Eigentlich wollte ich gar nicht wach werden. Warm war es, weich und gemütlich. Wie immer hatte ich mein Bett mit unzähligen Kissen vollgestopft. Manchmal zog Mama mich auf, ob ich mich denn für die Prinzessin auf der Erbse halten würde, oder eine persische Prinzessin, bei der die Diener Angst hatten, dass sie sich irgend ein Leid zufügt und die deshalb mit gefühlten tausend Kissen im Bett liegen musste. Aber das ist natürlich alles Quatsch. Ich habe so viele Kissen, weil es einfach gemütlich ist, nicht weil ich ein Weichei bin. Punkt und Ende der Diskussion. Ihr sagt nichts mehr? Echt? Cool. Bei Mama ist das total anders. Die versteht mich manchmal einfach nicht. Wie auch. Sie hat halt nur so Sachen wie Pünktlichkeit, gut Lernen, Hausaufgaben gewissenhaft führen, schöne Schrift und so einen Quark auf dem Bildschirm. Wenn sie total schlecht drauf ist, hält sie mir auch noch vor, mich wie ein Kleinkind zu benehmen, weil ich Kissen und Kuscheltiere im Bett haben will. Voll gemein. Wie es mir geht, ist ihr, glaube ich, völlig egal. Dann ist sie im Erziehungsmodus. Ich kann mir nur erklären, dass Mama einfach so viel Frust schiebt, weil sie alleine für uns verantwortlich ist. Sie arbeitet den ganzen Tag und ist abends dann echt gestresst, wenn sie nach Hause kommt. Dann ist bei ihr null Verständnis für mich da. Sobald ich nur Piep mache in der falschen Tonlage, explodiert sie. Vielleicht hätte mein Vater da etwas regulierend eingreifen können, aber ich habe ihn nie kennengelernt. Mama hat mir irgendwann unter Tränen erzählt, das er starb, als ich noch sehr klein war und das ich ihm so ähnlich bin, das sie schon alleine, wenn sie mich sieht, das große Heulen bekommen könnte. Hey. Eine Tüte Mitleid für Mama. Klar muss sie ohne Papa leben, aber sie kannte ihn wenigstens. Ich habe ihn nie gesehen. Nie seine Stimme gehört oder seine Umarmung gefühlt. Niente. Nada. Nix. Und erzählen tut sie mir auch nicht die Bohne von ihm.
Na ja. Sicher tut Mama mir leid, dass sie so alleine ist und uns beide durchs Leben bringen muss, aber schließlich habe ich auch keinen Vater. Sie hat wenigstens einen Beruf, wo sie Anerkennung bekommt. Sie ist Chefin von einer Kosmetik Firma und die sind echt gut im Geschäft. Natürlich bedeutet das auch im Umkehrschluss, das ich Mamas sentimentale Anwandlungen nicht oft erlebe, da sie ständig auf Achse ist. Sie reist um die ganze Welt, um ihre Produkte zu vertreten. Klar. Dadurch haben wir nicht gerade wenig Geld, aber es bedeutet leider auch, das ich nicht nur meinen Papa nie gesehen habe, sondern auch meine Mama permanent und ständig mit Abwesenheit glänzt. Wer allerdings sehr nachdrücklich seine Anwesenheit ausdrückt, sind die ständig wechselnden Kindermädchen gewesen.
Also eine echt tolle Ausgangslage, in die sie mich für meine Schullaufbahn gebracht hat. Jetzt aber genug mit Selbstmitleid. Denn eines Tages passierte ein Wunder. Miriam erschien auf der Bildfläche. Sie ist sowohl Kindermädchen als auch Haushälterin und eine wirkliche Perle. Lieb, warmherzig, immer ein offenes Ohr für meine Probleme und leider auch ein wachsames Auge auf meine Hausarbeiten. Und das Beste ist, sie kocht göttlich. Dass meine Figur nicht so ganz rank und schlank ist, liegt vor allem an ihrer Magie beim Kochen. Sie greift sich Mal dieses und Mal jenes und guckt nie in ein Rezeptbuch, aber egal was sie in die Pfanne befördert ist zum Hände abschlecken lecker. Das ist für mich überlebenswichtig.
