Wie viele vor mir, entschied ich mich, den Berg der Erkenntnis zu erklimmen. Nebelverhangen lag er vor mir, als ich im Tal der Ahnungslosigkeit stand. Man konnte den Gipfel nicht erkennen. Ich hatte mich gut auf diese Tour vorbereitet und harrte gespannt der Dinge, die mich erwarteten. Aber ich war jung und unerfahren, gerade mal zwanzig Jahre alt.
Gemeinsam mit mir wagten sich noch drei weitere Männer an die Tour. Man hatte uns einen Bergführer zugewiesen. Er war ein alter, weiser Mann, der den Berg schon oft bestiegen hatte. Der Weise fragte uns: „Was meint Ihr, was Euch erwartet?“ Einer der anderen – er trug rote Stiefel - erklärte: „Ich möchte wissen, welches die wirklich wichtigen Dinge des Lebens sind.“ „Gute Antwort. Und was meinen die anderen?“, antwortete der Weise. Der Zweite von uns antwortete: „Mein Dasein verlief bislang ereignislos. Ich suche das Abenteuer und die Herausforderung.“ Vom Dritten kam folgende arrogante Äußerung: „Ich habe schon viele Berge erklommen, und weiß eigentlich alles. Normalerweise bräuchte ich gar keinen Bergführer, aber ich wurde gezwungen, mitzukommen, weil man mir sagte, dass man die Strecke nicht alleine gehen darf.“ Diese Antwort gefiel dem weisen Mann gar nicht. Er äußerte sich jedoch nicht dazu, schüttelte den Kopf und wandte sich mir zu. „Und Du, junger Mann, was ist Deine Erwartung?“ Meine Antwort war: „Ich bin unwissend, und möchte den wahren Sinn der Existenz kennen lernen.“
„Lasst uns aufbrechen. Es ist zwar noch früh, aber das Wetter kann hier schnell umschlagen“, erklärte der Bergführer.
Zunächst war es eine leichte, herausforderungslose Wanderung. Wir marschierten über ausgetretene Wege, Kieselsteine und losem Geröll. Je höher wir kamen, desto mehr musste geklettert werden. Nach etwa sechshundert Metern machten wir unsere erste Rast. Dem Arroganten missfiel das, er ruhte sich nicht aus, sondern lief unruhig hin und her. Wieder schüttelte der Weise den Kopf. Wir anderen streckten die Füße aus und tranken von dem mitgebrachten Wasser. Zur leiblichen Stärkung gab es Bananen und eine heiße Suppe und für das Gemüt die Freude an der Natur ringsum. Die Luft war herrlich erfrischend. Die Sonne stand hoch am Himmel und nur wenige Wolken waren zu sehen.
Gut zwanzig Minuten hatte unsere Ruhepause gedauert, ehe wir weiterzogen. Vor Anbruch der Dunkelheit wollten wir ein kleines Felsplateau erreichen, welches sich in etwa auf tausend Meter Höhe befand. Der Weg wurde immer steiler und steiler. Wir kamen zunehmend außer Atem. Nur der Angeber ließ sich nichts anmerken und lief stets ein paar Meter voraus. Er hielt sich auch nicht an den Rat des Bergführers und verließ immer wieder den gesicherten Pfad, um kleine Extratouren außerhalb der Route zu machen.
Jetzt war es kurz vor Sonnenuntergang, und wir hatten unser Tagesziel fast erreicht. Das Plateau war schon in Sichtweite. Dorthin gelangte man zwei Strecken. Alternativ gab es eine schwere, aber zu bewältigende Route und eine höchst anspruchsvolle, die fast senkrecht verlief. Selbstgefällig wählte der Außenseiter natürlich die zweite Variante. Kurz vor dem Ziel schlug er seinen Pickel in die steinerne Wand, zog sich hoch und ---- stürzte vor unsere Augen mit einem Schrei in die Tiefe. Wir waren schockiert. Der Bergführer bemerkte trocken: „Ich habe ihn mehrfach gewarnt, er wollte nicht hören. Lasst Euch das eine Lehre sein.“ Zwar war durch uns keine Hilfe möglich, aber der weise Mann verständigte die Bergrettung. Es war ein Glück, dass sein Handy funktionierte.
Wir erklommen das letzte Stück des Weges und schlugen unser Nachtlager auf. Derjenige, der das Abenteuer und die Herausforderung suchte, zitterte am ganzen Leib und schluchzte vor sich her. Am nächste Morgen erklärte er: „Zieht ohne mich weiter, ich kann nicht mehr.“
Der Weise nickte, und ließ ihn mit ausreichend Proviant, Wasser und warmen Decken zurück. Als wir außerhalb der Hörweite des Zurückgebliebenen waren, sprach er zu uns: „Seine Entscheidung war vernünftig. Wer nur auf Abenteuer aus ist, wird den Berg der Erkenntnis niemals erklimmen. Ihr beide jedoch habt dazu das richtige Ziel vor Augen. Lasst uns weiter gehen.“
Gegen Mittag hatten wir das Gipfelkreuz vor Augen und eine Flut von Gedanken strömte auf uns ein. Mein Mitstreiter wusste nun, welches die wichtigen Dinge Lebens sind und ich erkannte den wahren Sinn der Existenz. Wir hatten unser Ziel erreicht, im wahren und im übertragenen Sinne. Glücklich fielen wir uns in die Arme.
Der Bergführer sprach zu uns: „Ich wusste, dass ihr beide es schafft. Wer nach dem strebt, wonach ihr Euch gesehnt habt, erklimmt den Berg der Erkenntnis mühelos. Scheitern wird jedoch, wer arrogant ist und meint, alles schon zu wissen. Auch derjenige, der nur Abenteuer und Herausforderung sucht, hat keine Chance.“ Zufrieden blickten wir alle hinunter ins Tal der Ahnungslosigkeit und waren stolz auf das Erreichte.
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Lektorat: Vielen Dank an das Lektorat von Austrianlady vom Saturia-Verlag
Tag der Veröffentlichung: 15.04.2011
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