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Anmerkung der Autorin

Die Welt hat sich verändert. Er hat sie verändert.

Er ist der Bestimmer über die Lebenszeit. Die Pflanzen und Tiere lassen sich leicht lenken, sodass er diesen nur wenig Aufmerksamkeit schenken muss. Ganz anders verhält es sich bei den Menschen. Danyel legt den Tag fest, an dem der natürliche Tod eintritt. Jeder Mensch auf Erden weiß, wann dieser Moment ist. Sie haben es schriftlich, überbracht von einem Boten binnen Stunden nach der Geburt. Ein nettes Willkommensgeschenk – sofern die Eltern beim Entrollen des handgroßen Pergaments erleichtert feststellen, dass er ihrem Kind mehrere Jahrzehnte des Lebens gewährt …

Danyel ist so alt wie der Planet. Langeweile ist sein steter Begleiter. Seine Entscheidungen stützt er nicht auf Menschenkenntnis, nicht auf Erfahrungswerte und auch nicht auf schwerwiegende Überlegungen. Wie viel Zeit er dem neugeborenen Menschlein schenkt, liegt allein am Spiel und dem Zufall. Würfel, Karten oder Mikadostäbe entscheiden oft darüber, wie viele Jahre, Monate und Tage das neue Erdenkind am Leben bleibt. Je mehr die Bevölkerung wuchs, umso uninteressanter wurde sie für Danyel. Die Wünsche und Träume der Sterblichen interessieren ihn nicht, dennoch liebt er es, mit ihnen über die zugeteilte Lebenszeit zu verhandeln. Dies erheitert ebenfalls seinen schnöden Alltag. Er weiß, was viele von ihnen denken: Das Schicksal ist unfair.

 

Die interessanteste Phase seines endlosen Daseins erlebte er, als er sich der Welt vor sieben Jahrzehnten offenbarte. Mit Belustigung verfolgte er, wie die Religionen haltlos in sich zusammenfielen, nachdem die Menschen erkennen mussten, dass es weder Gott noch Teufel gab – keinen Himmel, keine Hölle – nur die Realität. Der Glaube starb. Denn nur das Schicksal lenkt ein jedes Wesen … und dieses trägt den Namen Danyel.

Die Entscheidung, statt im Verdeckten, vollkommen offen inmitten der Lebenden zu agieren, war eine gute gewesen. Sie schmälerte Danyels Langeweile. Zudem fand er rasch ein Domizil.

Danyel nennt die Vatikanstadt sein zu Hause, den Petersdom seinen liebsten Platz – und nichts erinnert mehr an den christlichen Hintergrund dieses Gebäudes. Dort empfängt er die Menschen, die kommen, um mit ihm zu feilschen. Einen Grund haben sie alle. Die meisten lassen sich von ihren Gefühlen leiten, andere von Vernunft und wieder andere handeln aus Berechnung. Danyel gewährt gegen einen gewissen Preis eine Änderung der Lebenszeit. Gewinner ist dabei niemals der Mensch, auch wenn der das glaubt …

 

Die Pergamentbögen, die gerade vor ihm lagen, trugen die Namen der kürzlich geborenen Kinder. Seine beiden Gehilfen saßen an ihrem Tisch, das kratzende Geräusch der Schreibfedern verstummte immer nur kurz. Seufzend griff Danyel zum Würfel.

Auf dem obersten Bogen stand: Monja Hein, geb. 12.01.1997

Der Würfel fiel und zeigte zwei Augen, dann vier, wieder zwei und beim letzten Wurf fünf. Danyel griff seine Feder und schrieb: 2 Jahrzehnte, 4 Jahre, 2 Monate, 5 Tage. Damit war entschieden.

Das Pergament schob er auf die andere Tischseite und nahm sich das nächste vor. Zu jeder vollen Stunde kam der Herr der Boten, sammelte die fertigen Bögen ein und reichte sie an die Überbringer weiter. Danyel wusste, die Menschen nannten seine Boten Todesengel, dabei waren sie keine Engel im altbekannten Sinne. Übermenschlich ja, aber gewiss nicht diese Figuren, wie sie im christlichen Glauben existiert hatten. Allerdings amüsierte ihn der Vergleich, vor allem, da seine Boten nicht mal Flügel besaßen.

