem dritten Bier hatte er ein menschliches Bedürfnis und leider lagen die Tür zu den Örtlichkeiten ausgerechnet an der Stelle, wo die beiden Mädels saßen. Dort war es recht eng, so dass er fast Lenas Hocker umgestoßen hätte.

Nach Beendigung seines Geschäftes bemerkte Tobias, dass sich ein Herr in einem Nadelstreifenanzug neben Lena gesetzt hatte und angeregt mit ihr plauderte. Tobias konnte sich ein: „Na, ein neues Opfer gefunden?“, nicht verkneifen. Der Kerl hatte die Fünfzig längst überschritten und hätte durchaus ihr Vater sein können. Ein bitterböser Blick von Lena war die Antwort.

Noch zwei Bier genoss Tobias, um halb acht zahlte er und begab sich in Richtung Oscar’s. Iris war unterdessen schon gegangen und Lena saß inzwischen eng umschlungen mit ihrer neuen Eroberung an der Bar. Die Prognose von Tobias würde wohl eintreffen.

Es hatte aufgehört zu regnen, aber es war noch bewölkt. Etwas kühl war es geworden, daher saßen auch keine Leute am Fass vor dem Eingang des Oscar’s. Drinnen saßen nur vier Leute an der Bar, ein paar weitere an den Tischen. Es war jetzt Viertel vor acht, Tobias setzte sich an die Theke und bestellte ein Weizenbier, er wollte heute dabei bleiben.

Um zehn nach acht war Karola immer noch nicht da. Das war gar nicht ihre Art, sie kam sonst nie zu spät. Als sie um halb neun immer noch nicht da war, rief er sie an. Sie meldete sich nicht. Auch die Mailbox sprang nicht an, das war ziemlich eigenartig.

Es wurde neun Uhr, es wurde halb zehn. Dann hatte Tobias genug und fuhr ziemlich verärgert nach Hause.

 

Kapitel 33

Samstag, der 20. August 2005

Am nächsten Morgen erwachte Tobias mit einem dicken Kopf. Neben den Weizenbieren hatte er sich zu Hause noch eine halbe Flasche Glenfarcles reingezogen, auch aus Frust über das Fernbleiben von Karola. Jetzt, als er wieder halbwegs nüchtern war, machten sich Sorgen bei ihm breit. Tobias griff zum Handy und rief Karola an. Immerhin hörte er jetzt die Mailbox. Wenigstens etwas. Tobias hinterließ eine Nachricht und frühstückte danach: eine Scheibe Toast und eine große Tasse Kaffee.

Danach ging Tobias zur Garage und nahm sich sechs Goldbarren und legte sie in sein Auto, um sich danach auf den Weg nach Hannover zu machen. Er war gespannt, inwieweit das mit dem Verkauf klappen würde und welchen Preis er erzielen würde.

Kurz vor der Autobahnabfahrt klingelte das Handy. Im Display sah Tobias, dass es Karola war. Jetzt konnte er aber nicht dran gehen, daher fuhr er ab und rief sie zurück, als er im Stadtgebiet Hannovers war. „Schön, dass du dich endlich mal meldest“, paulte sie gleich los, sie war sichtlich verärgert. „Moment mal, du bist doch gestern nicht zu unserer Verabredung gekommen“, entgegnete Tobias. „Ich? Wir hatten uns doch wohl im Jack the Ripper’s verabredet, oder nicht?“, widersprach Karola. „Nein, mein Schatz. Wir wollten uns im Oscar’s treffen!“

Karola sagte ein paar Sekunden lang nichts, dann antwortete sie: „Ach, scheiße! Du hast Recht! Da habe ich wohl Mist gebaut. Dummerweise war gestern der Akku meines Handys platt, so dass ich weder herangehen noch zurückrufen konnte. Ein dickes Sorry dafür!“ Tobias war froh, dass sich alles so aufgeklärt hatte und dass seiner Freundin nichts passiert war. „Ich muss jetzt gleich zur Arbeit, heute können wir uns nicht mehr treffen. Aber morgen hätte ich Zeit“, ergänzte sie noch. Die beiden verabredeten sich für 15 Uhr am Ernst-August-Denkmal.

Tobias fuhr entspannt Richtung Innenstadt. Er stellte seinen Wagen in dem Parkhaus in der Mehlstraße ab und ging mit seiner Aktentasche, in der die Goldbarren waren zum Steintor. Dort waren viele Läden, die Gold ankauften.

Voller Hoffnung betrat Tobias das kleine Geschäft in der Nordmannpassage. Er musste noch etwas warten, da noch ein Kunde vor ihm war. Als dieser den Laden verlassen hatte, legte Tobias seine Aktentasche auf die Ladentheke ab und sagte: „Guten Morgen, ich würde gerne mein Gold verkaufen.“ Der Verkäufer, ein hochgewachsener, junger Mann mit südländischem Aussehen nickte und antwortete in einem freundlichen Ton: „Sehr gerne der Herr. Wie viel ist es dann?“

Tobias nahm die Barren heraus. Der Mann nahm einen davon in die Hand. Sofort fiel ihm auf, dass dieser ungestempelt war. Das war äußerst ungewöhnlich. Er räusperte sich und antwortete: „Mein Herr, ich muss das erst einmal prüfen. Geben Sie mir bitte Ihren Ausweis. Das Prüfen dauert etwa eine Stunde. Sie können ja solange einen Kaffee trinken.“

Tobias war damit einverstanden. Eigentlich stand ihm der Sinn eher nach einem Bier, aber er wollte nicht mit einer Fahne wiederkommen, daher ging er zum Kröpcke und trank im dortigen Café tatsächlich einen Kaffee. Als Tobias in dem Goldankaufsladen zurückkehrte, wartete dort eine große Überraschung auf ihn.

Hauptkommissar Sander saß dort auf dem Stuhl und blickte ihn erwartungsvoll an. Er sagte: „Schönen guten Tag, Herr Wagener. So sieht man sich wieder. Ich habe ja gesagt, dass ich Sie im Auge behalten werde. Ich glaube, Sie sind mir eine Erklärung schuldig.“ Tobias schluckte und wollte nach seinem Signalgeber greifen. Mit Schrecken stellte er fest, dass er diesen zu Hause vergessen hatte. Sein Handy nutzte ihm da wenig.

„Wieso, was ist denn?“, fragte Tobias scheinheilig. „Das werde ich Ihnen sagen, Herr Wagener. Dieser Goldbarren ist nicht gestempelt und hat außerdem ein unübliches Gewicht. Erklären Sie mir das bitte!“, antwortete der Hauptkommissar. Der Ankäufer guckte gespannt. Er hatte in Tobias‘ Abwesenheit das zuständige Polizeirevier in der Kurt-Schumacher-Straße informiert, die dann die Kollegen in Lahe benachrichtigt hatten.

Die Neugier des Ladenbesitzers konnte nicht gezähmt werden, denn Hauptkommissar Sander bat Tobias, ihm zu folgen, um ihn zu verhören. Die beiden begaben sich in die nahegelegene Polizeistation. Herr Sander hatte beste Laune. Zwar arbeitete er ungern am Wochenende, aber er freute sich, dass er diesen Wagener offensichtlich doch ertappt hatte.

„So, Herr Wagener, nun legen Sie mal die Karten auf dem Tisch. Woher haben Sie das Gold? Und haben Sie noch mehr davon?“, fragte Sander und sah Tobias auffordernd an. Dieser nickte und holte die restlichen fünf Barren hervor. Der Hauptkommissar sagte: „O.K. , die eine Frage von mir ist damit beantwortet, auch wenn ich überzeugt davon bin, dass das noch nicht alles ist. Wir werden die zuständige Kollegen in Faßberg bitten, bei Ihnen eine Hausdurchsuchung durchzuführen. Aber nun noch einmal zu der anderen Frage: woher haben Sie das Gold?“

Tobias schwieg, was sein gutes Recht war. Er wurde aber in eine Arrestzelle verbracht, weil Fluchtgefahr bestand. Dem ihm zustehenden Anruf nutzte Tobias, um Stefan zu informieren. Dieser wusste mal wieder, was passiert war und begab sich unverzüglich zu Tobias‘ Haus. Dort ließ er das Gold verschwinden und verbrachte es zu sich.

Vier Stunden später. Die zuständigen Polizisten hatten das Haus sowie die Garage durchsucht und nichts Verdächtiges gefunden. Von dieser Nachricht war Hauptkommissar Sander verständlicherweise gar nicht erfreut. Zähneknirschend musste er Tobias freilassen. „Damit ist die Angelegenheit aber noch nicht erledigt, Herr Wagener“, sagte er und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.

Tobias ging, er war verärgert und begab sich Richtung Hauptbahnhof. Er brauchte jetzt unbedingt ein Bier, oder mehrere. Hinten im Bahnhof waren zwei Kneipen, Tobias entschied sich spontan für die vordere.

Um den Ärger herunterzuspülen hätte er auch noch gerne Whisky getrunken, einen anständigen Malt gab es hier aber nicht. So blieb es beim Bier, es wurden sieben. Für seine Verhältnisse war er nur leicht angetrunken, er fühlte sich durchaus noch fahrtüchtig. Daher machte er sich auf dem Weg zu seinem Auto. Spontan entschied er sich, im Kaufhof einen Malt zu erwerben. Tomatin war im Angebot, den kannte und mochte Tobias.

Die Papiertasche mit dem Whisky verstaute er im Handschuhfach. Angesichts des heißen Tages war sie dort am besten aufgehoben. Er fuhr die Hans-Böckler-Allee in Richtung Kleefeld und bog an der Pferdeturm-Kreuzung auf dem Messeschnellweg ab. Nur wenige hundert Meter weiter, kurz vor der Abfahrt Weidetor passierte es: Auf der Gegenfahrbahn durchbrach ein Kleintransporter, der mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs war, die Leitplanke und krachte gegen den Opel, der vor Tobias fuhr. Er konnte nicht rechtzeitig bremsen und knallte gegen die anderen Fahrzeuge.

Benommen und tief erschrocken registrierte Tobias, dass zwar ein hoher Schaden entstanden war, aber – wie durch ein Wunder – keinem der Unfallbeteiligten etwas Schlimmes passiert war. Allerdings war der Toyota von Tobias so stark beschädigt, dass an eine Weiterfahrt nicht zu denken war.

Die Polizei und die Rettungswagen trafen innerhalb von fünfzehn Minuten ein. Mit Schrecken erkannte Tobias, wer da aus dem Polizeiauto ausstieg: Polizeimeister Neumann und Polizeiobermeister Seiboldt, die beiden Herren, die ihm vor ein paar Wochen unweit von hier wegen der Überladung angehalten hatten.

Auch die beiden Polizisten hatten ihn offenbar sofort wiedererkannt. Polizeimeister Neumann konnte jedenfalls ein Grinsen nicht unterdrücken. Pflichtgemäß sagte er jedoch zu Tobias: „Ihre Fahrzeugpapiere bitte!“ Tobias öffnete sein Handschuhfach, denn dort bewahrte er die Eintragung für die Ausnahmegenehmigungen seiner Felgen auf. Er dachte nicht an die Malt-Whisky-Flasche. Neumann nahm das missbilligend zur Kenntnis, ihm fiel außerdem die deutliche Bierfahne von Tobias auf, auch wenn dieser keineswegs einen betrunkenen Eindruck machte. „Sind Sie mit einem Alkoholtest einverstanden, Herr Wagener?“, fragte Neumann nach der Kontrolle der Papiere. Tobias nickte, auch wenn er ahnte, was passieren würde.

 

 

 

Kapitel 34

 

Hauptkommissar Sander wollte gerade Feierabend machen, als seine Kollegen Neumann und Seiboldt mit einem wohlbekannten Herrn das Revier betraten. „Trunkenheitsfahrt. Wir müssen eine Blutprobe machen“, erklärte ihm Neumann kurz. Sander grinste und sagte zu Tobias hämisch: „Sehen Sie Herr Wagener, so schnell sieht man sich wieder!“ Tobias war sichtlich angefressen. Beim Pusten war ein Alkoholwert von 1,6 Promille herausgekommen, gemäß den Vorschriften musste ihm jetzt Blut abgenommen werden, sofern er nichts dagegen hatte. Es war aber sinnlos, sich dagegen aufzulehnen. Also fügte er sich dem Schicksal. Irgendwie war heute nicht sein Tag.

Die Blutprobe bestätigte das Ergebnis des Pustens. Tobias wurde der Führerschein unverzüglich abgenommen mit den Worten: „Den sehen Sie so schnell nicht wieder!“ Wie sollte er jetzt nach Hause gekommen? Tobias rief Oliver an. Dieser war zum Glück noch bei Bettina im Krankenhaus und wollte sich gerade auf den Weg nach Hermannsburg machen. Selbstverständlich holte er seinen Freund ab und konnte sich eine spitze Bemerkung nicht verkneifen: „Na, heute hast du aber Scheiße gebaut!“ Das stimmte zwar, aber es wäre Tobias lieber gewesen, wenn Oliver dazu geschwiegen hätte.

Auf der Fahrt berichtete Oliver von Bettina. Es war keine wesentliche Änderung eingetreten. Das war auch nicht zu erwarten gewesen. Tobias hatte den Eindruck, dass Oliver zunehmend verliebter in sie war, das sagte er ihm aber nicht. Manchmal liegt das Gute im Bösen.

Der Mietwagen, ein ziemlich neuer Golf, zog gut durch und so trafen die beiden schon nach einer guten Stunde bei Tobias ein. „Noch Lust auf einen Umtrunk?“, fragte Tobias vor seinem Haus und schwenkte die Whisky-Flasche. „Die ist immerhin heil geblieben“, ergänzte er. Oliver nickte und sagte: „Da kann ich nicht nein sagen. Vielleicht hilft mir das, von all der Aufregung der letzten Tage herunterzukommen.“

Der Himmel verfinsterte sich, ein Gewitter zog heran. Daher fand das Besäufnis nicht auf der Terrasse, sondern in Tobias‘ Wohnzimmer statt. Rasch war die Tomatin-Flasche geleert, aber natürlich waren die alkoholischen Vorräte von Tobias damit nicht erschöpft.

 

Sonntag, der 21. August 2005

Mit einem schweren Kopf erwachte Tobias am nächsten Morgen. Es war eine arge Sauferei gestern mit Oliver. Als der Whisky ausgetrunken war, hatten sie sich über das Bier hergemacht. Der Sekt war hingegen unangerührt, wie Tobias feststellte, und auch die Gin-Flasche war nicht angebrochen. Gin trank Tobias fast nie, nur im äußersten Notfall. Einem Alkoholiker war es eigentlich egal, was er trank, Hauptsache es machte breit. Aber gerade wenn jemand rigide bestimmte Alkoholika ablehnte, war das ein Zeichen dafür, dass derjenige ein massives Alkohol-Problem hatte. Das hatte Tobias zweifelsohne, das musste er sich eingestehen.

Oliver lag noch auf dem Sofa und schnarchte. Tobias wollte ihn nicht wecken, es bestand ja keine Eile. Er erwachte jedoch vom Geräusch der Kaffeemaschine und wankte ins Bad, um sich frisch zu machen. Lucky folgte misstrauisch, da er wohl befürchtete, dass sein Katzenklo unberechtigt benutzt wurde. Oliver streichelte ihn und nahm ihn sanft in die Arme. Er setzte ihn danach im Flur ab.

Als Oliver seine Morgentoilette beendet hatte, begab er sich in die Küche. Der Kaffee war unterdessen fertig. „Wie trinkst du ihn?“, wollte Tobias wissen. „Schwarz und ohne Zucker“, antwortete Oliver und setzte sich. „Gut so. So trinke ich ihn auch. Zucker habe ich zwar im Haus, aber keine Milch, nicht einmal Kaffeeweißer“, entgegnete Tobias. Er schaltete das Radio an. Es lief ein alter Titel von R.E.M., und zwar „Shiny Happy People“. „Cool. Welcher Sender ist das?“, wollte Oliver wissen. „Das ist Radio 21, die höre ich immer, wenn ich gerade keine CDs parat habe. Meistens spielen die Klasse-Musik“, erklärte Tobias.

Gegen 12 Uhr aßen die beiden zu Mittag, wobei die Mahlzeit aus Tiefkühlpizza bestand. Gleich danach fuhren sie zurück nach Hannover, Oliver besuchte erneut Bettina im Krankenhaus, auf Tobias wartete die Verabredung mit Karola. Diese war ja erst für 15 Uhr angesetzt, so dass er noch reichlich Zeit hatte, nachdem ihn Oliver kurz vor zwei am Hauptbahnhof abgesetzt hatte. Tobias nutzte das, um eine Erfrischung einzunehmen. Das war aber diesmal kein Bier, sondern ein leckerer Eisbecher. Von dem Tisch des Eiscafés hatte er einen guten Blick auf das Reiterdenkmal.

Karola war überpünktlich und traf schon Viertel vor drei ein. Sie entdeckte Tobias schon von Weitem und winkte ihm zu. Tobias winkte zurück und machte eine einladende Handbewegung. Karola setzte sich auf dem freien Platz neben ihn und fragte, nachdem sie sich geküsst hatten: „Na, hast du einen guten Parkplatz gefunden?“ Tobias druckste. Ahnte sie etwas? Dann antwortete er: „Nun, eher nicht. Ich bin auch nicht selbst gefahren. Oliver hat mich mitgenommen.“ „Nun, raus mit der Sprache, was ist passiert, Tobi?“, wollte Karola wissen.

Tobias erzählte die ganze Geschichte von seinem Unfall und dem Führerscheinverlust und berichtete auch von Olivers Entlassung, verschwieg aber die Sache mit dem Gold. Unterdessen hatte Karola einen Kaffee bestellt. Sie hörte aufmerksam zu. Dann sagte sie: „Da ist ja ganz schön viel passiert bei Euch!“ „Das kann man wohl sagen“, pflichtete Tobias bei. Seinen Eisbecher hatte er mittlerweile verspeist.

„Und wie hast du dir das jetzt vorgestellt? Wie willst du ohne Auto, und vor allem ohne Führerschein zur Arbeit kommen? Oliver kann dich ja nicht immer fahren. Irgendwann wird Bettina ja aus dem Krankenhaus entlassen!“, wollte Karola wissen. „Das mit dem Auto wäre ja kein Problem, ich könnte ohne Weiteres einen anderen Geschäftswagen bekommen, aber ohne meinen Lappen sollte ich lieber nicht fahren. Nun, ich dachte mir aber, ich könnte ein paar Tagen bei dir wohnen. Oder notfalls bei meinem Vater, oder meiner Mutter. Und ich habe ja auch bald Urlaub“ antwortete Tobias hoffnungsvoll. Karola dachte kurz nach, bevor sie entgegnete: „Gut, für ein paar Tage geht es bei mir. Aber wer kümmert sich dann um Lucky?“

Das konnte Tobias natürlich nicht wahrheitsgemäß beantworten können, deshalb sagte er: „Ein Nachbar macht das. Er hat das schon öfters getan, wenn ich mal nicht da war.“ Karola runzelte die Stirn. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass ihr Tobias mal wieder irgendetwas verschwieg. Um auf ein anderes Thema zu kommen, fragte sie: „Hast du Lust auf einen Bummel um den Maschsee? Das Wetter sieht ja recht gut aus heute.“ Tobias stimmte begeistert zu und ergänzte: „Und dann sind wir auch fast gleich bei dir!“

Am Maschsee mieteten sich die beiden ein Tretboot und genossen die Fahrt. Doch nach etwa zwanzig Minuten wurde es windig und der Himmel verdunkelte sich. „Lass uns zurückfahren. Es gibt gleich ein Unwetter“, mahnte Karola. Und richtig: kaum hatten sie ihr Boot vorzeitig abgegeben, gab es einen Platzregen und ein heftiges Gewitter. „Da haben Sie noch einmal Glück gehabt“, sagte der Bootsvermieter und blickte mit sorgenvoller Miene auf den See. Er ergänzte: „Da sind noch vier andere Boote unterwegs! Hoffentlich passiert da nichts. Das kam aber auch urplötzlich.“

Der Platzregen hörte nicht auf und wandelte sich zum Wolkenbruch. Daher entschlossen sich Tobias und Karola, ein Taxi zu rufen, welches zum Glück auch unverzüglich eintraf. Es waren nur wenige Meter von der Bootsvermietung bis zum Fahrbahnrand, aber die reichten, um die beiden völlig zu durchnässen. Der Taxifahrer war wenig begeistert von der kurzen Fahrtstrecke, wurde aber von Tobias durch ein fürstliches Trinkgeld entlohnt.

In Karolas Wohnung legten sie ihre nasse Kleidung ab und gönnten sich dann einen heißen Grog. „Es muss ja nicht immer Whisky sein“, sagte Karola lächelnd und nahm einen kleinen Schluck des heißen Getränks. „Das stimmt, mein Schatz. Der tut jetzt richtig gut“, antwortete Tobias. Er hatte tatsächlich Zucker hineingetan, dann Grog schmeckte nun einmal nicht ohne.

 

Kapitel 35

 

Montag, der 22. August 2005

 

Trotz der unerfreulichen Ereignisse am Wochenende fuhr Tobias gut gelaunt zur Arbeit. Er musste das nur noch Siegmund beichten. Der nahm den Unfall ziemlich locker auf, für den Führerscheinverlust galt das weniger. Gerade als Tobias beschwichtigen wollte, kam Herr Altmann in Siggis Büro, mit sichtbar schlechter Laune. Er legte ein Fax auf den Schreibtisch und tippte kurz drauf. Danach ging er wieder. Siggi warf einen Blick drauf und runzelte die Stirn.

„Keine guten Nachrichten?“, fragte Tobias. „Das kann man wohl sagen. Das Fax ist aus Kambodscha, direkt vom König. Hast du ihn wirklich persönlich angeschrieben? Er ist jedenfalls ziemlich verärgert deswegen. Was hast du dir nur dabei gedacht?“ „Entschuldigung, aber das hatte ich mit dir so abgesprochen!“ „Echt? Na, ja, wie auch immer. Man hat sich jedenfalls für Sindhu entschieden. Gut, das ist kein großer Verlust. Aber in Ordnung war das trotzdem nicht, Tobias!“

Siegmund war offenbar sichtlich verärgert. Tobias war froh, dass er ab Donnerstag Urlaub hatte. Offensichtlich hatte er gegenwärtig kein Glück. Richtig ärgerlich war, dass er das mit dem Goldverkauf wohl endgültig vergessen konnte. Stefan hatte dazu hoffentlich eine Idee, dann schon bald brauchte Tobias ja Kapital für das neue Haus.

Während er darüber nachdachte, klopfte es kurz an der Tür. Es war Siggi, der sich zu ihm setzte und sagte: „Tobi, ich muss um Entschuldigung bitten. Du hattest natürlich Recht, ich habe damals zugestimmt, dass du den König direkt anschreibst. Das hatte ich völlig aus den Augen verloren. Wie sagt man so schön: Mund abwischen und weiter. Wir können nicht immer gewinnen. Immerhin habt Rushmore nicht den Zuschlag bekommen.“

Tobias freute sich, dass sein Chef und Freund jetzt doch einsichtig war. Aber warum nicht gleich so? Mit einem: „Sorry, noch einmal“ verließ Siggi das Büro und Tobias konnte sich wieder seiner Arbeit widmen. Große Lust hatte er nicht dazu. In Gedanken war er schon in New Orleans – und auch bei Shania.

Heute Nachmittag wollte er sie anrufen – sie würde sich bestimmt freuen. Er musste sich aber zusammenreißen und heute Nacht nicht im Schlaf von ihr sprechen. Karola hatte sich gerade beruhigt, aber das würde ihr bestimmt nicht gefallen, verständlicherweise.

Beim Mittagessen in der Kantine kam Herr Altmann auf Tobias zu und setzte sich zu ihm. „Nun, Herr Wagener, ich habe vorhin mit Herrn Berger telefoniert. Sie haben das mit Kambodscha also nicht alleine zu verantworten. Was soll es, so schlimm ist das auch nicht. Übrigens: Witzigerweise hat mich der König ja auch direkt angeschrieben. Sozusagen bin ich also der König von Newtrix“, sagte er und lachte. Tobias lachte gezwungenermaßen mit, obwohl er das gar nicht komisch fand.

Um 14 Uhr griff Tobias zu seinem Handy. In New Orleans war es jetzt früher Morgen. Shania konnte er also schon anrufen, ohne sie zu wecken. Es ertönte das Freizeichen, die Handynummer hatte sich also nicht geändert. Shania hätte ihn sicherlich benachrichtigt, wenn das der Fall gewesen wäre. Sie ging allerdings nicht ran, vielleicht schlief sie ja doch noch.

Knapp eine Stunde später erfolgte ihr Rückruf. Verschlafen sagte sie: „Hallo, Tobias. Ich bin gerade aufgestanden. Schön, dass du dich gemeldet hast. Hast du schon Sehnsucht nach mir?“ Tobias entgegnete: „Na, klar. Bald sehen wir uns ja. Ich wollte mit dir absprechen, wann und wo wir uns treffen.“ „Wann triffst du denn hier ein?“ „Ich fliege am Donnerstagmittag von Frankfurt nach New Orleans. Die Maschine trifft dort um 16.25 Uhr Ortszeit ein. Es ist zum Glück ein Direktflug.“ „Super. Dann hole ich dich vom Flughafen ab. So groß ist der ja nicht. Wir werden uns bestimmt finden.“ „Das freut mich. Wie kommst du dann in deiner neuen Heimat zurecht?“ „Sehr gut. Leider spricht hier aber kaum einer Spanisch. Englisch kann ich ja ganz gut, wie du weißt. Aber mit Französisch hapert es.“

Tobias konnte ein Lachen noch unterdrücken. Wahrscheinlich war sich Shania der Doppeldeutigkeit ihrer Aussage in der deutschen Sprache nicht bewusst, zumal sie sich auf Spanisch unterhielten. Er würde ihr den Scherz bei Gelegenheit erörtern. Sie sprachen noch gut eine halbe Stunde, dann war Shanias Guthaben erschöpft. Gut, dass Karola nichts davon weiß, dachte Tobias. Er lehnte sich entspannt zurück. Das klappte ja wunderbar, sofern er heute Nacht die Klappe hielt.

Es war Zeit, mit Stefan zu klären, was nun mit dem Gold geschehen sollte. Zur Zeit befand es sich ja bei ihm. „Das ist jetzt einfach zu heiß“, stellte Tobias am Beginn des Telefonats fest und Stefan pflichtete ihm bei. „Ich kann es ja schlecht im Handgepäck mitnehmen und in New Orleans veräußern“, frotzelte Tobias weiter. „Wenn die Flugroute über die Azoren geht, könntest du es unterwegs abwerfen. Dann wäre es wieder an seinem Ursprungsort“, entgegnete Stefan und lachte leise. Auch Hologramme haben offenbar Humor. Stefan hatte eine Idee, die er umgehend umsetzte.

Der Leiter der Bergungsfirma des Schiffes auf den Azoren war gerade dabei, einem amerikanischen Fernsehsender ein Interview zu geben, als einer seiner Mitarbeiter aufgeregt hinzukam und von dem seltsamen Wandel der geborgenen Fracht zu berichten. Das nahm der Journalist natürlich mit großem Interesse auf. Der Sender hatte für heute Abend den Aufmacher seiner Nachrichtensendung.

Tobias machte Feierabend und fuhr mit der Stadtbahn bis zum Aegidientorplatz. Karola arbeitete noch, und so begab er sich nicht gleich in ihre Wohnung, sondern machte einen Abstecher ins nahegelegene Oscar´s. Nur ein einziger Gast saß an der Theke, es war auch noch recht früh. Tobias setzte sich neben ihn und bestellte ein Bier. Das kam recht zügig. Wie immer, war es sehr gut gezapft.

Nach vier weiteren Bieren ging Tobias gemächlichen Schrittes in Richtung Geibelstraße. Er hatte allerbeste Laune. Karola war, wie erwartet, noch nicht da und so legte er eine CD von Runrig in den Player. Es war „In Search of Angels“. Die hatte er schon lange nicht mehr gehört. Die ersten Takte von „Maymorning“ ertönten, Tobias drehte die Anlage etwas lauter.

Kurz nach Beginn des vorletzten Stückes, nämlich „Travellers“ drehte sich ein Schlüssel in der Wohnungstür, seine Freundin traf ein. Sie wirkte leicht genervt. „Hallo, Schatz. Hattest du Stress?“, fragte Tobias und Karola antwortete: „Das kann man wohl sagen. Ein blöder Gast nach dem anderen. So macht das keinen Spaß. Und dann hat mich noch mein Chef angemacht. Wenn das so weiter geht, kündige ich da!“

Tobias knuddelte sie und sagte: „Na, denn hoffe ich, du kommst bald auf andere Gedanken. Die richtige Musik läuft ja schon!“ „Das ist lieb von dir, Tobias. Jetzt brauche ich aber erst einmal ein Bier. Du hast hoffentlich noch nicht alles weg getrunken.“ „Nein, Schatz. Natürlich nicht. Warte, ich hole dir eines.“

Während Tobias in die Küche ging, warf Karola einen Blick auf Tobias‘ Handy, das auf dem Wohnzimmertisch lag. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen und gab ihrer Neugier nach. Sie klickte auf „Letzte Anrufe“ und sah dort eine lange, ausländische Nummer. Rasch notierte sie diese und legte das Telefon wieder zurück. Sie ließ sich nichts anmerken, als Tobias mit dem Bier zurückkehrte, kochte aber innerlich. Morgen würde sie das mit ihrer Freundin Melanie überprüfen. Das Ganze kam ihr spanisch, oder besser gesagt mexikanisch vor.

 

 

Kapitel 36

 

Dienstag, der 23. August 2005

Auch beim gemeinsamen Frühstück schwieg Karola zu ihrer Entdeckung. Tobias hatte beste Laune und hatte keine Ahnung, was seine Freundin entdeckt hatte. Im Radio liefen die Nachrichten. Der Aufmacher war ein Bericht des amerikanischen Fernsehsenders über seltsame Vorkommnisse beim geborgenen Schiff bei den Azoren. Tobias hatte gerade einen Schluck Kaffee genommen, als über die Verwandlung der Diamanten in Gold berichtet wurde. Er prustete und verschluckte sich.

„Ist etwas?“, wollte Karola wissen. Sie erinnerte sich an den Bericht des Heute-Journals von vier Wochen über die Vorbereitung der Bergung des Schiffes. Warum reagierte Tobias jetzt so darauf? Das war eigenartig. Gold schien eine seltsame Wirkung auf ihn zu haben. „Nein, es ist nichts. Ich habe mich nur verschluckt!“, antwortete Tobias und ahnte, was passiert war. Er würde nachher schnellstmöglich Stefan anrufen, um das zu klären.

Es stellte sich bei einem Telefonat heraus, dass dieser tatsächlich dahinter steckte. Stefan hatte das Gold zurück transferiert und dafür die Diamanten geholt. Das war einerseits eine gute Lösung, schuf aber neue Probleme, wie Tobias betonte. Die Diamanten verblieben vorerst bei Stefan. Es wäre nicht klug, wenn Tobias diese jetzt veräußern würde. Noch eilte es auch nicht. Der Hausverkauf sollte ja erst in drei Wochen, nach der Urlaubsrückkehr erfolgen. Bis dahin hätte sich sicherlich eine Lösung gefunden. Aber auch die Polizei hörte Radio. Hauptkommissar Sander war völlig perplex über die Neuentwicklung der Angelegenheit. „Das ist ja ein ganz raffinierter Hund“, rief er und wollte das umgehend klären.

Karola hatte Spätdienst an diesem Tag und daher bis 17 Uhr frei. Es war daher Zeit genug, um mit Melanie Aufklärung zu schaffen. Gegen 13 Uhr fuhr sie mit der Stadtbahn Linie 10 vom Aegidientorplatz bis zur Haltestelle Glocksee. Gleich dort war das Café Safran. Es saßen einige Gäste draußen und genossen das schöne Wetter. Karola begab sich jedoch nach drinnen und setzte sich an einen kleinen Tisch nahe der Theke. Melanie sah sie sofort und winkte ihr freundlich zu. „Ich in gleich bei dir“, sagte sie frohgelaunt und ging in den Außenbereich, um die Bestellungen aufzunehmen.