Würde ich auf Mamas Küchenfertigkeiten angewiesen sein, könnte ich wahrscheinlich noch hinter einem Besenstiel in Deckung gehen. Meine Erzeugerin würde nämlich sogar das Nudelwasser anbrennen lassen, wenn sie versehentlich mit dem Herd in Berührung kommen müsste. Miriam ist irgendwie so etwas wie Ersatzmama und beste Freundin in Personalunion. Sie päppelt mich immer wieder auf, wenn ich in der Schule gehänselt worden bin. Sie hält mir dann immer wieder lange Vorträge, dass ich mich nicht von meinen Mitschülern fertigmachen lassen soll. Meistens holt sie dann eine große Packung Vanilleeis aus dem Tiefkühlschrank und wenn wir dann beide gemütlich mit Löffeln bewaffnet in der Küche am großen Holztisch Sitzen erklärt sie mir dann schnaubend und grollend, das meine Mitschüler ein falsches Schönheitsideal haben und das was die als schön ansehen definitiv nicht richtig, sondern halb verhungert aussieht. Sie hat gut reden. Ich stehe täglich unter Beschuss.
Manchmal denke ich, Miriam sollte sich Mal mit den Hohlköpfen in der Schule zusammen setzen und denen sagen, dass es auch eine andere Meinung, als ihre gibt. Manchmal, wenn ich so richtig gute Laune habe, glaube ich auch, dass ich genau richtig bin und irgendwann meinem vorherbestimmten Partner begegnen werde. Er wird mich ansehen und sofort wissen, das ich für ihn die schönste Frau im Universum bin. Pfiff. Hoffentlich. Träumen darf man doch wenigstens und in all den Büchern, die Miriam verschlingt, steht doch auch dauernd drin, dass die Männer ihre große Liebe immer für die schönste von allen halten.
Gut. Mein vorherbestimmter Mann muss allerdings gut gepolsterte Frauen mit langen, feuerroten Haaren und etwas zu viel Oberweite lieben. Na ja. Gut gepolstert. Hmmm. Sagen wir einfach, ich bin etwas zu klein für mein Körpergewicht. Aber vielleicht wachse ich ja auch noch und bin irgendwann rank und schlank. Dann lach ich die Tussis in der Schule alle aus und werde Model.
Mit Mama kann ich darüber nicht sprechen und Miriam? Na ja in ihren Augen bin ich eh perfekt. Große Göttin, dann schicke mir doch endlich diesen von Miri prophezeiten Kerl vorbei, der den Partien hier mal zeigt, dass ich nicht hässlich bin, sondern das nur ihr Schönheitsideal von vorgestern ist.
Seid der dritten Klasse haben mich Cindy und Marianne auf dem Kieker. Ich habe keinen blassen Schimmer, was ich den beiden Zicken je getan habe. Nein. Wirklich nicht. Aber seit damals wird es immer schlimmer. Und heute nun ist der ultimative Tag. Ich muss in der Schule ein Referat halten. Ausgerechnet in Geschichte. Himmel. Sie werden mich fertigmachen. Ich kann diese blöd säuselnden Flötentöne schon in meinen Ohren klingen hören. »Ach Professor Timber. So etwas kann sich ja auch nur unsere Nessi ausdenken. Sicher hat sie wieder nicht genau genug recherchiert. Sagen sie uns doch, Herr Professor, wie es wirklich war.« Seitdem die beiden Schreckschrauben mich kennengelernt haben, verschandeln sie meinen schönen Namen. Nessi. Pfffff. Bin ich etwa das Seeungeheuer von Loch Ness? Ich heiße Vanessa Patrick. Ist doch ein schöner Name oder etwa nicht? Jedenfalls umgarnen sie dann immer den armen Professor und der fühlt sich so geschmeichelt, dass diese beiden hohlköpfigen Kühe etwas von dem Stroh in ihrem Kopf gegen sein Wissen austauschen möchten, das er sofort beginnt, die Ungenauigkeiten und Auslassungen in meinem Referat mit Wissen zu füllen. So lange, bis ich mir wie der größte Depp des Jahrhunderts vorkomme und alle anderen der Meinung sind, ich habe viel zu wenig recherchiert. Hey. Es handelt sich schließlich um ein Schulreferat und nicht um eine Doktorarbeit.