Ein paar Bögen beschrieb er noch auf diese Weise, ließ die Augen des Würfels entscheiden. Doch die Menge, die jeden Tag anfiel, ließ nicht zu, dass er mit der Zeit zu lange spielte. Es war nur eine Ablenkung, da es ihm sonst zu eintönig erschien. Die Geburtenrate war zwar etwas gesunken, nachdem er sich der Welt offenbart hatte, dennoch kamen binnen eines Tages etwa 280.000 Menschen zur Welt. Die meisten Pergamente füllte er gedanklich. Die Papiere und die Schreibfedern bewegten sich von allein, nur weil er es so wollte. In diesen Momenten saß Danyel oft da, als würde er meditieren. Die Zahlen setzte er willkürlich, Namen und Herkunft waren ihm einerlei, ebenso wie das, was er festlegte. Im Großen und Ganzen setzte er ein durchschnittliches Alter fest. Dazwischen schob er wahllos welche, die sehr jung oder sehr alt sterben würden. Eine spezielle Auswahl traf er dabei nicht.

 

Die Tür schwang auf und Dafour, der Herr der Boten, kam mit gerunzelter Stirn auf ihn zu.

„Du bist im Verzug, Danyel“, merkte er an, ohne dass es wie eine Rüge klang. Das hätte er sich auch nicht erlauben dürfen.

„Lass das meine Sorge sein.“

Dafour deutete ein Nicken an. Anschließend wies er mit der Hand auf die Kiste mit den Stapeln fertiger Lebenszeitdokumente und ließ sie auf sich zufliegen. Neben der Fähigkeit, wie Danyel die Dinge willentlich zu bewegen, war er wie die anderen Boten in der Lage, zu fliegen.

Danyel bezweifelte nicht, dass jedes dieser Pergamente zum richtigen Empfänger gelangen würde. Noch nie war Dafour ein Fehler bei der Zuteilung unterlaufen. Dass die Menschen die Dokumente ausgehändigt bekamen, war im Vergleich zum Alter der Welt eine absolute Neuigkeit.

Vorher war es einfacher gewesen. Doch die Zeit, als die Pergamente noch in hohen Regalen lagerten, lag in der Vergangenheit. Dafour war seit jeher zuständig für die Papiere und nun wurden sie eben ausgeliefert, statt in wie auch immer geordneten Fächern zu verstauben.

Mit Leichtigkeit hatte Danyel einhundert Männer ausgewählt und aus ihnen die Boten erschaffen. Für diese war es ein Geschenk, gern angenommen, und sie bewiesen ihre Loyalität und Dankbarkeit jeden Tag aufs Neue. Um die Logistik kümmerte sich Dafour und bisher lief alles reibungslos. Wie er seine Arbeit machte, war Danyel egal. Für ihn zählte nur, dass jeder Bote seine rund 2800 Pergamente pro Tag ablieferte. Eine Übergabe dauerte bloß einige Sekunden – wenn sie sich Zeit ließen. Wer schnell agierte, hatte sein Pensum rasch erfüllt. Anschließend konnten sie ihre Freizeit gestalten, wie sie es wollten.

 

„Hat sich für heute wieder einer angekündigt?“

Dafour hielt inne. „Warum fragst du mich das jeden Tag aufs Neue? Natürlich! Du könntest zig Verhandlungen führen, wenn wir nicht auswählen würden. Das weißt du.“

„Ja. Jeden Tag das Gleiche.“ Danyel stand auf und streckte sich.

Dafour positionierte die Kiste auf dem Rollwagen. Sie war nicht ganz voll, doch er ließ kein weiteres Wort deswegen fallen. Stattdessen schob er die Fracht vor sich her. Danyel sah ihm nach und ließ dann einmal mehr zufrieden seinen Blick durch den großen Raum gleiten. Dafour fand es übertrieben, dass Danyel ausgerechnet eine Kirche als Domizil gewählt hatte. Aber es war ja auch nicht irgendeine. Der Petersdom, einst gefüllt mit christlichen Werten, war nun das Haus des Schicksals. Nichts war mehr so, wie es einst gewesen war …

Danyel grinste und war gespannt, wer ihm diesmal gegenüberstehen würde, um mehr Zeit zu erbitten.

