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Es schneit.
Eine Erinnerung an die Kindheit wird wach. In solchen Momenten habe ich früher die Nase an die Scheibe gepresst und den unzähligen Kopfkissenfedern zugeschaut, die behutsam auf die Erde taumeln und sich auf dem gefrorenen Boden zu einem dichten weißen Teppich verknüpfen. Ich werde unsanft herausgerissen aus diesem Augenblick der heilen Welt. Das Telefon klingelt. Mein Vater kündigt am anderen Ende der Leitung Besuch zu Weihnachten an.
„Warum wollt ihr denn ausgerechnet an Heiligabend kommen, Papa?“
„Weil deine Schwester im Skiurlaub ist und sich deine Mutter den Arm gebrochen hat. Weil sie uns bis jetzt an jedem verdammten Weihnachtsfest verwöhnt hat. Sie hat an diesen Tagen stundenlang in der Küche gestanden, um ihrer Familie die köstlichsten Speisen zuzubereiten. Da ist es doch wohl nicht zuviel verlangt, wenn deine Mutter dieses Mal wenigstens dich um sich haben möchte.“
Bevor er weiterredet, wende ich ein:
„Du weißt aber schon, dass ich nicht kochen kann?“
„Wenn es der Jungfrau Maria damals vor über zweitausend Jahren gelungen ist, unbefleckt ein Kind zu gebären, wirst du doch wohl in der Lage sein, deinen Eltern an diesem Abend eine warme Mahlzeit anzubieten.“
Mir wird bewusst, warum die Zeit vor Weihnachten Advent genannt wird: Sie kommen!
Und ich brauche dringend Rat.
Das Freizeichen im Telefonhörer lässt mich lange warten. Endlich hebt sie ab.
„Ich brauche deine Hilfe, Jule. Meine Eltern kommen Heiligabend.“
„Und was kann ich da tun?“
„Ich dachte mir, wenn du an dem Tag noch nichts anderes vorhast, könntest du uns was kochen.“
„Du spinnst. Selbst wenn ich noch nichts vorhätte, spätestens jetzt würde mir etwas Besseres einfallen, als mich zu Weihnachten für deine Familie an den Herd zu stellen.“
„Bitte Jule, Du bist meine letzte Hoffnung. Denk noch einmal darüber nach. Ich würde dir ewig dankbar sein.“
„Auf keinen Fall.“
Was folgt ist das Besetztzeichen. Sie hat aufgelegt.
Von ihrer Ablehnung lasse ich mich allerdings nicht entmutigen und rufe ein paar Tage später noch einmal an.
„Hast du darüber nachgedacht?“
„Die Antwort ist immer noch nein.“
„Jule, du weißt, dass ich nicht kochen kann. Ich hab alles versucht. Jeder Catering-Service hat mir abgesagt. Du bist nicht nur meine beste Freundin, sondern auch die beste Köchin, die ich kenne. Gib dir einen Ruck.“
Sekundenlang Stille.
„Bist du noch dran? Du bist meine letzte Rettung.“
„Gut. Ich werde dir helfen. Aber ich habe was gut bei dir.“

Die erste Hürde war genommen. Jule hatte sich breitschlagen lassen, den Heiligabend zu opfern, um für uns ein Weihnachtsessen zu zaubern. Es sollte ein festliches Dinner werden, deshalb hatte Jule ‚Entenbrust à la orange’ vorgeschlagen. Sie hatte mir eine Liste geschrieben und ich mich schon gestern aufgemacht, die nötigen Zutaten einzukaufen. Schon frühmorgens hatte es angefangen zu schneien. Da ich aus Erfahrung wusste, dass der Schneedienst im Bergischen Land etwas länger brauchte, um in die Kufen zu kommen, hatte ich mein Auto in der Garage stehen lassen und war mit dem Bus in die Stadt gefahren in der Hoffnung, so dem winterlichen Chaos auf den Straßen und der lästigen Parkplatzsuche entgehen zu können.
Das meiste auf der Liste war schnell besorgt. Nur eine Ente war nirgends aufzutreiben. Die Frage „Haben Sie vorbestellt?“ hatte mich an den Rand eines Nervenzusammenbruchs geführt. Nachdem ich mir stundenlang vergeblich die Hacken abgelaufen hatte, war ich mit vier gefrorenen Hähnchen nach Hause gekommen.
Zwar war Jule nicht begeistert gewesen, doch stand sie mittlerweile schon seit einiger Zeit hinter dem Herd und kochte sich einen Wolf. Mehrere Angebote, sie in ihren Bemühungen zu unterstützen, hatte sie mit dem Verweis auf meine Unzulänglichkeit ausgeschlagen. Also hatte ich mich zunächst ins Esszimmer verzogen, um dort schon einmal den Tisch für heute Abend zu decken. Gerade als ich anfangen will den Baum zu schmücken, klingelt die Hausglocke. Verwundert schaue ich auf die Armbanduhr. Meine Eltern erwarte ich erst in drei Stunden. Wer hat die Zeit, mich jetzt zu besuchen? Ich öffne die Tür und traue meinen Augen nicht. Vor mir steht die Familie meiner Schwester, schneebepudert und bibbernd vor Kälte.