Danach setzte sie sich zu Karola und fragte: „Das ist ja klasse, dass du hier mal vorbeischaust. Gibt es etwas Neues?“ „Das kann man wohl sagen. Ich bräuchte mal wieder deine Hilfe, Melli“, antwortete Karola und holte den Zettel mit der Telefonnummer hervor. „Eine mexikanische Nummer“, stellte Melanie fest und grinste. Sie ergänzte: „Lass mich raten. Es geht mal wieder um Tobias!“ „Bingo. Ich habe diese Nummer auf seinen Handy gefunden. Das ist bestimmt kein dienstlicher Anruf. Ich wette, da steckt diese Shania-Schlampe dahinter.“ „Gut möglich. Ich werde die Nummer nachher mal anrufen. Jetzt ist es dafür zu früh.“

Da Karola nicht in Eile war, nutzte sie die Gelegenheit, um ihr Mittagessen einzunehmen. Sie bestellte sich eine Thunfisch-Pizza und eine Cola. Die Pizza war vorzüglich und nicht teuer. „Wirklich klasse. Und Euer Laden läuft super, muss ich sagen“, sagte sie zu Melanie. Diese bedankte sich und erwähnte: „Wir könnten übrigens Verstärkung brauchen, Karo. Hättest du nicht Lust, bei uns anzufangen?“ „Ja, auf jeden Fall. Im Odeon gefällt es mir nicht mehr. Das Publikum ist hier wesentlich angenehmer. Viele Studenten, nicht wahr?“ „Ganz genau. Und diese Lena mit ihren anderen Tussen kommt ja nicht jeden Tag.“ Karola lachte. An Lena hatte sie schon gar nicht mehr gedacht. Gerne hätte sie sich gleich beim Chef vorgestellt, aber der war nicht da und würde erst am späten Abend kommen.

Zwei Stunden später, um halb vier, als gerade wenig los war, rief Melanie die Telefonnummer an. Es ertönte ein Freizeichen. Dann meldete sich eine junge Frau, die ihren Namen nicht nannte und nur „Hallo“ auf Spanisch sagte. Melanie fragte: „Wie ist das Wetter in Mexiko?“, worauf die Frau antwortete: „Wer spricht da? Ich bin auch nicht mehr in Mexiko, ich bin in...“. Dann unterbrach sie das Gespräch. „Sehr merkwürdig!“, stellte Melanie fest. „Da steckt mehr dahinter“, ergänzte sie und übersetzte das kurze Gespräch. Karola pflichtete bei: „Allerdings. Zu schade, dass sie nicht gesagt hat, wo sie ist!“ „Tja, orten kann ich das Handy leider nicht“, entgegnete Melanie und zuckte mit den Schultern.

Tobias hatte unterdessen einen entspannten Tag. Viel zu tun gab es nicht, kurz vor seinem Urlaub. Er lehnte sich entspannt zurück, als plötzlich sein Handy klingelte. Es war Shania. „Du, ich hatte einen seltsamen Anruf. Er kam aus Deutschland. Ich dachte erst, du wärst das, aber es war eine Frauenstimme“, berichtete sie, leicht aufgeregt. „Hast du dir die Nummer notiert?“, fragte Tobias. Er war besorgt. Shania bejahte und gab die Nummer durch. „Hm, Karolas Anschluss ist das schon mal nicht!“, stellte er fest. Er überprüfte die Nummer mittels Rückwärts-Suche am Computer – ohne Ergebnis. Tobias war sich dennoch sicher, dass Karola dahinter steckte – oder einer ihrer Freundinnen.

Hauptkommissar Sander hatte stundenlang herumtelefoniert, bis er herausgefunden hatte, wie die Bergungsfirma des Schiffes hieß und wie er sie erreichen konnte. Dann gelang es ihm, mit den zuständigen Leute zu telefonieren. Das gestaltete sich etwas schwierig, da er nicht besonders gut Englisch sprach. Immerhin erfuhr er, dass bei den wieder aufgetauchten Goldbarren die Prägung verschwunden war. Diesen Wagener würde er sich noch vorknöpfen, schon bald.

Tobias fuhr leicht irritiert in Richtung Innenstadt. Wie konnte Karola nur an Shanias Nummer gekommen sein. Siedend heiß fiel ihm ein, dass auf seinem Handy die Anrufe gespeichert wurden und er dieses nur selten löschte. So musste es passiert sein! Er schalt mit sich selbst wegen dieser Nachlässigkeit. Jetzt brauchte er unbedingt einen Drink, um den Ärger herunterzuspülen. Er fuhr bis zum Kröpcke und ging zum Jack the Ripper’s. Dort begrüßte man ihn freundlich. Er orderte einen Lagavulin. Dieser edle, sechzehn Jahre alte Tropfen war jetzt genau das Richtige. „Kein Beamish dazu?“, fragte der Kellner. Es war der wohlbeleibte, lockenköpfige Barkeeper, der ihn bei seinem allerersten Besuch bedient hatte. „Nein, erst einmal nicht“, antwortete Tobias und schüttelte den Kopf.

Zwei Stunden später. Tobias hatte es sich anders überlegt, das dritte Beamish stand schon vor ihm. Die „Irischen Gedenkminuten“ waren gerade vorbei, der weiße Schaum hatte sich vollständig vom schwarzen Bier abgesetzt. Tobias dachte nach. Wie sollte er das jetzt wieder geradebiegen? Stefan würde hier nicht helfen können, dafür war es zu spät. Aber vielleicht war es ja nicht so schlimm und er könnte sich da irgendwie wieder herausreden. Intensiv dachte er nach, eine gute Ausrede fiel ihm nicht ein.

Als er um 21 Uhr aufbrach und in Karolas Wohnung eintraf, war seine Freundin zu seiner großen Überraschung schon da. Sie saß auf dem Sofa, vor sich ein Glas Bier. Offenbar war sie reichlich angetrunken. „Na, da kommst du ja endlich, du Arschloch. Bist du schon geil auf diese Shania-Schlampe oder warum telefonierst du mit diesem Flittchen?“ Tobias war konsterniert. Das hatte er so nicht unbedingt erwarten. Er entschloss sich, bei der Wahrheit zu bleiben, zumindest teilweise. „Nun, ich habe tatsächlich mit Shania telefoniert, das hatte aber nur geschäftliche Gründe. Ich hatte dir erzählt, dass wir ihr Geld überwiesen haben. Jetzt verlangt sie mehr. Das geht natürlich gar nicht. Mehr war da nicht, glaube mir!“

Karola grunzte und sagte dann: „Na gut, etwas anderes kann ich ja nicht beweisen. Meinen Job im Odeon habe ich übrigens geschmissen. Es hat mir da gereicht. Der Chef ist ein richtiger Saftsack geworden. Aber ich habe schon etwas Neues in Aussicht: Im Café Safran! Morgen stelle ich mich da vor.“ „Ist das da, wo deine Freundin arbeitet?“ „Genau, die Melanie. Ich würde mich echt freuen, wenn das klappt. Nicht nur, weil mir der Laden gefällt. Es wäre auch klasse, mit Melli zusammen zu arbeiten.“ „Und wenn das nichts wird? Wieso konntest du überhaupt so schnell kündigen?“ „Weißt du, in der Gastro-Szene ist das alles etwas unkomplizierter als sonst im Berufsleben. Man wechselt schnell und ohne Schwierigkeiten. Wenn es tatsächlich nichts wird mit dem Café Safran, finde ich ruckzuck etwas Anderes.“ Tobias nahm das so hin, ein wenig seltsam fand er das Verhalten von ihr schon. Vielleicht spekulierte sie ja auch darauf, dass sie sich zur Ruhe setzen könne und von seinem Geld leben würde. Das war einerseits angenehm, weil es ihm stolz machte, aber andererseits auch unangenehm, weil er sich dabei ausgenutzt fühlte.

 

 

Kapitel 37

 

Mittwoch, der 24. August 2005

 

Der letzte Arbeitstag vorm Urlaub. Tobias las entspannt den Firmen-Rundbrief. Es gab keine wichtigen Neuigkeiten. Er schaltete daraufhin das Radio ein. Die Nachrichten liefen. Über das Schiff vor den Azoren wurde nichts mehr gemeldet. Aufmacher war der Zustandsbericht über die Hochwasserlage in den Voralpen. Dort entspannte sich die Lage, aber in Landshut, Bad Tölz, Regensburg und Passau war es noch kritisch. Danach wurde über Lance Armstrong berichtet. Es gab Zweifel über die Echtheit seiner Urinproben.

Heute wollte Tobias nur bis 13 Uhr arbeiten und Überstunden abbauen. Die Personalabteilung hatte ihm das dringend angeraten. Das kam ihn recht. Um 16 Uhr war er mit Oliver verabredet, der ihn nach Faßberg fahren würde. Sicherlich würde Oliver wieder über Bettina berichten. Tobias war wirklich gespannt, ob sich zwischen den beiden doch noch etwas entwickelte.

Karola schlief aus, sie war froh, dass sie das endlich mal konnte. Um 11 Uhr erwachte sie und frühstückte gemütlich. Sie hatte reichlich Zeit, erst um 15 Uhr war sie mit Herrn Krause, dem Chef vom Café Safran, verabredet. Melanie hatte gesagt: „Mach dir keinen Stress. Der ist nett und zuvorkommend.“

Tobias verabschiedete sich um 12.30 Uhr von Siegmund, fuhr danach seinen Computer herunter und ging gemütlich über das Treppenhaus zum Ausgang des Newtrix-Gebäudes. Er brauchte nicht lange auf den Bus zu warten und auch die Stadtbahn traf an der Misburger Straße, wo er umsteigen musste, umgehend ein. Am Kröpcke stieg Tobias aus und ging mal wieder ins Jack the Ripper’s. „Heute bis du aber früh dran, Tobias!“, meinte der Barkeeper und lächelte. Ohne zu fragen, stellte er ihm ein Beamish hin. „Ja, ich habe heute nur kurz gearbeitet. Morgen habe ich Urlaub. Dann sehen wir uns zwei Wochen nicht“, erklärte Tobias. „Wo geht es dann hin?“ „Nach New Orleans!“ „Mit deiner rothaarigen Freundin?“ „Nein ohne Karola. Die Reise habe ich schon länger geplant.“

Karola fuhr um 14 Uhr los. Sie wollte sich vor dem Bewerbungsgespräch noch mit Melanie unterhalten. Diese war jedoch nicht da, als Karola im Café Safran eintraf. Ihre Kollegin Karin erklärte Karola, dass Melanie kurzfristig die Schicht getauscht hatte und erst später eintreffen würde. Das war schade, aber es eilte ja nicht. Gestern hatte Karola sich sehr zurückgehalten, aber sie hegte immer noch Misstrauen gegenüber Tobias, zumal diese Shania ja gesagt hatte, dass sie nicht mehr in Mexiko sei.

Pünktlich um 15 Uhr traf Herr Krause ein. Er war ein stattlicher Mann, muskulös und fast zwei Meter groß. Welch ein Schnuckelchen, dachte Karola. Herr Krause kam direkt auf Karola zu. „Sie sind Frau Schramm, nehme ich an“, sagte er und gab ihr die Hand. Karola nickte nur. Sie brachte kein Wort heraus. So aufgeregt war sie selten. „Setzen wir uns doch hinten in die Ecke. Da können wir über alles reden. Melanie hat schon viel von Ihnen erzählt.“ „Nur Gutes, hoffe ich.“ „Na, klar. Alles andere hätte ich überhört!“

Karola übergab ihre Zeugnisse, soweit sie sie hatte. Vom Odeon konnte sie so schnell natürlich noch nichts vorweisen. „Na, das liest sich doch sehr gut, Frau Schramm. Warum wollen Sie dann wechseln? Gefällt es Ihnen im Odeon nicht mehr?“, fragte Herr Krause. „Nun, es gab da gewisse Spannungen und ich hatte Lust auf eine Veränderung“, antwortete Karola aufrichtig. „Sie sind ehrlich, Frau Schramm. Das gefällt mir! Ich würde sage, Sie arbeiten hier für zwei Stunden auf Probe. Zapfen, Servieren, das ganze Programm. Natürlich nicht umsonst! Sind Sie einverstanden?“ Karola war natürlich einverstanden und machte sich sogleich an die Arbeit.

Fast zeitgleich saß Tobias im Jack the Ripper’s und begab sich kurz vor vier zum Hauptbahnhof. Dort war er mit Oliver verabredet. Dieser traf pünktlich ein. Auf der Fahrt plauderte Oliver fast pausenlos über Bettina. Tobias kam kaum zu Wort. Erst kurz vor Faßberg endete Olivers Redeschwall, aber auch nur mit einer Frage für Tobias: „Wann geht es dann morgen früh los?“ Dieser antwortete: „Ich stehe um vier Uhr auf, um fünf kommt mein Taxi, das bringt mich zum Hauptbahnhof nach Hannover. Um kurz nach halb sieben fährt mein ICE nach Frankfurt. Der braucht gut zweieinhalb Stunden bis zum Frankfurter Hauptbahnhof. Um spätestens zehn Uhr bin ich am Flughafen. Die Maschine geht um 12.20 Uhr.“ „Das könnte aber knapp werden. Wäre es nicht besser gewesen, am Vorabend zu fahren und in Frankfurt zu übernachten?“ „In der Tat. Noch viel besser wäre es gewesen, wenn ich selbst mit dem Auto gefahren wäre, aber das geht ja nun nicht mehr.“ „Ach, ja, dein Auto. Was ist dann nun damit?“ „Das hat Totalschaden. Ich bekomme ein neues, sobald ich wieder fahren darf. Noch hat mein Lappen ja Urlaub!“ Oliver lachte. Er wunderte sich, dass sein Freund das alles so lässig nahm.

Das Probe-Arbeiten ging Karola flott von der Hand. Sie hatte richtig Spaß dabei, die Gäste waren ausnahmslos sehr freundlich und es gab reichlich Trinkgeld. Herr Krause war auch sehr zufrieden mit ihr. Er drückte ihr dreißig Euro in die Hand, was für die zwei Stunden Arbeit eine sehr gute Entlohnung war. „Willkommen im Team. Sie können morgen schon anfangen“, sagte er. Kurz darauf traf Melanie ein. Sie war hoch erfreut über Karolas Einstellung. Natürlich wollte sie wissen, wie Tobias auf die Aufdeckung reagiert hatte. „Er kam wieder mit einer dummen Ausrede“, berichtete Karola und erzählte, was er gesagt hatte.

Tobias packte gleich seine beiden Koffer und die Tasche, die er als Handgepäck nutzen wollte. Er dachte kurz darüber nach, ob er seinen Signalgeber direkt bei sich führen oder ihn einpacken sollte. Schließlich entschied er sich dafür, dass am nächsten Morgen spontan zu entscheiden.

Mit einer Flasche Tomatin machte er sich vor dem Fernseher gemütlich und genoss den guten Single-Malt aus Inverness. Lucky sprang ihn auf dem Schoß und maunzte laut. „Jetzt sehen wir uns zwei Wochen nicht, mein Freund“, sprach Tobias zu ihm. Lucky maunzte erneut, diesmal noch lauter. „Da sage noch einer, dass ihr Katzen unsere Sprache nicht versteht!“, flüsterte Tobias ihn ins Ohr. Lucky lächelte.

 

Donnerstag, der 25. August 2005

Der Wecker klingelte um kurz vor vier. Tobias stand rasch auf, duschte und packte die letzten Sachen in seine Reisetasche. Dort verfrachtete er auch den Signalgeber. Zum Frühstück gab es nur schwarzen, ungesüßten Kaffee und eine Scheibe Toast mit Orangenmarmelade. Das musste reichen. Das Taxi kam schon um halb fünf, früher als eigentlich geplant. Oliver hatte mit seinen Bedenken Recht, daher hatte Tobias die Bestellung des Taxis vorgezogen. Allerdings war an den Fahrzeiten des Zuges nicht zu rütteln, ein früherer fuhr nicht.

So traf Tobias um Viertel vor sechs am hannoverschen Hauptbahnhof ein, er hatte noch fast eine Stunde Zeit bis zur Abfahrt seines Zuges. Diese nutzte er für einen kleinen Spaziergang, sein Gepäck schloss er in ein Schließfach ein. Es war noch nichts los in der Stadt, einige Obdachlose lungerten vor dem Eingang des Bahnhofs herum. Quietschend bahnten sich die ersten Straßenbahnen den Weg über den Ernst-August-Platz. Tauben flatterten herum oder pickten völlig sinnlos auf dem Boden, wo gar kein Futter lag. Nach Kaffee stand Tobias nicht der Sinn, die Bahnhofskneipen waren aber noch nicht geöffnet. Im Zug würde er seiner Alkoholsucht wieder frönen können, solange musste sich Tobias gedulden.

Der ICE stand pünktlich am Bahnsteig bereit, Tobias begab sich in die erste Klasse. Es war leer, einen Platz hatte er auch nicht reserviert, da ihm das um diese frühe Uhrzeit nicht nötig erschien. So konnte es sich Tobias auf seinem Sitz gemütlich machen. Er hatte einen MP3-Player dabei, auf dem hauptsächlich Musik von Runrig abgespeichert war. Schon nach zehn Minuten kam der Fahrkartenkontrolleur und kurz danach die Frau, die Getränke und kleine Snacks verkaufte. Tobias kaufte gleich drei Bierflaschen, das musste bis Frankfurt reichen.

Niemand störte Tobias während der Fahrt, er döste vor sich hin und genoss die Fahrt. Um 9.20 Uhr traf der Zug am Flughafen ein, nur leicht verspätet. Tobias begab sich in die Empfangshalle und von da gleich zum Check-in. Seine Maschine, eine Condor, stand schon bereit. Tobias stellte fest, dass man viel freundlicher behandelt wurde, wenn man Businessclass gebucht hatte. First Class gab es auf diesem Flug leider nicht, das wurde nur bei Langstreckenflügen angeboten. Bei nächster Gelegenheit muss das aber auch mal sein, dachte Tobias.

Etwa elf Stunden betrug die Flugzeit, in New Orleans sollte die Maschine um 16.25 Uhr Ortszeit sein. Turbulenzen waren nicht angekündigt, es würde ein herrlicher, entspannter Flug werden. Das Flugzeug hob auch fast pünktlich, um halb eins ab, die leichte Verspätung war dem üblichen Stau vor der Frankfurter Startbahn geschuldet, das kannte Tobias schon. Die hübschen Flugbegleiterinnen umgarnten Tobias und lasen Tobias jeden Wunsch von dem Lippen ab. Ganz entgegen seiner Gewohnheit bestellte er aber kein Bier, sondern einen trockenen, französischen Rotwein. Das schien ihm angemessen.

Nach Erreichen der Reiseflughöhe wurde ein exquisites Mahl gereicht, welches Tobias mit Freude genoss. Danach lehnte er sich zurück und nickte ein. Er erwachte erst wieder, als die Maschine zur Landung ansetzte.

 

Kapitel 38

 

Die Flugbegleiterin gab Tobias einen sanften Stoß. „Mein Herr, wir landen gleich“, sagte die hübsche, junge Frau. Sie hatte schulterlanges, blondes Haar und lächelte ihn an: „Sie haben fast die ganze Zeit geschlafen, wie ein Baby!“, sagte sie. Das Baby hätte gerne noch einen Drink gehabt, dachte Tobias. Darauf musste er jetzt leider verzichten. Tobias sah aus dem Fenster. Er erblickte das Meer und in die Ferne die Silhouette einer Stadt, das musste New Orleans sein. Das Wasser war spiegelglatt, kaum eine Welle war zu sehen. Tobias schnallte sich wieder an, nachdem er freundlich dazu aufgefordert wurde.

Es war eine perfekte Landung. Entsprechend gab es Applaus von den anderen Fluggästen. So etwas fand Tobias eigentlich ziemlich albern. Notgedrungen machte er mit. Als das Flugzeug die Parkposition erreicht hatte, nahm Tobias seine Reisetasche aus dem Fach, schulterte sie, und ging behäbigen Schrittes zum Ausgang der Maschine, voller Erwartung auf das Wiedersehen mit Shania. Die Ausgabe seiner Koffer vom Gepäckband verlief ohne Probleme und auch die Zollkontrolle bereitete keine Schwierigkeiten.

Kaum hatte Tobias die Ausgangstür durchschritten, da erblickte er auch schon Shania. Sie trug ein hellgrünes Sommerkleid, das ihr ausgezeichnet stand. Ihre Sonnenbrille hatte sie hochgeklappt. Auch Shania sah Tobias sofort. Sie winkte ihm freundlich zu. Nachdem sich Tobias den Weg durch die Menschenmenge frei gemacht hatte, lief er auf sie zu und umarmte sie herzlich. Danach drückte er ihr einen Kuss auf die Wange.

„Wie wäre es mit einem Begrüßungsdrink?“, fragte Tobias auf Spanisch. Shania nickte und strahlte über das ganze Gesicht. Die Wiedersehensfreude war beidseitig. Sie gingen in eine kleine Bar, nahe dem Ausgang zum Parkplatz. Dort orderte Tobias eine Flasche guten Champagner, der umgehend in einem silbernen Kühler serviert wurde. „Auf uns“, sagte Shania und stieß mit Tobias an. „In welchem Hotel bist du denn?“, wollte sie danach wissen. „Im Roosevelt, das gehört zur Waldorf Astoria-Gruppe“, erklärte Tobias. Shania pfiff anerkennend. Auch, wenn sie erst seit Kurzem in dieser Stadt lebte, wusste sie, dass das eine exquisite Unterkunft war.

Leise Lounge-Musik erklang, es war Jazz. Kurz überlegte Tobias, wie der Titel hieß. Dann fiel es ihm ein. Sein Vater hatte ihm diesen öfters vorgespielt. Es war Lily was here von Candy Dulfer und David A. Stewart. „Ein hinreißendes Saxophon-Solo“, bemerkte Tobias. Shania nickte: „Das stimmt. Ich liebe Jazz und das ist eines meiner Lieblingsstücke!“ „Na, da bist du ja hier in New Orleans genau richtig. Du kennst doch bestimmt schon die richtigen Clubs, oder?“ „Ja, die besten habe ich schon ausgemacht. Früher bin ich in Bars und Clubs gegangen, um Männer aufzureißen, doch jetzt...“ „Nicht mehr?“ Shania nickte, leicht verschämt. Sie schien das aber ehrlich zu meinen. Die beiden genossen das köstliche Nass, wobei Shania erheblich mehr trank. Tobias war ja eher ein Freund von Bier und Whisky, als von Champagner.

Danach zahlte Tobias und sie nahmen sich ein Taxi zum Hotel. Tobias war froh, dass er eine große Suite gebucht hatte, die mehr als genug Platz für zwei Personen bot. Sie war immerhin 74 Quadratmeter groß. Es würde sicherlich kein Problem sein, wenn Shania dort ebenfalls unterkam. Die Fahrt dauerte knapp eine Stunde, der Verkehr war ziemlich dicht. Um kurz vor 19 Uhr waren sie da. Das Gebäude war imposant und erinnerte an ähnliche Bauten in New York. Die Fassade war reich verziert und gefiel Tobias sehr gut. Vierzehn Stockwerke sollte das Hotel haben, vielleicht waren es nur dreizehn, aber das war egal.

An der Rezeption saß ein hochgewachsener, dunkelhäutiger Mann mit einer Brille, namens Smith. Er begrüßte Tobias auf Deutsch mit einem deutlichen Akzent, worauf Tobias im perfekten Englisch antwortete, was dem Herrn sichtlich eine Erleichterung war. Ordnungsgemäß trug sich auch Shania ein, wobei Tobias erstmals ihren Nachnamen erfuhr: Martinez-López. Da sie auch ihren Pass vorlegte, ging er davon aus, dass dieser echt war. Die Tatsache, dass Shania kein Gepäck dabei hatte, wurde von Mr. Smith zwar bemerkt, aber diskret unbeachtet gelassen. Die Suite, die Tobias gebucht hatte, war im neunten Stock und keineswegs die größte des Hotels, insgesamt gab es 125 davon und 379 weitere Zimmer.

Der Page brachte das Gepäck von Tobias hinauf, während Tobias und Shania in einem der drei Restaurants ein exquisites Mahl zu sich nahmen. Alles war vom Feinsten, auch der dargebotene Wein. Danach begaben sich die beiden in die daneben gelegene Bar. Tobias orderte Champagner und einen sehr guten Malt. Sie prosteten sich zu und Tobias blickte in Shanias schöne, braune Augen. Er stellte erneut fest, dass sie eine zauberhafte Frau war. Auch Shania sah ihn direkt an und lächelte. Tobias strich sanft über ihre Arme. Ihre Haut fühlte sich wunderbar an. Sie verströmte einen betörenden Duft von Lavendel und Rosen. Kurz nach 23 Uhr begaben sie sich in die Suite und verbrachten eine intensive Nacht. Es traf sich dabei gut, dass Tobias im Flugzeug so ausgiebig geschlafen hatte.

 

Freitag, der 26. August 2005

 

Während es in Amerika noch tiefste Nacht war, war es in Hannover schon früher Morgen. Hauptkommissar Sander begab sich mit zwei Kollegen um kurz vor neun Uhr zum Verwaltungsgebäude von Newtrix. Es hatte ein paar Tage gedauert, bis er den Haftbefehl auf dem Tisch hatte. Aber nun war auch die Staatsanwaltschaft davon überzeugt, dass genug Verdachtsmomente gegen Tobias vorlagen. Diese Sache mit den verschwundenen Diamanten und zuvor mit dem Gold war aber auch sehr mysteriös!

„Guten Morgen, wir möchten zu Herrn Wagener“, sagte der Hauptkommissar zum Pförtner von Newtrix und zeigte seine Dienstmarke. „Tut mir leid, mein Herr. Herr Wagener hat Urlaub. Aber Herr Berger wäre zu sprechen. Soll ich sie anmelden?“, antwortete der Pförtner. Sander war sichtlich enttäuscht und schüttelte mit dem Kopf. An seine Kollegen gewandt sagte er: „Tja, Leute. Das war nichts. Dann fahren wir eben nach Faßberg. Da möchte ich mich jetzt persönlich darum kümmern!“

Kaum war der Hauptkommissar mit seinen Kollegen losgefahren, als auch schon ein kräftiger Regenguss herunterkam, außerdem blitzte und donnerte es ohne Ende. Der regen ging in Hagel über, fast schien es, als ob sich der Himmel gegen den Polizeieinsatz verschworen zu haben. Sander brauchte daher fast zwei Stunden, bis er in Faßberg war. Dort stellte er fest, dass Tobias offenbar nicht zu Hause war, jedenfalls öffnete er nicht aufs Klingeln. Auch die Nachbarn wusste nicht, wo er war. Nach drei Stunden vergeblichen Wartens fuhr Sander mit seinen Kollegen wieder zurück nach Hannover.

Um neun Uhr Ortszeit in New Orleans begab sich Tobias in den Frühstücksraum des Hotels. Shania schlief noch. Wie in den U. S. A. üblich, war das Frühstück exklusive der Übernachtung. Nur wenige Gäste befanden sich in den Raum. Es lief der Fernseher. Dort kamen Nachrichten. Es wurde über einen Hurrikan namens Katrina berichtet, der sich in Höhe von Florida befunden und dort für vierzehn Todesopfer gesorgt hatte. Unterdessen hatte er sich aber abgeschwächt. „Der zieht langsam zu uns herüber. Hoffentlich wird der nicht wieder stärker“, bemerkte eine junge, hübsche Frau mit kurzen blonden Haaren, die im Frühstücksraum die Gäste bediente. Sie ergänzte: „Sie müssen schon entschuldigen, Sir, normalerweise schalten wir hier nicht den Fernseher an, aber hier machen wir eine Ausnahme.“ Tobias nahm das mit geringem Interesse hin und wandte sich dem Frühstück zu.

Shania gesellte sich eine halbe Stunde später hinzu, als Tobias gerade fertig mit dem Frühstück war. Sie umarmte ihn kurz und nahm sich dann einen Kaffee und ein Glas Orangensaft. „Ich frühstücke nie viel“, sagte sie und setzte sich dann. Tobias berichtete ihr kurz von dem, was er gerade in den Nachrichten gehört hatte. „Ach, das wird schon nicht so schlimm werden. Einen Hurrikan habe ich noch nie erlebt, mehrere Erdbeben schon, die habe ich auch überlegt. Aber ich habe gehört, dass einige Einheimische hier doch Angst haben. Es gibt schon Ladenbesitzer, die ihre Fenster und Türen vernageln“, entgegnete Shania. Tobias bemerkte: „Ja, und vor Kurzem wurde doch ein neuer Schutzdeich eingeweiht. Der wird schon halten!“

„Und was unternehmen wir heute?“, wollte er danach wissen. Shania überlegte und antwortete dann: „Nun, ich habe mir in der Zeit, in der ich hier jetzt lebe, noch nicht allzu viel angesehen, ehrlich gesagt. Worauf hättest du denn Lust?“ Tobias antwortete sofort: „Ich hätte Lust auf eine Straßenbahnfahrt. Es gibt zwei berühmte Linien: Die grüne Linie, die nach St. Charles führt oder die rote, die am Fluss entlanggeht. Tennessee Williams hat sein berühmtes Buch Endstation Sehnsucht, auf englisch A Streetcar Named Desire danach benannt.“ „Na, das klingt doch toll, lass uns die rote Linie nehmen. Dann können wir dabei den Fluss beobachten!“

In Hannover war es zeitgleich früher Abend. Karola hatte einen schönen Arbeitstag gehabt. Es gab viel zu tun, aber alle Gäste waren freundlich und entspannt. Dabei hatte sie auch etwas Neues kennen gelernt. Eine Gruppe von männlichen Studenten hatten das John Belushi- Frühstück geordert. Karola musste erst nachsehen und dann lachen. Es war nämlich sehr spartanisch und bestand nur aus einer Tasse Kaffee, einer Zigarette und einem Kaugummi.

Shania und Tobias genossen die Fahrt mit der Straßenbahn. Das Fahrzeug mit der Nummer 452 war rot lackiert, die Türen und die Fensterrahmen waren gelb. In großen Buchstaben stand Riverfront auf der Stirnseite. Die Kabine zum Fahrer war frei zugänglich und nicht vom Fahrgastraum abgetrennt. So konnte man ihm während der Fahrt ungehindert beobachten. Die alten Holzsitze waren allerdings ziemlich unbequem, aber das nahm man gerne hin. Der Blick auf dem Mississippi war unvergleichbar. Majestätisch fuhren der Raddampfer entlang und hupte von Zeit zu Zeit. „Das machen wir als Nächstes“, entschied Tobias. Shania nickte. Sie war ebenso begeistert.

Die beiden stiegen nach einer ganzen Weile aus der Straßenbahn aus und gingen gemächlich zum Flussufer, Arm in Arm. Die Abfahrtsstelle des Dampfers war in Sichtnähe, er war jedoch gerade unterwegs und sollte erst in knapp einer Stunde wieder abfahren. „Das macht nichts, wir haben ja Zeit“, sagte Tobias. Er setzte sich mit Shania auf eine Parkbank und genoss die Sonne. Von dem angekündigten Hurrikan war nichts zu spüren. Es war ziemlich heiß und es wehte nur ein laues Lüftchen. „Na hoffentlich ist das nicht die Ruhe vor dem Sturm“, bemerkte Shania. Sie ergänzte: „Aber du wirst mich ja beschützen, nicht wahr, Tobi?“ Das sagte sie mit einem zauberhaften Lächeln.