Eins

Kilian strich über das Pergament, welches in einer Klarsichtfolie steckte. Es kam ihm vor, als würde die Zeit immer schneller vergehen. Gestern hatte er seinen Vierundzwanzigsten gefeiert und wurde schmerzlich daran erinnert, dass dieser für Monja eine völlig andere Bedeutung hatte. Das Leben seiner Schwester wäre in diesem Alter fast vorbei. Monja ertappte ihn und schlug die Mappe zu.

„Denkst du schon wieder darüber nach?“ In ihren Worten klang ein strafender Ton mit.

„Es fällt mir eben schwer, zu akzeptieren, dass dir nicht mehr viel Zeit bleibt.“

„Mach es, wie ich. Denk einfach nicht dran“, erwiderte sie leichthin.

„Ich kann es aber nicht!“

Monja sah ihn an. Der liebevolle Blick und das herzliche Lächeln auf ihren Lippen, riefen Traurigkeit in ihm hervor. Er wollte und konnte nicht akzeptieren, dass er dieses Gesicht in etwas mehr als fünf Jahren nicht mehr ansehen könnte. Sie war eine Schönheit; das dunkelblonde Haar fiel leicht gelockt bis auf die Schultern, die wachen grün-grauen Augen und der sanft geschwungene Mund, die schmale Taille und eine schlanke Gestalt. Seine Prinzessin.

„Es ist noch gar nicht so lange her, da hast du mir von deinen Träumen erzählt … sind sie es nicht wert, zu kämpfen? Damit sie in Erfüllung gehen können?“

Sie schüttelte den Kopf. „Manchmal frage ich mich, wer von uns beiden das ältere Kind ist. Man sollte meinen, dass du etwas mehr Verstand besitzt. Natürlich habe ich diesen Traum. Von einem Mann, mit dem ich alt werden kann, von Kindern und Enkeln … aber er wird nicht wahr werden. Hör auf, so traurig zu sein, großer Bruder! Genieße die Zeit, die wir haben.“

Kilian schnaubte.

„Außerdem weißt du, was Mama davon hält! Wenn sie herausfindet, dass du noch immer die Entscheidung des Schicksals infrage stellst, wird sie ausflippen.“

„Ich weiß. Aber ich kann nicht anders. Es geht dabei ja auch um sie. Wenn ich könnte, ich würde sofort mit dir tauschen! Ich werde sie nie zur Großmutter machen – aber ich will, dass sie ein Enkelkind in den Armen wiegen kann. Dein Kind.“

Monja ließ die Schultern hängen. „Mag sein. Aber mit dieser Bürde könnte ich nicht leben. Selbst wenn du es schaffen würdest, wenn wir unsere Zeit tauschen könnten, blieben dir nur noch … zwei Monate und vier Tage übrig!“

„Dessen bin ich mir bewusst“, entgegnete er ernsthaft.

„Wage es nicht!“, drohte sie und ließ die Mappe in der Schublade der Anrichte verschwinden. „Ich liebe dich und deine selbstlose Art – aber ich kann nicht zulassen, dass du etwas unternimmst“, erklärte sie. Anschließend drehte sie sich weg und ging in die Küche.

Kilian ließ sich auf einen Stuhl fallen, stemmte die Ellbogen auf den Esstisch und das Kinn auf die Hände. Er kannte die Einstellung seiner Mutter, die so ziemlich jeden verurteilte, der sich auf einen Handel mit dem Schicksal einließ. Sie fand, man musste eben akzeptieren, was einem gegeben war. Ohne Jammern oder Klagen und vor allem, ohne es ändern zu wollen.

Kilian würde alles dafür geben, mit Monja tauschen zu können. Schon vor Wochen hatte er eine Anfrage geschickt, weil er verhandeln wollte. Bislang war keine Antwort gekommen. Er wusste, die Chancen standen nicht sehr gut. Das Schicksal – oder besser Danyel – war dafür bekannt, nur wenigen Menschen die Möglichkeit zu geben, mit ihm über eine Änderung der Lebenszeit zu sprechen. Es wurde gemunkelt, er wäre arrogant und launisch, doch davon ließ Kilian sich nicht beirren. Er hoffte nur, die Genehmigung käme, ehe es zu spät war, um zu tauschen.

„Magst du auch einen Tee?“, rief Monja ihm zu.