„Was wollt ihr denn hier? Solltet ihr nicht im Skiurlaub sein?“

Die Schneekinder Marc und Amelie drücken mich zur Seite und laufen laut johlend in den Flur. 

„Onkel Kaspar, war der Weihnachtsmann schon da? Wo hat er unsere Geschenke hingelegt?“
„Kinder bleibt stehen. Zieht erst einmal die Jacken und Schuhe aus. Ihr tragt ja den ganzen Matsch ins Haus.“, und während meine Schwester an mir vorbei ihrem Nachwuchs hinterherläuft, fragt sie mit einem Seitenblick auf mich:
„Hat Papa uns denn nicht angekündigt? – Wegen des heftigen Schneetreibens ist unser Flug gecancelt worden. Papa meinte, er und Mama würden sich freuen, wenn die ganze Familie hier zusammen Weihnachten feiert. Er wollte dir Bescheid geben.“
Allmählich scheine ich die Sprache wiedergefunden zu haben, denn ich höre mich sagen:
„Nein. Seit Mamas Unfall habe ich nicht mehr mit den Eltern gesprochen.“
Mein Schwager, der die Szene eher schmunzelnd von draußen beobachtet hat, verbirgt seine Erheiterung schnell hinter einer ernst gemeinten Frage, als er meinen hilflosen Gesichtsausdruck auffängt.
„Dürfen wir dich denn trotzdem überfallen? Wir wissen nämlich sonst nicht, wo wir hin sollen.“
Ich bin um Haltung bemüht und versuche meine wahren Gefühle hinter Ironie zu verstecken:
„Da ihr euch mit dem Stall hinterm Haus wohl nicht zufrieden geben werdet, komm also rein und mach die Tür hinter dir zu. Es zieht.“
Jule hat die Unruhe in der Diele mitbekommen und ruft aus der Küche:
„Kaspar, sind deine Eltern schon da?“
„Es sind nicht meine Eltern. Ulla und ihre Familie beehren uns mit einem unangekündigten Besuch.“
Zunächst hören wir blechernes Geschepper. Sekunden später wird die Küchentür aufgerissen und Jule stürzt heraus, hektisch bemüht, sich der Schürze zu entledigen.
Noch während ich meiner erstaunten Freundin unsere Gäste vorstelle, klingelt es erneut an der Haustür.
Dieses Mal sind es meine Eltern.
„Guten Tag Papa. Schön dich zu sehen. Scheinbar seid ihr gut durchgekommen.“
Mein Vater will der drohenden Umarmung entgehen und meint mit einer Armbewegung nach hinten:
„Du solltest mal in der Einfahrt streuen. Beinahe hätte sich deine Mutter auch noch den anderen Arm gebrochen.“
„Ja Papa. Auch ich wünsche dir ein frohes Fest.“
Die Frau hinter dem Griesgram hält mir ihre Wange zum Kuss hin.
„Hallo Mama. Komm herein. Warte, ich helfe dir aus dem Mantel. Wie lange musst du den Gips noch tragen?“
„Ach mein Junge. Der wird erst im neuen Jahr entfernt. Aber lass dich ansehen. Du siehst blass aus. Geht’s dir nicht gut?“
Ich komme um die Antwort herum, weil Marc und Amelie jetzt erst einmal ihre Großeltern lauthals willkommen heißen. Nachdem ich die Jacken und Mäntel an der Garderobe auf Bügel gehängt habe, schiebe ich die Meute vor mir her ins Wohnzimmer.
„Papa, Mama, darf ich euch Jule vorstellen? Sie ist die wahnsinnig nette Freundin, die sich bereit erklärt hat, uns heute zu bekochen.“
Nachdem Jule auch die Neuankömmlinge herzlich begrüßt hat, meint sie:
„Erlauben Sie, dass ich mich wieder in die Küche zurückziehe. Das Essen soll doch nicht anbrennen.“
Darauf erwidert meine Mutter:
„Jule, ich komme mit. Ein bisschen Hilfe kann Ihnen bestimmt nicht schaden.“
Da ich nur allzu gut weiß, was meine Mutter jetzt am Herd anrichten möchte, versuche ich Jule vor ihrem Tatendrang zu schützen und beeile mich zu sagen:
„Lass es Mama. Jule hat alles im Griff. Und du solltest deinen Arm schonen.“
„Ach lass mal, mein Junge. Ich will doch nur nach dem Rechten sehen. Sie haben doch bestimmt nichts dagegen, Frau Jule.“
Und schon ist sie hinter Jule in der Küche verschwunden. Verfolgt von ihren abenteuerlustigen Enkeln, die doch nur mal schauen wollen, was es zu essen gibt und ob sie vom Plätzchenteig naschen können.
Das Wort Plätzchen hat meine Schwester alarmiert. Sie läuft wieder ihren Kindern nach.
Hinter der Schwingtür ist nur noch lautstarkes Stimmengewirr zu hören.
„Nein Kinder. Es gibt keine Plätzchen ….“
Ich wusste gar nicht, dass man ‚Ente à la orange’ auch mit Hähnchen …“
„Nehmt sofort eure Finger …“
„Wie? Sie haben den Geflügelfond nicht …“
„Marc, lass das.“
In der Küche braut sich ohrenscheinlich eine Katastrophe zusammen. Eilig drücke ich den Männern ein Glas Wein in die Hand und fordere sie auf, sich doch bitte zu setzen, als auch schon die Tür zurückschwingt. Jule hebt verzweifelt die Arme.
„Kaspar, du musst mir helfen. Ich kann doch nicht …“
Ich falle ihr ins Wort.
„Aber ich kann und werde sie aus der Küche jagen.“
Ich gehe an Jule vorbei in die Küche und verschaffe mir einen Überblick.
„Kinder, was haltet ihr davon, wenn ihr mir helft, den Baum zu schmücken. Ich schaffe das wohl nicht alleine. Und ihr wisst ja: Der Weihnachtsmann legt seine Geschenke nur unter einem geschmückten Christbaum ab.“
Scheinbar zündet dieses Argument. Die Kinder drängen mich zurück ins Wohnzimmer.
„Mama, Ulla, ihr kommt bitte auch mit und kümmert euch um eure Männer. Jule kommt schon alleine klar.“
Die Letztgenannte wirft mir einen dankbaren Blick zu.
Im Wohnzimmer entspannt sich allmählich die Situation. Die Erwachsenen unterhalten sich bei einem Glas Wein und sitzen gemütlich um den Kamin. An den Holzscheiten lecken kleine goldgelbe und blaue Flämmchen. Sie züngeln sich hoch, werden größer und vereinigen sich bald zu einem knisternden Feuer. Die Kinder hängen silbernes Lametta an die Tannenzweige, während ich die Lichterkette anbringe. Amelie – die ältere von beiden – traut sich schon zu, die Kugeln im Baum zu verteilen. Ich staune, wie geschickt sie sich anstellt. Ihr kleiner Bruder ist ganz begeistert, weil er die Holzfiguren auf die Zweige setzen darf. Ich hebe ihn hoch, damit er den großen Engel auf die Baumspitze stecken kann. Zum Highlight wird der Kunstschnee aus der Dose. Nachdem ich ihnen erklärt habe, dass der Weihnachtsmann ganz besonders auf artige Kinder steht, besprühen sie nur den Baum und stellen keinen Unsinn an. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Der Baum ist wunderschön geschmückt. Als die Kerzen brennen, wird das Werk bestaunt und die Künstler vielstimmig gelobt. Die Kinder sind mächtig stolz.
In mir kriecht Weihnachtsstimmung hoch.
Jetzt hat Jule ihren Auftritt.
Das „kleine Schwarze“ steht ihr ausgesprochen gut.
„Darf ich die Anwesenden um Aufmerksamkeit bitten? Wenn ihr euch bitte ins Esszimmer begeben wollt. Es ist angerichtet: Ein fast perfektes Weihnachtsdinner.“

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Tag der Veröffentlichung: 11.12.2008

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