Das Dampfschiff Natchez kam pünktlich. Es war strahlend weiß und hatte riesige rote Schaufeln am Heck. So hatte sich Tobias immer einen Raddampfer am Mississippi vorgestellt, als er damals als Kind Tom Sawyer und Huckleberry Finn mit Begeisterung gelesen hatte. Die amerikanische Flagge flatterte im Wind, sie war oberhalb der Schaufeln angebracht. „Das ist der letzte authentische Raddampfer, den es hier noch gibt“, berichtete der bärtige Kapitän, als alle eingestiegen waren. Er hatte einen sehr starken Südstaaten-Akzent und plauderte fast ohne Unterbrechung. Seine Erklärungen waren sehr interessant, auch wenn die Fahrt eher langweilig war, aber das Wichtigste war ja das Schiff an sich, aber natürlich auch die Jazz-Musik, die an Bord gespielt wurde.

Nachdem Tobias und Shania das Schiff verlassen hatten, stellten beide fest, dass sie Hunger hatten. „Ich kenne hier ein kleines, gutes Restaurant gleich um die Ecke. Es serviert Cajun-Gerichte. Die Speisen sind einfach und rustikal. Magst du so etwas?“, erzählte Shania. „Warum nicht. Es ist mal etwas anderes, als die exquisite Küche gestern im Hotel. Das ist bestimmt lecker!“, antwortete Tobias.

In der Tat war das Lokal nur ein paar Schritte weit. Tobias entschied sich für Shrimps-Gumbo mit Reis, während Shania Jambalaya, eine Art Paella wählte. Dazu gab es knuspriges Maisbrot. „Das Bier ist hier nicht so gut. Nimm lieber Wein oder Eistee“, hatte Shania geraten. Da Tobias nun einmal kein Weintrinker war, wählte er den Eistee, der in einem riesigem Krug mit vielen Eiswürfeln serviert wurde. Shania war davon angetan und genoss den kühlen Drink.

„Wirklich köstlich“, sagte Tobias und fuhr fort: „Übrigens, Shania, in deiner Heimatstadt habe ich in einem kleinen Lokal Mole Poblano gegessen, das hat auch ganz wunderbar geschmeckt. Magst du das Gericht auch?“. „Aber, ja. Ich kann das auch selbst gut kochen. Wir können ja morgen bei mir zu Hause essen. Ich besorge bis dahin alle Zutaten!“ Tobias war davon begeistert und sagte sofort zu.

Nach dem Essen schlenderten die beiden den Fluss entlang und plauderten eifrig. „Weißt du, ich will dich nicht ausnutzen, Tobias. Du hast viel für mich getan, und ich bin wirklich froh, hier zu sein. Aber ich möchte dir auch etwas zurückgeben, auch, wenn es nicht viel ist. Du ist ein wunderbarer Mensch, Tobias!“, sprach Shania und sah ihn verliebt in die Augen. Er spürte, dass sie es ehrlich meinte. Aber da noch irgendetwas, was ihr auf dem Herzen lag. Und richtig, gleich darauf fuhr Shania fort: „Aber du erinnerst dich doch sicherlich an meinen Bruder Miguel, dem die Bar gehört.“ „Aber natürlich. Ich erinnere mich gut, solange ist das ja noch nicht her. Hat er Probleme?“ „Ja, leider. Die wollen ihm die Bar schließen, weil die Polizei vermutet, dass er da illegale Geschäfte gemacht hat. Na, ja, ganz von der Hand zu weisen ist das auch nicht.“

Tobias hakte nach: „Nun erzähl schon, was hat er gemacht? Mit Drogen gehandelt?“ „Nein, keine Drogen, aber er hat schwarzgebrannten Alkohol geschmuggelt.“ Gegen 15 Uhr begab sich Tobias wieder in sein Hotel, während Shania nach Hause fuhr.

Am Abend, nachdem Tobias ein vorzügliches Mal im Hotel-Restaurant verspeiste, bekam er Lust, noch einen Jazz-Club aufzusuchen. In seinem Reiseführer fand er die Beschreibung der Preservation Hall, die sich in der St. Peter Street im French Quarter befand. Das sagte ihm zu, obwohl darauf hingewiesen wurde, dass diese Aufführungsstätte sehr beliebt war und sich davor immer lange Schlangen bildeten. Ungewöhnlich fand Tobias, dass dort weder Speisen noch Getränke angeboten wurden. Es gab nur die Musik,und das pur. Kurz entschlossen begab sich Tobias kurz nach 21 Uhr dort hin.

Er musste tatsächlich über eine halbe Stunde am Eingang warten, bis er hinein durfte. Das Gebäude war etwas heruntergekommen, immerhin war es schon über zweihundertfünfzig Jahre alt. Aber das machte nichts. Es war überwältigend. An der Decke sorgten einige Ventilatoren für Kühlung. Die Band, die an diesem Abend spielte, war großartig. Tobias war begeistert. Eine junge, hübsche, dunkelhäutige Dame sprach ihn an: „Die sind wunderbar, nicht wahr? Ich bin oft hier und habe dich noch nie hier gesehen. Woher kommst du?“ Tobias stellte sich vor und erzählte, woher er kam. Von Hannover, und erst recht von Faßberg hatte die Frau, die Sarah hieß, noch nie gehört. Immerhin wusste sie, dass Deutschland in Europa lag. Das war wenigstens etwas.

Kurz nach Mitternacht endete die Darbietung und der Club schloss. „Trinken wir noch etwas?“, fragte Tobias die junge Dame. Sarah war sofort einverstanden. Sie gingen in eine Bar, die nur ein paar Häuser weiter war. Dort gab es sogar deutsches Bier, allerdings nur aus der Flasche. Tobias griff dabei zu, Sarah trank einen Cocktail. Er sah in ihre wunderschönen braunen Augen und war versucht, sie zu küssen. Als könnte sie Gedanken lesen, kam Sarah ihm näher und presste ihre Lippen auf seine.

Nachdem die Bar schloss, gingen sie zu Fuß gegen zwei Uhr zum Roosevelt und Tobias konnte nicht widerstehen, Sarah zu fragen, ob sie ihn auf sein Zimmer begleiten wolle. Sie stimmte zu und somit musste Tobias auch diese Nacht nicht alleine verbringen.

 

Kapitel 39

 

Samstag, der 27. August 2005

Tobias erwachte kurz nach 9 Uhr, glücklich und zufrieden. Die Nacht war fantastisch. Er drehte sich um und erblickte – nichts. Der Platz neben ihm im Bett war leer. Sarah war nicht da. Sie war auch nicht im Bad, wie Tobias gleich danach feststellen musste. Die junge Frau hatte sich aus dem Staub gemacht. Aber nicht nur sie war verschwunden, sondern auch die Brieftasche, wie Tobias entsetzt bemerkte.

„So eine verdammte Scheiße!“, rief Tobias laut. Das ist ja mal wieder ganz großartig gelaufen, dachte er. Was sollte er jetzt tun? Die Polizei einzuschalten, war nicht empfehlenswert, das war zu peinlich Tobias entschloss sich, Stefan anzurufen. Dieser war ziemlich erzürnt, als er von dem Verlust erfuhr. „Ich habe wirklich keine Lust, dir diesmal wieder aus dem Schlamassel herauszuhelfen. Sieh zu, wie du das hinbiegst“, sagte Stefan und beendete das Gespräch. Frustriert begab sich Tobias in den Frühstücksraum. Ihm war jeglicher Appetit vergangen. Aber ein schwarzer Kaffee – das musste jetzt sein. Zu dumm, dass das – wie überall in diesem Land – so eine dünne Plörre war. Im Frühstücksraum starrte alle gebannt auf dem Fernseher. Wie schon am Tag zuvor wurde in den Nachrichten über den heranziehenden Hurrikan berichtet. Für New Orleans und die Umgebung wurde eine Warnung verbreitet. Es hatten auch schon einige Geschäfte und Restaurants geschlossen. „Wie gut, dass wir jetzt unseren Deich haben. Al Gore sei Dank“, meinte die blonde, junge Frau vom Hotelpersonal. In gewisser Weise verdankt Ihr das Newtrix, dachte Tobias. Er erzählte das aber nicht. Dazu hatte er jetzt keine Lust.

Mit einem Kännchen Kaffee begab sich Tobias an eine der Tische und setzte sich. „Keinen Appetit heute?“, wollte die Blondine wissen. Tobias nickte und sagte: „Mir ist der Appetit vergangen. Das liegt aber nicht an Ihnen oder am Hotel.“ „Oh, je. Hatten Sie Ärger mit Ihrer Freundin?“ „Nein, das auch nicht. Es ist etwas ganz anderes. Aber dazu möchte ich jetzt nichts sagen.“

Die junge Frau entgegnete: „Das geht mich auch nichts an. Aber grüßen Sie sie von mir.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um, bevor Tobias sie nach ihrem Namen fragen oder ihr Namensschild lesen konnte. Er hatte dann doch noch etwas Hunger bekommen und nahm sich ein Croissant und etwas Marmelade. In diesem Moment klingelte das Handy. Es war Shania. „Tobi, kannst du noch Bohnen besorgen?“, fragte sie, nachdem sich beide liebevoll begrüßt hatten. „Wozu brauchst du Bohnen?“, wollte Tobias wissen. „Na, für das Mole Poblano natürlich!“ „Aber da gehören doch gar keine Bohnen rein“, entgegnete der entsetzte Tobias. „Nach meinem Rezept schon. Ich finde, das macht es noch leckerer!“ Und wieder steckte Tobias in einer Bredouille. Er überlegte. Gab es so etwas wie eine Bohnen-Allergie? Na, ja, zumindest konnte er sagen, dass er Blähungen von Bohnen bekam. Das stimmte zwar nicht, aber Shania konnte ja nicht das Gegenteil beweisen. Also erzählte Tobias von seiner Bohnen-Unverträglichkeit. Dass sich ihm zu Hause immer noch die Dosen mit gebackenen Bohnen stapelten, brauchte Shania nicht zu wissen. „Übrigens, die US-Amerikaner nennen uns Mexikaner Bohnenfresser“, bemerkte Shania abschließend. Das war etwas, was Tobias auch noch nicht gewusst hatte.

Nach Ende des Telefonats überlegte sich Tobias, was er unternehmen könnte. Spontan entschied sich Tobias für einen Friedhofsbesuch. Im Reiseführer wurde erklärt, dass es in New Orleans keine normalen Friedhöfe gab, wie man sie in Mitteleuropa kannte. Vielmehr werden die Toten dort in Mausoleen bestattet. Das liegt an der tiefen Lage Stadt und dem damit verbundenem sehr feuchtem Boden, was wiederum Seuchengefahr bedeutet. Tobias begab sich zum Lafayette Cemetery No. 1, der schon fast zweihundert Jahre im Gebrauch war und immer noch benutzt wurde. Dieser sollte besonders interessant sein.

Als Tobias dort ankam, fand gerade eine Trauerfeier statt. Es wurde zunächst traurige Jazz-Musik gespielt. Tobias erinnerte sich an den James Bond-Film „Leben und sterben lassen“. Er verfolgte die Beisetzung. Es war ein besonderes Erlebnis. Fast eine Stunde zog sich das Ganze hin. Nachdem der Tote in das Mausoleum verbracht wurde und es beendet war, änderte sich die Musikrichtung der Band. Jetzt wurde fröhlicher, weltlicher Jazz gespielt. Die Leute nahmen sich in die Arme und sangen. So eine Trauerfeier hatte Tobias noch nie gesehen, außer in dem Film. Tobias schlenderte noch eine ganze Weile über den Friedhof und sah sich die Gräber an. Diese waren zum Teil uralt, aber alle sauber und gepflegt.

Es wurde Mittag, Hunger hatte Tobias aber nicht, Durst auf einen Kaffee aber schon. Der Reiseführer empfahl das Café du Monde. Dort sollte es Coffee and Chirory geben, einem Milchkaffee aus Kaffeebohnen und gerösteten Chicoréewurzeln. Das war nicht unbedingt etwas für Tobias, der Kaffee ja immer schwarz und ohne Zucker trank. Eine weitere Spezialität waren Beignets, eine Art Krapfen, die mit Puderzucker bestreut wurden. Das klang schon interessanter.

Tobias begab sich dort hin und studierte die Karte. Es gab auch Eiskaffee und Softdrinks. Nach kurzer Überlegung entschied sich Tobias doch für den Chicorée-Kaffee und das Fettgebackene. Von der Terrasse hatte er einen schönen Blick auf die Leute, die vorbeigingen. Dann glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen: Sarah ging vorbei, Arm in Arm mit einem jungen, kräftig gebautem Afroamerikaner. Als sie Tobias erblickte, versuchten sie und der Mann, sich eiligst zu entfernen, doch Tobias sprang auf und lief hinter ihr her. Er erreichte sie und stellte sie zur Rede. Ihr Begleiter sah ihn böse an. Körperlich war dieser Tobias haushoch überlegen, doch dieser hatte ja eine Geheimwaffe, nämlich seinen Signalgeber.

In dem Moment, als der Mann zuschlagen wollte, drückte Tobias die Taste an dem Gerät, und die Zeit blieb stehen. Mitten in der Bewegung verharrte der Typ mit wutentbranntem Gesicht. Tobias machte einen kleinen Schritt vorwärts und stieß ihn einfach um. Dieser fiel rücklings auf den Boden. Tobias ließ die Zeit weiterlaufen. Alle Leute ringsum schrien auf. Sarah war völlig perplex. Sie hätte niemals erwartet, dass das geschehen würde. Was war das für ein seltsamer Mann?, dachte sie. Tobias setzte sich an seinen Tisch zurück. Er sah, dass Sarahs Begleiter wieder aufstand, sich aufrappelte und ihn ungläubig ansah. Nach einer kurzen Diskussion mit Sarah gingen die beiden ihres Weges.

Die Bestellung kam. Jetzt hatte Tobias richtig Appetit bekommen. Der Beignet war nicht so süß wie befürchtet und der Chicorée-Kaffee war auch genießbar. Jemand klopfte Tobias auf die Schulter. Tobias drehte sich um, es war die Blondine aus dem Hotel. „Ich habe das eben beobachtet. Wie haben Sie das gemacht?“, fragte sie. Tobias lächelte und antwortete: „Das ist mein Geheimnis. Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen?“ Sie entgegnete: „Aber gerne doch. Ich heiße übrigens Mary!“

Tobias gab ihr die Hand und orderte den Kaffee für Mary. Er war erfreut darüber, eine sympathische Person am Tisch zu haben. Doch wenige Sekunden später sagte Mary: „Es wird auch Zeit, dass jemand diesen verdammten Niggern eine verpasst. Die haben sich hier ganz schön breit gemacht und denken, sie können sich alles erlauben. Wir hätten sie nie aus der Sklaverei entlassen sollen. Hier im Süden denken noch viele so. Ihre Freundin ist Mexikanerin, das ist o. K, dagegen haben wir nichts, aber diese dreckigen Affenärsche sollen auf ihre Baumwollfelder zurück gehen!“

Davon war Tobias geschockt, damit hatte er nicht gerechnet. Gut, er war im Süden der Vereinigten Staaten, aber er dachte bislang, dass in New Orleans die Leute toleranter wären, das war offenbar nicht so. Er wollte sich gerade dazu äußern und Mary seine Meinung sagen, als die dunkelhäutige Bedienung des Cafés sich mit dem bestellten Kaffee näherte. Sie hatte die rassistischen Äußerungen von Mary anscheinend gehört, dann mit einem süffisanten Tonfall sagte sie: „Hier ist Ihr Kaffee, Ma‘am. Sie werden bemerken, dass er nicht schwarz ist. Der würde Ihnen auch nicht schmecken!“ Am liebsten hätte Tobias applaudiert, er verkniff sich das aber. Stattdessen warf er der Serviererin einen anerkennenden Blick zu.

Tobias hielt sich gegenüber Mary sehr bedeckt, bislang fand er sie sehr nett, das hatte sich aber mit einem Moment schlagartig geändert. Mary bemerkte sehr wohl, dass Tobias wohl doch nicht das rechte Verständnis für ihre Meinung hatte. Das hinderte sie aber nicht daran, ihre Schimpfkanonade fortzusetzen. Die anderen Gästen sahen sie verständnislos an. Anscheinend war hier doch nicht jeder ihrer Ansicht.

Nach fünf Minuten kam der Manager des Cafés an den Tisch und bat Mary, zu gehen. Das tat sie umgehend. Als sie gegangen war, äußerte sich Tobias: „Ich kenne die junge Dame kaum. Sie arbeitet in dem Hotel, in dem ich wohne. Selbstverständlich bin ich nicht ihrer Ansicht. Die Auseinandersetzung eben, hatte private Gründe.“ Der Manager nickte und antwortete: „Das habe ich gesehen. Ein ganz übler Typ. Der hat hier Hausverbot. Die Dame in seiner Begleitung übrigens auch!“ Das nahm Tobias mit Interesse zur Kenntnis. Er aß und trank auf, zahlte und ging.

Es war noch reichlich Zeit bis zum Treffen mit Shania. Tobias bummelte ausgiebig durch die Stadt. Immer mehr Schaufenster der Läden wurden von den Besitzern zugenagelt, offenbar fürchteten sie sich doch vor dem Hurrikan. Nach zwei Stunden war Tobias an seinem Hotel angelangt. Als er den Schlüssel für sein Zimmer entgegennahm, sprach ihn Mr. Smith. „Hier ist etwas für Sie abgegeben worden, Mister Wagener!“ Der Dunkelhäutige überreichte ihn ein ein kleines Paket. Lediglich „Tobias Wagener“ stand drauf. Neugierig schüttelte Tobias das Päckchen. Es klapperte.

Im Zimmer öffnete Tobias das Paket. Zum Vorschein kam seine Brieftasche. Das war dann doch eine Überraschung! Hatte Sarah das schlechte Gewissen gepackt oder hatte sie etwa Angst vor ihm? Wie auch immer, er war heilfroh, dass das so ausgegangen war. Tobias rief umgehend Stefan an, um ihn zu unterrichten. Dieser war hoch erfreut von der guten Nachricht. „Pass auf dich auf“, sagte er noch, da ihm die Sturmwarnung bekannt war. Tobias hatte das Gefühl, dass Stefan noch etwas wusste, was er verschwieg.

 

Kapitel 40

Nachdem Tobias geduscht hatte, zog er sich frische Kleidung an und besorgte im Shop des Hotels einen großen Blumenstrauß und zwei gute Flaschen kalifornischen Rotwein. Dieser passte hoffentlich zum Mole Poblano. Tobias war gespannt, wie dieses schmecken würde, auch ohne Bohnen.

Mit einem Taxi ließ sich Tobias in das Wohnviertel bringen, in dem Shania lebte. Es war eines der tiefer gelegenen Stadtteile von New Orleans, dort wohnten die Armen. Der Taxifahrer hatte angesichts des Aussehens von Tobias dreimal nachgefragt, ob er tatsächlich dahin wollte und sich erst nach Erhalt eines großzügigen Trinkgeldes bereit erklärt, dahin zu fahren.

Nun stand Tobias vor dem Wohnhaus von Shania. Es machte einen etwas besseren Eindruck als die benachbarten Häuser. Shania wohnte im ersten Stock. Sie sah aus dem Fenster und winkte Tobias freundlich zu. Er betrat das Gebäude mit einem etwas mulmigen Gefühl. Seltsame Typen lungerten im Treppenhaus, es roch nach Urin und Erbrochenem. Man starrte Tobias an, offenbar kam es nicht oft vor, dass jemand in guter Kleidung das Gebäude betrat.

Shania erwartete ihn freudestrahlend an der Wohnungstür. Sie hatte sich hübsch gemacht. Nachdem Tobias die Wohnung betreten hatte, schloss Shania rasch die Tür und verriegelte sie. „Ich weiß, was du sagen willst. Es ist nicht sehr schön hier. Aber etwas besseres kann ich mir nicht leisten“, sagte sie und fuhr fort: „Aber ich habe hier von meinem Schlafzimmer einen wunderbaren Blick auf das Meer und sehe morgens die aufgehende Sonne.“ Spontan fiel Tobias das alte Lied von den Animals ein: „House of the rising sun“. Das passte wunderbar:

My mother, she was a tailor
Sewed these new bluejeans
My father was a gamblin' man
Way down in New Orleans

My mother, she would look at me
She said, son, you've got a long road ahead
Son, some may roll and make you crazy
But don't forget these words I said

And don't forget what your name is
And know what the game is

From the North coast to the South coast
From country to country
Mind to mind
Generation to generation

From time to time
And to sniff across your mind

To go downtown
And to hang around
The House of The Rising Sun

 

Er stimmte das Lied an. Shania war überrascht davon, dass Tobias so gut singen konnte und applaudierte. „Du hast ja ungeahnte Talente“, stellte sie fest. Tobias grinste. Wenige Sekunden später fiel Tobias ein weiteres Lied ein, nachdem sie in der Küche Platz genommen hatten. Er sah eine Küchenschabe vorbei flitzen, auf Spanisch Cucaracha. Das Lied hatte er in der Schule gelernt. Tobias biss sich auf die Zunge, es wäre doch peinlich gewesen, den Song anzustimmen. Doch Shania hatte den ungebetenen Gast ebenfalls erblickt und sang:

 

La cucaracha, la cucaracha
ya no puede caminar
por que no tiene
porque le faltan
las dos patitas de atrás

una vez la cucaracha
se metió en un hormiguero
y las picaras hormigas
las patitas le comieron
pobrecita cucharacha
anda renga y afligida
caminando a paso lento
escondiendose de dia

 

Jetzt war es Zeit für Tobias, zu applaudieren. Das tat er auch. Shania bemerkte: „Ich weiß nicht, ob du das weißt, aber das ist auch ein mexikanisches Revolutionslied gegen José Victoriano Huerta Márquez. Aber der ist ja schon lange tot.“ Das wusste Tobias tatsächlich noch nicht. Er hätte am liebsten gesagt: „Man kann so alt werden wie eine Kuh, man lernt immer noch dazu“, aber zum einen wäre in der spanischen Übersetzung der Reim verloren gegangen, und zum anderen hätte das Shania vermutlich falsch verstanden. So schwieg er lieber und nickte nur.

 

Ohnehin war es nun Zeit zum Essen, und dabei redete er normalerweise, wie in seiner Familie üblich wenig bis gar nicht. Das Mole Poblano. war köstlich und schmeckte ihm noch besser als in dem kleinen Lokal in Mexiko-City. Das sagte er ihr auch und erntete ein Lächeln. Der Wein, den Tobias ausgesucht hatte, passte vorzüglich zu dem Gericht. Er hinterließ auch nicht den unangenehmen metallischen Geschmack, den manche Rotweine hatten. Als ausgesprochener Biertrinker störte Tobias das immer schon.

 

„Möchtest du tanzen?“, fragte Shania nach Ende des Mahls. Tobias überlegte. Er hatte seit einer Ewigkeit nicht mehr getanzt, und besonders gut war er auch nie darin. Andererseits war es verlockend. Daher nickte er. Shania ergänzte: „Jazz eignet sich natürlich nicht dafür, aber ich habe noch ein paar CDs aus meiner Heimat, es wird dir gefallen. Sie ging zum Regal und holte eine Scheibe heraus. Bevor sie sie in den Player legte, erklärte Shania: „Die Gruppe kommt zwar nicht aus Mexiko, sondern aus den U. S. A., aber ihre Musikrichtung ist Tex-Mex, basiert also auf mexikanischer Volksmusik. Das Stück müsstest du kennen!“ Es erklangen die ersten Takte von La Bamba von Los Lobos. Selbstverständlich kannte Tobias das Stück, und auch den Film dazu. Er stand auf und legte mit Shania eine kesse Sohle aufs Parkett. Dabei kam er tüchtig ins Schwitzen.

 

„Jetzt aber etwas Romantisches“, entschied Shania und legte eine andere CD ein. „Das heißt Bésame mucho und ist ein Liebeslied. Davon gibt es unzählige Versionen. Diese hier finde ich besonders schön. Die Sängerin heißt Chela Campos. Es ist das mit Ausnahme von Geburtstagsständchen und Weihnachtsliedern meistgespielte Lied in spanischer Sprache.“ Nach den ersten Tönen erkannte Tobias, dass er das Lied schon einmal gehört hatte, allerdings auf Deutsch. Ihm fiel nur gerade weder der deutsche Text noch der Interpret ein.

 

Bésame,
bésame mucho
como si fuera esta noche
la última vez
Bésame,
bésame mucho
que tengo miedo a perderte
perderte después

 

Hier ging es also ums Küssen, eine eindeutige Anspielung von Shania. Tobias verstand und kam der Aufforderung nach. Er küsste Shania leidenschaftlich. Das war ein gutes Gefühl, ein sehr gutes. Er fühlte sich mehr und mehr zu der jungen Frau hingezogen, und das war offenbar beidseitig.

 

„Ich hätte jetzt Lust auf einen Hurricane, ich meine natürlich den Cocktail. Ich nehme an, dass es hier in der Gegend keine Bar gibt. Kommst du noch mit in mein Hotel?“, wollte Tobias danach wissen. „Aber sehr gerne, Tobi“, antwortete Shania und lächelte. Mit einem Taxi fuhren sie zum Roosevelt und verbrachten eine leidenschaftliche Nacht.

 

Sonntag, der 28. August 2005

 

Gegen fünf Uhr morgens wachte Tobias auf. Lärm hatte ihn geweckt, er kam von draußen. Der Sturm hatte enorm zugelegt. Trotz der Doppelverglasung hörte man den Krach, Shania schlief jedoch selig. Gegenstände flogen durch die Gegend, es war aber wohl erst ein Vorbote des Hurrikans und erinnerte Tobias an Stürme, die er in Deutschland erlebt hatte. Daher entschied sich Tobias dagegen, Shania zu wecken. Er legte sich wieder hin und schlief kurz darauf wieder ein.

 

Vier Stunden später stand Tobias auf. Der Hurrikan tobte immer noch, hatte sich aber leicht abgeschwächt. Shania schlief immer noch. Tobias zog sich an und ging zum Frühstück. In gewisser Weise war er froh, dass Shania nicht dabei war, denn es bestand die Gefahr, dass sie Mary begegnen würde und diese eine unangenehme Bemerkung machen würde. Mary hatte tatsächlich Dienst, sie warf Tobias einen bitterbösen Blick zu, sagte aber nichts.

 

Heute gönnte sich Tobias ein umfangreicheres Frühstück. Er hatte wirklich Hunger. Fast hätte er in Gedanken zu den gebackenen Bohnen gegriffen, er besann sich aber noch. Stattdessen nahm er sich eine große Portion Rührei und gebratene Würstchen. Dazu aß er Maisbrot. Anschließend ging er auf die süße Abteilung über und nahm sich Erdnussbutter und Gelee. Er tat sich beides aufs Brot. Die Kombination schmeckte überraschenderweise gut, das hatte Tobias nicht erwartet.

 

Im Hintergrund hörte Tobias, dass sich Mary und der Rezeptionist stritten. Offenbar hatte sich Mary auch hier im Hotel rassistisch geäußert. Das ging natürlich gar nicht. Nach fünf Minuten warf Mary irgendetwas hin und verschwand wutentbrannt. Kurz darauf kam Shania. Das ist Timing, dachte Tobias und gab Shania einen Kuss. Sie setzte sich und sagte: „Ich habe von oben einen lauten Streit gehört. Was war dann los?“ Als Tobias gerade antworten wollte, kam der Manager des Hotels zu ihnen und erklärte: „Ich bedaure die Störung von vorhin. Das entspricht nicht der Würde unseres Hauses. Diese Dame wird nicht länger unsere Mitarbeiterin sein. Wir dulden keinen Rassismus in unserem Hotel. Darf ich Ihnen als Entschädigung einen Sekt anbieten?“

 

Das ließen sich Tobias und Shania nicht zweimal sagen. Nun war aber Tobias doch eine Erklärung schuldig, was es mit dem Streit auf sich hatte. Er sagte lediglich, dass Mary üble Dinge über dunkelhäutiger Menschen geäußert hatte. Das machte Shania stutzig. Nicht die Ausführungen von Mary, sondern die Tatsache, dass Tobias ihren Vornamen kannte, denn Namensschilder gab es in diesem Hotel nicht. In diesem Moment wurde der Sekt gebracht und so kam Tobias um eine Rechtfertigung herum, vorerst. Er war sich aber sicher, dass Shania darauf zurück kommen würde.

 

Die beiden prosteten sich zu, ebenso wie die anderen Gäste, die ebenfalls einen Sekt spendiert bekommen hatten. „Der Hurrikan ist stärker geworden. Ich glaube, ich bleibe heute im Hotel“, bemerkte Tobias. Shania entgegnete: „Ich muss gleich nach Hause. Vorsichtshalber werde ich doch meine Fenster vernageln. Vorgestern habe ich noch gesagt, dass es nicht so schlimm werden würde. Aber sicher ist sicher.“ Tobias nickte und entgegnete: „Pass auf dich auf. Im Deutschen sagen wir: Du hast ja nahe am Wasser gebaut. Das wird eigentlich im übertragenen Sinn benutzt und bedeutet etwas ganz Anderes. Aber hier meine ich es wörtlich.“

 

Shania verabschiedete sich und Tobias ging auf sein Zimmer. Angesichts der bedrohlichen Wetterlage, fand es Tobias angebracht seine Eltern und seine Freunde anzurufen. Er begann mit seiner Mutter, was ein Fehler war. Es hagelte Vorwürfe wie: „Mein Kleiner, warum meldest du dich jetzt erst?“. Zehn Minuten dauerte das an, Tobias kam kaum dazu, etwas zu sagen und zu schildern, was bei ihm los war. Dann beendete er das Gespräch, mit der Ausrede, dass sein Guthaben fast erschöpft sei. Das war gelogen, aber seine Mutter konnte das ja nicht überprüfen. Der zweite Anruf galt seinem Vater. Dieses Gespräch verlief viel angenehmer. „Junge, pass auf dich auf!“, gab sein Vater ihm auf den Weg.

 

Tobias bekam Durst und nahm sich ein Bier aus der Mini-Bar. Danach ging es ihm besser, auch wenn es nur amerikanisches war. Der nächste Anruf erfolgte bei Oliver. Auch dieser war redselig, wie immer. Er teilte mit, dass Bettina nun tatsächlich nächste Woche aus dem Krankenhaus entlassen werden würde. Sie hatte gute Fortschritte gemacht, die Ärzte waren davon überrascht. Oliver wollte dann noch wissen, was aus seiner Bewerbung geworden war. Das war ein gutes Argument dafür, den Anruf zu beenden, und als nächstes Siegmund anzurufen. Dieser teilte mit, dass jetzt die Bewerbungsphase abgeschlossen sei, und dass die Entscheidung in Kürze fallen würde. Abgeschlossen war auch die Mitarbeiteraktion um den Gorator. Dieser Name hatte sich tatsächlich durchgesetzt. Die Produktion konnte starten, Konkretes sollte auf der Konferenz der Geschäftsführung am kommenden Dienstag entschieden werden.

 

Allmählich wurde der Akku des Handys schwach und musste aufgeladen werden. Da es fast Mittag war, begab sich Tobias in eines der Restaurants und genoss das Vier-Gänge-Menü, mitsamt einigen Bieren. Nach zwei Stunden betrat er wieder sein Zimmer. Das Handy zeigte ihm vier verpasste Anrufe an, allesamt von Karola. „Ich hätte dich sowieso gleich angerufen“, murmelte Tobias und trennte das Handy vom Ladekabel, ganz aufgeladen war es noch nicht.

 

Karola ging sofort ran und zeterte ohne Ende. Die Vorwürfe „Du denkst gar nicht mehr an mich“ und „Du treibst dich nur noch mit Shania herum“ hätte Tobias teilweise entkräften können, denn es hatte ja auch noch Sarah gegeben. Doch davon musste Karola nun wirklich nichts wissen. Sie berichtete, dass sie sich sehr gut mit ihrem neuen Chef verstehen würde und am Dienstag mit ihm essen gehen wollte. Das ließ Tobias kalt, wovon Karola spürbar enttäuscht war.