Ich bin gerade so richtig dabei, mich in einem Elend zu suhlen, als es an der Tür klopft. »Vanessa? Bist du wach?« Dringt die besorgte mütterliche Stimme durch die Tür etwas gedämpft an mein Ohr. Richtig gehört. Meine Erzeugerin geruhte mich Mal wieder mit ihrer Anwesenheit zu beglücken und anstatt mit mir shoppen zu gehen, wollte sie einen auf vorzeige Mama machen und mich zur Schule fahren. »Äh. Ja Mama. Alles Roger in Kambodscha. Bin schon wach« , säuselte ich vor mich hin. Es klang nur leider etwas gedämpft, da ich meinen Kopf noch verzweifelt ins Kissen drückte.» Junges Fräulein. Jetzt Mal raus aus den Federn. Miriam hat mir erzählt, dass du heute dein Geschichtsreferat halten sollst und soweit ich deinen Stundenplan im Auge habe«, ich konnte vor meinem inneren Auge genau sehen, wie sich der mütterliche Arm hob und sie einen kritischen Blick auf ihre Armbanduhr warf, »fängt deine erste Stunde in genau 40 Minuten an. Also jetzt raus aus dem Bett und dann im Schnellverfahren Waschen und anziehen. Aber hopp hopp, junge Dame.«
Heiliger Birnbaum. Jetzt hätte ich also keine Wahl mehr. Nun hieß es meine geliebte Miefkiste zu verlassen, den Turbo einzuschalten und im Schweinsgalopp fertigmachen. Als wenn ich es so eilig hätte, zu meiner eigenen Hinrichtung zu erscheinen. Normalerweise fährt meine Mama mit dem rasanten Tempo einer Schnecke, aber heute hielt sie sich anscheinend doch für eine Rennfahrerin. So ein Mist. Immer bedrohlicher ragten die Wände der Schule vor mir auf, die viel zu schnell näher kamen. Mit quietschenden Reifen hielt unser Auto vor dem Eingang und Mama sah mich auffordernd an. Triumphierend strich sie sich eine Strähne ihres roten Haares aus der Stirn. Bei jedem anderen hätte diese Farbe unmöglich ausgesehen, aber bei meiner Mutter nicht. Überhaupt. Es war einfach ungerecht, dass ich die Mannequin-Gene nicht geerbt hatte. Sie war groß, schlank und bewegte sich mit der Eleganz einer Tänzerin. Ich ähnelte eher einem kleinen Bären, der über den Flur tapst. Aber egal. Ich musste mit dem klar kommen, was mir das Leben mitgegeben hatte.
Unschlüssig ließ ich den Blick am Schultor hoch gleiten, aber ein mütterliches Schnauben überzeugte mich dann doch davon, die Autotür zu öffnen und mich Richtung Eingang zu bewegen. So langsam wie möglich schlenderte ich über die Flure. Als ich am Sekretariat vorbeikam, lugte ich neugierig hinein. Normalerweise war es zu diesem Zeitpunkt menschenleer, aber diesmal befand sich ein Junge am Tresen. Hatten wir einen Neuen? Ich verrenkte mir schier den Hals, aber leider konnte ich ihn nur von hinten sehen. Der Po war nicht von schlechten Eltern und für diese breiten Schultern hätte der ein oder andere meiner Mitschüler garantiert einen Mord begangen. Sekundenlang war ich noch versucht, hier zu lauern bis ich auch einen Blick in sein Gesicht werfen konnte, aber dann siegte mein schlechtes Gewissen. Obwohl meine Füße so schwer waren, als würden Bleimanschetten an ihnen hängen drehte ich mich um und schlürfte zum Klassenzimmer.
Natürlich erreichte ich den Raum viel zu schnell für meinen Geschmack und sofort, hatte ich das Gefühl, das mich alle anstarren. Verwirrt sah ich an mir herunter. Nein. Die Socken hatten beide die gleiche Farbe und das gleiche Muster, keine Flecken auf der Hose und auch das Shirt war richtig herum angezogen. DAS SHIRT. Oh nein. In der Eile hab ich Mamas Shirt gegriffen. Ich sollte gestern die Wäsche sortieren, aber dann lief meine Lieblingssendung und ich hab die restliche Wäsche nur einfach unten in meinen Schrank geschmissen. So ein Scheiß aber auch. Was sagt Mama immer? Kleine Sünden straft der liebe Gott sofort. Ja klar doch. Wäre ja schlimm, wenn man ungestraft Blödsinn machen könnte, aber hätte das nicht morgen passieren können? Ich merkte, wie mein Kopf allmählich die Farbe von reifen Tomaten Annahmen ich wusste genau, das in diesem Moment der eigentlich schöne blonde Ton meiner Haare in eine rötliche Richtung abrutschte. Ich hätte jetzt schon heulen können. Wer mag schon ein Referat halten, bei dem man vorher weiß, das man lächerlich gemacht wird und dabei ein T-Shirt anhat auf dem dick und fett steht:» Ich bin cool«. Am liebsten wäre ich auf der Stelle im Boden versunken, aber leider findet man einfach keine geeigneten Löcher im Fußboden, wenn man gerade Mal, welche braucht. Also holte ich tief Luft, ließ meine Haare wie einen Schleier vor mein Gesicht fallen und hoffte, das sie so auch den doofen Text etwas bedecken würden.