„Ja. Danke.“

Kilian hörte sie in der Küche werkeln. Er wünschte ihr so sehr, dass sie einen Partner fand … die letzte und einzige feste Beziehung, von der er wusste, war vor einem halben Jahr in die Brüche gegangen. Monja behauptete immer, es habe nichts mit ihrer Lebenserwartung zu tun gehabt, aber das kaufte Kilian ihr nicht ab. Es war die Standardfrage – spätestens beim dritten Date: Wie alt wirst du? Je nachdem, wie die Antwort ausfiel, endete die Beziehung an diesem Punkt bereits. Kilian vermutete, dass Christian schließlich herausgefunden hatte, was wirklich auf Monjas Pergament stand …

Es klimperte an der Tür. Das untrügliche Zeichen, dass ihre Mutter nach Hause kam. Seit zwei Jahren nannte er es nicht mehr seines, doch kam er fast jeden Tag nach der Arbeit vorbei.

 

Als Gabriele ins Esszimmer trat, sah sie müde aus.

„Hey“, grüßte Kilian sie, „du wirkst, als hättest du eine Doppelschicht gemacht.“

Sie winkte ab. „Heute war die Hölle los! Als wenn am Montag nichts mehr in den Regalen wäre! Die Leute haben gekauft wie die Irren, so schnell konnten wir gar nicht auffüllen.“

„Hallo Mama. Für dich auch einen Tee?“, schallte es aus der Küche zu ihnen herüber.

„Das wäre lieb, Engelchen. Danke.“

„Irgendwie ist es doch immer das Gleiche, wenn ein langes Wochenende bevorsteht“, sagte Kilian, während er aufstand.

Sanft aber bestimmt dirigierte er seine Mutter zu einem Stuhl. Bereitwillig setzte sie sich und Kilian knetete ihre verspannten Schultern. Sie summte genüsslich.

„Du bist ein Schatz.“

Kilian lächelte. Ihre Mutter hatte es nicht leicht. Der Job im Supermarkt war anstrengend, aber sie brauchte ihn. Monja steckte noch in der Ausbildung und Kilians Gehalt reichte gerade für seinen eigenen Lebensunterhalt. Dass seine Mama eine 45-Stunden-Woche hatte, war nur darauf zurückzuführen, dass sein Vater keine Versicherung abgeschlossen hatte. Die Prämie war ihm zu teuer gewesen. Georg Hein war immer der Ansicht gewesen, die Leute von der Versicherung wären Halunken und Gauner. Und da jeder wüsste, wann das eigene Leben endet, könnten sie die Versicherung sparen. Denn die zahlte nur, wenn man vor dem vom Schicksal bestimmten Tag starb. Kilian schüttelte kaum merklich mit dem Kopf, wenn er daran dachte. Sein Vater war nicht davon ausgegangen, dass auch ihn dieses Los treffen könnte. Leider war dem so gewesen – bei einem Banküberfall hatte ihn ein Querschläger erwischt. Er war, wie man so schön sagte, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und hatte das mit dem Leben bezahlt. Dabei wollte er nur das Geld für die Miete einzahlen.

Folglich musste ihre Mutter arbeiten gehen. Doch sie klagte nicht. Das tat sie nie. Um die Beerdigung zahlen zu können, hatte sie ihren gesamten Schmuck verkauft. Zwei Jahre war das nun her. Kurz bevor das mit seinem Vater passiert war, war Kilian zu Hause ausgezogen. Unweigerlich dachte er daran, dass sie für die nächste Beerdigung bereits sparen müsste … und er hoffte, es wäre seine.

Monja unterbrach seine Gedanken, als sie mit dem Tee ins Esszimmer kam.

„Oh je, du siehst aus, als hättest du eine anstrengende Schicht gehabt. Soll ich heute das Kochen übernehmen?“

„Nein. Das schaffe ich schon noch“, schlug Gabriele aus.

Sie tätschelte Kilian die Hände, worauf er von ihren Schultern abließ und sich neben sie setzte.