 

Der letzte Anruf ging an Stefan. Der hatte an seinem Computer den Verlauf der Geschichte in der vorherigen Welt abgerufen. „Das sah ziemlich übel aus für New Orleans. Nicht so sehr wegen des Hurrikans selbst, sondern weil die Wände zweier Kanäle brachen, worauf das Wasser des Lake Pontchartrain die Stadt fast vollständig überschwemmte. Es gab große Zerstörungen. Aber zum Einen geschah das erst am 29. August 2005 und zum Zweiten wurde in dieser Welt ja von Al Gore der Schutzdeich eingeweiht, der in Welt siebenundsiebzig nicht existierte. Hoffen wir mal, dass alle gut geht. Zur Not kann ich dich jederzeit herausholen. Du hast ja denen Signalgeber!“ „Das beruhigt mich ungemein, Stefan. Weißt du, was mit Shania in der alten Welt geschah?“ „Aber denk doch mal logisch, Tobias. In Welt siebenundsiebzig hat sie Mexiko-City nie verlassen, weil Ihr Euch da nie begegnet seid.“ „Ach, ja, ich vergesse immer, die temporalen Zusammenhänge.“

 

Mit einem mulmigen Gefühl beendete Tobias das Telefonat und begab sich in die Hotelbar. Den ganzen Ärger und die Aufregung musste er jetzt herunterspülen. Bier reichte da nicht, er brauchte jetzt einen Whisky. Er orderte einen Dalwhinnie, einen milden Malt. Tobias wollte sich langsam steigern bis zu den schweren, torfigen Sorten.

 

Zwei Hocker weiter saß ein Gast aus der Schweiz, der ein intensives Gespräch mit dem Barkeeper führte. Es ging augenscheinlich um den Streit von heute morgen. Tobias hörte interessiert zu. Als der Barkeeper sich einem anderen Gast zuwandte, der etwas bestellen wollte, sprach Tobias den Schweizer an, auf Schweizerdeutsch, dank seines Übersetzungsprogramms. Der Mann, der sich als Urs Nägli vorstellte, war sichtlich überrascht, einen Landsmann vor sich zu haben.

 

Tobias erklärte, dass er eine Zeitlang in Luzern gelebt hätte, aber Deutscher sei. Herr Nägli sprach seine Bewunderung aus, ob des Sprachtalents von Tobias. „Ich mag es nämlich nicht, wenn Deutsche versuchen Schweizerdeutsch zu sprechen, aber es nicht können. Sie aber sprechen perfekt!“, stellte er fest. Tobias erklärte, dass es ihm leicht falle, Sprachen zu lernen. Als Herr Nägli wissen wollte, ob Tobias auch Rätoromanisch könne, nickte er und trug mehrere Sätze in dieser Sprache hervor.

 

Herr Nägli war jetzt noch mehr begeistert und spendierte Tobias noch einen Whisky. „Damit sollten Sie im Fernsehen auftreten. Bei Wetten, dass zum Beispiel“, sagte er und prostete Tobias zu. Fast hätte Tobias wieder Thomas Gottschalk erwähnt, aber diesmal riss er sich zusammen, zumal er gar nicht wusste, wer das jetzt moderierte. Stattdessen lenkte er vom Thema ab und berichtete von seiner Firma und ihren Produkten.

 

Der Schweizer wurde hellhörig und zeigte sich sehr interessiert, vor allem von dem Gorator. „Das ist einfach genial. Ich bin davon überzeugt, dass das ein Riesenerfolg wird. Haben Sie denn schon eine Produktionsstätte?“, fragte er. Tobias antwortete: „Wir haben da ein Angebot aus Buxtehude. Die Halle war eigentlich viel zu groß für uns, aber mit der Produktion des Gorators würde das passen. Das Einzige, was uns noch fehlt, ist eine Firma für den mechanischen Teil!“

 

Herr Nägli rief begeistert: „Da können wir doch ins Geschäft kommen. Meine Firma stellt unter anderem Fahrräder her. Wir haben ein Werk in Deutschland, das nicht mehr rentabel ist. Das wollten wir schließen. Wir könnten die Maschinen nach Buxtehude bringen und hätten auch noch gleich das nötige Know-How und das Personal dafür. Ob die Leute nun Fahrräder montieren oder Ihre Gehhilfe, das ist doch fast egal.“

 

Jetzt war es Tobias, der begeistert war. „Ich sage immer: Es gibt keine Zufälle, sondern es ist alles vorbestimmt. Wo wäre dann Ihre Fabrik?“, wollte er wissen. „In Norderstedt. Das ist in der Nähe von Hamburg“, kam die Antwort. „Na, das passt doch hervorragend. Buxtehude ist auch vor den Toren Hamburgs!“

 

Die beiden gönnten sich noch einige Drinks, bis zum späten Abend. Sturzbetrunken und überglücklich begab sich Tobias danach in sein Zimmer, ohne zu registrieren, was für ein Unwetter draußen tobte.

 

 

Kapitel 41

 

Montag, der 29. August 2005

 

Tobias erwachte gegen vier Uhr, aber diesmal nicht von dem Hurrikan, sondern von einem schrillen Alarmton, der von dem Lautsprecher in seinem Zimmer kam. Dem schrecklichen Ton folgte eine Durchsage des Hotelmanagers. „Meine Damen und Herren. Ich muss leider ihre Nachtruhe stören. Es wurde Katastrophenalarm ausgelöst. Bitte verlassen Sie umgehend Ihre Zimmer und begeben Sie sich in die Lobby. Dort erfahren Sie alles Weitere!“

 

Tobias zog sich blitzschnell an und begab sich nach unten. Tobias musste die Treppe nehmen, da die Fahrstühle abgestellt waren. Die Leute drängelten, jeder wollte sich so schnell wie möglich in Sicherheit bringen. Unten in der großen Empfangshalle war eine große Unruhe, es wurde intensiv diskutiert. Das war so schlimm, dass Tobias nichts verstand, sein Übersetzungsprogramm versagte, weil es überfordert war. Als niemand mehr hinzukam, trat der Hotelmanager an ein Pult und begann eine Ansprache. Augenblicklich wurde es still, die Leute verstummten. Jetzt konnte Tobias wieder alles verstehen.

 

Der Manager erklärte. „Guten Morgen, meine Damen und Herren. Wir stören Ihre Nachtruhe äußerst ungern, aber es ist ernst. Es ist sogar sehr ernst. Wie Sie sicherlich bemerkt haben, hat sich die Wetterlage extrem verschärft. Wir erwägen eine Evakuierung des Hotels. Vorerst begeben Sie sich bitte in unsere Kellerräume. Dort sind Sie in Sicherheit. Selbstverständlich werden Sie dort mit Speisen und Getränken versorgt, kostenlos versteht sich. Hat jemand noch Fragen dazu?“

 

Tobias meldete sich und fragte: „Vor dem Hurrikan mögen wir im Keller sicher sein. Aber was ist mit dem Hochwasser?“ Er hatte sich an die Worte von Stefan erinnert. Unruhe erfasste die anderen Gäste. Der Hotelmanager räusperte sich und antwortete dann: „Nun, ich kann Sie natürlich nicht zwingen, sich in unseren Keller zu begeben. Es ist aber ausdrücklich zu empfehlen. Sie können auch gerne das Hotel verlassen. In Ihre Zimmer dürfen Sie aber auf keinen Fall.“

 

Tobias brauchte nicht lange zu überlegen. Er wollte auf keinen Fall in den Keller. Nicht nur aus Sorgen für sich selbst, sondern auch wegen Shania. In ihrem Wohnhaus, das so nahe am Wasser stand, war sie in höchster Gefahr. Daher beschloss er, sie in Sicherheit zu bringen. Wo diese Sicherheit war, wusste er derzeit noch nicht. Aber das würde er schon herausbekommen, notfalls mit Hilfe von Stefan.

 

Als Tobias gerade das Hotel verlassen wollte, wurde er angesprochen. Es war der Schweizer: „Ich habe gehört, was du gesagt hat, Tobias. Das gab mir zu denken. Darf ich mich dir anschließen?“ „Selbstverständlich, Urs. Du kannst gerne mitkommen. Zuerst muss ich aber meine Freundin retten. Sie wohnt in einem unsicherem Gebiet, im doppelten Sinne. Wir werden Probleme bekommen, ein Taxi dahin zu bekommen. Das war letztes Mal schon schwierig. Ich musste den Fahrer überreden, dort hin zu fahren. Wir müssten wohl oder übel zu Fuß gehen.“ Urs nickte und fügte sich seinem Schicksal. So machten sich die beiden auf den Weg nach Shania.

 

„Sie gehen in die falsche Richtung. Da unten wird es gefährlich!“, rief ihnen unterwegs eine junge Frau zu, die gerade dabei war, ein Fenster zu vernageln. Tobias antwortete: „Das weiß ich. Aber wir wollen jemand retten!“ Die Frau murmelte etwas Unverständliches und setzte dann ihre Arbeit fort.

 

Weitere Leute kamen ihnen entgegen. Manche hatten große Säcke geschultert, offensichtlich mit ihrem Eigentum. Andere hatten ihren Besitz auf einem Handkarren geladen, den sie hinter sich herzogen. Die Menschen schauten verzweifelt. „Es scheint, dass eine Warnung herausgegeben wurde“, bemerkte Tobias. Urs entgegnete: „Ja, deswegen wollte man uns auch im Hotel in die Kellerräume verbringen. Wie weit ist es denn noch bis zu deiner Freundin, Tobi?“

 

Tobias überlegte und antwortete dann: „Schwer zu sagen. Ich bin die Strecke noch nie zu Fuß gegangen. In der Eile habe ich meinen Stadtplan auch nicht mitgenommen. Ich bin jetzt einfach so gegangen, wie das Taxi gefahren ist. Ich schätze, fünfzehn Minuten brauchen wir mindestens noch!“

 

Nach etwa acht Minuten, also auf der halben Reststrecke kam ihnen Sarah entgegen. Sie wirkte abgehetzt und panisch. Ob Absicht oder nicht: Sarah reagierte nicht auf Tobias. Dieser tat auch so, als hätte er sie nicht erkannt. Er hatte jetzt auch keine Lust auf eine Plauderei mit ihr, das war wirklich der falsche Ort und die falsche Zeit dafür. Auch gegenüber Urs hätte Erklärungsnot bestanden.

 

Dann erreichten sie das Haus von Shania. Sie wollte gerade weggehen, bepackt mit einer Reisetasche und einem Rucksack. Als sie Tobias sah, fiel sie ihm umgehend um den Hals und küsste ihn. „Dich schickt der Himmel“, sagte sie. Tobias antwortete: „Das nun nicht, aber, sagen wir mal, die Vorsehung. Shania, du musst hier umgehend weg!“ „Das ist klar. Aber wohin sollen wir? Wo ist es sicher?“, fragte sie. Das war eine gute Frage. Tobias wusste zwar, dass er seine Freundin hier weg bringen musste, aber über das Ziel hatte er sich keine Gedanken gemacht. Daher drückte er roten Knopf seines Signalgebers. Sogleich blieb die Zeit stehen und eine Verbindung zu Stefan wurde aufgebaut, nachdem Tobias die schwarze Taste drückte.

 

Stefan war hocherfreut, dass Tobias sich meldete und sagte: „Ich habe dich beobachtet. Es ist schon einmal sehr gut, dass du nicht im Hotel geblieben bist. Dort gab es nämlich in der vorherigen Welt große Schäden. Jetzt zu der Frage, wohin Ihr fliehen könnt. Es hätte sich der Superdome angeboten. Der wurde aber in Welt siebenundsiebzig auch überflutet, weil die Wände zweier Kanäle brachen und das Wasser des Lake Portchartrain die Stadt fast vollständig überflutete. Unterspülte Gebäude brachen zusammen und das Wasser, vermischt mit Schutt und Müll, wurde auch in den Dome gespült. In dieser Welt gibt es diesen Schutzdeich, den Al Gore eingeweiht hat. Darüber haben wir ja schon gesprochen. Ich bin nicht hundertprozentig sicher, ob der hält. Ihr solltet sicherheitshalber zum Café du Monde gehen. Das wurde kaum beschädigt.“

 

Tobias bedankte sich für diesen Rat und ließ die Zeit weiterlaufen. Er sagte zu Shania: „Lasst uns zum Café du Monde gehen. Übrigens: Ich habe Euch noch gar nicht vorgestellt, das ist Urs, ein Hotelgast aus der Schweiz.“ Urs und Shania gaben sich die Hand. Der Schweizer war erneut beeindruckt, dass Tobias ein solches Sprachtalent hatte. Er selbst sprach nur wenig Spanisch, aber Tobias war offenbar perfekt darin. Stefan war zwar gut informiert, wusste aber nicht, dass das Café in dieser Welt am 28. August gegen Mitternacht geschlossen wurde, als der Hurrikan New Orleans erreicht hatte. In der vorangegangenen Welt war das sogar noch einen Tag eher passiert. So begaben sich die drei ahnungslos zum Café du Monde.

 

Als sie dort ankamen, sahen sie schon die zugenagelten Fenster und ein Hinweisschild „Bis auf Weiteres geschlossen“. Tobias war ziemlich verdattert. „Was machen wir jetzt?“, wollte Shania wissen. Tobias zuckte mit den Schultern. Er war wirklich ratlos. Urs bemühte sich Spanisch zu sprechen und entgegnete: „Wir könnten versuchen, per Anhalter die Stadt zu verlassen.“ Shania schüttelte mit dem Kopf und antwortete: „Keine Chance. Diejenigen, die ein Auto haben, sind längst fort oder ihr Wagen ist voll. Das können wir vergessen!“

 

Tobias überlegte, erneut Stefan zu fragen. Er war schon drauf und dran, die Taste seines Signalgebers zu drücken, als sie von jemandem angesprochen wurden. Es war der Manager des Cafés. „Ich habe gehört, was sie gerade gesagt haben. Es gibt da eine Möglichkeit, wenn Sie wirklich nicht mehr wegkommen und nirgendwo hinkönnen. Wir haben hier einen Lagerraum, da können sie unterkommen. Er ist gut belüftet, und Toiletten gibt es da auch“, sagte er auf Spanisch und dann noch einmal auf Englisch, da er merkte, dass Urs nicht alles verstanden hatte.

 

Tobias hatte bemerkt, dass ihn der Manager wiedererkannt hatte. Er war auch froh, dass dieser ihm nicht auf den Vorfall von vorgestern ansprach. Das hätte peinlich gegenüber Shania werden können. So begaben sie sich in den Lagerraum. Gemütlich war es dort gerade nicht, aber der Aufenthalt sollte ja auch nicht für eine allzu lange Zeit sein. „Ich habe Proviant dabei“, sagte Shania. Daran hatten Tobias und Urs nicht gedacht. Noch hatten sie weder Hunger noch Durst, aber das konnte sich schnell ändern.

 

In Deutschland verfolgten die Freunde und die Familienangehörigen von Tobias die Geschehnisse in New Orleans mit großer Sorge. In den Abendnachrichten der Fernsehsender wurde ausführlich darüber berichtet, es gab auch Sondersendungen. Selbst Karola, die eigentlich genervt von Tobias war und am nächsten Tag mit ihrem Chef essen gehen wollte, dachte unentwegt an Tobias. Da das Handynetz in New Orleans überlastet war, und sie ihn deswegen nicht erreichen konnte, wusste sie auch nicht, wie es ihm ging. Als sie Herrn Krause mitteilte, dass sie vorerst nicht mit ihm ausgehen wollte, war dieser sichtlich verärgert.

 

Stefan hatte Tobias durchgehend beobachtet und war froh, dass sich eine Lösung gefunden hatte. So hatte er das allerdings nicht erwartet. Er lehnte sich entspannt zurück und war gespannt, was weiter geschehen würde.

 

 

 

Kapitel 42

 

Dienstag, der 30. August 2005

 

Die Nacht war unruhig. An Schlaf war kaum zu denken, weil Urs sich als extremer Schnarcher entpuppte. Während der Schweizer selig schlummerte, war das für Tobias und Shania kaum auszuhalten. Auch Rütteln und Anstupsen half nichts. Gegen vier Uhr morgens schlief Tobias schließlich aus Übermüdung ein und fiel in einen traumlosen Schlaf. Shania hingegen war immer noch wach und war reichlich genervt. So hatte sie sich das nicht vorgestellt.

Um sieben Uhr hatte Urs ausgeschlafen, gähnte ausgiebig und erhob sich. Kurzzeitig war es desorientiert, dann wusste er wieder, wo er war und was geschehen war. „Gibt es Frühstück?“ fragte er in Schweizerdeutsch. Tobias übersetzte das für Shania. Diese antwortete: „Nun, so wie im Hotel ist es natürlich nicht, aber ich habe zumindest Brot, Wurst und Käse. Auf Butter oder Margarine müsst Ihr aber verzichten. Kaffee gibt es ja hier, wobei mir Tobias gesagt hat, dass das Chicorée-Kaffee ist. Aber besser als gar nichts.“ Urs war zufrieden und ließ sich das Frühstück schmecken. Tobias hatte keinen großen Appetit. Am liebsten hätte er jetzt einen starken, schwarzen Bohnenkaffee gehabt, aber den gab es hier nicht.

Kurz vor zwölf Uhr klopfte es an der Tür des Lagerraums. Der Manager des Cafés erkundigte sich nach dem Befinden seiner Gäste. Außerdem teilte er mit, dass der Hurrikan nachgelassen hatte und dass Entwarnung gegeben wurde. Wer wollte, konnte in seiner Unterkünfte zurückkehren. Das freute uns sehr. Doch dann erzählte der Manager, dass doch ein paar Häuser zerstört wurden, hauptsächlich in der Wohngegend, wo Shania wohnte.

Eiligst brachen Tobias, Shania und Urs auf, um zu Shanias Haus zu gelangen. Sie geriet immer mehr in Panik, das war kein Wunder. Der Weg schien unendlich lang. Unterwegs sahen die drei einige zerstörte Bauten. Shania wurde immer aufgebrachter. Sie begann zu beten. Bislang hatten sie noch niemals geäußert, dass sie gläubig war.

Es waren nur noch wenige Meter bis zu ihrem Wohnhaus. Kurz davor kam eine aufgebrachte Nachbarin von Shania entgegen. Sie war verheult und murmelte etwas Unverständliches. Dann sah Shania das, was geschehen war: Ihr Wohnhaus und mehrere Nachbarhäuser waren eingestürzt. Jetzt brach Shania in Tränen aus. Es war ein riesiger Schock. Tobias nahm sie in die Arme und drückte sie.

„Warum nur? Warum nur?“, rief Shania immer wieder. Shania konnte sich gar nicht beruhigen. Doch dann sagte sie mehrfach zu Tobias: „Du hast mein Leben gerettet!“ „Du kommst jetzt mit mir mit!“, entschied Tobias und ergänzte: „Im Hotel werde ich das schon regeln.“ Urs warf ein: „Hoffen wir mal, dass es noch steht.“ Tobias warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und antwortete: „Das war jetzt nicht besonders einfühlsam, Urs.“ Urs entschuldigte sich. Zum Glück hatte das Shania nicht mitbekommen, weil sie das nicht verstanden hatte. Sie machten sich auf den Weg zum Hotel und sahen weitere zerstörte Häuser. Zum Teil waren das auch höhere Gebäude und nicht nur solche, wie das Haus in dem Shania gewohnt hatte.

Als Tobias, Shania und Urs das Hotel erreichten, hatte es gerade wieder geöffnet. In der Lobby waren noch zahlreiche Gäste, die eifrig miteinander diskutierten. Tobias ließ sich seinen Schlüssel geben und begab sich mit Shania auf sein Zimmer, Urs ging schnurstracks in die Bar. Shania, die noch immer todmüde war, legte sich gleich ins Bett und schlief sofort ein.

Tobias war nicht so müde, dass er sich dazulegen wollte und fuhr stattdessen wieder nach unten, um ebenfalls in die Bar zu gehen. Urs hatte ein großes Bier vor sich und schien beste Laune zu haben. Tobias setzte sich zu ihm, orderte auch ein Bier und sagte zu Urs: „Das ist ja alles noch einmal gut gegangen, außer für Shania.“ Urs nickte und wollte gerade antworten, als das Handy von Tobias klingelte. Offenbar funktionierte das Netz wieder. Es war die Mutter von Tobias, die sich nach seinem Befinden erkundigte. Gleich darauf riefen sein Vater und danach Siegmund an. Tobias kam gar nicht dazu, sein Bier zu trinken. Von Siegmund hatte Tobias erfahren, dass die Konferenz der Geschäftsführung an diesem Tag das O.K. zur Produktion des Gorators gegeben hatte. Siegmund war begeistert, dass sich mit der Firma von Urs auch das Problem der mechanischen Fertigung gelöst hatte.

Tobias hatte jetzt seine Ruhe und konnte mit Urs plaudern. Doch nur recht kurz, dann zehn Minuten später rief Karola an. Sie war erleichtert, dass alles glimpflich ausgegangen war. Leider rief Urs dazwischen: „Aber das Haus von Shania ist eingestürzt!“. Das verstand Karola, denn der Einwurf war ziemlich laut und dazu auf hochdeutsch. Augenblicklich schlug Karolas Laune um und sie zeterte ohne Ende. Tobias hielt das Handy von sich weg, um dem Geschimpfe zu entgehen.

Nach Beendigung des Telefonats erklärte Tobias das Vorhandensein einer weiteren Freundin, was Urs sehr erheiterte. „Wer weiß, wozu das gut war. Zufälle gibt es nicht, es ist alles vorbestimmt im Leben“, sagte Tobias. Den Spruch kannte Urs nun schon von Tobias. Er lachte und klopfte Tobias auf die Schultern. „Es ist wirklich toll, wie du dein Leben meisterst. Du hat mich aber neugierig gemacht. Wie sieht deine andere Freundin denn aus?“ Tobias zeigte die Fotos von Karola, die auf seinem Handy gespeichert waren. Urs pfiff anerkennend und bemerkte danach: „Da wüsste ich auch nicht so recht, wie ich mich entscheiden sollte!“

Die nächste Bierrunde kam, als das Handy erneut klingelte. Diesmal war es Oliver. Er plauderte über Bettina, allerdings gab es da keine Neuigkeiten. Sie hatte sich allerdings auch Sorgen um Tobias gemacht, nachdem sie die Nachrichten über New Orleans verfolgt hatte. Nun konnte sie beruhigt werden.

Weitere Anrufe erfolgten nicht. So konnten sich Tobias und Urs hemmungslos dem Bier und ihren Gesprächen widmen. Gegen Mittag bekam Tobias Hunger, doch die Küchen der Restaurants im Hotel hatten noch geschlossen, und auch in der näheren Umgebung waren noch alle Imbisse und Gaststätten zu. Daher blieb es bei der Aufnahme von Flüssigkeiten.

Um 15 Uhr verabschiedete sich Tobias und ging in sein Zimmer. Shania schlief noch immer. Tobias legte sich zu ihr, für ein kurzes Nickerchen. Drei Stunden später erwachten beide, ausgeruht aber hungrig. Tobias telefonierte kurz mit der Rezeption und erfuhr dort, dass zumindest eines der Restaurants wieder geöffnet hatte.

Die Küche arbeitete jedoch noch nicht im vollen Umfang, so dass es dort kein komplettes Menü gab. Lediglich ein einfacher Salat und drei verschiedene Fleischgerichte wurden angeboten. Tobias und Shania wählten jeweils ein Rumpsteak mit Pommes Frites.

Unterdessen hatte Karola in Hannover auf das für sie unerfreuliche Telefonat mit Tobias reagiert. Sie war jetzt entschlossen, die Bezeichnung zu ihm endgültig zu beenden. Ihre Freundin und Kollegin Melanie hatte dringend dazu geraten und sie außerdem dazu ermuntert, sich „den Krause warm zu halten“. Daher sagte sie ihm, dass sie seiner Einladung zu dem Essen, die sie schon ausgeschlagen hatte, doch anzunehmen. Darüber war dieser höchst erfreut.

Das gemeinsame Dinner war im Block House am Aegidientorplatz, also ganz in der Nähe von Karolas Wohnung. Sie hatte das Lokal nicht ohne Hintergedanken ausgewählt. Außerdem war das Oscar’s auch nicht weit. Herr Krause konnte nicht ahnen, dass Karola schon oft in dieser Cocktailbar war. Heute würde sie dort aber mit Sicherheit nicht auf Tobias treffen.

„Ich heiße übrigens Manfred und wir können Du sagen“, sagte Herr Krause, als sie ihr Hauptgericht verspeist hatte, und auf den Nachtisch warteten. Darauf hatte Karola gehofft. Sie antwortete: „Und ich heiße Karola, aber das weißt du ja!“. Sie lächelte. Es lief alles so, wie sie es sich erhofft hatte. Auch für Manfred war dieser Abend äußerst angenehm. Er hoffte nur, dass seine Frau nichts davon erfahren würde.

 

Kapitel 43

 

Mittwoch, der 31. August 2005

 

Tobias erwachte ausgeruht. Endlich wieder eine Nacht, in der gut schlafen konnte. Shania war noch nicht wach. Er küsste sie auf die Stirn, wovon sie erwachte. Es war kurz vor neun, Zeit zum Frühstück. Bevor Tobias mit Shania in den Frühstücksraum ging, begab er sich zur Rezeption. Er musste unbedingt klären, dass Shania bis zu seiner Abreise bei ihm wohnen würde, um Ärger zu vermeiden. Eingetragen hatte sie sich ja schon, und namentlich war sie dem Hotel somit auch schon bekannt. Das war gar kein Problem. Mr. Smith kniff bei der Vorsprache ein Auge zu. Er hatte die Sachlage klar erkannt, war aber so diskret, dass er nichts dazu sagte.

Beim Frühstück sprach Tobias Shania an: „Was planst du jetzt, wo deine Wohnung verloren hast?“ Shania druckste herum und antwortete dann: „Das ist wirklich ein Problem. Ich war froh, hier so eine preiswerte Unterkunft gefunden zu haben. Das war wirklich nicht einfach. Vielleicht gibt es Hilfe vom Staat, aber das wird lange dauern. Außerdem werden die ihre eigenen Leute bevorzugen. Wir Mexikaner kommen da erst viel später dran. Das ist wirklich ein verdammter Mist. Mein Bruder Miguel hat auch Probleme in Mexiko, davon hatte ich dir erzählt. Es war geplant, dass er auch hier her kommt und zunächst bei mir wohnt. Das können wir jetzt vergessen. Er wäre auch schon längst da, wenn der Hurrikan nicht gewesen wäre.“

Tobias nickte. Er hakte nach: „Wir finden schon eine Lösung. Aber dein Bruder sollte unbedingt herkommen.“ Shania strahlte, ihre Freude war echt, klammheimlich wünschte sie sich, dass Tobias sie nach Deutschland mitnahm. Sie traute sich jedoch nicht, danach zu fragen.

Als hätte Tobias ihre Gedanken gelesen, antwortete er: „Ich kenne zwar nicht die Einreisebestimmungen für Mexikaner in Deutschland, aber so kompliziert wird das nicht sein. Ich habe demnächst ein großes Haus, da ist denn genug Platz für uns beide und für Miguel.“ Shania strahlte und fiel Tobias um den Hals, sie dankte Gott für diese glückliche Fügung. „Ich werde meinen Bruder nachher gleich mal anrufen. Jetzt schläft er noch. Vor elf Uhr steht er nie auf“, erklärte Shania.

Tobias plante auch ein Telefonat, mit Siegmund. Er wollte ihm die neuesten Entwicklungen mitteilen und zugleich zu eventuellen Problematiken bezüglich Aufenthaltserlaubnissen befragen. Vermutlich wäre Siegmund nicht begeistert davon, aber das war Tobias egal. Das Gespräch verlief wie erwartet. Siegmund hatte keinerlei Verständnis dafür. Er sagte aber auch: „Mach doch, was du willst. Ich bin nicht deine Mutter!“ Er erinnerte auch daran, dass die Firma viel Geld dafür ausgegeben hatte, dass Shania in die U. S. A. flüchten konnte. Zu den Aufenthaltserlaubnissen in Deutschland wollte oder konnte er nichts sagen. Tobias hatte den Eindruck, dass das weniger am Können als am Wollen lag. Leicht verärgert ging Tobias in die Bar. Er war der einzige Gast dort, selbst Urs ließ sich nicht blicken.

Um kurz vor zwölf erreichte Shania ihren Bruder. Dieser war höchst erfreut und sagte zu, schon am übernächsten Tag nach New Orleans zu kommen. Unterdessen hatte Karola an diesem Morgen lange geschlafen, sie hatte frei. Manfred war kurz nach Mitternacht gegangen. Sie hatte einen wundervollen Abend mit ihm verbracht, der – wie von ihr geplant und erhofft – in ihrer Wohnung endete. Manfred erwies sich als grandioser Liebhaber, das hatte Karola nicht unbedingt erwartet, immerhin war er fast Fünfzig. Sie wusste, dass er verheiratet war. Das hatte ihr Melanie schon längst gesteckt. Es war ihr aber egal.

Manfred traf leicht ermattet in seinem Haus in Wennigsen am Deister ein. Seine Frau Katja war noch wach und war überrascht, dass ihr Mann so spät nach Hause kam. Katja merkte sofort, dass er nach einer anderen Frau roch. Deren Parfüm war sehr intensiv und sie hatte rote Haare, denn ein solches Haar hatte Katja an Manfreds Anzug gefunden. Katja musste unbedingt Nachforschungen erstellen. Sie vermutete, dass eine von Manfreds Bardamen dahinter steckte. Daher beschloss sie, das zu überprüfen.

Mit einer Sonnenbrille und einer blonden Perücke betrat sie gegen Mittag das Café. Sie wusste, dass ihr Mann noch nicht da war. Zwei Damen bedienten. Ob eine von ihnen diejenige war, die sie suchte? Leider hatte Manfred nicht im Schlaf gesprochen. Wenn er den Namen genannt hätte, wäre das einfacher gewesen.

Katja setzte sich an eine der Tische im Innenbereich. Keine der beiden Bedienungen hatte rote Haare, aber das hieß ja noch nichts. Als eine von den beiden Frauen die Bestellung von Katja aufnahm, bemerkte diese, dass das Parfüm definitiv ein anderes war.

Nach fünf Minuten kam der Kaffee, den sie bestellt hatte. Er wurde von der anderen Frau gebracht, die roch auch nicht so, wie Manfred gestern roch. Katja wollte schon resignieren, doch dann unterhielten sich die beiden Frauen. Die eine sagte: „Na, Karola hatte ja gestern wohl einen schönen Abend mit dem Chef!“ Die andere prustete und entgegnete: „Bestimmt. Die haben sich ja gesucht und gefunden!“

Jetzt wusste Katja Bescheid. Karola hieß also diese Schlampe. Nun musste sie nur noch herausfinden, wo diese wohnte, um ihr auf die Bude zu rücken. Gerade, als Katja überlegte, was sie tun könnte, betrat Manfred das Café. Er erkannte seine Frau sofort, trotz ihrer Verkleidung. Beide waren ziemlich überrascht. Manfred von der Tatsache, seine Frau hier überhaupt vorzufinden und Katja davon, dass ihr Mann so früh hier eintraf. Normalerweise ging er mittwochs erst immer um 15 Uhr in sein Geschäft.

„Was machst du denn hier?“, riefen beide fast gleichzeitig. Melanie und Karin, die an der Theke standen, schreckten auf. Auch für die beiden war es eine Überraschung, dass ihr Chef um diese Zeit auftauchte und waren heilfroh, dass er ihre vorherige Unterhaltung nicht mitbekommen hatte. Katja und Manfred begannen einen Streit. Der eskalierte so sehr, dass sich die beiden in die Küche zurückzogen.

„Das ist offenbar die Frau vom Chef“, stellte Melanie fest. Karin antwortete mit „Oh, oh“. Der lautstarke Dialog war nicht zu überhören. Nach fünf Minuten verließ Katja wutentbrannt das Lokal, ohne zu bezahlen. Kurz darauf kam Manfred aus der Küche und sagte trocken: „Den Kaffee von meiner Frau übernehme ich. Und jetzt bitte keine weiteren Kommentare dazu!“ Melanie und Karin nahmen das hin, Melanie war aber entschlossen, so bald wie möglich Karola anzurufen, natürlich erst, wenn der Chef nicht da war.

