Nach meinem Tod wurde ich in den Wald der Entscheidungen geschickt. Als ich ihn betrat, war ich wieder ein Kleinkind. Ich war drei Jahre alt. Ich ging den Weg entlang und erfreute mich am Duft der Bäume, des Mooses und der wilden Kräuter. Die Zeit verging rasend schnell, in zehn Minuten verging ein Jahr. Nach neunzig Minuten waren folglich neun Jahre vergangen. Jetzt war ich zwölf. Der Weg gabelte sich. Dort sah ich einen Klassenkameraden von damals wieder. Er hieß Michael und war so klein und schwach, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Alle in der Klasse hatte ihn gehänselt, ich allen voran, da ich der Klassensprecher war. Michael sprach zu mir: „Erinnerst du dich an mich? Ihr habt mich alle geärgert, ich bin daran am Leben zerbrochen.“ Das war mir egal, ich ging den einen Weg, den ich auch damals gegangen war. Als Größter und Stärkster meiner Klasse sorgte ich wieder dafür, dass Michael von allen gemieden und unterdrückt wurde.
Ich schritt den Waldweg weiter entlang. Neun weitere Jahre gingen ins Land, ich war nun einundzwanzig und Soldat. Wieder traf ich auf eine Gabelung des Weges. Dort stand ein Kamerad von damals, er war Gefreiter, ich war Unteroffizier. Er hieß Schulze. „Guten Tag, Herr Unteroffizier. Sie kennen mich noch? Sie haben mich damals immer getriezt. Ich musste immer Sonderdienste schieben, auch wenn ich gar keine Schuld hatte. Das habe ich nicht verwunden, mein Leben ging daran zu Grunde.“ Auch hier zeigte ich keine Reue, und sah keinen Anlass, etwas zu ändern. Ich ging wieder den Weg von damals.
Ich ging weiter, bis erneut neun Jahre vergangen waren. Nun war ich dreißig und Chef einer Spedition. An der Gabelung begegnete ich einem Angestellten von damals namens Meyer. Er war ein Idiot und völlig unfähig, das gab ich ihm deutlich zu spüren. „Sie haben mich damals entlassen“, sagte Meyer. „Angeblich hatte ich etwas gestohlen, das stimmte aber nicht. Sie stellten mir ein schlechtes Zeugnis aus, so dass ich nie wieder einen Job fand. Das überstand ich nicht, ich landete auf der Straße.“ Das ließ mich kalt, und wieder ging ich den Weg von einst.
Nach weiteren neunzig Minuten war ich neununddreißig Jahre alt. An dieser Gabelung stand meine damalige Frau. Sie sagte anklagend: „Ach, mein guter Ehemann. Du hast mir das Leben in der Ehe zur Hölle gemacht. Während du dich mit anderen Frauen amüsiert hast, musste ich mich um das Haus und die Kinder kümmern. Du hast das Geld verprasst. Ich hasse dich, weil du mein Leben zerstört hast.“ Höhnisch grinsend zog ich weiter, natürlich den gewohnten Weg.
Als ich achtundvierzig Jahre alt war, war ich am Ende des Waldes und meines irdischen Daseins angelangt. Da ich Michals Leben zerstört hatte, wurde er kein Chefarzt und konnte mich nicht retten. Schulze hätte eigentlich als Forscher ein Medikament entwickelt, dass mir geholfen hätte, doch dazu kam es bekanntlich auch nicht. Meyer hätte mich ebenfalls vor dem Tode bewahren können, da er der einzige kompatible Spender einer Niere war. Auch sein Leben hatte ich negativ beeinflusst, er konnte nicht gefunden werden. Wäre meine Frau nicht mit den Kindern ausgezogen, hätte sie in dieser Nacht bemerkt, dass ich vor Schmerzen aufschrie, auch das hätte meine Rettung sein können.
Ich hatte in meinen Leben vier Leute unglücklich gemacht. Nun musste ich deswegen sterben, weil ich mich viermal falsch entschieden hatte und den falschen Weg gegangen war.
Überlege dir gut die Folge deiner Entscheidungen, es kann böse Folgen für dich haben.
Bildmaterialien: Manuela Schauten
Tag der Veröffentlichung: 12.04.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Danke an Manu für das tolle Bild!