Jetzt war ich dankbar dafür, das meine Mutter mich letzte Woche davon abgehalten hätte, sie zu schneiden. »Ach Vanessa«, hatte sie mir in den Ohren gelegen. »Du warst doch immer so stolz darauf, das deine Haare so lang sind und denk doch Mal daran, wie ewig es gedauert hat, sie wachsen zu lassen.« Bla bla bla. Irgendwann hab ich dann um des lieben Friedens willen nachgegeben. Aber warum müssen Mütter eigentlich immer recht haben? Wo steht das denn geschrieben? Agggrrr.
Ich wollte mich gerade so unauffällig wie möglich auf meinen Stuhl setzen, als der Professor auch schon seinen Adlerblick auf mich fallen ließ. »Ah, Vanessa. Schön das du auch noch beschlossen hast, zu uns zu stoßen. Mach dir gar nicht erst die Mühe, dich auf deinen Platz zu setzen. Komm einfach gleich nach vorne, damit dich alle besser sehen können. Wir sind schon alle sehr gespannt auf deine Ausführungen.«Jetzt bereute ich, dass ich mich ausgerechnet für Kräuterkunde im Mittelalter als Thema entschieden hatte. Da gab es doch so viele Möglichkeiten, für den Professor zum Eingreifen und abschweifen. Ich holte tief Luft und ließ den Blick noch einmal über meine Mitschüler schweifen. Candy und Marianne grinsten sich gegenseitig an. Die beiden Harpyien freuten sich schon auf meine baldige Blamage. Der Rest der Klasse sah mich entweder mitleidig oder hämisch an, je nachdem, ob sie Mitläufer des Dream-Teams waren, oder nicht?
Dann aber bekam ich noch etwas Galgenfrist. Die Tür ging auf und der Neue kam in unser Zimmer geschlendert. Unwillkürlich wurde mein Blick von seinem Gesicht angezogen. Mir fiel jetzt echt die Kinnlade runter. Mensch sah der gut aus. Schnell versuchte ich meine Haare noch etwas mehr nach vorne zu Drapieren, aber es war schon zu spät. Er hatte Mamas tolles Shirt gesehen und ich sah, wie seine Mundwinkel wie in Zeitlupe nach oben gezogen wurden. Eigentlich besaß er ein hübsches Lächeln. Irgendwie süß. Sekundenlang strahlten seine stahlblaue Augen auf. Ich musste mich echt zwicken, dass ich den Mund wieder zumachte, aber seine etwas längere Haare waren pechschwarz und bildeten einen unglaublichen Kontrast zu diesem unglaublich intensiven Blau.
Verunsichert sah ich noch einmal zu dem Neuen hin. Professor Timber winkte ihn zu mir nach vorne. »Mach doch Mal bitte Platz, Vanessa, damit sich unser neuer Mitschüler vorstellen kann«, bekam ich die kurze Anweisung. Kein Problem. So schnell ich konnte, rückte ich weiter in den Hintergrund. Dummerweise war ich zu hastig. Ich stieß mit dem Neuen zusammen. Dieses Mal trafen sich unsere Blicke. Erst dachte ich, ich seh nicht richtig. Wie gebannt versank ich in diesem wunderschönen Blau und schon wieder blieb mir die Luft weg. Es schien so, als würden rote Flammen in seinen Augen auflodern. Sekundenlang war ich wie gebannt. Wie festgefroren waren meine Füße mit dem Boden verwachsen und weigerten sich hartnäckig, sich auch nur Millimeter weise weiter zu bewegen. Für eine Weile existierte die Welt um mich nicht mehr. Alles was ich wahrnahm, waren diese tanzenden Flammen inmitten des dunklen Blautons. Obwohl mir schon ganz schwummrig war, hätte mich in diesem Moment keine Macht der Welt dazu bringen können, den Augenkontakt zu lösen. Immer tiefer versank ich in seinen Augen, konzentrierte mich auf die tanzenden Flammen. Mein Sichtfeld begann zu schrumpfen und plötzlich wurde mir schwarz vor Augen. Dankbar nahm ich den rettenden Strohhalm an, den mir das Schicksal in diesem Moment präsentierte und versank in einer tiefen Ohnmacht.