Karola stand kurz nach eins auf und frühstückte ausgiebig. Danach wollte sie Manfred anrufen, stellte aber fest, dass der Akku ihres Handys erschöpft war und schloss das Gerät daher an das Ladekabel an. Dadurch entging ihr die SMS, die Manfred zuvor geschickt hatte. Zwei Stunden später war das Gerät aufgeladen und Karola konnte die Nachricht lesen. „Ruf mich bitte an. Es ist dringend. Manfred.“

Das tat Karola dann auch, nichtsahnend. Manfred war aufgeregt und teilte ihr mit, dass seine Frau etwas herausgefunden hätte. „Wie konnte das passieren?“, wollte Karola wissen. „Keine Ahnung, keine Ahnung“, antwortete Manfred. In diesem Moment fiel ihm ein rotes Haar auf seinem Anzug auf, dass offensichtlich von Karola stammt. Ihm kam eine leise Ahnung. Er verfluchte sich selbst dafür, dass er diesen nicht gründlich abgebürstet hatte.

„Wie auch immer, Karola. Wir müssen jetzt vorsichtig sein. Ich habe keine Lust, dass das noch weiter eskaliert. Ich hoffe, du verstehst das.“ Karola schluckte und entgegnete dann: „Was bedeutet das konkret, Manfred?“ „Nun, das weiß ich selbst noch nicht. Mir gefällt es ja auch nicht. So ein Mist.“

 

Kapitel 44

Donnerstag, der 01. September 2005

 

Tobias ahnte von alldem nichts, es wäre ihm vermutlich auch egal gewesen. Noch eine Woche sollte er in New Orleans verblieben. In den Nachrichten hatten sie gemeldet, dass sich die Flugpläne allmählich normalisierten. Bis zum geplanten Rückflug am 08. September wird sich alles wieder eingerenkt haben, so hoffte Tobias. So eine Dramatik wie bei seinem Flug von Mexiko-City nach Frankfurt würde es wohl nicht mehr geben, Proteste gegen Al Gore hatten sich erledigt. Dieser hatte am Vorabend eine bemerkenswerte Ansprache im Fernsehen gehalten und sich bei den Helfern in den Katastrophengebieten bedankt und in diesem Zusammenhang abermals auf den Schutzdeich in New Orleans hingewiesen.

Shania gesellte sich gegen 9.30 Uhr zu Tobias, der ausnahmsweise ausgiebig gefrühstückt hatte. Sie machte einen relativ entspannten Eindruck. An den vergangenen Ereignissen war ohnehin nichts mehr zu ändern. Die Philosophie von Tobias, dass es keine Zufälle gab, war wohl doch nicht so abwegig.

Sie nahm sich einen Orangensaft und sagte zu Tobias: „Ich habe darüber nachgedacht, was du immer sagst, wegen der Zufälle und der Vorbestimmtheit. So verkehrt ist das gar nicht. Vielleicht war das wirklich so geplant, dass wir uns in Mexiko getroffen haben und zusammen fanden. Und das mein Haus eingestürzt ist, sollte auch so sein. Glaubst du, dass das Gott alles so vorgesehen hat?“

Tobias musste überlegen. Dann antwortete er: „Nun, ich bin überzeugt davon, dass es ein höheres Wesen gibt, das all unsere Schritte lenkt. Ob dieses Wesen nun Gott, Allah, Buddha oder wie auch heißt, kann niemand mit Bestimmtheit sagen, solange er lebt. Auf jeden Fall, bin ich niemand, der das, was in der Bibel steht wortwörtlich nimmt. Da sind doch einige sehr merkwürdige, unglaubliche Geschichten, zum Beispiel die Sache mit Noah und der Arche. Das ist doch völlig absurd!“ Shania nickte und entgegnete dann: „So ähnlich sehe ich das auch. Es ist auch schlimm, dass sich Menschen aus religiösen Gründen bekämpfen oder ermorden. Das will kein Gott oder ein höheres Wesen, wie du es nennst.“ Tobias beschloss, nachher Stefan zu fragen, was aus den Religionen im 25. Jahrhundert geworden war. Immerhin gab es da ja keine Kriege mehr, so hieß es in dem Video. Aber gab es noch einen Papst? Das interessierte Tobias wirklich.

„Wie wäre es, wenn wir nach dem Frühstück einen kleinen Spaziergang machen würden, um auf andere Gedanken zu kommen?“, schlug Tobias vor. Shania nickte und entgegnete: „Eine gute Idee, Tobi! Die Museen haben ja noch geschlossen und auch andere Sehenswürdigkeiten sind noch nicht wieder zugänglich.“

Gerade als Tobias und Shania aufbrechen wollten, am Urs hinzu und setzte sich – ohne zu fragen – zu ihnen. „Wir wollten spazieren gehen, Urs. Magst du mitkommen?“, fragte Tobias. Urs antwortete: „Gerne. Aber vorher esse ich noch eine Kleinigkeit. Ist das in Ordnung?“ Das war kein Problem für die beiden, allerdings war die „Kleinigkeit“ doch recht üppig. Urs hatte einen gesunden Appetit. Nach einer halben Stunde war er satt und zufrieden.

Draußen war es wieder schön, der Himmel war blau und die Sonne strahlte. Kaum ein Windhauch war zu spüren. „Nicht zu glauben, dass das Wetter jetzt wieder so schön ist“, bemerkte Urs. Shania guckte betreten, Urs merkte, dass er abermals ins Fettnäpfchen getreten war. Um das zu überspielen, schlug Tobias vor: „Lass uns zum Flussufer gehen!“

Dort war wenig Betrieb. Offenbar verspürten nur wenige Leute Lust, dort entlangzulaufen. Auch auf dem Wasser war nichts los. Kein Schiff verkehrte. Am anderen Ufer hatte ein Kahn festgemacht, an Bord befand sich offensichtlich niemand. „Es wird einige Zeit vergehen, bis hier wieder Normalbetrieb herrscht“, meinte Tobias und Shania entgegnete: „Das ist doch wohl klar. So etwas ist nicht so schnell zu überwinden.“

Sie schlenderten weiter. Auf einer Bank sahen sie eine schlafende Person. Sie war weiblich und blond und sah ungepflegt aus. Trotzdem erkannten Tobias und Shania sie sofort: Es war Mary, die ehemalige Bedienung aus dem Frühstücksraum des Hotels. „So kann es gehen“, äußerte sich Tobias. Shania nickte und entgegnete: „Trotz alledem tut sie mir leid. Niemand hat es verdient, auf der Straße zu landen. Das hätte mir auch passieren können.“ Von all dem bekam Mary nichts mit. Sie schlief weiter. Doch dann erwachte sie plötzlich.

Mary realisierte, wer da um sie herum stand und begann sogleich eine grandiose Schimpfkanonade, vor allem gegen Ausländer, und insbesondere gegen Mexikaner. Tobias erinnerte sich, dass sie erst vor ein paar Tagen äußerte, dass sie gegen diese nichts hätte, aber offenbar hatte sie ihre Meinung geändert. Shania und Urs verstanden nichts, denn Mary schwadronierte in einem schlimmen Südstaaten-Akzent. Tobias hingegen konnte dank seines Übersetzungsprogramms alles verstehen und antwortete in dem gleichen Slang: „So sieht man sich wieder, Mary. Ich wünsche noch einen angenehmen Tag!“ Mary war völlig baff. Sie hätte nie erwartet, dass dieser Deutsche sie verstand und auch noch entsprechend antworten konnte.

Nachdem Tobias, Urs und Shania sich weit genug entfernt hatten, sagte Shania: „Das habe ich hier noch nie erlebt. Man hatte mir zwar erzählt, dass meine Landsleute hier manchmal angefeindet werden, aber ich wollte das nicht glauben. Na, egal, wie auch immer. Lange bin ich ja nicht mehr hier. Gibt es so etwas auch in Deutschland, Tobias?“ „Nun, speziell gegen Mexikaner nicht, aber das liegt auch daran, dass es nur wenige davon in Deutschland gibt. Anfeindungen gegen Ausländer gibt es leider schon, speziell gegen Araber und Türken“, antwortete Tobias. Urs warf ein: „Bei uns in der Schweiz kommt das auch vor, leider. Das ist wirklich schlimm!“

Betroffen gingen die drei weiter. Shania legte ihren Arm um Tobias und sagte: „Ich bin froh, dass du nicht so denkst, Tobi!“ Er sah sie intensiv an und antwortete dann: „Ich bin so erzogen worden. Mal was ganz Anderes, Shania. Dein Bruder braucht doch bestimmt einen Job, wenn er nach Deutschland kommt, oder?“ „Na, klar, aber es sollte schon etwas Reelles sein, also nichts mit Schmuggel oder so.“ „Er könnte doch wieder in einer Bar arbeiten. Das klappt auch mit schlechten Deutschkenntnissen!“

Tobias hatte zwei Möglichkeiten im Sinn, das Café Safran gehörte aus verständigen Gründen nicht dazu, aber das Oscar’s und das Jack the Ripper’s schon. Beide Lokalitäten beschrieb Tobias ausführlich. Besonders vom Oscar’s zeigte sich Shania begeistert. „Das wäre auch etwas für mich“, sagte sie. Tobias entgegnete: „Warum nicht? Immerhin hast du ja gewisse Talente!“ Shania lachte, dabei hatte Tobias das ernst gemeint.

Sie gingen weiter. Weitere Personen begegneten ihnen. Die meisten waren verzweifelt. Doch da war auch eine Gruppe von Jazzmusikern, die auf dem Rasen saßen und fröhliche Melodien spielten. Tobias erinnerte sich an seinen Besuch auf dem Lafayette Cemetery No. 1. nachdem der Tode ins Mausoleum verbracht wurde. Die Musik war ähnlich und sie gefiel ihm sehr gut. Das belohnte Tobias indem er einen großen Geldschein in den bereit liegendem Hut warf. Die Musiker bedankten sich überschwänglich.

„Ich finde die Lebensart dieser Menschen bemerkenswert. Das gibt es in Deutschland nicht“, stellte Tobias fest. Urs warf ein: „In der Schweiz schon gar nicht!“ Shania entgegnete: „Bei uns in Mexiko sind die Leute auch locker, das mag ich. Ich hoffe, ich gewöhne mich daran, wie das bei Euch ist, Tobi!“

Tobias lächelte und sagte dann: „Nun, ich denke, Shania, du schaffst das. Da bin ich mir sicher!“ Shania nahm das freudig zur Kenntnis. Sie hatte nunmehr wirklich das Gefühl, dass Tobias sie liebte. Das hätte sie noch vor Kurzem nicht für möglich gehalten. Eines ergänzte Tobias noch: „An etwas in Deutschland wirst du dich aber nicht so schnell gewöhnen, Shania: unser Essen!“ Die drei schlenderten zum Hotel zurück. Es war kurz nach elf. Tobias wollte mit Siggi telefonieren, um einiges zu besprechen. Er zog sich in sein Zimmer zurück, Shania ging in die Bar.

Tobias erreichte Siggi nicht sofort. Erst beim vierten Versuch klappte es. Er erfuhr, dass die Entscheidung zu der Stelle als Handelsvertreter für die Preisabfrage-Geräte in den Supermärkten am Vortag gefallen war. Oliver hatte den Job tatsächlich erhalten. Das freute Tobias ungemein. Das war die zweite gute Nachricht, die in er in dieser Woche von seinem Chef erhalten hatte.

Gleich darauf rief Tobias bei Oliver an. Dieser wusste noch nichts von der erfolgreichen Bewerbung. Er freute sich sehr darüber. Oliver wollte mit Bettina dazu anstoßen, sobald sie am Montag aus dem Krankenhaus entlassen wäre, dann immerhin waren sie ja nun Kollegen.

Nach den Telefonaten begab sich Tobias in die Bar, um Shania zum Essen abzuholen. Diese hatte die freudige Mitteilung, dass es in einem der Restaurants des Hotels „deutsche Spezialitäten“ gab. Unter anderem stand Sauerbraten auf der Karte. „Das klingt spannend“, sagte Shania. Tobias nickte und antwortete: „Da könnte ich mir sogar vorstellen, dass dir das schmeckt. Das ist sehr lecker!“ Er erklärte ihr kurz das Gericht. Als er mit den Worten abschloss „Früher wurde das aus Pferdefleisch zubereitet“, verzog Shania das Gesicht. Doch dann ergänzte Tobias: „Das ist heutzutage kaum noch üblich. Hier in Amerika schon gar nicht“. Shania beruhigte sich und sie gingen in das Restaurant. Dort entschieden sich beide für den Sauerbraten, zu dem als Beilage grüne Bohnen angeboten wurden, worauf Tobias dankend verzichtete.

„Das ist wirklich köstlich“, stellte Shania fest und ergänzte: „Ich weiß gar nicht, was du gegen die deutsche Küche hast. Das ist doch lecker!“ Tobias grinste und antwortete mit leiser Stimme: „So sind nicht alle unsere Gerichte. Schau mal auf dem Nachbartisch!“ Dort aß ein dicklicher Mann mit großem Appetit ein Eisbein, das vor Fett nur so triefte. Tobias erklärte: „Das gibt es auch gegrillt, dann nennt man es Grillhaxe. Ich mag beides nicht, und zu fettes Essen bekommt mir auch nicht!“ Zum Nachtisch gab es wahlweise Apfelstrudel oder Schwarzwälder Kirschtorte. Tobias musste lachen, als er das sah und erklärte Shania, dass Apfelstrudel österreichisch und nicht deutsch sei. „Oh, ich dachte immer, Österreich gehört zu Deutschland!“, antwortete sie. Daraufhin bemerkte Tobias: „Da gab es noch mal jemanden, der das meinte.“ Auf Shanias verständnislosen Blick erfolgte eine Geschichtsstunde. Danach wurde der Nachtisch serviert. Beide entschieden sich für die Kirschtorte.

Nach dem leckeren Mahl fragte Shania: „Sag, mal, Tobi, gibt es eigentlich mexikanische Restaurants bei Euch in Hannover?“ Tobias musste kurz nachdenken. Dann antwortete er: „Nun, die gibt es schon, aber sehr wenige. Griechische, italienische, chinesische und türkische dagegen sehr viele. Das wäre eine Marktlücke. Warum fragst du, Shania?“ „Mir ist die Idee gekommen, dass ich ein solches Lokal in deiner Stadt eröffnen könnte. Das wäre noch viel besser, als in dieser Bar zu arbeiten, die du vorgeschlagen hast. Und für meinen Bruder wäre das auch eine Möglichkeit.“ Und eine Möglichkeit mein Geld loszuwerden, dachte Tobias, sagte das aber nicht. Stattdessen entgegnete er: „Eine wunderbare Idee, Shania. Ein passendes Lokal, was wir übernehmen könnten, findet sich sicherlich!“

In Hannover hatte sich Karola unterdessen beruhigt. Irgendwie war ja klar, dass die Sache mit Manfred mal auffliegen würde. Aber so schnell hatte sie nicht damit gerechnet. Manfred hatte erzählt, dass seine Frau extrem eifersüchtig war, schon seit Beginn seiner Ehe. Im Laufe der Jahre war das immer schlimmer geworden. Das ging soweit, dass sie ihn auf Schritt und Tritt verfolgte und kontrollierte. In gewisser Weise konnte Karola das verstehen, denn sie selbst hatte mit Tobias bezüglich anderer Frauen auch so einiges erlebt. Eine andere Nachricht freute Karola. Sie hatte gehört, dass das „Odeon“ kurz vor der Pleite stand. Da war sie froh rechtzeitig den Absprung geschafft zu haben.

 

Kapitel 45

Freitag, der 02. September 2005

Tobias hatte schlecht geschlafen und hatte daher schlechte Laune. Alpträume hatte ihn geplagt, das waren völlig wirre Träume. Shania hatte dagegen tief und fest geschlafen, wie ein Murmeltier. Sie wurde allerdings um halb neun von ihrem Handy geweckt. Ihr Bruder hatte eine SMS geschickt. Er teilte mit, dass er am Abend um 20 Uhr eintreffen würde – mit dem Bus. Shania wunderte sich gleich zweimal. Zum Einen darüber, dass ihr Bruder so früh wach war und zum zweiten, dass er den Bus nehmen würde. Das war ungewohnt für ihn. Sie sprach mit Tobias darüber. Dieser reagierte zunächst mürrisch. Doch dann besann er sich, denn Shania konnte ja nichts dafür, dass er so schlecht geträumt hatte.

Nach kurzer Überlegung antwortete er: „Du, ich kann ihn verstehen. Du hast mir doch gesagt, dass dein Bruder Ärger mit der Polizei hat. Bevor man in ein Flugzeug steigt, wird man kontrolliert. In Bussen nicht!“ „Aber an der Grenze! Insofern ist das egal. Hoffen wir mal, dass alles gut geht!“ „Das stimmt, Shania, daran habe ich nicht gedacht. Weißt du, wo hier in New Orleans der Busbahnhof ist?“ Shania schüttelte den Kopf. Daher gingen sie vor dem Frühstück zur Rezeption, um sich zu erkundigen.

Mr. Smith kannte zwar sofort die Antwort, teilte aber mit, dass der Busbahnhof zur Zeit noch geschlossen sei. Dort hatte es größere Zerstörungen gegeben. Die Busse fuhren daher nur bis Metairie, das lag aber nicht allzu weit vom Stadtzentrum von New Orleans entfernt. Das Problem war nur, dass wegen der Sperrung des hiesigen Busbahnhofes keine Möglichkeit bestand, mit dem Bus dahin zu kommen. „Sie müssen sich ein Taxi nehmen oder einen Mietwagen“, erklärte der Rezeptionist.

Tobias und Shania gingen erst mal frühstücken, um die weitere Lage zu besprechen. Während sie das Frühstück genossen, kam der Rezeptionist auf sie zu, räusperte sich und sagten dann: „Entschuldigen Sie die Störung. Wie ich gerade erfahren habe, streiken unsere Taxifahrer. Soll ich Ihnen einen Mietwagen besorgen?“ Ehe Tobias sagen konnte, antwortete schon Shania: „Ja, bitte. Das wäre sehr nett.“

Nachdem sich der Mann wieder entfernt hatte, sagte Tobias leise zu Shania: „Jetzt haben wir ein Problem. Oder hast du einen Führerschein?“ Sie schüttelte den Kopf und entgegnete dann: „Ich habe nie einen gemacht. Irgendwie fehlte mir immer das Geld und später die Zeit. Aber warum fragst du? Hast du denn keinen?“ „Nun, meiner macht sozusagen Urlaub bei der Polizei. Er wurde mir vor knapp zwei Wochen abgenommen. Ich hatte einen Unfall, an dem ich keine Schuld hatte. Aber als ich kontrolliert wurde, wurde festgestellt, dass ich zu viel getrunken hatte.“

Shania sah Tobias entsetzt an. Das hatte sie nicht erwartet. Tobias fuhr fort: „Die werden bei der Übergabe des Mietwagens sicherlich nach dem Führerschein fragen. Und wenn nicht: Das Risiko möchte ich nicht eingehen. Bei meinem Pech kommen wir bestimmt in eine Polizeikontrolle.“

In diesem Moment kam Urs hinzu und setzte sich an den Tisch. Tobias erzählte ihm, was passiert war und wo das Problem lag. „Ich könnte doch fahren“, bot sich Urs an. „Eine gute Idee, Urs. Aber dann solltest du dich heute ausnahmsweise etwas beim Alkohol zurückhalten“, antwortete Tobias und grinste. Shania bemerkte: „Ich hoffe, Tobi wird dir dabei helfen, nicht zu trinken, Urs!“ Alle lachten. „Aber im Ernst, Urs. Ein paar Stunden wirst du doch darauf verzichten können. Es wäre wirklich wichtig!“, ergänzte Tobias.

Nachdem Urs ausgiebig gefrühstückt hatte und er wieder auf sein Zimmer gegangen war, verließen auch Tobias und Shania den Frühstücksraum. Shania sprach Tobias an: „Glaubst du, dass das gut geht?“ Tobias zuckte mit den Schultern und entgegnete: „Das hoffe ich doch. Auf Deutsch sagt man: Sonst geht uns der Arsch auf Grundeis!“ Das hatte Tobias wörtlich übersetzt. Shania fand das urkomisch und schüttete sich aus vor Lachen. Das war eine gute Gelegenheit, ihr die doppelte Bedeutung von „Französisch“ in der Deutschen Sprache zu erörtern. „Ihr Deutschen seid doch komischer, als ich dachte“, stellte Shania fest.

In der Lobby war eine Tafel mit den Angeboten der Restaurants an diesem Tag. „Schau mal, Shania. Heute gibt es mexikanische Spezialitäten!“ „Na, bin ich mal gespannt, was die uns servieren. In den U. S. A. bieten die oft Nachos an. Das ist auch so eine Sache. Das Gericht gibt es eigentlich gar nicht. 1943 gingen ein paar Amerikanerinnen spätabends in ein Lokal in Mexiko. Die Küche war schon zu. Der Kellner servierte den Damen frittierte Tortilla-Chips mit saurer Sahne, Guacamole, ein paar Jalapeños und überbackenem Käse. Das waren Dinge, die er noch in der Küche fand. Die Damen fragten nach dem Namen des Gerichts, das missverstand der Kellner. Er sagte Nacho. Das war sein eigener Name. Er hieß Ignacio. Nacho ist die Koseform davon. Der Besitzer des Lokals nahm das Gericht auf die Karte und so verbreitete es sich über Nordamerika und schließlich in der ganzen Welt. Aber ein mexikanisches Gericht ist das ursprünglich nicht.“

Tobias lachte und antwortete: „Dass Nachos nicht mexikanisch sind, hat mir schon der Kellner in dem Restaurant in Mexiko-City erzählt. Aber deine Geschichte kannte ich noch nicht, Shania. Sie ist wirklich gut, die gefällt mir. Warten wir mal ab, was man uns hier heute serviert. Vielleicht Mole Poblano? So gut wie deines wird das bestimmt nicht!“ „Danke für das liebe Kompliment, Tobi“, sagte Shania. Sie strahlte über das ganze Gesicht.

Als sich die beiden gegen 12 Uhr zum Restaurant des Hotels begeben wollten und sie dafür an der Rezeption vorbei gehen mussten, fiel ihnen auf, dass dort große Aufregung herrschte. Mehrfach fiel der Name Al Gore. „Al Gore kommt nach New Orleans und wird am Sonntag in unserem Hotel übernachten“, klärte man Tobias und Shania auf. „Davon hat er vorgestern bei der Ansprache im Fernsehen gar nichts erzählt“, bemerkte Tobias und dachte wieder daran, dass Al Gore es ihm zu verdanken hatte, dass er jetzt Präsident ist. Vielleicht treffe ich ihn hier in der Bar und sage ihm das, dachte er. Doch denn verwarf Tobias diesen Gedanken wieder.

Das Restaurant war gut besucht. Tobias und Shania mussten fünfzehn Minuten warten, bis man ihnen einen Tisch zuweisen konnte. Sie warfen einen Blick auf die Speisekarte. Vier Gerichte standen drauf. Mole Poblano war nicht dabei, aber auch kein Chili con carne. Stattdessen gab es als Vorspeise Tacos mit einer Füllung aus Fleisch und Gemüse. Als Hauptgang standen Ceviche, Chiles en Nogada, Enchilada und Cochinta Pibil. Tobias wandte sich an Shania: „Enchilada und Cochinta Pibil kenne ich. Aber was ist Ceviche und Chiles en Nogada?“ Die Antwort kam prompt: „Ceviche ist ein Fischgericht, das eigentlich aus Peru stammt. Es ist aber in ganz Lateinamerika weit verbreitet, auch in Mexiko. Bei uns wird es mit Hummer und Garnelen serviert. Ich mag es sehr gerne. Chiles en Nogada besteht aus gefülltem Poblano-Paprika mit Walnussauce und Granatapfelkernen. Es ist auch sehr lecker. Man kann sie auch mit Hackfleisch füllen. Ich bin gespannt, wie die das hier servieren.“

Tobias entschied sich für Ceviche. Hummer war nicht dabei, aber Garnelen. Shania wählte Chiles en Nogada. Hackfleisch fehlte, aber die Füllung überzeugte sie. „Fast wie zu Hause“, bemerkte Shania. Auch Tobias war mit seinem Essen zufrieden. Er trank Wasser zum Essen, was Shania sofort auffiel. „Reine Vorsorge, falls Urs doch ausfällt“, erklärte Tobias. Shania nickte verständnisvoll. In der Tat konnte das nicht ausgeschlossen werden.

Daher gingen die beiden nach dem Essen an der Bar vorbei. Urs saß tatsächlich dort, vor sich ein großes Bier. „Nur ein kleiner Drink nach dem Essen“, sagte entschuldigend. Ihm war das sichtlich peinlich. Verärgert antwortete Tobias: „Kleiner Drink? Das ist ein großes Bier, Urs! Ich möchte nicht wissen, was du sonst noch intus hast. Schade, ich hatte gehofft, wir könnten uns auf dich verlassen!“ Tobias war stinksauer. Insofern war er froh, dass er zuvor nur Wasser getrunken hatte.

„Dann können wir jetzt nur hoffen, dass wir in keine Kontrolle kommen“, sagte Tobias zu Shania, als sie wieder in ihrem Zimmer waren und ergänzte: „Das müssen wir aber riskieren, eine andere Möglichkeit gibt es nicht!“. Shania antwortete: „Nun, ja, zur Not kann mein Bruder auf der Rückfahrt fahren. Er wird bestimmt nüchtern sein.“ Tobias entgegnete: „Das wäre schon besser. Trinkt er denn viel? Immerhin ist er ja Barkeeper!“ „Nein, da er sich immer sehr zurückgehalten. Er hat immer gesagt, es ist nicht gut, wenn man säuft und hinter der Theke steht.“

Zwei Stunden später wurde der Mietwagen gebracht. Die Verleihfirma brachte ihn direkt zum Hotel. Tobias war über den Service begeistert. Der Wagen war ein brandneuer Ford Mustang in einer wunderschönen dunkelblauen Lackierung. Das war ein echter Hingucker. Shania war begeistert davon. „Blau ist meine Lieblingsfarbe“, bemerkte sie. Urs ließ sich als Fahrer eintragen, nachdem er zuvor etliche Pfefferminzbonbons gelutscht hatte, um seine Fahne zu übertünchen. Das klappte problemlos.

Um 18.30 Uhr fuhren Tobias und Shania los Richtung Metairie, sie hatten reichlich Zeit eingeplant. Der Wagen fuhr sich sehr gut, auch wenn es für Tobias ungewohnt war, einen mit Automatik zu fahren. Es herrschte wenig Verkehr, so dass die beiden überpünktlich um 19.15 Uhr am Busbahnhof von Metairie eintrafen. Dieser machte einen heruntergekommenen Eindruck, was aber offenbar dem Hurrikan nicht geschuldet war.

Der Bus aus Mexiko-City traf fast pünktlich ein, Shania war überrascht davon. Ihr Bruder stieg als einer der ersten Passagiere aus, er hatte nur wenig Gepäck bei sich. Freudig strahlend ging er auf sie zu und umarmte sie. Miguel war sichtlich gut gelaunt. Er umarmte Tobias, drückte ihn und sagte: „Freut mich, dass ich dich endlich kennen lerne. Damals in der Bar habe ich dich ja kaum wahr genommen“. Tobias antwortete: „Ich freue mich ebenfalls. Willkommen in New Orleans!“

„Macht es dir etwas aus, zu fahren, Miguel?“, fragte Shania. Ihr Bruder nickte und antwortete: „Ich bin zwar etwas müde, aber es geht. Aber warum kann Tobias dann nicht fahren?“ Sie erklärte im kurz die Situation, was ihn sichtlich erheiterte. Als Miguel die Fahrertür öffnete, seufzte er kurz und erklärte: „Oh, je, das ist ein Automatik-Wagen. Tut mir leid, aber den kann ich nicht fahren!“

Das hatte Tobias nicht bedacht. Wohl oder übel musste er sich ans Steuer setzen, Shania und Miguel nahmen auf dem Rücksitz Platz. Sie plauderten so schnell miteinander, dass der Übersetzungschip versagte und Tobias fast nichts verstand. Er musste sich aber ohnehin auf das Fahren konzentrieren. Es ging aber alles gut, sie kamen wohlbehalten im Hotel an. Miguel erhielt dort ein kleineres, aber durchaus komfortables Zimmer im zweiten Stock.

 

Kapitel 46

 

Samstag, der 03. September 2005

 

Tobias, Shania und Miguel saßen gemeinsam beim Frühstück und unterhielten sich im gemäßigtem Tempo auf Spanisch. Darum hatte Tobias gebeten. Bald darauf gesellte sich Urs hinzu. Er war stocknüchtern und entschuldige sich mehrfach für seinen gestrigen Ausfall. Ihm war das sichtlich peinlich. Für 14.30 Uhr war an diesem Tag sein Abflug geplant.

„Dann mach es gut, Urs. Ich habe mich sehr gefreut, dass wir uns kennen gelernt haben. Wir bleiben im Kontakt, allein schon wegen unseres Projekts“, sagte Tobias. Urs antwortete: „Ich habe mich auch gefreut, Tobias. Wie gesagt: die Geschichte mit dem Gorator wird bestimmt ein Erfolg!“ Die beiden umarmten sich herzlich. Urs verabschiedete sich von allen und ging auf sein Zimmer, um seine Koffer zu packen.

Tobias übersetzte, worüber er sich mit Urs unterhalten hatte. Shania fragte interessiert nach: „Was hat es mit diesen Gorator auf sich? Das Wort habe ich noch nie gehört!“ Tobias erklärte ihr ausführlich, was der Gorator war und was für Pläne er und Urs damit hatten. Shania war sichtlich beeindruckt. „Das wäre auch optimal für meine Tante Angelica, die würde sich ganz bestimmt darüber freuen“, sagte sie. „Deine Tante wird eine der ersten sein, die das Gerät erhält, sobald es gebaut ist“, antwortete Tobias.

Im Hotel liefen die Vorbereitungen für den bevorstehenden Al Gore - Besuch auf Hochtouren. Die beiden obersten Etagen wurden für ihn und seine Delegation geräumt. Vier Gäste mussten dafür ihre Zimmer räumen und umziehen. Das war aber kein Problem, da – bedingt durch die Nachwirkungen des Hurrikans das Hotel nur zum Teil belegt war. Bis zum nächsten Tag sollten die Vorbereitungen abgeschlossen sein und der Präsident konnte seine Unterkunft einnehmen.

Tobias und Shania entschlossen sich zu einen gemeinsamen Spaziergang mit Miguel. Shania schlug vor: „Lasst uns doch noch mal mit der Straßenbahn, das war wunderschön.“ Tobias antwortete: „Gute Idee, Shania. Das wird deinem Bruder gefallen. So weit ich weiß, fährt sie seit gestern auch wieder.“ Zur Sicherheit erkundigte er sich bei der Rezeption, ob das stimmte. Zum Glück stimmte es, die Bahn fuhr wieder.

Miguel war von der Schönheit von New Orleans angetan und war zugleich entsetzt über die Zerstörungen. „Das hätte alles noch viel schlimmer kommen können, wenn der Schutzdeich nicht gebaut worden wäre. Dafür können wir Al Gore dankbar sein. Leider hat es Shanias Haus trotzdem erwischt!“, erklärte Tobias. Shania nickte und hatte Tränen in den Augen, weil sie wieder daran erinnert wurde.