Während sie ihren Tee tranken, erzählte jeder etwas von seinem Tag. Bei Kilian war es ruhig gewesen, viele der Kollegen im Büro hatten sich schon auf das lange Wochenende eingestimmt. Ein stressfreier Tag. Die Hektik käme am Montagmorgen wieder, Kilian wusste das. Dann wäre das elektronische Postfach voll mit Mails von Kunden. Bestellungen, Reklamationen, Anfragen …

Monja hatte langweilige Stunden hinter sich, denn auf der Polizeischule, die sie besuchte, nahmen sie den ganzen Tag die Verbrechensstatistiken der vergangenen Jahre durch. Der Professor habe so monoton gesprochen, dass sie beinahe eingeschlafen wäre.

 

Als sich Kilian eine halbe Stunde später verabschiedete, warf Monja ihm noch einen mahnenden Blick zu. Er wusste genau, was sie meinte – er nickte ihr zu, obwohl er von seinem Standpunkt nicht abrücken würde.

Seine kleine Wohnung lag fünfzehn Minuten Fußmarsch entfernt. Auf dem Weg dorthin hielt er ständig seine Hand in der Tasche. Darin verbarg er das Pfefferspray, das im Ernstfall sofort einsatzbereit wäre. Es gab einfach zu viele Menschen, die kurz vor dem eigenen Tod nicht vor Verbrechen zurückschreckten. Schließlich gelangte er unbehelligt vor dem Mietshaus an und sein erster Blick galt dem Briefkasten. Wie jeden Tag, seit er die Anfrage weggeschickt hatte. Rasch sah er die Umschläge durch und tatsächlich, da war er.

Der Brief, die Antwort.

Die Rune, die als Wasserzeichen durchschimmerte, verriet unmissverständlich den Absender. Nervös sputete Kilian die Stufen nach oben. In dritten Stock angekommen schloss er seine Wohnungstür auf und öffnete zitternd den Brief. Darin befand sich eine Karte, die ebenfalls von der Rune geziert wurde.

 

Ihre Anfrage ist bei uns eingegangen. Hiermit überstellen wir Ihnen die Genehmigung.

Ihr Termin: 08.05.2014, 15 Uhr

Diese Karte ist mitzuführen und vorzuzeigen. Gültig nur für Kilian Hein.

 

Mehr stand nicht darauf. Er las es drei Mal, ehe er es wirklich glaubte.

Die Frage nach dem Treffpunkt stellte sich gar nicht erst. Kilian musste dort hin, wo der Brief herkam. Nach Rom, ins Haus des Schicksals. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Die erste Hürde hatte er geschafft. Nun musste er nur noch überzeugend genug sein, um die Verhandlung in seinem Sinne abzuschließen. Seit Wochen bangte er darum, ob man ihm diese Chance geben würde. Das Geld für die Fahrt hatte er sich schon vom Mund abgespart. Ein Auto besaß er nicht und ein Flugticket überstieg bei Weitem seine Finanzen. So musste es der Zug sein, doch auch der war nicht gerade günstig.

Vier Tage noch – dann entschied sich, ob er mit seiner Schwester tauschen dürfte. Die Aufregung machte sich auch in seinem Magen bemerkbar, ein nervöses Ziehen breitete sich in seinem Bauch aus. So hatte er sich zuletzt gefühlt, als er mit siebzehn seinem Vater einstand, dass er auf Jungs und nicht auf Mädchen steht. Damals hatte es ihn erstaunt, dass seine Eltern dies sehr locker aufgenommen hatten …

Kilian brauchte drei Anläufe, um die Karte zurück in den Umschlag zu schieben. Danach rief er seinen Vorgesetzten an und erklärte, er bräuchte aus familiären Gründen für den kommenden Montag und Dienstag Urlaub. Gelogen war das ja nicht. Nachdem das geklärt war, packte er seine Tasche und überlegte fieberhaft, was er seiner Mutter und Monja erzählen sollte.

Sonntags fuhren weniger Züge, was mehr Wartezeit bedeutete, so musste er wohl oder übel bereits am Samstag abreisen. Er hatte keine Lust, stundenlang auf den Bahnhöfen herumzuhängen, ehe er den Anschlusszug bekam. Die möglichen Verbindungen hatte er sich bereits herausgesucht, in der Hoffnung, seine Bitte würde angenommen werden. Da dies nun der Fall war, konnte er all seine Pläne in die Tat umsetzen. Was fehlte, war eine Ausrede, eine gute Tarnung …

 

Erst am nächsten Morgen, während er unter der Dusche stand, fiel ihm eine brauchbare Erklärung ein, die er nutzen konnte. Er hatte schon länger keinen Freund mehr gehabt, und die letzte Affäre lag auch bereits Monate zurück. Wenn er nun einen Geliebten erfand, der mit ihm wegfahren wollte, würden Monja und seine Mutter das sicherlich glauben.

