Gestern. Die Frau saß in ihrem Zimmer auf der Couch und dachte an die Vergangenheit. Gestern? War es erst gestern gewesen? Gestern war sie schön. Sie hatte viele Verehrer und wurde oft zum Tanzen aufgefordert. Sie hatte gelacht, gefeiert, getrunken. So manche Nacht war sie in einem fremden Bett aufgewacht. Die schöne junge Frau. Man liebte sie und feierte sie. Sie hatte Talent. Sie war reich. Was kostet mich das Leben, fragte sie sich. Aber die Zeit, die sie für endlos hielt, rollte voran.
Die Jahre vergingen. Keiner war ihr gut genug, ihn zum Mann zu nehmen. "Einen?" ,fragte sie sich. "Was soll ich mit einem. Es gibt doch so viele junge Männer und alle lachen mich an. Alle machen mir Komplimente. Was kostet die Welt?"
Sie lachte und feierte. Tanzte und amüsierte sich. Einer war da, der sie trotz ihrer Allüren gerne mochte. Er war immer da. Trocknete ihre Tränen, wenn sie wieder einmal Liebeskummer hatte. Tröstete sie, wenn sie an der Welt verzweifelte. Bewahrte sie auch oft vor Unheil, wenn sie selbst wieder zu leichtsinnig war. Oft sah er sie mit Sehnsucht an, aber er war ihr nicht schön genug. Ein Freund...ja. Aber mehr nicht. Irgendwann ging er. Er sagte, er kann nicht mehr mit ansehen, wie sie sich selber kaputt macht.
Die Verehrer wurden weniger, aber sie hatte immer noch viel Geld. Es gab noch genug Männer, die um sie herum schwirrten. Sie gab mit vollen Händen. Sie lebte ihr Leben.
Dann - war sie alt. Das Gesicht im Spiegel war nicht mehr das einer schönen, jungen Frau. Sie selbst erkannte sich kaum noch unter all den Falten und Runzeln. Ihr Geld hatte sie für Schönheitsoperationen ausgegeben. Fast alles war fort. Aber die Jugend hatte sie sich damit nicht zurückkaufen können. Als ihr Geld fort war, gab es keine Schönheitsoperationen mehr. Das Alter schlug unerbittlich zu. Die Zeit forderte ihren Tribut ein. Die Welt fing an, sich wieder weiter zu drehen.
Nun saß sie auf dem Sofa. Es war nicht mehr ihre Wohnung. Da konnte sie schon lange nicht mehr bleiben. Sie konnte sich nicht mehr selbst versorgen. Sie vergaß einfach zu viel. Sogar das Essen, wenn man sie nicht daran erinnerte. Heute war der Arzt da. Er sprach davon, das sie Demenz hatte. "Demenz?", fragte sie sich. "Was soll das sein?" Der Arzt hatte gesagt, sie würde immer mehr vergessen. Aber das hatte sie ja schon. Vielleicht war es ganz gut, das sie viel vergaß. Sie würde vielleicht vergessen, wie alle sich von ihr abgewendet hatten, als sie die Zeit nicht mehr aufhalten konnte. Das wäre gut. Ein gutes Vergessen. Würde sie auch andere Sachen vergessen? Bestimmt.
Sie schüttelte den Kopf. "Verschwendet!", dachte sie. "Ich habe mein Leben mit Feiern und Festen verschwendet aber nicht gelebt. Ich habe niemanden, der mich richtig geliebt hat."
Sie steht müde auf und verlässt das Zimmer. Heute soll in den Nebenraum jemand neues einziehen. Sie geht auf den Gang und traut ihren Augen nicht. Da steht er, der Freund aus der Jugend. Da steht er, der immer für sie da war, bis sie den Bogen überspannte. Er schaut sie an und kommt auf sie zu. Er runzelt die Brauen. "Sophia?", fragt er erstaunt. "Du hier?" Sie versucht die runzligen Hände hinter ihrem Rücken zu verstecken. Er aber nimmt ihre Hände und küsst sie galant.
"Ich freu mich, das du da bist", flüstert sie. Da nimmt er sie in den Arm. "Ich hab Demenz". Sie wagt es kaum auszusprechen. Er aber lächelt sie gütig an. "Ich bin da, mein Schatz. Ich habe immer auf dich gewartet."
Sie gehen in ihr Zimmer und schauen in den Spiegel über der Kommode. Zum ersten Mal sieht sie dort nicht wieder die alte Frau. Sie sieht sich beide. Damals, wo sie noch jung waren. Damals, wo sie schön war. "Wir sind zusammen", flüstert er ihr ins Ohr und streicht ihr eine Haarsträhne zurück. Und bald sind wir in der Ewigkeit vereint.
Sie waren glücklich, die letzte Zeit ihres Lebens. Die Frau vergaß immer mehr, aber ihn vergaß sie nicht. Er kümmerte sich liebevoll um sie. Dann wurde auch er krank. Er konnte nicht mehr aufstehen. Sie saß an seinem Bett und hielt seine Hand. Eines Tages fing er an, schwer zu Atmen. Er holte zitternd Luft und sah ihr Angstvoll in die Augen. Fest drückte die Frau seine Hand Sie waren zusammen bis zum letzten Atemzug. Erst als er sah, das sie über seinem Körper zusammen brach, verhauchte auch sein Atem und verließ zum letzten Mal seine Lungen. Gemeinsam traten sie die letzte Reise an, zusammen in die Ewigkeit.
Texte: Katja Prüter
Bildmaterialien: C.A.D.
Tag der Veröffentlichung: 02.03.2014
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Widmung:
Für die Liebe