Sie begaben sich zur Haltestelle der Straßenbahn. Kurz darauf traf sie schon ein und sie stiegen ein. Miguel war beeindruckt und sagte: „Wunderbar, dass so etwas erhalten geblieben ist. Bei uns in Mexiko ist der Schienenverkehr total vernachlässigt. Das finde ich schade. Ich finde, das sollte sich ändern.“ Tobias antwortete: „Das sehe ich auch so. in Deutschland ist das mit den Straßenbahnen sehr unterschiedlich. Während in der BRD viele Betriebe still gelegt wurden, z. B. In Hamburg und in Wuppertal, blieben sie in der DDR fast in allen Städten erhalten, selbst in ganz kleinen. Übrigens gibt es in der Nähe von Hannover ein wunderschönes Straßenbahnmuseum, das ist sehr sehenswert!“

Die rote Linie setzte sich langsam und geräuschvoll in Bewegung. Sie hatten einen herrlichen Blick auf den Fluss, auf dem wenig Betrieb war. Die Dampfer fuhren noch nicht. „Schade, das hätte dir auch gefallen, so eine Fahrt mit dem Raddampfer, Miguel. Das gibt es nur hier in New Orleans. Hast du Tom Sawyer und Huckleberry Finn gelesen?“ „Oh, ja, ich war als kleiner Junge davon begeistert und wollte auch so sein wie Tom und solche Abenteuer erleben“, antwortete Miguel. Shania lachte und sagte: „Nun teilweise hat das ja geklappt, frech warst du schon, aber blond warst du nicht!“ Jetzt lachten auch Miguel und Tobias.

Die Straßenbahn setzte ihre Fahrt fort, viele Fahrgäste waren nicht an Bord. So konnten sich Tobias, Shania und Miguel ungestört unterhalten. „Erzähl mir mehr von Hannover, Tobias!“, forderte Miguel. „Nun, Miguel. Ich bin in Hannover geboren, zur Zeit wohne ich noch in Faßberg, das ist etwa fünfzig Kilometer entfernt. Bald schon ziehe ich aber nach Isernhagen, das ist in der Region Hannover. Shania zieht selbstverständlich auch da ein, für dich wäre ebenfalls genug Platz. Hannover ist eine sehr sehr grüne Stadt. 25,5 Prozent der Fläche der Stadt bestehen aus Grünanlagen oder Waldgebieten. Allein der Stadtwald Eilenriede hat eine Fläche von 642 Hektar. Aber Hannover ist auch eine Stadt am Wasser. Die Leine und die Ihme, der Mittellandkanal mit seinen Stichkanälen, die Ricklinger Kiesteiche, der Altwarmbüchener See, der blaue See und der Maschsee bieten Freizeitmöglichkeiten ohne Ende: Kanufahren, Rudern, Segeln, Wasserskilaufen oder Schippern mit den Vergnügungsdampfern. Hannover hat pro Kopf doppelt soviel Fluss- und Kanalufer wie Berlin. Kurz und gut: Es wird dir dort gefallen, da bin ich mir sicher!“

Miguel nickte und antwortete: „Das glaube ich auch. Ich liebe Bäume und die Natur. Bei uns in Mexiko gibt es leider viel zu wenig davon. Deswegen freue ich mich sehr auf Hannover.“ Shania nickte zustimmend und ergänzte: „Ich denke auch, dass es uns dort gefallen wird, auch wenn es in Deutschland etwas kälter sein wird. Aber Hurrikans und Erdbeben gibt es dort nicht, oder?“ Tobias lachte und antwortete: „Nur Hurricanes in den Bars. Aber im Ernst: Wirbelstürme hatten wir schon, aber die waren bei Weitem nicht so schlimm. Und ein Erdbeben werdet Ihr in Hannover nicht erleben, aber Schnee, wenn Ihr Glück habt. Wir können auch zum Brocken in den Harz fahren. Da gibt es im Winter immer Schnee!“

Die beiden Mexikaner strahlten über das ganze Gesicht. Shania sagte: „Das wäre wunderschön. Ich habe noch nie Schnee gesehen, nur in Filmen und Serien. Davon träume ich seit meiner Kindheit.“ Miguel nickte und ergänzte: „Ich auch, obwohl es da bestimmt sehr kalt ist. Das kennen wir ja nicht.“ Tobias antwortete: „Für Euch wird sich das tatsächlich kalt anfühlen, da müsst ihr Euch auch warm anziehen.“

Die Straßenbahn war unterdessen an der Endhaltestelle angekommen. „Lasst uns noch etwas spazieren gehen. Das Wetter ist so schön!“, schlug Tobias vor. Kaum hatten sie sich von der Bahn entfernt, begegnete ihnen schon eine wohlbekannte Gestalt: Mary. Sie sah noch heruntergekommener aus als beim letzten Zusammentreffen. Ein Kaffeebecher lag neben ihr, mit ein paar Münzen darin, sie roch unangenehm. Miguel wollte eine Münze in den Becher hineinwerfen, doch Shania stieß ihn an, um das zu verhindern. Sie flüsterte ihrem Bruder etwas ins Ohr. Als sie sich weit genug von Mary entfernt hatten, erzählte sie ihm das, was vorgefallen war. „Sie hat uns diesmal gar nicht wahrgenommen, zum Glück!“, stellte Tobias fest und ergänzte: „Es ist nicht zu fassen, wie ein Mensch in kürzester Zeit so herunterkommen kann!“

Gut gelaunt gingen sie nach dem Spaziergang zur Bahn zurück, die Begegnung mit Mary war rasch vergessen. Shania und Miguel sahen auf der Rückfahrt aus dem Fenster, während Tobias nachdachte. Er überlegte, wie er am besten mit Al Gore ins Gespräch kommen könnte und worüber er mit ihm reden sollte. Er wäre bestimmt hocherfreut, wenn er erfahren würde, dass die Firma von Tobias sozusagen seinen Wahlsieg ermöglicht hatte. Thema sollte sicherlich auch das zertifizierte Klimaschutzabkommen und der Bau des Schutzdeichs sein, denn beides war eine direkte Folge des Wahlsieges von Al Gore.

Im Hotel hatte man unterdessen die Eingangshalle festlich geschmückt. Ein riesengroßes Foto von Al Gore schmückte den Raum. Alle Bediensteten liefen hektisch herum, wirkten aber glücklich. Shania begab sich mit ihrem Bruder in die Bar, Tobias ging auf sein Zimmer und rief Stefan an. Dieser zeigte sich hocherfreut über eine mögliche Kontaktaufnahme von Tobias mit Al Gore. Selbstverständlich konnte Tobias mit ihm über alles sprechen, was ihm in den Sinn kam. „Du kannst ihn auch mit deinem Sprachtalent beeindrucken, Tobias“, schlug Stefan vor und fuhr fort: „Er muss ja nicht wissen, woher du das hast!“

Nach dem Telefonat gesellte sich Tobias zu Shania und Miguel in die Bar. Die beiden hatten jeweils einen gleich aussehenden Cocktail vor sich und waren anscheinend bestens gelaunt. Allen Anschein nach waren es Zombies, denn die Drinks waren ziemlich dunkel, was auf einem hohen Rumanteil schließen ließ. Tobias probierte einen kleinen Schluck von Shanias Cocktail und fühlte sich in seiner Annahme bestätigt. Er orderte ebenfalls einen Zombie. Der Barkeeper, ein dicklicher, kleiner Mann aus Puerto Rico, hakte nach: „Heute kein Bier, Sir?“ Tobias nickte, grinste und antwortete: „Nein, heute nicht, José! Heute ist der Tag der Zombies!“ Der Barmann lachte und machte sich an die Zubereitung des Getränks.

Nachdem der Drink serviert war, nahm Tobias einen tiefen Schluck und fragte Shania: „hast du dir schon überlegt, wie du dein Lokal nennen willst?“ Shania antwortete: „Ich hatte zunächst an Cocada gedacht, so wie Miguels Bar in Mexiko hieß, aber das kennt in Deutschland wohl kaum einer.“ „Richtig, Shania. Das stimmt. Außerdem befürchte ich, dass das bei uns kaum einer richtig aussprechen kann. La cucaracha kennt man auch bei uns, aber das ist als Name für ein Speiselokal eher ungeeignet!“ Alle lachten. „Ich schlage vor, dass wir das Lokal nach unserer Tante Angelica benennen. Was meint ihr?“, äußerte sich Miguel. Shania war begeistert und Tobias war damit auch zufrieden.

„Entschuldigen Sie, dass ich mich einmische“, sagte José und fuhr fort: „Ich konnte Ihr Gespräch verfolgen, da Sie sich auf Spanisch unterhalten haben. Ich bemerkte, dass die junge Dame Shania heißt. Warum benennen Sie das Lokal nicht nach ihr?“ Ein kurzer Moment des Schweigens folgte. Denn schlug Tobias mit der Hand auf dem Tresen. So heftig, dass fast sein Glas umgefallen wäre. Er rief: „Das ist es! Das ist es! Vielen Dank, José!“ Shania und Miguel waren ebenfalls davon angetan und Shania meinte: „Da hätten wir auch drauf kommen können.“

José grinste und fragte nach: „Wo in New Orleans wollen Sie das Lokal denn eröffnen?“ Tobias schüttelte den Kopf und antwortete: „Nein, José, nicht in New Orleans, nicht einmal in Amerika. Das Lokal soll in Deutschland entstehen, genauer gesagt in Hannover. Ansonsten hätten wir dich gerne eingeladen, für deine tolle Idee! Aber Shania kann dir einige leckere Rezepte geben. Sie ist eine tolle Köchin.“

 

Kapitel 47

 

Sonntag, der 04. September 2005

Der große Tag war gekommen. Es war geplant, dass Al Gore um 13 Uhr im Superdome eine Rede halten sollte. Danach stand ein Stadtrundgang mit dem Bürgermeister und weiteren Stadtbediensteten auf dem Programm und darauf eine Eintragung in das goldene Buch der Stadt im Rathaus. Gegen 19 Uhr sollte der Präsident im Hotel eintreffen.

Tobias hatte in dieser Nacht vor Aufregung kaum geschlafen. Endlich würde er seinem Idol begegnen. Na, ja, zumindest würde er ihn im Stadion sehen. Ob das mit der Begegnung in der Hotelbar klappen würde, war hingegen noch völlig offen. Der Hotelmanager hatte Tobias da wenig Hoffnungen gemacht. „Der Präsident wird sich am Abend auf sein Zimmer zurückziehen. Außerdem ist das mit dem Barbesuch auch aus Sicherheitsgründen nicht möglich!“

Gleich nach dem Frühstück begab sich Tobias zum Superdome um einen guten Platz zu ergattern. Am Eingang warteten schon ein paar Hundert Leute. Tobias ärgerte sich ein wenig, dass er nicht schon früher los gegangen war. In der Menge entdeckte er Mary. Tobias war überrascht, dass sie zu der Veranstaltung ging, denn er hatte bislang nicht den Eindruck gehabt, dass sie ein Anhänger von Al Gore sei. Unmerklich näherte sich Tobias ihr. Sie brabbelte etwas Unverständliches vor sich her. Da half auch der Übersetzungschip nicht.

Um 11 Uhr erfolgte der Einlass. Die Sicherheitskontrollen waren sehr lasch, so wurden die Handtaschen der Damen nicht durchsucht. Tobias stürmte nach vorne, so wie er es sonst nur bei Runrig-Konzerten getan hatte. Auch Mary schaffte es, ganz nach vorne zu gelangen. Sie stand fast neben Tobias. Nur eine andere Frau trennte die beiden. Mary wirkte leicht verwirrt.

Kurz nach 13 Uhr ertönte Musik, dann trat Al Gore ans Rednerpult. In diesem Moment griff Mary in ihre Handtasche und holte etwas kleines, silbrig glänzendes hervor. Es war eine Pistole! Tobias reagierte prompt und drängte die andere Frau beiseite, damit er Mary die Pistole aus der Hand schlagen konnte. Das gelang auch. Die umstehenden Leute schrien auf. Mehrere Sicherheitsleute stürmten auf Tobias und Mary zu. Ihnen war zunächst nicht klar, wer hier der potentielle Attentäter war.

Das klärte sich aber schnell. Mary wurde in Gewahrsam genommen. Tobias wurde beiseite geführt, für eine Zeugenaussage. Al Gore hatte das alles mit steinerner Miene beobachtet. Er begann dann aber trotz alledem mit seiner Rede, welch er exakt so vortrug, wie sie geschrieben war. Darin bedankte er sich bei den Anwohnern der Stadt für ihre Disziplin und ihr Verhalten während des Hurrikans. Er wies aber auch auf die Opfer hin, die dieser gefordert hatte. Den Angehörigen der Opfer und den Besitzern der zerstörten Häuser versprach er großzügige Entschädigungen, die unbürokratisch und schnell bewilligt werden sollten. Am Ende der Rede wurde die amerikanische Nationalhymne gespielt. Es folgte ein tosender Applaus.

Tobias hatte alles in einem Nebenraum verfolgt, wo er von den Sicherheitskräften verhört wurde. Er gab bereitwillig Auskunft und konnte zumindest den Vornamen der Attentäterin benennen und sagen, dass man in dem Hotel sicherlich den kompletten Namen mitteilen könnte. Die Herren wurden hellhörig, als Tobias erwähnte, dass das gleiche Hotel sei, wo er untergebracht war. Noch merkwürdiger fanden sie, dass es auch das war, wo der Präsident übernachten würde. Tobias verkniff sich die Bemerkung: „Zufälle gibt es nicht, es ist alles vorbestimmt im Leben.“ Das wäre jetzt unpassend gewesen.

Dann klopfte es kurz. Zur großen Überraschung von Tobias betrat der Präsident den Raum. Al Gore ging freudestrahlend auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. „Vielen, vielen Dank, Mister“, sagte Al Gore. Er ergänzte: „Nicht jeder hat den Mut, in so einer Situation einzugreifen. Ich wäre nicht der erste Präsident Amerikas der während seiner Amtszeit erschossen wurde.“

Tobias nickte und antwortete: „Es war mir eine Ehre, Mister Präsident. Ich bewundere Sie seit langem. Aber wissen Sie, dass Sie es meiner Firma zu verdanken haben, dass Sie überhaupt Präsident geworden sind?“ Al Gore schüttelte den Kopf. Daraufhin erzählte ihm Tobias von Newtrix und ihren Produkten und den schicksalhaften Tag im Jahre 1999. Die Miene von Al Gore erhellte sich. „Das ist ja Wahnsinn, was ein paar Stück Zucker alles bewirken können. Ich bin baff“, sagte er. Tobias entgegnete: „Das stimmt, Mister Präsident. Ich finde das auch sehr überwältigend. Aber ich bin überzeugt davon, dass es keine Zufälle gibt, es ist alles vorbestimmt im Leben.“

Al Gore dachte kurz nach. Dann antwortete er: „Da ist etwas Wahres daran. Ich bin eigentlich kein Fatalist und auch nicht besonders religiös. Andere Dinge sind mir wichtiger, zum Beispiel der Umweltschutz. Dafür habe ich mich immer eingesetzt und werde das auch immer tun. Ich hoffe sehr, dass meine Nachfolger im Präsidentenamt das auch tun werden!“

Tobias nickte und hakte nach: „Ich bin ja, wie bereits erwähnt, ein großer Bewunderer von Ihnen. Aber eine Sache habe ich nicht verstanden: Warum haben Sie sich diese Sache mit dem fünften Präsidenten-Kopf am Mount Rushmore geleistet? Das fand ich sehr merkwürdig.“ Al Gore nickte und antwortete dann: „Ja, das stimmt. Das war ein großer Fehler von mir. Ich hatte nicht erwartet, dass das so einen Wirbel macht. Es sollte nur ein Scherz sein.“ Tobias entgegnete: „Ja, das habe ich gehört. Aber, mit Verlaub, der ist ziemlich daneben gegangen.“

In diesem Moment klopfte es. Ein hochgewachsener Mann trat ein und sprach kurz mit Al Gore. Er machte ihn darauf aufmerksam, dass der Termin mit dem Stadtrundgang mit dem Bürgermeister anstand. Al Gore nickte und wollte aufstehen, als Tobias noch sagte: „Wir sehen uns nachher im Hotel, Mister Präsident.“ Dem verwunderten Blick von Al Gore entgegnete Tobias: „Ich wohne nämlich auch im Roosevelt!“ „Dann darf ich Sie heute Abend in meiner Suite begrüßen, Mister Wagener. Dann können wir das interessante Gespräch fortsetzen!“ Tobias strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Er konnte sein Glück kaum fassen. Das übertraf seine Hoffnungen bei Weitem. Zügig kehrte er in sein Hotel zurück. Er musste unbedingt Shania davon erzählen.

Dort war seine Freundin hellauf begeistert von Tobias‘ ruhmreicher Rettungstat und seinem Gespräch mit dem Präsidenten. „Hast du ihn nicht gefragt, ob ich heute Abend dabei sein darf?“, fragte Shania. Tobias wurde verlegen. Daran hatte er in der Aufregung tatsächlich nicht gedacht. Er entgegnete: „Tut mir leid, das habe ich leider vergessen, aber ich werde zusehen, dass das noch klappt. Al Gore ist wirklich sehr nett. Er hat bestimmt nichts dagegen, eine so hübsche Frau wie dich kennen zu lernen!“ Shania grinste. Das hörte sie gerne. Sie umarmte Tobias leidenschaftlich und küsste ihn.

Da das Wetter so schön war, entschlossen sie sich für einen Spaziergang. „Mary werden wir dieses Mal wohl kaum treffen“, witzelte Tobias, als sie das Flussufer erreicht hatten. Weit kamen sie aber trotzdem nicht, weil Tobias permanent von Leuten erkannt wurde, die die Übertragung der Al-Gore-Rede bzw. des Attentats gesehen hatten. Sie schüttelten ihm die Hand, klopften ihm auf sie Schulter und umarmten ihn. Er wurde sogar um Autogramme gebeten. Tobias kam sich vor wie ein Popstar. Das machte ihn einerseits stolz, andererseits war es auch nervig. Deswegen brachen sie den Spaziergang ab und kehrten ins Hotel zurück.

Dort begaben sich Tobias und Shania in die Bar. Dort lief der Fernseher mit Ton, was Tobias in der ganzen Zeit seines Aufenthalts im Hotel noch nie zuvor erlebt hatte. Dafür gab es einen Grund: Es lief ein Nachrichtensender, der das Attentat auf Al Gore und das Eingreifen von Tobias ausführlich zeigte. Alle in der Bar starrten auf ihn und klatschten Beifall. José, der Barkeeper, begrüßte ihn freundlich und sagte: „Alles, was Sie und Ihre Freundin heute hier trinken geht aufs Haus. Wir sind begeistert über Ihre Heldentat!“ Normalerweise hätte Tobias das reichlich ausgenutzt, aber es stand ja das Treffen mit Al Gore auf dem Plan. Deswegen hielt sich Tobias dezent zurück. Shania hingegen nutzte das kostenlose Angebot reichlich aus, sodass recht schnell klar war, dass sie nicht an dem Treffen mit dem Präsidenten teilnehmen konnte.

Dann war es so weit. Aufgeregt und mit klopfenden Herzen fuhr Tobias in die oberste Etage des Hotels, in der der Präsident seine Suite hatte. Tobias wurde, nachdem er den Fahrstuhl verlassen hatte, von den Sicherheitsleuten gründlich auf Waffen durchsucht. Dafür hatte Tobias aufgrund der vorangegangenen Ereignisse durchaus Verständnis. Danach begleitete man ihn in die Suite des Präsidenten. Dieser freute sich sehr und bot ihm gleich einen Drink an, nachdem sie sich begrüßt hatten. Es gab eine richtige, große Bar in der Suite mit einer reichen Auswahl an Spirituosen. Tobias wählt einen Glenfarcles. Al Gore sagte dazu: „Eine gute Wahl. Ich muss zugeben, dass ich auch lieber Scotch als Bourbon trinke. Das darf man in Amerika eigentlich nicht sagen, aber wir sind ja unter uns.“

Wohlwollend nahm Tobias zur Kenntnis, dass der Präsident in beide Gläser keine Eiswürfel gab. Al Gore bemerkte die Reaktion von Tobias und lächelte. Dieser erzählte daraufhin die Geschichte von dem Barkeeper in Hannover mit dem Lagavulin, der Zitrone und dem Eiswürfel. Das erheiterte den Präsidenten sehr.

„Typisch für manche meiner Landsleute!“, sagte der Präsident. Dann stießen sie an. „Haben Sie Frau und Kinder, mein Freund?“, wollte Al Gore dann wissen. Tobias antwortete: „Kinder nicht und auch keine Frau. Aber eine Freundin, sie ist sogar hier im Hotel. Allerdings ist sie im Moment etwas unpässlich.“ Er konnte ja schlecht sagen: „Meine Freundin sitzt unten volltrunken in der Bar.“ Das hätte einen schlechten Eindruck gemacht. Danach wollte Al Gore alles über Tobias‘ Heimat wissen. Dieser hielt einen langen Vortag über Hannover und Niedersachsen. Der Präsident hörte gespannt zu.

Nachdem sie etwa eine Stunde geplaudert und etliche Scotch getrunken hatten, gab es eine Überraschung für Tobias, denn Al Gore fragte ihn: „Hätten Sie Lust mein oberster Sicherheitschef zu werden? Sie sind ein integrer Mann und haben heute bewiesen, was Sie können!“ Tobias war baff. Das hatte er nun wirklich nicht erwartet. Ein Jobangebot vom amerikanischen Präsidenten bekam man nun mal nicht jeden Tag. „Ich kann natürlich verstehen, dass Sie sich nicht gleich entscheiden können, mein Freund. Überschlafen Sie das erstmal und rufen Sie mich die nächsten Tage an!“ Al Gore gab Tobias seine Visitenkarte mit seiner Telefonnummer.

Tobias war dermaßen verdattert, dass er keinen Ton herausbrachte. „Vielleicht kann das Ihrer Entscheidung förderlich sein“, sagte Al Gore und reichte Tobias einen kleinen handgeschriebenen Zettel. Es stand eine fünfstellige Zahl mit einem Dollarzeichen darauf. „Ihr monatliches Salär. Dazu kommt freie Kost und Unterkunft im Weißen Haus“, erklärte der Präsident. Tobias schluckte. Das war mehr als das Zehnfache, als das was er zur Zeit verdiente.

Es folgten noch einige Drinks. Denn verabschiedete sich Tobias, nicht ohne sich für die Einladung und das Jobangebot zu bedanken. Er musste jetzt unbedingt mit Stefan darüber sprechen. In seinem Zimmer traf er kurz vor Mitternacht ein.

Stefan wusste schon Bescheid, er hatte wie immer alles verfolgt. Er war begeistert von der Entwicklung und sagte: „Du musst den Job unbedingt annehmen, Tobias. Das ist für die weitere Entwicklung der Geschichte der Menschheit von allergrößter Bedeutung!“

 

Kapitel 48

 

Montag, der 05. September 2005

Um 8 Uhr wachte Tobias auf. Er konnte immer noch nicht glauben, was am Vortag geschehen war. Shania schlief noch selig. Tobias griff gleich zu seinem Handy, um Siegmund anzurufen. Dieser begrüßte ihn mit den Worten: „Na, du Held!“ Tobias erfuhr, dass das Attentat auf Al Gore und die Heldentat von ihm in Deutschland große Aufmerksamkeit gefunden hatte und das Tagesgesprächsthema war. Vorsichtig fragte Tobias: „Könntest du dir vorstellen, dass ich kurzfristig einen anderen Job hätte?“ Siegmund schluckte. Dann hakte er nach: „Sag jetzt nicht, dass dich der Präsident gleich als Leibwächter engagiert hat.“ Tobias entgegnete: „Nicht ganz. Nicht als Leibwächter, aber als oberster Sicherheitschef. Die Bezahlung wäre sehr, sehr gut. Dazu käme freie Kost und Unterkunft im Weißen Haus.“

Siegmund hatte seine Äußerung sarkastisch gemeint, daher war er überrascht, dass es zumindest zum Teil der Wahrheit entsprach. Er fragte frustriert: „Und, wann fängst du da an?“ Tobias antworte: „Ich habe noch nichts unterschrieben, Siggi. Aber ich…“ Siegmund unterbrach ihn barsch: „Tu doch, was du nicht lassen kannst. Ach, übrigens, falls es dich noch interessiert: Dein Kumpel Oliver hat den Job bei uns bekommen!“ Dann legte er auf.

Tobias war brüskiert. Diese barsche Reaktion hatte er von seinem Freund nicht erwartet. Andererseits hatte diese dazu geführt, dass er jetzt entschlossen war, den Job beim Präsidenten anzunehmen. Er wollte ihn deswegen umgehend anrufen. Weitreichende Folgen hatte diese Neuorientierung. So musste er den Hauskauf von Grünfeldt absagen. Stefan hatte bestimmt eine Idee, wie er aus der Nummer herauskommen würde. Und was würde Shania dazu sagen, dass sie künftig nicht in der Nähe von Hannover sondern in Washington leben würde? Da war ja auch noch ihr Bruder. Er wollte weg aus Amerika. Und nun das! Tobias wollte das alles gleich mit Shania besprechen, sobald sie wach war. Das wäre bestimmt eine große Überraschung für sie.

Er begab sich, da seine Freundin immer noch friedlich schlummerte, in den Frühstücksraum. Dort erfuhr er, dass der Präsident schon früh am Morgen abgereist sei. Das bedauerte Tobias. Er hätte sich noch gerne persönlich von ihm verabschiedet und ihm mitgeteilt, dass er das Jobangebot annehmen wollte. Im Frühstücksraum lief auch an diesem Tag der Fernseher.

Gut zwanzig Minuten später kam Shania hinzu. Sie war zunächst gar nicht begeistert, als sie die Neuigkeiten erfuhr. Als Tobias ihr jedoch mitteilte, wie viel er verdienen würde, änderte sich ihre Meinung sofort. „Wann fängst du an ? Ich darf doch mitkommen, oder?“, fragte sie. „Noch habe ich nicht zugesagt. Ich muss in Hannover noch zuvor einiges regeln. Und natürlich darfst du mit einziehen.“ „Und was wird mit meinem Bruder? Der will doch weg aus Amerika!“ „Das ist wirklich ein Problem. Ich habe auch schon überlegt, was wir da machen können, bin aber noch nicht zu einem vernünftigen Ergebnis gekommen. Wir sollten das unbedingt mit ihm besprechen.“

In diesem Moment wurde im Fernsehen ein weiterer Bericht über das Attentat gebracht. Man hörte und sah die Täterin. Mary gab ein Statement über ihr Motiv ab. Das einzige, was sie sagte war: „Loosing my religion!“ Tobias erklärte Shania: „Das ist ein uralter Südstaatenausdruck sei: Das bedeutet soviel wie Aus der Haut fahren oder Die Nase voll haben. Es gibt einen tollen Song von R.E.M. davon.“ „Das Lied kenne ich natürlich. Ich habe es bislang immer falsch verstanden!“, entgegnete Shania. „Da bist du nicht die Einzige, Shania. Ich selbst weiß das auch erst seit ein paar Jahren, obwohl ich ein großer Fan der Band bin“, erwiderte Tobias.

In diesem Moment gesellte sich Miguel hinzu. Er wirkte mürrisch. Als er von Tobias’ Plänen hörte, war er alles andere als begeistert. „Das habt Ihr Euch ja schön ausgedacht“, erklärte er. Tobias erwiderte: „Ich verstehe deine Bedenken, aber das ist große Chance für mich und die werde ich mir nicht entgehen lassen. Wir fliegen am Donnerstag zurück nach Hannover. Du kannst in Deutschland bleiben, wenn du magst.“

Miguel murrte und entgegnete: „Was soll ich denn da alleine? Da kenne ich doch niemand! Das ist doch Scheiße! Nach Deutschland will ich nicht ohne Euch, hier in den USA komme ich als Mexikaner bestimmt nicht zurecht und in Mexiko werde ich von der Polizei gesucht. Macht es gut. Ich habe für heute die Schnauze voll!“ Wutentbrannt schlug er mit der Faust auf dem Tisch, so dass die Tassen klirrten. Er verließ laut schimpfend den Frühstücksraum.

Das hatte ich befürchtet“, sagte Shania und seufzte. Tobias bemerkte trocken: „Das war eine gelungene Umsetzung des Songs von R.E.M. und des Statements von Mary.“ Shania widersprach: „Das kann man doch gar nicht vergleichen, Tobias. Miguel ist wirklich verzweifelt. Er ist nicht ohne Grund hier her gekommen und hat sich wirklich auf Deutschland gefreut!“

Tobias antwortete: „Du hast Recht. Das war ein blöder Vergleich, tut mir leid. Wir müssen uns irgendetwas bezüglich Miguel einfallen lassen. Hast du eine Idee?“ Shania überlegte und sagte dann: „Vielleicht könntest du ihn überreden, doch in Deutschland zu bleiben. Kennst du in Hannover irgendjemand, der Spanisch spricht und ihn helfen kann, sich zurecht zu finden?“ Tobias überlegte kurz. Dann kam ihm ein Gedanke: „Ich könnte Herrn Gonzales fragen, meinen Spanisch-Lehrer. Der ist sehr nett.“ Zwar kannte Tobias Herrn Gonzales kaum, aber das brauchte Shania ja nicht unbedingt wissen. Tobias entschied sich dafür, Stefan in dieser Angelegenheit um Rat zu fragen. Vielleicht hatte dieser eine Idee, wie man aus diesem Dilemma heraus kommen könnte. Gleich nach dem Frühstück wollte er ihn deswegen anrufen, auch wegen der Absage des Kaufs des Grünfeldt-Haus. Dazu begab er sich auf sein Zimmer, Shania machte einen kurzen Spaziergang.

Stefan musste zunächst nachdenken, nachdem ihn Tobias mit seinen Fragen und Bitten kontaktiert hatte. Dann sagte er: „Nun, bezüglich Miguel hätte ich schon eine Idee. Ich könnte mich um ihn kümmern. Wie du weißt, spreche ich ja alle Sprachen. Eigentlich wollte ich es vermeiden, mit weiteren Menschen außer mit dir in Kontakt zu treten, aber hier mache ich mal eine Ausnahme. Bezüglich Grünfeldt überlege ich mir noch etwas. Es ist ja noch ein paar Tage Zeit.

Tobias bedankte sich bei dem Weltenerschaffer und rief danach sofort Al Gore an. Dieser ging sofort ans Telefon, das hatte Tobias nicht unbedingt erwartet. Der Präsident zeigte sich höchst erfreut über Tobias’ Zusage. Als Einstellungstermin wurde der 01. Oktober vereinbart. Tobias blieb damit ausreichend Zeit, seine Angelegenheiten in Deutschland zu regeln.

Zufrieden begab sich Tobias in die Bar des Hotels und bestellte ein großes Bier. Er hatte allerbeste Laune und erzählte dem Barkeeper die Neuigkeiten. José war begeistert und gratulierte Tobias zu seiner Entscheidung. „Das werden Sie bestimmt nicht bereuen. Kommt Ihre hübsche Freundin auch mit?“, wollte er wissen. Tobias nickte. „Dann wird es also nichts mit dem mexikanischem Restaurant in Hannover“, folgerte José und er ergänzte: „Und was wird mit Ihrem Schweizer Freund und dem Projekt, dass Sie beide planten?“ Tobias war baff. Das hatte er bei der Euphorie über den neuen Job völlig verdrängt. Gut, dass Restaurant konnte Shania auch in Washington eröffnen, aber das mit dem Gorator lag ihm auch am Herzen.

In diesem Moment gesellte sich Shania hinzu. „Selbstverständlich kann ich mein Restaurant auch in Washington aufmachen, aber das dürfte teurer werden!“, sagte sie, nachdem Tobias sie gefragt hatte. „Geld ist kein Thema mehr“, konterte Tobias und grinste. Über den Gorator wollte er am nächsten Tag nachdenken. Das eilte jetzt nicht.

 

Kapitel 49

Dienstag, der 06. September 2005

 

Nachdem Tobias eine Nacht darüber geschlafen hatte, hatte er sich dafür entschieden, Siegmund nochmals anzurufen. Von dem Gorator war dieser ja auch angetan. Ob jedoch eine Zusammenarbeit mit Urs noch möglich oder gewünscht werde, war offen. Das würde sich zeigen.