Mit einem zuversichtlichen Gefühl im Bauch trank er einen Instantkaffee und schaltete die Frühnachrichten ein. In der letzten Nacht hatte es wieder drei Raubüberfälle gegeben. Trotz der starken Präsenz von Polizei und privaten Sicherheitsunternehmen gab es noch genug Verrückte, die es wagten, einen Raubzug zu starten. Meist waren die Verbrecher kurz vor dem vom Schicksal festgelegten Sterbetag. Nach einem der Täter von vergangener Nacht wurde noch gefahndet. Kilian bezweifelte nicht, dass der in den nächsten Stunden dingfest gemacht werden könnte. Die anderen Meldungen betrafen die Wirtschaftslage, die neuesten Vorhaben der amtierenden Partei und das Wetter. Letzteres war die einzige Meldung, die Kilian als schön bezeichnete. Für das gesamte Wochenende war strahlender Sonnenschein vorausgesagt, mit steigenden Tagestemperaturen. Der Wonnemonat Mai schien zumindest wettertechnisch seinem Namen alle Ehre zu machen. Kilian nahm das als gutes Omen.

 

Am späten Vormittag rief er bei seiner Mutter an. Nachdem sie sich gemeldet hatte, nahm er allen Mut zusammen und tischte ihr die Lüge auf.

„Mama, ich muss dir was erzählen. Ich hab da jemanden kennengelernt, Steve heißt er. Es ist noch ganz frisch, deshalb hab ich noch nichts gesagt.“

„Das kling gut“, unterbrach sie ihn, „wo ist der Haken?“

„Es gibt keinen. Steve hat mich eingeladen. Er will mit mir ein paar Tage ins Ferienhaus seiner Eltern fahren. Ich habe eben zugesagt … also wundert euch nicht, wenn ich nicht vorbei komme.“ Kilian fühlte sich furchtbar. Er hörte seine Mutter leise lachen und schämte sich, weil er ihr nicht die Wahrheit sagen konnte. Doch die würde sie erst erfahren, wenn er zurück wäre.

„Ist in Ordnung. Solange für die Sicherheit gesorgt ist … nun, ich wünsche euch viel Vergnügen. Und wenn ihr wieder da seid, musst du mir Steve vorstellen!“

„Ja, klar. Er ist ein toller Kerl. Du wirst ihn mögen“, schwindelte er weiter.

„Wenn du ihn magst, werde ich das sicher auch tun.“

„Ich hab dich lieb, Mama. Gibst du Monja einen Kuss von mir?“

„Mach ich. Ich hab dich auch lieb“, erwiderte sie. Kilian beendete das Gespräch und fühlte sich wie ein Betrüger. Es tat ihm weh, doch er war gezwungen, zu dieser Lüge zu greifen. Sie würde ihn nie nach Rom fahren lassen. Von Angesicht zu Angesicht hätte er es nicht fertiggebracht, ihr diese Story auf die Nase zu binden. Das war ihm schon am Telefon schwer genug gefallen.

 

Etwas später machte er sich auf den Weg zum Bahnhof, um das Ticket für den nächsten Morgen zu kaufen. Die Kombifahrkarte und den Reiseplan mit allen Zügen, in die er umsteigen musste, bekam er binnen weniger Minuten. Die Frau am Schalter arbeitete routiniert, übertrug seine Daten aus dem Pass auf den Fahrschein und nannte ihm den Preis. Sie zog kurz eine Braue nach oben, als er ihr das Reiseziel nannte, doch sie sparte sich jeglichen Kommentar. Nachdem er gezahlt hatte, wünschte sie ihm eine angenehme Reise und blickte schon auf den nächsten Kunden, der hinter Kilian anstand.

