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Die Straße der Gedanken

 

 

 

Ich ging die Straße der Gedanken entlang. Dort befanden sich nur vier Häuser. Das erste Haus war groß, prachtvoll und schön. Neugierig betrat ich es. Es kam mir alles seltsam bekannt vor, als ich drin war. Dort standen Möbel und Spielzeug aus meiner Kindheit, ich sah meine geliebten Teddybären, mein altes Postauto aus Holz, meine Spielzeugkiste und noch viele anderen Dinge, die ich nicht vergessen hatte. Alle Menschen in diesem Haus waren glücklich und fröhlich und freuten sich, mich zu sehen. Ich betrat eines der Zimmer. Dort wohnte eine liebe Schulkameradin, mit der ich mich immer gut verstanden hatte. Sie hatte sich nicht verändert und es schien, als ob sie keinen Tag älter geworden sei, seitdem ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie umarmte mich und sagte: „Schön, dass du mich nicht vergessen hast.“ „Das werde ich nie.“

„Dann kann ich ja hier wohnen bleiben. Vielen Dank.“ Verwirrt verließ ich den Raum und ging in das nächste Zimmer. Er war eingerichtet wie ein alter Kaufmannsladen aus den 60er Jahren. Ich erkannte es wieder. Die alte Frau, die darin lebte, grüßte mich freundlich. „Komm her, mein Kleiner.“ Sie gab mir einen Lutscher. Es war wie damals in dem Eckladen am Ende der Straße, in der ich aufgewachsen war. Die Gerüche, die Farben, der Geschmack der Süßigkeit – alles war wie früher. Ich freute mich. Der dritte Raum gehörte den Tieren. Dort lebten alle meine Haustiere, die ich besessen hatte, und die schon von mir gegangen waren. Meine Hamster, meine Vögel, meine Katzen und sogar die Schnecken, die ich einst als Kind im Wald gesammelt hatte, und die ich wieder aussetzen musste, weil meine Mutter es so wollte. Die Tiere waren überglücklich, als sie mich erblickten. Auch ich freute mich über das Wiedersehen. Der vierte Raum war für die Familie gedacht. Ich erblickte meine Mutter, meinen Vater, meine Schwester, meine Tante und viele weitere Angehörige, an die ich mich erinnerte, auch wenn sie schon längst verstorben waren. Alle waren glücklich und zufrieden. Ich betrat den fünften Raum. Dort wohnten Freunde, die ich seit Jahren nicht gesehen hatte. Ich hatte sie nicht vergessen. Sie sagten mir, dass das der Grund sei, warum sie hier lebten. Ich fragte: „Was ist das für ein seltsames Haus, in dem Ihr hier alle lebt?“

„Das ist das Haus der positiven Erinnerungen. Vergiss uns nicht, sonst müssen wir umziehen.“

„Wohin dann?“

„Ins Haus nebenan.“

 

Nun sah ich mir das zweite Haus an. Es war ebenso prachtvoll und schön wie das erste, nur viel größer. Als ich es betrat, musste ich feststellen, dass mir hier nichts bekannt vorkam. Ein alter Mann kam auf mich zu. „Erkennst du mich dann nicht?“

„Nein, wer sind Sie dann?“

„Ich bin dein alter Lehrer.“

„Ach, ja, Herr Wolters. Jetzt erinnere ich mich.“ Sein Blick erhellte sich. „Ich danke dir. Dann kann ich endlich wieder nach nebenan umziehen. Wie wundervoll. Und vergiss mich nicht mehr.“ Ich sah mich in dem fremden Haus um, auch hier gab es viele Räume, doch die Bewohner waren unglücklich und traurig. Ich betrat ein Zimmer, es war sehr schön hier. Dort wohnte eine alte Frau. „Du hast mich vor langer Zeit vergessen, darum muss ich hier leben. Ich bin die Frau, die in der Wohnung nebenan wohnte, im Haus deiner Kindheit.“

„Ach, ja, Frau Stolzenau.“

„Ich freue mich, du hast mich erkannt. Ich werde wieder in das Haus nebenan umziehen können. Tausend Dank.“ Ich besuchte noch viele Menschen in diesem Haus. Ich hatte sie alle vergessen, in meiner Erinnerung war kein Platz mehr für sie. Doch die meisten kehrten in meine Gedanken zurück, als ich wiedersah. Sie durften dann alle wieder umziehen, in das erste Haus. Sie brauchten mir nicht zu sagen, was das zweite Haus war. Ich wusste es. Es war das Haus der positiven Vergessenheit.

 

Das dritte Haus war ebenso groß wie das erste, aber hässlich und schäbig. Dennoch betrat ich es. Es war furchtbar. Ich erkannte alles. Hier waren lauter Dinge und Menschen, bei denen es mir unangenehm war, sie wiederzusehen. Fluchtartig verließ ich dieses Haus. Es war das Haus der negativen Erinnerungen.

 

Das vierte Haus war auch hässlich und schäbig, aber viel größer als das dritte. Ich vermiet es, diese Räumlichkeiten zu betreten, dann dieses Haus konnte nur das Haus der negativen Vergessenheit sein.

 

Ich ging die Straße der Gedanken dann noch oft entlang. Das erste Haus betrat ich oft, und es wuchs und wuchs. Hingegen wurde das zweite Haus immer kleiner und kleiner, je öfter ich dort einkehrte. Das dritte Haus hingegen blieb so, wie es war, so sehr ich mich auch bemühte, das alles zu vergessen. Niemals jedoch betrat ich das vierte Haus.

 

 

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Bildmaterialien: www.ergebnisgrinsen.de
Tag der Veröffentlichung: 08.04.2011

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