 

Noch vor dem Frühstück griff Tobias zu seinem Handy. Siegmund meldete sich umgehend. Er war erheblich aufgeschlossener als am Vortag. Offenbar hatte er sich beruhigt. Als Tobias den Gorator ansprach, sagte Siegmund: „Das ist zwar deine Idee gewesen, aber wir ziehen das jetzt durch, das haben wir ja beschlossen. Und Urs ist bestimmt auch bereit bei dem Projekt auch ohne dich mitzuwirken. Mach dir also keine Sorgen, Tobi. Ich habe übrigens sehr gute Neuigkeiten: Laos hat sich jetzt auch für uns entschieden. Damit fehlt nur noch Südkorea von den ehemaligen Ulsan-Kunden. Ich danke dir nochmals für dein Engagement. Wir sind jetzt schon Weltmarktführer und haben Rushmore überholt, auch wenn noch Südkorea fehlt. Argentinien hat nämlich den Vertrag mit Rushmore gekündigt und hat Kontakt mit uns aufgenommen. Die Berichterstattung über deine Heldentat hat uns darüber hinaus enormen Zulauf beschert, in allen Abteilungen.“

 

Tobias war glücklich, und das aus verschiedenen Gründen. Zum einen war er froh, dass sich Siegmund beruhigt hatte, und dass dem Gorator-Projekt jetzt nichts mehr im Weg stand, und zum anderen freute er sich über die Entscheidung der laotischen Regierung und die Folgen für seine Firma. Es fügt sich alles zum Guten, früher oder später.

 

Er beendete das Gespräch mit Siegmund mit einem Gruß an alle Kollegen und weckte Shania mit einem Kuss auf die Stirn. Sie schlug die Augen auf und küsste ihn. Tobias erzählte ihr sogleich die guten Nachrichten. „Das feiern wir, aber erst später. Für heute Vormittag plane ich einen Ausflug zum Audobon Zoo. Der hat geöffnet, das habe ich erfragt. Du magst doch Zoos, oder?“, sagte Tobias anschließend. Shania nickte und antwortete: „Eine sehr gute Idee. Da wollte ich schon längst mal hin. In meiner Heimatstadt gibt es drei Zoos, die sehr unterschiedlich sind. Am besten gefällt mir der Zoológico de San Juan de Aragón, der ist wirklich wunderschön. Die beiden anderen sind nicht so besonders. Hat Hannover auch einen Zoo?“ Tobias sagte: „Einen sehr schönen sogar. Ich kann dir nicht versprechen, dass wir noch genug Zeit haben werden, ihn uns anzusehen. Aber ich habe sehr viele Fotos davon auf meinem Rechner zu Hause.“

 

Nach dem Frühstück nahmen sich Tobias und Shania ein Taxi und fuhren zum Zoo. Gegen 10 Uhr trafen sie dort ein. An der Kasse herrschte nur wenig Andrang. Offenbar hatten die Einwohner und die Touristen andere Sorgen oder Pläne, als einen Tierpark zu besuchen. Daher konnten sich Tobias und Shania den Tierpark entspannt und in aller Ruhe ansehen. „Wirklich wunderschön. Ich muss sagen, ich bin beeindruckt. Ganz besonders gefällt mir die Anlage der Orang Utans“, stellte Tobias fest. Shania stimmte zu: „Ja, das wirklich toll. Aber jetzt brauche ich eine Pause. Lass uns etwas trinken!“

 

Sie begaben sich zum Zoofari Café. Dort gab es eine übersichtliche Auswahl an Snacks und Drinks, hauptsächlich amerikanische. Shania wählte einen Kaffee, Tobias wie üblich ein Bier. Es war ein heimisches, und hieß auch so: Louisiana Bier. Es schmeckte ihm überraschend gut. Außerdem genoss Shania Chocolate Chip Cookies und Tobias ein Fried Chicken Sandwich, welches ihm auch sehr gut mundete. Ihm fiel der fünften Teil von Per Anhalter durch die Galaxis von Douglas Adams ein. In Einmal Rupert und zurück hieß es über den Hauptprotagonisten Arthur Dent: Auf sich allein gestellt, konnte er nicht mal einen Toaster zusammenbasteln. Er konnte ein leidliches Sandwich machen, aber das war auch schon alles. Das traf auf dieses amerikanische Sandwich eindeutig nicht zu. Es war richtig lecker, nicht leidlich.

 

 

Tobias schmunzelte, während er die Bücher von Douglas Adams dachte, der ja auch einer der Botschafter von Stefan war. Shania machte deswegen ein fragendes Gesicht. Daraufhin erklärte ihr Tobias im Schnelldurchlauf den Inhalt der Romanreihe. „Das hört sich spannend und lustig an!“, stellte sie fest. Tobias antworte: „Ich versuche mal, dir eine spanische Übersetzung des Buches zu besorgen. Ich bin mir sicher, dass dir das gefallen wir.“

 

Nach dem Besuch des Cafés schlenderten die beiden noch über drei Stunden durch den Zoo und fuhren danach ins Hotel zurück. Dort wurden sie schon von Miguel erwartet. „Ich habe mich entschieden“, sagte er und fuhr fort: „Ich werde Euch nach Washington begleiten. Vielleicht gibt es für mich da ja auch einen Job.“ „Das ist hervorragend, Miguel. Wenn Shania dort ihr Restaurant eröffnet, werden sicherlich auch Cocktails gemixt werden, nicht wahr doch, Shania?“, antwortete Tobias. Sie nickte und antwortete: „Selbstverständlich, Miguel. Es ist doch wunderbar, wie alles zueinander findet. Und du wirst hier als Mexikaner schon irgendwie zurecht kommen. Wir werden dich unterstützen und freuen uns über deine Entscheidung.“ Tobias ergänzte: „Übermorgen fliegen wir nach Hannover. Dort kläre ich alles, was zu klären ist und dann zeige ich Euch noch etwas von meiner Heimat und ich stelle dich meinen Eltern vor, Shania!“ Tobias war wirklich gespannt, wie diese auf seine neue Freundin reagieren würden.

 

 

Zufrieden gingen alle drei in die Bar und bestellten Drinks. Miguel wählte einen Sex on the beach, Shania nahm Champagner und Tobias natürlich ein Bier. „Auf uns und auf unsere Zukunft“, sagte Tobias nachdem die Drinks serviert wurden. Sie stießen an und prosteten sich zu. „Ich bin mir sicher, dass unsere Zukunft wunderbar wird“, ergänzte Shania.

 

 

In Hannover hatte sich unterdessen viel getan. Bettina war aus dem Krankenhaus entlassen worden. Oliver war darüber überglücklich, er hatte nun zwei Gründe zu feiern: die Rückkehr von Bettina und seinen neuer Job bei Newtrix. Das Odeon hatte zugemacht, was viele überraschte. Insider der hannoverschen Gastro-Szene hingegen hatten das seit Langem befürchtet, oder erhofft. Erhofft hatten es diejenigen, die nach der Lokalität schielten, denn sie war mitten im Nachtjackenviertel gelegen und würde mit Sicherheit schnell wieder vermietet werden. Karola tangierte das wenig, sie war froh, rechtzeitig den Absprung davon geschafft zu haben. Sie war glücklich in ihrer neuen Arbeitsstelle und erst recht mit Manfred, ihrem Chef und Liebhaber. Weniger glücklich war Herr Grünfeldt. Er hatte einen schweren Herzanfall und musste ins Krankenhaus gebracht werden. Er war voller Sorge, dass er den Notartermin für den Hausverkauf nicht einhalten könnte. Dass das Tobias durchaus passen würde, konnte er ja nicht ahnen.

 

Kapitel 50

 

Mittwoch, der 07. September 2005

 

Tobias bereitete sich allmählich auf den Rückflug nach Deutschland vor, auch mental. Er dachte darüber nach, was hier in den letzten zwei Wochen passiert war. Das war wirklich unglaublich. Man hätte fast einen Roman darüber schreiben oder einen Film drehen können. Ob Stefan das wohl alles gewusst oder geahnt hatte? Tobias war sich sicher, dass beides zutraf.

 

Shania schlief noch. Sie wirkte zufrieden. Tags zuvor hatte sie Tobias gefragt, wie in Deutschland Wahlen ablaufen würden. Daraufhin hatte er ihr alles darüber berichtet und gesagt, dass die nächste Bundestagswahl bereits am 18. September wäre. Shania wollte daraufhin unbedingt ein deutsches Wahllokal sehen. „Du wirst etwas enttäuscht sein. Wir haben keine Stimmenzählautomaten in unserem Land, und daher auch keinen SZA 5000. Es ist schon recht seltsam, dass ausgerechnet Deutschland zu den weißen Flecken gehört, wo wir oder unsere Konkurrenten nicht vertreten sind!“, erklärte ihr Tobias. Tobias hoffte, dass sich dass mit der neuen Bundesregierung ändern würde oder dass zumindest das eine oder andere Bundesland die Stimmenzählautomaten bald zulassen würden. Es wurde Zeit dafür.

 

 

Kurz nach neun erwachte Shania. Tobias küsste sie auf die Stirn und sagte: „Guten Morgen, meine Schöne!“ Sie lächelte und antwortete: „Den wünsche ich dir auch. Ich habe großartig geschlafen und hatte einen herrlichen Traum. Es ging um unsere Zukunft. Wir waren glücklich, zufrieden und – reich. Dann bin ich aufgewacht und habe dich erblickt. Was kann es Schöneres geben?“ Jetzt lächelte Tobias. „So, wird es kommen, Liebling. Da bin ich mir sicher!“, sprach er.

 

Sie gingen in den Frühstücksraum. Dort wartete bereits Miguel. Er war gut gelaunt. Das gefiel Tobias. Sein Schwager in spe hatte offenbar alle Zweifel über Bord geworfen. Das war gut. Beim gemeinsamen Frühstück plapperte er ohne Ende. Er war völlig aufgedreht. „Hat er etwas eingenommen?“, flüsterte Tobias Shania in Ohr. Sie lächelte und sagte: „Kann gut sein. Mit Drogen hat er zwar nie gehandelt. Das habe ich dir ja erzählt. Aber er kann dennoch etwas eingeworfen haben!“ Miguel hatte offenbar gute Ohren, denn er entgegnete: „Das habe ich gehört. Nein, eingeworfen habe ich nichts, nur einen kleinen Joint geraucht. Das ist ja wohl nicht verboten!“ Tobias war froh, dass die nahestehenden Hotelbediensteten kein Spanisch verstanden. Jedenfalls reagierten sie nicht auf Miguels Äußerungen.

 

„Du solltest trotzdem vorsichtig sein und dein Zeug vor unserem Abflug aufrauchen“, riet er ihm und kniff ihm ein Auge zu. Dann flüsterte er ihm ins Ohr: „Das meine ich ernst. Ich weiß nicht, wie scharf hier die Kontrollen hier am Flughafen sind und wie viel du noch hast, aber bei uns in Deutschland achtet man schon darauf, dass es nicht zu viel ist. Eine kleine Menge für den Eigenbedarf ist erlaubt.“ „Und wie viel ist das?“ „Da müsste ich nachgucken. Ich sage es dir nachher.“

 

 

Nach dem Frühstück begann Tobias damit, die ersten Sachen in seinen Koffer zu packen. Der Abflug am nächsten Tag war am frühen Morgen. Er wollte nicht in Hektik verfallen. Für Shania und Miguel hatte er exklusive Hartschalenkoffer im Shop des Hotels gekauft. Mit Miguels altem, schäbigen Koffer wären sie am Flughafen unangenehm aufgefallen und Shania hatte, als ihr Haus einstürzte auch nur wenig retten können, nur das was in die Reisetasche und in den Rucksack passte. Daher war sie glücklich, in dem neuen Koffer die Kleidung, die Tobias ihr gekauft verstauen zu können.

 

„Wir sollten noch einen letzten Spaziergang machen“, schlug Shania vor. „Gute Idee, mein Liebling“, antwortete Tobias und küsste sie. Er hakte nach: „Hast du einen Vorschlag, wohin wir gehen?“ „Wir könnten noch einmal zum Fluss gehen. Da fand ich es wunderschön.“

 

So begaben sich die beiden zum Mississippi und beobachtete die Raddampfer, die majestätisch ihren Weg zogen. Möwen umkreisten sie in der Hoffnung auf Futter. Nur wenige andere Leute waren unterwegs, sodass Shania und Tobias fast unter sich waren. „Das werde ich wirklich vermissen“, stellte Shania fest und blickte sehnsüchtig. „Wir werden viele andere schöne Dinge kennen lernen“, antwortete Tobias. Er drückte Shania an sich und küsste sie leidenschaftlich. „Aber das Allerschönste habe ich schon kennen gelernt – dich!“, ergänzte er. Shania strahlte. Tobias konnte manchmal so romantisch sein!

 

Sie gingen weiter den Fluss entlang. Mittlerweile hatten sich dann doch weitere Leute eingefunden. Fast alle waren wieder fröhlich, das war offenbar der Mentalität der Bewohner von New Orleans geschuldet. Eine Jazz-Gruppe spielte auf den Rasen. Es war aber weder die, die in der Vorwoche dort spielte, noch die vom Lafayette Cemetery No. 1. Aber auch diese Musiker waren sehr talentiert und begeisterten Tobias und Shania. Sie hörten sehr gerne zu. Als die Jazzer eine Pause machten, flüsterte Shania Tobias ins Ohr: „Ich hätte eine Idee. Jeder von uns macht eine Liste von fünfzig Dingen, die er gerne mag und die er nicht ausstehen kann. Ich weiß zwar schon einiges von dir, aber nicht alles!“ Tobias war von dieser Idee begeistert und antwortete: „Das ist großartig, Shania. Aber so ad hoc geht das bei mir nicht. Ich denke, ich brauche mindestens eine Woche dafür.“ „Kein Problem, Tobias. Es eilt ja nicht. Aber bei einer Sache bin ich mir sicher, dass sie bei dir auf der Negativ-Liste auftaucht!“ „Und was soll das sein?“ „Bohnen!“ Tobias hätte das jetzt gerne dementiert, denn er aß ja sehr gerne Bohnen, durfte das aber nicht sagen. Daher schwieg er lieber und lächelte nur. Sie gingen weiter.

 

 

Kurz nach 13 Uhr trafen sie im Hotel ein. Letztmalig begaben sie sich in eines der hoteleigenen Restaurants. „Ich hätte heute Appetit auf etwas aus dieser Gegend, also kreolisch“, sagte Tobias. Shania meinte: „Sehr gute Idee, Tobi. Ich bin gespannt, ob es das heute hier gibt. Im Gegensatz zu den Cajun-Gerichten ist die kreolische Küche oft gehobener.“ Wie sich herausstellte, bot keines der Restaurants des Roosevelt an diesem Tag derartiges an. Daher sahen sie Reiseführer nach. Dort wurde das Arnaud’s in der Rue Bienville empfohlen.

 

Das Restaurant war gut gefüllt. Mit Glück ergatterten sie noch einen guten Platz am Fenster. Der Blick auf die Speisekarte ließ gleich erkennen, dass es sich um ein Gourmetrestaurant handelte, der Eindruck bestätigte sich durch die mondäne Einrichtung des Lokals. Alles war vom Feinsten. Die beiden waren froh, sich in Schale geworfen zu haben. Tobias trug einen dunkelgrauen Anzug mit einem weißen Hemd und Shania ein hellblaues Abendkleid mit Rüschen. „Mit T-Shirts und Jeans wären wir hier nicht hereingekommen“, flüsterte Tobias Shania zu. Er wählte das dreigängige prix fixe Table D'Hôte Menü. Shania schloss sich dem an.

 

 

„Das war wirklich köstlich“, stellte Tobias fest, nachdem er den letzten Bissen seines Desserts genossen hatte. Shania nickte und entgegnete: „Du hast vollkommen Recht. Das war noch wesentlich besser als in dem Cajun-Restaurant, dass ich kenne und dir empfohlen hatte.“ Auch erheblich teurer, dachte Tobias. Er sagte ihr das aber nicht.

 

Nach dem exzellenten Mahl und einem kleinen Spaziergang kehrten sie bestens gelaunt ins Hotel zurück. Dort wartete eine Nachricht auf Tobias. Das war eine große Überraschung für ihn, denn sie stammte von der Tochter von Herrn Grünfeldt. Es war ein Telegramm. Tobias konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt eines bekommen hat. Das war äußerst eigenartig. Tobias las: „Rufen Sie mich bitte an. Es ist dringend!“ Die Telefonnummer war aus Stuttgart. Tobias fiel ein, dass Herr Grünfeldt erwähnt hatte, dass seine Tochter dort leben würde.

 

Er griff zu seinem Handy und wählte die Nummer. Es dauerte eine Weile, bis er das Freizeichen bekam. Dann meldete sich eine weibliche Stimme. Es war tatsächlich die Tochter von Herrn Grünfeldt. Sie berichtete, dass es ihrem Vater nach dem Herzanfall zunehmend schlechter ging. Er machte sich Sorgen um den Hausverkauf und dass er es zu dem notariellen Termin nicht mehr schaffen würde. Tobias richtete umgehend Genesungswünsche aus, war insgeheim aber froh, dass sich dieses Problem damit erledigen könnte. Natürlich sagte er das nicht der Tochter. „Ich fliege morgen wieder zurück und melde mich, sobald ich wieder zu Hause bin“, berichtete er abschließend.

 

Jetzt wollte Tobias wissen, ob Stefan der Verursacher von Grünfeldts Gesundheitszustand war. Das hätte ihm missfallen. Dann so sehr Tobias es sich auch wünschte aus der Nummer mit dem Hauskauf heraus zu kommen, so sehr bedauerte er den Herzanfall von Herrn Grünfeldt. Tobias drückte den roten Knopf an seinem Signalgeber. Die Zeit blieb stehen. Jetzt konnte er ungehindert mit Stefan sprechen.

 

Dieser dementierte sofort, für den Herzanfall verantwortlich zu sein. „Ich hatte es ganz Anderes geplant“, sagte er und ergänzte: „Grünfeldt sollte einen hohen Lottogewinn haben und daraufhin auf den Hausverkauf verzichten.“ Tobias hakte nach: „Du kannst die Lottoziehung manipulieren?“ „Nein, natürlich nicht. Aber ich kenne die Gewinnzahlen der Zukunft.“

 

Tobias war baff. Das war eine ganz neue Erkenntnis, aber bei näherem Nachdenken war es logisch. Er fragte sich nur warum ihm Stefan bisher keinen Lottogewinn beschert hatte, wenn es für ihn so einfach war. Stattdessen dieses Theater mit dem Gold und den Diamanten! Aber er wollte das vorerst nicht hinterfragen. Er verabschiedete sich von Stefan und drückte den grünen Knopf. Die Zeit setzte sich fort.

 

Jetzt brauchte Tobias ein Bier. Er ging in die Hotelbar. Erfreut bemerkte Tobias, dass José Dienst hatte. „Heute ist mein letzter Tag, mein Freund. Morgen reisen wir ab“, erklärte Tobias und setzte sich. José war traurig, als er das hörte. „Sie waren ein großartiger Gast, Sir. Und Sie sind ein ganz besonderer Mensch“, erklärte er. Darüber freute sich Tobias maßlos. Spontan umarmte er José und entgegnete: „Sie aber auch. Ich hoffe, man sieht sich irgendwann und irgendwo wieder“.

 

Kurz darauf gesellten sich Shania und Miguel hinzu. Auch sie wurden von José sehr freundlich begrüßt. „Auch die schöne Lady beehrt uns noch einmal“, rief José. Er meinte es ehrlich. Shania orderte Champagner, ihr Bruder einen Bourbon. Tobias nahm das hin, ohne etwas dazu zu bemerken. Ich werde ihm schon beibringen, wo guter Whisky herkommt, dachte er. Sie prosteten sich zu. „Auf uns, auf unsere Zukunft“, skandierte Tobias. Nach dem tränenreichem Abschied von José begaben sich Tobias, Shania und Miguel in ihre Zimmer, um die letzten Sachen für die Abreise am nächsten Tag zu packen.

 

 

 

Kapitel 51

 

 

 

Donnerstag, der 08. September 2005

 

Ohne Frühstück gingen Tobias, Shania und Miguel um 5.30 Uhr zur Rezeption und checkten aus, wobei Tobias ein ordentliches Trinkgeld für das Personal hinterließ. Das Taxi brachte sie innerhalb kürzester Zeit zum Flughafen. Sie hatten noch genügend Zeit, um dort zu frühstücken. Der Flieger sollte um 8.35 Uhr gehen.

 

 

Die Sicherheitskontrollen waren ziemlich lasch. Miguel hatte zuvor Bedenken geäußert; da er Angst hatte. Glücklich und zufrieden saßen sie im Flugzeug. Es lagen zahlreiche Tageszeitungen bereit, neben deutschen auch amerikanische, englische und spanische. Tobias wurde bewusst, dass er sich tagelang nicht für Nachrichten aus Deutschland interessiert hatte, zu aufregend waren die Ereignisse gewesen.

 

Begierig schlug Tobias die Zeitung auf. Politik interessierte ihn jetzt am meisten, wo er künftig dem amerikanischen Präsidenten hautnah war. Er las, dass bei der ersten Präsidentenwahl in Ägypten Husni Mubarak mit 88,6 % als Staatsoberhaupt bestätigt wurde. Tobias überlegte, ob Ägypten zum Kundenkreis seiner Firma gehörte und war erstmal ratlos. Aber das war ihm eigentlich egal, weil seine Tage bei Newtrix gezählt waren.

 

Ferner entnahm Tobias der Zeitung, dass die Prognosen für die Bundestagswahl sehr interessant waren. Die SPD, die Union und die Grünen lagen fast gleichauf. Die FDP und die Linke lagen knapp über fünf Prozent und mussten um den Einzug ins Parlament bangen. Es gab drei Kandidaten für den Bundeskanzler: Gerhardt Schröder für die SPD, Angela Merkel für die Union und Joschka Fischer für die Grünen. Von Angela Merkel wusste Tobias nur, dass sie einst Bundesministerin für Frauen und Jugend und später für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit war. Ansonsten kannte er sie kaum. Tobias konnte sich nicht vorstellen, dass diese Frau Bundeskanzlerin werden könnte. Andererseits war in den letzten Wochen soviel Verrücktes passiert. Warum nicht auch das?

 

Tobias blätterte weiter in der Zeitung. Im Sportteil stand, dass die deutsche Fußball-Nationalmannschaft in Bremen mit 4:2 über Südafrika gesiegt hatte, offenbar ein Freundschaftsspiel. Das interessierte Tobias weniger. Er war kein großer Fußballfan und guckte höchstens mal ein Spiel, wenn WM oder EM war.

 

Auf Seite 19 fand ein Interview mit einem Professor namens Harald Lesch das Interesse von Tobias. Angesichts der bevorstehenden Wahl ging es in dem Gespräch hauptsächlich um Stimmenzählautomaten. Der Mann war Astrophysiker, Naturphilosoph und Wissenschaftsjournalist. Er sprach sich vehement gegen den Einsatz der Zählautomaten aus und führte schlagkräftige Argumente dagegen an. Noch bis vor Kurzem hätte sich Tobias maßlos darüber aufgeregt. Da jedoch seine Tage bei Newtrix gezählt waren, sah er das gelassener.

 

Dann wurde das deutsche Frühstück serviert, Tobias legte die Zeitung beiseite. Es gab frische, knuspriger Brötchen, was Tobias sehr erfreute. Für Shania und Miguel war das etwas Neues, sie kannten nur die labbrigen Brötchen aus den U. S. A. und natürlich ihr mexikanisches Frühstück, das hauptsächlich aus Mais-Tortillas, Bohnen, Tomaten und Chilis bestand. Marmelade oder Honig gab es bei ihnen morgens nicht.

 

„Gewöhnt Euch nicht zu sehr daran“, bemerkte Tobias und biss in sein Brötchen. Er lehnte sich entspannt zurück. Die Flugzeit von New Orleans nach Frankfurt würde gut elf Stunden betragen, die Landung war für 2.55 Uhr am nächsten Morgen vorgesehen. In Washington war eine Zwischenlandung vorgesehen. Tobias hätte lieber einen Direktflug gehabt, aber das war diesmal nicht machbar. So würde er aber seine neue Heimat schon einmal kennen lernen, zumindest den Flughafen.

 

Kurz vor der Landung in Washington begann ein Passagier drei Reihen vor ihnen zu röcheln. Es war offenbar ein Herzanfall. Da alle angeschnallt bleiben mussten, konnte niemand helfen. Doch gleich nachdem das Flugzeug gelandet war, eilte ein anderer Passagier hinzu, der helfen konnte. Er kannte sich aus und veranlasste das Nötige. Dennoch wurden alle anderen Fluggäste gebeten, die Maschine zu verlassen, über den Hinterausgang. Man musste zunächst auf dem Rollfeld verbleiben bis andere Anweisungen erteilt werden sollten. Nach zehn Minuten hieß es, dass man sich in das Flughafengebäude begeben sollte. Mit Bussen wurden sie dahin gebracht.

 

Dort wurden kostenlose Getränke und Snacks gereicht. „Ich mache mir Sorgen um den Mann“, sagte Shania und machte ein entsprechendes Gesicht. Tobias nickte und entgegnete: „Ja, damit ist nicht zu spaßen.“ Er dachte an Herrn Grünfeldt, der mit seinem schweren Herzanfall im Krankenhaus lag. Vielleicht war es bei dem Mann im Flugzeug etwas anderes, aber das spielte keine Rolle. Nach etwa zwei Stunden kam die Mitteilung, dass alle wieder an Bord durften. Der Mann mit dem Herzanfall war nicht mehr da. Tobias traute sich nicht, nachzufragen.

 

Mit fast drei Stunden Verspätung wurde der Flug nach Frankfurt fortgesetzt. Die Flugbegleiterinnen waren so höflich wie zuvor, aber sie waren angespannt. Ihnen war anzumerken, dass etwas Schlimmes geschehen war, was nicht alltäglich war. Sie meisterten die Situation souverän.

 

Es war jetzt 14 Uhr Ortszeit New Orleans. Tobias hatte seine Uhr noch nicht umgestellt. Das wollte er später machen. Zum Mittagessen wurde Schmorbraten mit Salzkartoffeln und Rotkohl oder wahlweise Lasagne angeboten. Keine Bohnen! Tobias entschied sich für den Schmorbraten. Er fürchtete, dass er für lange Zeit keinen mehr bekommen würde, wenn er in Amerika leben würde.

 

Die Filme, die während des Fluges gezeigt werden sollten, interessierten Tobias nicht. Daher legte er sich entspannt zurück. Er hatte als Passagier der Businessclass reichlich Platz, was er genoss. Daher schlief er schnell ein. Es war fast so wie auf dem Hinflug vor zwei Wochen. Tobias träumte von seinem künftigen Job. Es war ein schöner Traum. Wenn seine Zukunft tatsächlich so verlaufen würde, bräuchte er sich keine Sorgen machen.

 

Als Tobias erwachte, ging die Sonne gerade unter, es war ein wunderbarer Anblick. Tobias orderte einen Scotch. Er entschied sich für einen Glenfarcles und konnte gerade noch verhindern, dass die Flugbegleiterin Eis hinein tat.

 

Kapitel 52

 

 

Freitag, der 09. September 2005

 

Es war 5.30 Uhr. Frankfurt lag unter ihnen, der Landeanflug stand an. Ordnungsgemäß schnallten sich alle an. Tobias war völlig entspannt. Shania war aufgeregt, ihr Bruder schaute teilnahmslos. Kurz vor sechs Uhr war der Flieger in seiner Parkposition angelangt. Die Passagiere der Businessclass hatten das Vorrecht, als erste die Maschine verlassen zu dürfen. Das genoss Tobias. Er hasste diese sonst übliche Drängelei beim Aussteigen.

 

Leider gab es beim Gepäckband keinen Vorteil. Wie jeder anderer Passagier musste Tobias auf seine Koffer warten, immer wieder mit der Angst verbunden, dass ein Gepäckstück abhanden kam oder dass sich jemand Anderer die Koffer griff. Es dauerte fast fünfzehn Minuten bis Tobias, Shania und Miguel ihr Gepäck hatten. „Ich habe schon länger warten müssen“, sagte Tobias erleichtert. Danach begaben sie sich zum unterirdischen Bahnhof. Der ICE nach Hannover wäre in zweieinhalb Stunden dort, also um 9.30 Uhr. Es war nicht zu erwarten, dass es Verspätung geben würde.

 

Tobias gönnte sich nur einen schwarzen Kaffee, Hunger hatte er nicht. Shania hingegen hatte einen großen Appetit und verputzte ein großes Frühstück. „Ich konnte im Flugzeug nichts essen. Es war mein erster großer Flug und das ist mir auf den Magen geschlagen“, erklärte sie und biss in ihr Brötchen.

 

 

Miguel war froh, dass er im Zug rauchen durfte. Er hatte erwartet, dass das verboten war und dass es keine Raucherabteile geben würde. Am liebsten hätte er sich einen Joint reingezogen, aber das hatte er sich nicht getraut. Das hatte Miguel auch lauthals verkündet, zum Glück war außer Tobias und Shania keiner in seiner Nähe, der spanisch verstand.

 

Um kurz nach halb zehn wurde Hannover erreicht, fast pünktlich. „Wo steht dein Auto?“, wollte Shania wissen. Tobias lachte und antwortete: „Ich habe dir doch erzählt, dass mein Führerschein Urlaub bei der Polizei macht. Wir müssen mit dem Taxi zu mir fahren. Da wir zu dritt sind und viel Gepäck haben, sollten wir ein Großraumtaxi nehmen.“ Es gab grundsätzlich zwei Möglichkeiten dazu, sowohl am Haupteingang als auch hinteren Eingang waren Taxistände. Spontan entschied sich Tobias für den hinteren. Da lungerten zwar Obdachlose und Drogenabhängige herum, aber das machte ihm nichts aus. Für Shania war das jedoch möglicherweise ein Schock.

 

So war es auch. Sie sagte zwar nichts, aber es war ihr deutlich anzumerken, dass sie das nicht erwartet hatte. Um die Situation zu überspielen, sagte Tobias, nachdem sie in das Taxi eingestiegen waren: „Wir werden in circa fünfundvierzig Minuten in Faßberg sein.“ Der Taxifahrer nickte und schwieg. Shania war überrascht und fragte nach: „Ist so dichter Verkehr um diese Zeit?“ „Nein, Shania, Es liegt an der Entfernung. Faßberg liegt mitten in der Lüneburger Heide, fünfzig Kilometer von Hannover entfernt. Deswegen wollte ich ja näher heranziehen. Aber das hat sich ja nun erledigt.

 

Vor seinem Haus wurde Tobias bereits erwartet, von Hauptkommissar Sander und seinen Kollegen. Sander hatte ermittelt, wann die Rückkehr von Tobias zu erwarten war und diesen Augenblick sehnsüchtig herbeigesehnt. Das Attentat auf Al Gore und die Heldentat von Tobias hatte ihn verärgert. Das hatte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregt und war nicht gut für seine Ermittlungsarbeit. Oder doch?

 

Gleich nachdem Tobias mit Shania und Miguel aus dem Taxi ausgestiegen waren, kam Sander auf sie. Misstrauisch warf er einen Blick auf die junge Frau und den Mann, die er nicht kannte. Waren das Komplizen von dem Tatverdächtigen? Offensichtlich kamen sie aus Mittel- oder Südamerika. Sander wollte sie später verhören. Aber erst einmal war Herr Wagener an der Reihe.

 

Süffisant begrüßte der Hauptkommissar Tobias und die beiden Unbekannten: „Ich hoffe, Sie hatten einen schönen Urlaub. Aufregend und gefährlich war er ja, wie ich hörte. Jetzt müssen wir uns aber mal wieder unterhalten, Herr Wagener!“ Tobias war das sichtlich peinlich gegenüber Shania. Am liebsten hätte er den roten Knopf seines Signalgebers gedrückt, um die Zeit anzuhalten und danach Kontakt mit Stefan aufgenommen. Das verkniff er sich jedoch. Stattdessen grinste er nur und gab dem Kommissar die Hand. „Ich freue mich, sie zu sehen, Herr Sander“, log Tobias und ergänzte: „Mir geht es gut.“ Das war nicht gelogen.