Kilian hatte gerade seine neue Klasse betreten, als ihm vor Aufregung der Atem stockte. Schon beim hereinkommen in den Raum hatte er ihre Aura gespürt. So lange hatte er sie gesucht und jetzt war er seinem Ziel zum Greifen nahe. Beinahe zärtlich ließ er seinen Blick über sie wandern, versuchte sie alleine durch die Macht seines Blickes für immer an sich zu binden, aber dies war noch viel zu früh. Die Zukunft seiner ganzen Welt hing von diesem jungen, bezaubernden Mädchen ab. Er musste seine eigenen Bedürfnisse gnadenlos in den Hintergrund schieben. »Noch nicht», beruhigte er den Drachen in sich. »Warte noch. Sie ist eine Tybalthexe. Sie kann unsere Macht ertragen. Aber zuerst müssen wir die Königin und ihre Reliquie finden«. Während sein Blick immer wieder von ihr angezogen wurde, fiel ihm etwas auf. Irgendetwas passte nicht ins Bild. Als sie den Kopf drehte und unwillig die Haare zurück schüttelte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Die ganze Zeit hatte ihn unterbewusst ihre Haarfarbe irritiert. Sie hatte blonde Haare. Sicherlich, für einen Moment schien es, als würden sie im Licht der Lampe rötlich schimmern, aber sie besaß nicht diesen satten Rotton, der allen Tybalthexen eigen war. War sie nur eine Halbhexe? Hatte er doch nicht das richtige Mädchen vor sich?
Für einen kurzen Moment drohte ihn eine düstere Vorahnung wie ein Panther anzuspringen. Dann aber trafen seine Augen auf ihre und er musste scharf die Luft einziehen. Der Drache in seinem Inneren ließ sich nicht mehr den Mund verbieten. Er brüllte Laut und vernehmlich. Sie war es. Ganz sicher sogar war sie die Richtige. Und tatsächlich. Noch während er sie nicht beinahe mit der Kraft seines Blickes verschlang, geschah das Unfassbare. Ihre Augen versanken immer tiefer ineinander. Als er schon beinahe glaubte, sie könnte den Drachen in seinen Augen sehen, begannen ihre Haare scheinbar ein Eigenleben zu entwickeln. Als wenn sie von einem unsichtbaren Sturm erfasst wurden, peitschten sie ihr um den Kopf und voller Erstaunen registrierte er, wie sie vom Scheitel an beginnend die Farbe wechselten. Immer dunkler wurde der Haarton, bis er endlich dem tizianrot der Tybalthexen entsprach. Fasziniert hielt er die Luft an. Das unheimliche Schauspiel war noch nicht zu Ende. Was ging hier vor sich? Kaum war der wunderschöne Rotton in den Haarspitzen angekommen, begannen sich einige der Strähnen immer mehr zu verdunkeln. Ihre lange Mähne umfloss ihren schlanken Körper. Endlich schien er sich wieder daran zu erinnern, das er Atmen musste. Erst in diesem Moment wurde ihm klar, dass er die Luft angehalten hatte. Vor ihm stand nicht nur eine einfache Tybalthexe. Nein. Die ungewöhnliche Haarpracht konnte nur eins bedeuten. Sicher. Alle Tybalthexen hatten diesen wunderschönen Rotton, aber nur eine ganz kleine Schar besaß von Schwarz durchwirktes Rot. Sein Herz jubelte. Endlich war er am Ziel. Voller Siegessicherheit streckte er die Hand nach dem schönen Mädchen aus.
»Mein«, brüllte sein Drache voller Stolz. Diese Haarfarbe war auf der ganzen Welt einmalig. Rote Locken, durchzogen von pechschwarzen Strähnen, die miteinander harmonierten und beinahe Mahagonibraun wirkten. Sie schillerten und die Farbe changierte. Sie hatte die Augen aufgerissen und starrte ihn an. Wusste sie, wer er war. Hatte sie erkannt, dass er sie suchte? Dass sie die Seine war? Ihre Augen trafen sich, schimmerten einen Moment noch tiefviolett auf und im nächsten Augenblick löste sie sich vor seinen Augen in Luft auf. Entsetzt legte er die Strecke zu der Stelle, wo sie eben noch gestanden hatte im Spurt zurück. Es war so wichtig, dass er sie gefunden hatte. Die Zukunft seines Volkes hing von dieser wunderschönen Junghexe ab und jetzt? Er hatte sie gefunden, nur um sie im selben Moment wieder zu verlieren. Sein Herz lag zentnerschwer in seiner Brust. Die Enttäuschung jagte wie Feuer durch sein Blut und der Drache in ihm schrie auf vor Schmerz über den Verlust seiner Partnerin. Er musste herausfinden, was da eben geschehen war. Er musste das Mädchen finden. Wo war sie hin? Was war mit ihr geschehen?