 

 

Der Hauptkommissar nahm das zur Kenntnis und wandte sich seinen beiden Kollegen Neumann und Seiboldt zu. Diese hatten aufmerksam zugehört und waren gespannt, was nunmehr geschehen würde. In diesem Moment klingelte das Handy vom Hauptkommissar. Er war verärgert, nachdem er den Anruf entgegen genommen hatte. „Männer, wir müssen hier aufbrechen. Ein anderer Fall ruft“, sagte er zu Neumann und Seiboldt. An Tobias gewandt erklärte er: „Glauben Sie bloß nicht, dass das hier für sie erledigt ist. Sie hören noch von mir!“

 

Die Kommissare fuhren weg und Tobias ging mit Shania und Miguel in Haus. Ein beleidigter Lucky kam ihnen entgegen. Er ignorierte Tobias zunächst und wandte sich stattdessen Shania zu. Lucky strich ihr um die Beine und schnurrte. „Was für eine süße Katze. Wie heißt sie?“, fragte Shania. „Das ist Lucky. Er ist Fremden nicht immer aufgeschlossen. Er war zwei Wochen alleine. Da ist er wohl etwas verärgert. Aber dich scheint er zu mögen“, stellte Tobias fest. „Was war dann da los mit dem Polizisten? Hast du etwas verbrochen?“, wollte Shania wissen. Tobias seufzte und entgegnete: „Das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir.“

 

Sie gingen in sein Wohnzimmer. In groben Zügen erzählte er ihr, das was vorgefallen war, wobei er gewisse Details ausließ. Shania musste nicht alles wissen, noch nicht. Irritiert fragte sie nach dem Bericht: „Wie konnte es soweit kommen? Und woher hast du die Diamanten her?“ Jetzt hatte Tobias ein Problem. Daher ließ es sich nicht vermeiden, jetzt doch Stefan zu kontaktieren. Tobias drückte folglich den roten Knopf an seinem Signalgeber. Die Szene fror ein, das kannte schon. Diesmal war es besonders komisch, weil Shania gerade den Mund aufgemacht hatte. So konnte er erstmals ihre Zähne sehen. Diese waren makellos, stellte er fest.

 

Stefan meldete sich unverzüglich. Er wirkte entspannt und schlug vor, dass er selbst bei Tobias erscheinen würde. Er wollte sich als alter Freund vorstellen, und auch als Catsitter. Damit wären mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Tobias war einverstanden und so geschah es, dass es an der Haustür klingelte, nachdem Tobias den grünen Knopf gedrückt hatte und die Zeit fortgesetzt wurde. „Wer kann das denn jetzt sein?“, fragte Tobias und tat so, als ob er überrascht sei.

 

 

Er öffnete die Tür und begrüßte Stefan freundlich. „Ich wollte die Schlüssel zurückbringen und außerdem das hier“, sagte dieser. Stefan hielt einen kleinen Beutel in die Höhe. Sie gingen ins Wohnzimmer. Dort setzte sich Stefan neben Shania auf das Sofa und plauderte los. Er redete wie ein Wasserfall, auf Spanisch. Shania kam gar nicht dazu, Fragen zu stellen. Aber sie erfuhr, dass die Diamanten Hehlerwaren waren. Nähere Hintergründe gab Stefan jedoch nicht preis.

 

Als er gegangen war, seufzte Miguel erleichtert auf. „Ich dachte schon, die Polizei wäre wegen mir hier“, sagte er und fuhr fort: „Ich muss dir nämlich etwas gestehen, Tobias. Ich habe Dinge getan, die nicht legal waren. Deswegen wollte ich raus aus Mexiko. Aber mit Drogen hat das nichts zu tun.“ „Sondern?“, fragte Tobias. „Ich habe schwarzgebrannten Alkohol ausgeschenkt. Dabei ist leider etwas passiert.“

 

 

Tobias verriet nicht, dass Shania ihm das schon verraten hatte, aber ihm interessierte doch, was genau vorgefallen war, daher hakte er nach: „Ist jemand gestorben?“ „Das nicht, aber es gab Vergiftungserscheinungen, mehrere Leute mussten ins Krankenhaus. Ich wurde relativ schnell ertappt. Meine Bar Cocada wurde geschlossen. Ich hätte ins Gefängnis gemusst, wenn ich nicht geflohen wäre.“ Tobias seufzte. Er dachte daran, dass er bei seinem Besuch im Miguels Bar nichts getrunken hatte. Es war schon ungewöhnlich für ihn, dass er in einer Bar oder einer Kneipe keinen Alkohol trank. Tja, alles im Leben ist vorbestimmt. Es gibt keine Zufälle.

 

„Habt Ihr Hunger? Ich könnte etwas vertragen“, fragte Shania, um die Situation zu überspielen. Die anderen nickten. Sie ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank und den Vorratsschrank. Dort sah sie etliche Dosen gebackene Bohnen. Nun war sie wirklich überrascht. Das hatte sie nicht erwartet, sagte aber nichts. Sie wollte Tobias später darauf ansprechen. Stattdessen bereitete sie aus Eiern, Tomaten, Kartoffeln, und Chilis ein leckeres Essen, eine Art Tortilla, wie man es aus Spanien kennt. Mit dem mexikanischen Tortilla hatte das aber nichts zu tun. Das war Fladenbrot. In Mexiko aß man die Zutaten dazu, nicht darin. Es fehlten die entsprechenden Gewürze. Tobias hatte immerhin Tabasco-Soße.

 

Als Shania fertig war, ging sie mit dem Essen ins Wohnzimmer. Tobias sah gerade die Post durch. Es waren fast nur Rechnungen und Werbung. „Eigentlich hätten da noch Bohnen hineingehört, aber die kannst du ja nicht vertragen. Die gebackenen Bohnen aus deinem Vorratsschrank aber offenbar doch. Die hätten aber nicht zu dem Gericht gepasst“, bemerkte Shania süffisant. Wie peinlich, dachte Tobias. Er entgegnete: „Ach, die Bohnen. Die habe ich ja immer noch. Mein Problem damit mit den Blähungen habe ich erst seit ein paar Monaten. Davor habe ich sie gerne gegessen.“ Shania guckte skeptisch, sie glaubte Tobias nicht.

 

 

Das Essen war köstlich, auch ohne Bohnen. Ich muss das Zeug unbedingt entsorgen, dachte Tobias. Wegwerfen wäre zu schade gewesen, aber er könnte die Bohnen einer sozialen Einrichtung spenden. Davon gab es in Faßberg zwar keine, aber in Hannover sehr wohl. Er beschloss, seine Bohnendosen dort abzugeben, wie auch etliche weitere seiner Lebensmittelvorräte, bevor er nach Amerika abreisen würde. Schweigend genossen sie das Gericht. Tobias dachte daran, dass es in seiner Familie immer als unhöflich galt, während des Essens zu sprechen. Das hatte er in den letzten Wochen missachtet. Ausgerechnet jetzt war diese Tradition wieder aufgelebt, irgendwie war das komisch.

 

 

Das Telefon klingelte. Es war Urs. Das war wirklich eine Überraschung. Er zeigte sich begeistert über die Rettungstat von Tobias, über diese wurde auch in der Schweiz ausführlich berichtet. Überraschter war Urs von Tobias’ Jobwechsel. „Trotzdem ziehen wir die Sache mit dem Gorator durch, Urs. Oder hast du dir das anders überlegt?“, fragte Tobias. „Selbstverständlich bleibe ich dabei, auch ohne dich. Es ist zwar sehr schade, dass du bei Newtrix ausscheidest, aber ich denke, dass dein Chef da mitzieht und das Projekt weiterführt.“ Sie plauderten noch eine ganze Weile über andere Dinge. „Grüß mir Shania“, sagte Urs am Schluss.

 

Kaum hatte Tobias aufgelegt, als es schon wieder klingelte. Diesmal rief Siegmund an. Er erkundigte sich zunächst nach dem Befinden von Tobias und danach, wie der Flug verlaufen war. Danach teilte er mit, dass Herr Altmann, der Chef von Newtrix, zunächst sehr verärgert über die Kündigung von Tobias war. Dann hatte er sich aber beruhigt. Rein rechtlich konnte die Firma ohnehin nichts dagegen unternehmen. Offiziell wollte man das an Tobias’ nächsten Arbeitstag über die Bühne bringen. Das war schon in drei Tagen, am Montag der nächsten Woche. Vorsichtig erkundigte sich Tobias nach dem Gorator-Projekt und teilte dabei mit, dass Urs immer noch bereit war, dabei mitzuwirken. Das erfreute Siegmund. „Wir werden noch einige Zeit benötigten, bis das an den Start geht. Der Mietvertrag mit der Halle in Buxtehude ist schon in trockenen Tüchern. Der Makler war höchst erfreut über unsere Entscheidung. Na, ja es ist ja auch ein gutes Geschäft für ihn.“

 

Nach weiterem Smalltalk beendete Tobias das Gespräch mit „Dann bis Montag.“ Er war jetzt doch ziemlich müde. Der lange Flug mit wenig Schlaf machte sich bemerkbar. Auch Shania sagte, dass sie Schlaf benötigen würde. Miguel hingegen war putzmunter und nahezu aufgedreht. Vermutlich hatte er irgendwelche Drogen eingeworfen. „Ich dreh mal eine Runde und sehe mir die Gegend an“, erklärte er. Du wirst schon bemerken, dass das hier nicht spannend ist, dachte Tobias, sagte aber nichts. Miguel verließ das Haus, nachdem sich Tobias und Shania hingelegt hatten. Sie schliefen tatsächlich gleich ein, an körperlicher Betätigung war nicht zu denken.

 

 

Was für ein ödes Nest, dachte Miguel, als er die ersten Eindrücke von Faßberg gesammelt hatte. Leise sagte er zu sich: „Hier kann ich bestimmt nichts verticken oder etwas Schönes kaufen!“ Obwohl er das so leise und auf Spanisch gesagt hatte, blieben seine Worte nicht ungehört. Ein paar Meter weiter wurden diese von einem hochgewachsenen, südländischen jungen Mann vernommen, der das wohlwollend zu Kenntnis nahm. Er sprach Miguel auf Spanisch an: „Ich habe gehört, was du da gerade gesagt hast. Es könnte sein, dass ich etwas für dich habe. Was hättest du dann gerne?“ Miguel war klar, dass der Typ weder Cola noch Bier verkaufen wollte. Dennoch war er vorsichtig. Er sagte daher: „Das kommt darauf an, was du da hast. Wie heißt du überhaupt?“ Der Mann grinste und entgegnete: „Mein Name tut eigentlich nichts zur Sache. Aber weil heute so ein schöner Tag ist und du nicht wie ein Arschloch aussiehst, werde ich ihn dir verraten. Man nennt mich Salvador Felipe, weil ich ein bisschen wie der Dali aussehe. Das mit dem Schnurrbart habe ich aber nicht hinbekommen.“ Miguel schaute ratlos, er hatte keine Ahnung, wer dieser Dali war oder ist.

 

 

Er erhoffte sich, dass dieser Salvador etwas Vernünftiges dabei hatte, das ihn wieder hochkommen lassen würde. Die letzten Tage hatten ihn sehr mitgenommen. Um ins Geschäft zu kommen, fragte er: „Was soll dein Zeug dann kosten? Geld habe ich genug, allerdings nur mexikanische Pesos. Ich bin noch nicht zum Umtausch gekommen.“ „Aus Mexiko kommst du also. Ich habe mich schon über deinen Akzent gewundert. Darf ich auch wissen, wie du heißt?“ „Ich bin Miguel. Aber nun komm zur Sache.“ „Langsam, langsam. Das mit deinen mexikanischen Pesos wird ein Problem. Hast du keine Euros oder Dollar?“

 

Miguel überlegte, er hatte einen perfiden Gedanken im Kopf. Für die paar Tage, in denen er in den U.S.A. war, hatte er keine Dollar oder Euros gebraucht, weil Tobias alles bezahlt hatte. Im Haus von Tobias war genug Bargeld im Haus, das wusste Miguel. Es gab auch Kreditkarten, aber die würde dieser Dealer bestimmt nicht akzeptieren. Was sollte er jetzt tun? Tobias bestehlen oder den verlockenden Deal platzen lassen? Er brauchte das Zeug doch so dringend! Andererseits war er ein grundehrlicher Mensch, stehlen kam für ihn nicht in Frage. Während er noch nachdachte, sagte Salvador: „Ich kann dir auch helfen, das zu besorgen, was du für meinen Stoff brauchst.“ Das war ein eindeutiges Angebot. „Ich muss mir das überlegen. Bist du noch länger hier?“, entgegnete Miguel. „Nur noch ein paar Stunden. Ich schlage vor, du bist bis heute Nachmittag um drei zurück. Wenn du bis dahin nicht wieder hier aufschlägst, ist der Deal geplatzt. Hast du mich verstanden?“ Miguel gab Salvador noch seine Handynummer, nickte und ging ins Haus zurück.

 

Dort setzte sich Miguel erst einmal. Ein Teufelchen und ein Engelchen saßen auf seinen Schultern. Wem sollte er folgen? Nach langem Nachdenken entschied er sich für den Engel. Er hatte gesiegt, das gute Gewissen hatte die Gier bezwungen. Jetzt brauchte Miguel aber einen Drink, zumal er immer noch nicht müde. Zum Glück war Tobias’ Hausbar gut gefüllt. Die Malt-Auswahl stellte manche professionelle Bar locker in den Schatten. Miguel griff zum Glenfarcles, den er auch sehr gern mochte. Wie es sich gehörte, genoss er ihn ohne jeglichen Schnickschnack, also ohne Eis und Zitrone. Zwei Stunden später war die Flache geleert und Miguel hatte die nötige Bettschwere erreicht. Er legte sich aufs Sofa, gönnte sich noch weitere Drinks und schlief danach ein.

 

 

Kapitel 53

 

 

 

 

Samstag, der 10. September 2005

 

Tobias erwachte gegen 2 Uhr morgens, er hatte ausgeschlafen. Shania hingegen noch nicht, sie schnarchte friedlich vor sich hin. Auf dem Weg zur Toilette kam er am Wohnzimmer vorbei. Miguel lag im Tiefschlaf auf dem Sofa, neben sich drei leere Flaschen. Er hatte Tobias’ Alkoholvorräte offenbar ausgiebig geplündert. Außer der Whisky-Flasche lagen da ein teurer geleerter Himbeergeist-Flasche und ein exklusiver Weinbrand, dem ihm letztes Jahr sein Vater zum Geburtstag geschenkt hat. Dieser war immerhin noch halb voll. Alles in allem hatten diese Spirituosen einen dreistelligen Wert in Euro. Er hätte wenigstens etwas Billigeres saufen können, dachte Tobias. Am liebsten hätte er seinen Schwager in spe gründlich zur Rede gestellt. Aber er fraß seinen Ärger in sich hinein und beließ es dabei.

 

 

Da Tobias jetzt ausgeschlafen und putzmunter war, ging er zu seinen PC. Es war Zeit, mal wieder gründlich seine Emails zu checken. Das hatte er in der ganzen Zeit, als er in Amerika war, nicht getan. Anderes war wichtiger gewesen. Es waren sehr, sehr viele Emails, viel Unwichtiges, aber auch zahlreiche Glückwünsche zu seiner Rettungstat in New Orleans und zu seinem neuen Job. Von manchen Gratulanten hatte er schon eine Ewigkeit nichts mehr gehört.

 

Nach gut einer Stunde war Tobias fertig und hatte Zeit, Musik zu hören, mal wieder Runrig. Mit Rücksicht auf die Schlafenden wollte er seine Kopfhörer benutzen. Doch die musste er erst einmal suchen. Es war ewig her, dass er sie benötigt hatte, da er bislang alleine gewohnt hatte und keine Rücksicht auf Nachbarn nehmen musste. Es dauerte daher fast fünfzehn Minuten, bis er sie fand. Danach suchte er eine Runrig-CD heraus, die er selbst zusammengestellt hatte. Darauf waren seine absolute Lieblingsstücke der Band.

 

Tobias bemerkte nicht, dass die Stöpsel seiner Kopfhörer nicht richtig steckten, so dass die Lautsprecher in voller Stärke ertönten. Davon erwachte Shania. Schlaftrunken ging sie ins Wohnzimmer. Jetzt bemerkte Tobias, was passiert war. Es lief gerade Loch Lomond in einer lautstarken Live-Version. „Was ist das für eine Musik? Das gefällt mir“, wollte Shania wissen. Tobias erklärte es ihr und erzählte ihr, dass er früher fast täglich Musik von dieser schottischen Folkrock-Gruppe gehört hatte und dass er genau weiß, welche CDs und DVDs er von der Gruppe besaß und welches Stück wann und wo aufgenommen wurde. Shania war fasziniert und begeistert zugleich. „Ich bin aber nicht Schuld, dass du Runrig nicht mehr gehört hast?“, fragte sie. Tobias lachte und entgegnete: „In gewisser Weise schon, aber da spielten noch viele weitere Faktoren eine Rolle.“

 

Sie hörten gemeinsam die gesamte CD durch. Danach legte Tobias mehrere CDs von Bands aus der ehemaligen DDR auf. Von denen hatte Shania noch nie gehört. Ganz besonders gefiel ihr Am Fenster von City, auch wenn sie kein Wort verstand. Tobias übersetzte ihr den Text. „Sehr poetisch. Und der Geiger spielt großartig!“, stellte sie fest.

 

 

Gegen 7 Uhr erwachte Miguel. „Ich habe einen Riesenhunger“, brummte er. „Durst wohl nicht mehr“, antwortete Tobias, was Shania erheiterte. Sie sagte aber nichts zu der Anmerkung ihres Freundes, sondern machte sich sogleich an die Zubereitung des Frühstücks. Wie fast immer trank Tobias nur seinen schwarzen Kaffee, Shania aß dazu immerhin einen Toast mit Orangenmarmelade und ein gekochtes Ei, Miguel hingegen verputzte ein umfangreicheres Frühstück mit allem drum und dran. Er hatte wirklich einen gesegneten Appetit.

 

Als er fertig war, fragte Tobias: „Habt Ihr Lust auf einen Ausflug? Hier in der Gegend ist zwar nicht viel los, aber wir könnten nach Hannover fahren.“ „Mit dem Taxi?“, wollte Shania wissen. „Ja, weil mit öffentlichen Verkehrsmitteln kommt man hier nicht weit und Ihr wisst ja, wo mein Führerschein ist.“ Shania und Miguel lachten. „Den werden wir uns dort aber nicht ansehen. Es gibt genug andere Sehenswürdigkeiten, zum Beispiel den Maschsee, das Neue Rathaus oder die Herrenhäuser Gärten“, schlug Tobias vor. „Und was ist dem Zoo, Tobias. Du hast doch gesagt, dass der sehr schön ist“, wollte Shania wissen. „Wir sollten uns nicht zu viel an einem Tag vornehmen. Ihr werdet den Zoo noch sehen, das hatte ich Euch ja versprochen.“

 

Eine Stunde später kam das Taxi. Der Fahrer freute sich über den Auftrag. Es war lange her, dass er so eine große Tour hatte. „Bringen Sie uns zum Ernst-August-Platz“, sagte Tobias. „Wenn Sie mit dem Zug fahren wollen, wäre es besser, wenn ich den Bahnhof hinten anfahre“, schlug der Fahrer vor. „Nein, wir wollen nicht verreisen, wir wollen eine Stadtrundfahrt machen“, erklärte Tobias. An Shania und Miguel gewandt, sagte er: „Da lernt Ihr alle Sehenswürdigkeiten Hannovers kennen. Man kann zwischendurch aus dem Bus aussteigen und sich das ausführlich ansehen, was man möchte. Danach setzt man die Fahrt mit dem nächsten Bus fort.“

 

Sie kamen kurz vor elf Uhr an ihrem Ziel an. Der Doppeldeckerbus stand abfahrbereit vor dem Luxushotel. Es waren noch ausreichend Plätze frei. Tobias zahlte die Karten und sie gingen auf die obere Plattform. „Wie gut, dass es heute nicht regnet und dass die Plane frei ist“, stellte Tobias fest. Kurz darauf ging es los. Das erste Ziel war der Zoo. Die nette Reiseleiterin gab zunächst allgemeine Informationen über Hannover preis, die Tobias zum Teil schon Shania und Miguel erzählt hatte. „Die Zeit wäre viel zu knapp für einen Zoobesuch“, sagte Tobias. Das sahen offenbar auch die anderen Fahrgäste so, kaum einer von ihnen stieg aus. Der Bus fuhr weiter in Richtung Stadtteil List und durchquerte dabei die Eilenriede, dem hannoverschen Stadtwald. „Neben dem Zooviertel ist in der List der Preis der Wohnungen und Häuser so ziemlich am höchsten in Hannover, dafür ist es auch besonders schön“, erklärte die Reiseleiterin. Tobias nickte und flüsterte zu Shania: „Das ist einer der Gründe, warum ich da nie hingezogen bin.“

 

Sie erreichten die Apostelkirche, den nächsten Stopp der Tour. Das war eine neugotische Backsteinbasilika aus dem 19. Jahrhundert, die zweiten Weltkrieg kaum zerstört wurde. „Die würde ich mir gerne mal ansehen. Mich interessiert, wie Eure Kirchen von innen aussehen“, schlug Shania vor. „Einverstanden, das ist eine gute Idee. Danach können wir einen kurzen Blick in die Eilenriede werfen, unserem Stadtwald“, antwortete Tobias.

 

Nachdem sie die Straße überquert und die Kirche betraten hatten, waren sie nicht enttäuscht. „Für eine evangelische Kirche ist sie typisch. Es gibt kaum Formsteine und keine Glasuren oder Putz. Aber die Gewölbe sind beeindruckend“, stellte Tobias fest. Shania nickte und fragte nach: „Sehen alle Eure Kirchen so aus?“, wollte sie wissen. „Die meisten schon. Ich kann Euch ja noch welche zeigen.“

 

Sie verließen die Kirche und gingen Richtung Eilenriede. Da kam ihnen jemand entgegen, der Tobias lieber nicht begegnet wäre. Es war Karola. Sie war in Begleitung eine Mannes, den Tobias nicht kannte, nämlich Manfred Krause vom Café Safran. Ein stattlicher Bursche, dachte Tobias und er hoffte, dass es mit ihm keinen Ärger geben würde. Er hatte auch keine Lust, ein Gespräch mit Karola anzufangen, da dieses mit Sicherheit recht unerfreulich werden würde. Daher ignorierte er sie einfach. Nicht so Karola. Sie warf Tobias und seiner Begleitung zunächst einen bitterbösen Blick zu. Dann keifte sie los: „Da ist ja diese dreckige, mexikanische Schlampe. Ich kotze gleich!“ Tobias übersetzte das nicht, aber Shania verstand es trotzdem auf Grund der aggressiven Aussage.

 

Sie gingen weiter. „Ich nehme an, dass war deine Ex, diese Karola“, sagte Shania. Tobias nickte nur, ziemlich verärgert. Er wollte nicht darüber reden. Doch Shania hakte nach: „Woher weiß sie das über mich? Hast du ihr das erzählt? Habt Ihr noch Kontakt?“ Das hatte Tobias befürchtet. Er hasste solche Situationen. Um das leidige Thema abzuschließen, sagte er nur: „Natürlich nicht, mein Schatz.“ „Dann war das nur Zufall, dass sie uns über den Weg gelaufen ist?“ Jetzt war es unangebracht seine Standardfloskel vorzubringen. Der Satz „Zufälle gibt es nicht, es ist alles vorbestimmt im Leben“ hätte Shania sicherlich verärgert. Daher unterließ es Tobias, das zu sagen. Stattdessen nickte er nur. Sie gingen weiter.

 

Im Wald angekommen, setzten sie sich auf eine Bank und plauderten. Da kamen vier junge Mädchen vorbei: Lena, Sylvia, Nadine und Iris. Lena und Iris gingen sofort auf Tobias zu. Die anderen beiden Mädels hielten sich zurück, sie kannten Tobias ja nicht. „Na, du Schlappschwanz, hast du schon wieder eine neue angelacht? Ich dachte, du hättest einen besseren Geschmack!“, keifte Lena. Ihre Freundinnen lachten. Tobias verkniff sich abermals die Übersetzung. Erneut erkannte Shania die Situation ohne die Worte verstanden zu haben. Entsprechend sauer war sie.

 

„Wie viele von deinen Exfreundinnen treffen wir heute noch?“, fragte sie, nachdem sich Lena und ihre Begleiterinnen entfernt hatten. „Also ich hätte nichts dagegen, wenn noch ein paar auftauchen würden“, mischte sich Miguel ein, der die ganze Zeit geschwiegen hatte. Er ergänzte: „Zumindest die zweite sah doch ganz schnuckelig aus!“ Shania warf ihm einen bitterbösen Blick zu. Wenn Blicke töten könnten, dachte Tobias. Er schwieg aber dazu.

 

Stattdessen sagte er: „Wir sollten zur Bushaltestelle zurückgehen. Es wird Zeit.“ Sie begaben sich dorthin zurück und mussten nicht lange warten, bis der Bus eintraf. Während der ganzen weiteren Fahrt sagte Shania kein Wort. Tobias versuchte mehrfach ein Gespräch zu beginnen, aber sie schwieg beharrlich. Erst als sie wieder am Hauptbahnhof angekommen waren und ausstiegen, sagte Shania etwas, aber auch erst nachdem ihr Magen laut und vernehmlich geknurrt hatte: „Ich könnte jetzt etwas vertragen.“ Tobias überlegte kurz, welches Lokal sie einkehren konnten. Er dachte zunächst an das Jack the Ripper’s. Das verwarf er aber rasch. Zum Einen war Samstag. An diesem Tag war der Laden voll mit Fußballfans, die dort die Spiele der englischen Premier League schauen wollten. Zum Zweiten wollte er Shania und Miguel ein typisch deutsches Restaurant präsentieren. Da bot sich das Restaurant gegenüber dem alten Rathaus, mitten in der Altstadt an. Dort war Tobias zwar noch nie, aber er wusste, dass es dort eine hervorragende Küche gab. Daher schlug er das vor. Shania war begeistert: „Dann kann ich das mal mit dem vergleichen, was es im Hotel gab!“

 

Sie gingen durch die Bahnhofstraße und die Grupenstraße in Richtung Altstadt. Die imposante Marktkirche kam im Blickfeld. Dort bogen sie links ab und hatten ihr Ziel erreicht. Doch leider mussten sie feststellen, dass das Lokal nicht geöffnet hatte, jedenfalls nicht für die Allgemeinheit. „Geschlossene Gesellschaft“ stand auf dem Schild. „Das ist Pech, aber ich habe noch eine sehr gute Alternative. Nicht weit von hier ist das Backöfle. Dazu müssten wir in die Calenberger Neustadt“, erklärte Tobias.

 

 

Sie bogen rechts ab. Auf der anderen Straßenseite war die Markthalle, ein moderner Zweckbau, der wenig imposant war. Dann hatten sie die Leine erreicht und gingen ein Stück dem Flussufer entlang. Nach Überquerung des Leibnizufers waren sie im Stadtteil Calenberger Neustadt angekommen. In der Calenberger Straße bogen sie links ab in die Mittelstraße. Auf der linken Straßenseite befand sich ein schönes, altes Haus, das im Gegensatz zum rechten Nachbarhaus in einem sehr guten Zustand war.

 

„Das ist es, das Backöfle“, erklärte Tobias. Sie gingen hinein. Shania war entzückt, als sie die Gaststube sah. Diese sah aus wie ein Museum oder ein altes Wohnzimmer. Da waren alte Uhren, Bügeleisen, Kaffeemühlen, Nähmaschinen und vieles mehr. Alles war sauber und gepflegt. Am Fenster war ein Tisch für drei Personen frei. Sie setzten sich.

 

„Ich war erst zweimal hier“, erklärte Tobias und fuhr fort: „Jedes Mal war ich sehr zufrieden.“ Ein etwa sechzigjähriger rundlicher Mann trat auf sie zu. Er hatte eine deutliche Stirnglatze und eine rundliche Brille. „Herzlich Willkommen im Backöfle. Ich gebe Euch schon einmal etwas zu lesen. Ihr könnt Euch die Speisekarte in Ruhe angucken. Wir haben aber noch weitere Spezialitäten, die nicht auf der Karte stehen. Dazu komme ich nachher noch einmal. Wisst Ihr schon, was Ihr trinken wollt?“

 

 

Nachdem der Mann sich wieder abgewandt hatte, erklärte: „Das war übrigens Jan, der Besitzer des Ladens.“ Sie warfen einen Blick auf die liebevoll gestaltete Speisekarte. Neben den Gerichten waren witzige Zeichnungen und Erklärungen hannoverscher Spezialausdrücke, zum Beispiel Krökeln. Das war das, was ansonsten in Deutschland Kicker oder Tischfußball hieß.

 

 

Ein paar Minuten später war Jan wieder da. „Nun, wie ich vorhin schon sagte: Wir haben da ein paar zusätzliche Gerichte. Fangen wir mit den Vorspeisen an. Da gibt es zum Beispiel unser berühmtes Piratensüppchen. Das besteht aus Hackfleisch, Sauerkraut und Tomatenmark. Außerdem haben wir heute Pfifferlingssuppe, ganz lecker und sehr empfehlenswert. Als Hauptgericht bieten einen herrlichen Rinderschmorbraten wahlweise mit grünen Bohnen oder frischen Pfifferlingen an. Dazu gibt es unsere beliebten, knusprigen Bratkartoffeln. Oder aber Putengeschnetzeltes mit Rösti und Mais. Und zum Nachtisch haben wir heute Rote Grütze mit Vanillecreme oder die beliebte Welfenspeise.“

 

Das Piratensüppchen nahmen alle drei, zum Hauptgang nahmen Shania und Tobias den Rinderbraten, wobei Tobias erwartungsgemäß die Pfifferlinge vorzog wohingegen Shania die grünen Bohnen wählte. Miguel entschied sich für den Calenberger Pfannenschlag aus der Hauptkarte. Als Nachspeise nahmen alle die Welfenspeise, nachdem Tobias erklärt hatte, worum es sich hier handelte: „Eine weiße, gekochte Milch-Vanille-Creme, unter die sehr steif geschlagener Eiweißschaum gehoben wird. Nach dem Erkalten kommt darüber eine gelbe Schicht von Weincreme aus geschlagenem Eigelb, Weißwein und etwas Zitronensaft.“ „Ich hätte es nicht besser beschreiben können“, bemerkte Jan, der offenbar sehr gut Spanisch verstand.

 

Das Essen war vorzüglich, alle waren davon begeistert. „War das jetzt typisch für Eure Gegend?“ wollte Shania wissen, als sie als Abschluss noch Kaffee tranken. „Nur der Pfannenschlag und die Welfenspeise sind traditionelle niedersächsische Gerichte, alles andere ist deutsch, wobei das Piratensüppchen nicht zuzuordnen ist“, erklärte Tobias.

 

Nachdem sie lecker gespeist hatten, empfahl Tobias noch einen Absacker im Oscar’s. Shania war sehr gespannt darauf, nachdem Tobias ihr das Lokal so ausführlich beschrieben hatte, als sie in New Orleans waren. Sie wurde nicht enttäuscht und war hellauf begeistert von der Bar, ebenso wie Miguel. „Hier stimmt wirklich alles“, sagte sie während sie ihren Champagner genoss, ihr Bruder trank einen Sex on the beach, Tobias hatte sich für ein Bier entschieden.

 

 

Gut gelaunt fuhren sie mit einem Taxi nach Hause, Shanias Ärger war verflogen.

 

 

Impressum

Cover: EIc Moon - Coverdesign - by Kathayjana
Tag der Veröffentlichung: 29.04.2011

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