Er achtete nicht auf das wilde Gestikulieren des Lehrers. Es war nicht mehr notwendig, den Unterricht zu besuchen. Jetzt galt es, Vanessa wiederzufinden. Wenn er Pech hatte, würde ihre Spur durch Zeit und Raum führen. Er schnappte sich ihre Sachen, hob die zu Boden gefallenen Referat Blätter auf und machte sich auf den Weg zur Tür. Er hob die Hand und winkte damit lässig auf das Chaos hinter sich. Funken stoben aus seinen Fingerspitzen und schwebten auf die Klasse zu. Umhüllten die aufgeregt durcheinanderredenden Schüler ebenso, wie den fassungslos sich die Augen reibenden Lehrer.
Kilian hatte alle Hände voll damit zu tun, seinen Drachen zu beruhigen, der verzweifelt nach seiner verschwundenen Partnerin brüllte. Der Drache war sein inneres Feuer, ein Teil seiner Seele. Während er noch das Geschrei um sich herum auszublenden versuchte, wurde ihm plötzlich bewusst, das er schon einige Zeit eine Totenstille um ihn herum herrschte. Als er endlich den Kampf gegen sich selber und seine Frustration gewonnen hatte, sah er sich erstaunt nach dem Grund der Stille um. Ein junger Mann mit schokobraunen Haaren und blauen Augen saß lässig auf einem Tisch neben ihm. Seine Augen funkelten unternehmungslustig und er hatte lässig die Ellenbogen auf die Oberschenkel gestützt. Kilian löste seinen Blick vom frechen Grinsen des Jungen und sah sich in der Klasse um. Die Szenerie um ihn herum war eingefroren. Die gesamte Klasse mitsamt ihrem Lehrer waren mitten in der Bewegung erstarrt. Vorsichtig tastete er nach den Gedanken des jungen Mannes, wurde aber sofort von einer Mauer gestoppt.» Das kannst du vergessen. Ich hatte eine sehr gute Lehrerin, die mir alles über die Verteidigung bei geistigen Angriffen beigebracht hat.«Kilian räusperte sich und hob die leeren Handflächen, um seinen Friedenswillen zu bekunden.» Ich wollte nur wissen, wer du bist und was du hier willst. Gedanken lesen geht halt schneller. Ich hatte keinen Angriff im Sinn und ehrlich gesagt hab ich auch nicht die Bohne von Zeit zu vergeuden. Ich muss meine Gefährtin suchen.«
»So so. Deine Gefährtin.« Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. »Ich hab keine Ahnung, woher du kommst und was du hier machst, aber ich bin schon seit einer Woche hier in der Klasse. Du hast heute deinen ersten Tag und ich glaube nicht, dass Vanessa dich kennt. Sonst, hätte sie dich vorhin nicht wie ein verschrecktes Kaninchen angesehen.« Vorsichtig unternahm Kilian einen weiteren Versuch, die Barriere des fremden Jungen zu durchbrechen, aber erneut ohne Erfolg. »In Ordnung, du Schlaumeier. Dann reden wir einmal Klartext. Wie hast du es geschafft, die gesamte Klasse einzufrieren, und was willst du von meiner Gefährtin?«»Immer Mal langsam, junger Drache!« Feuer schien aus den Tiefen der Augen aufzusteigen, als Kilian wie vom Blitz getroffen herumfuhr. »Woher weißt du es», presste er erstickt heraus. »Hey, halte bitte dein Feuer unter Kontrolle. Ich will Vanessa, ob sie nun deine Gefährtin ist oder nichts, keinerlei Leid zufügen. Mein Name ist Magnus und ich komme von der vergessenen Insel.« Kilian schnaubte abfällig. »Die vergessene Insel ist nur eine uralte Legende, die man kleinen Drachen erzählt, die nicht einschlafen wollen.« »Pffff«, stieß Magnus die Luft verblüfft aus den Nasenlöchern. »Woher kommst du Drache, wenn nicht von unserer Insel. «Die Aufregung durchfloss Magnus und elektrisierte ihn. Er konnte es kaum erwarten,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 05.01.2019
ISBN: 978-3-7438-9239-2
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