Ihm blieben noch wenigen Stunden, bis er losfuhr, und erneut befiel ihn Aufregung. Er konnte es kaum erwarten und doch hatte er Angst vor der Begegnung mit Danyel. Kilian wollte gar nicht darüber nachdenken, versuchte die Hoffnung zu bewahren, dass alles gut werden würde. Nicht für sich, für Monja. Schon vor Jahren hatte er für sich selbst beschlossen, dass er ihr seine Lebenszeit übertragen wollte. Es war nicht so, dass er sein eigenes Leben nicht mochte oder wertschätzte – er fand nur, sie hätte das längere Leben verdient.

 

Die Zeit verging schneller, als ihm lieb war. Er schlief kaum, und wenn, dann wurde er von wirren Träumen geweckt. Als sein Wecker dann klingelte, fühlte er sich wie gerädert. Obendrein machten sich Kopfschmerzen bemerkbar, als er aus dem Bett stieg. Die ließen sich auch nicht von einer kalten Dusche vertreiben und es gab nur wenige Medikamente, auf die er nicht mit heftigen Nebenwirkungen reagierte, weshalb er auf eine Tablette verzichtete. Mit ziemlich schlechter Laune brach er schließlich zum Bahnhof auf.

Es wurde gerade erst hell und es war noch wenig los auf der Straße. Kilian kaufte sich unterwegs einen Cappuccino und setzte seinen Weg fort. Das einzig Gute an dem nervtötenden Brummen in seinem Kopf war der Umstand, dass es keinen Raum für Nervosität ließ. Er hatte seine Sachen drei Mal kontrolliert. Pass, Fahrkarte und die Bestätigung waren sicher in der Innentasche seiner Jacke verstaut. Als er den Bahnsteig erreichte, trank er den letzten Schluck und warf den Pappbecher in den Mülleimer. Der Zug stand schon da und so stieg Kilian ein. Ihm kam der Gedanke, dass er eine Reise ins Ungewisse unternahm. Das Ziel stand zwar fest, aber mit welchem Ergebnis er zurückkehren würde, wussten allein die Sterne.

Kilian lief durch den Zug und suchte seinen reservierten Sitzplatz. Als er ihn fand, verstaute er seine Tasche und ließ sich in den Sitz fallen. In etwas mehr als zwölf Stunden wäre er in Rom. Dann musste er zusehen, dass er eine günstige Übernachtungsmöglichkeit ergatterte. Er hatte sich einige Adressen aufgeschrieben, aber die aktuellen Preise hatte er nicht herausfinden können. Bei vielen Hotels und Pensionen schwankte der Betrag, je nachdem, wie sich das Wetter entwickelte.

Die Minuten verstrichen und der Zug füllte sich. Als der schließlich anrollte, atmete Kilian tief durch und sagte sich selbst, dass er es schon schaffen würde. Er lehnte sich im Sitz zurück und schloss die Augen. Plötzlich wurde er unsanft angerempelt. Ein kräftig gebauter Mann in einem knapp sitzenden Anzug hatte sich neben ihn auf den Sitzplatz fallen lassen. Das hochrote Gesicht und die schnaufende Atmung ließen Kilian vermuten, dass der Mann gerannt war, um den Zug nicht zu verpassen. Als ihm unangenehmer Schweißgeruch in die Nase stieg, drehte er den Kopf zum Fenster.

‚Na das fängt ja gut an!‘, dachte er verstimmt.

 

So schnell die Stunden bis zur Abreise vergangen waren, umso langsamer kam ihm die Fahrt selbst vor. Er war extrem erleichtert, als sie den Bahnhof erreichten, wo Kilian umsteigen musste. Ohne auf seinen Sitznachbarn Rücksicht zu nehmen – denn das hatte der die ganze Zeit nicht getan – zog Kilian seine Tasche hervor und verließ den Zug. Er war selten einem Mitmenschen begegnet, der so unangenehm gewesen war, wie sein beleibter Sitznachbar.

Nun hatte Kilian fünfzehn Minuten, ehe es weiterging. Langsam schlenderte er in Richtung der Treppe und atmete tief durch. Seine Kopfschmerzen klärten sich langsam, aber da er letzte Nacht nur wenig geschlafen hatte, hing die Müdigkeit wie Blei an ihm. Während er die Stufen herunter lief, zog er das Blatt mit dem Reiseplan hervor. Der Anschlusszug fuhr von einem anderen Gleis, das wusste er. Um nicht versehentlich im falschen zu landen, sah er nochmals nach. Leider war für den Rest des Weges keine Reservierung mehr möglich gewesen und so hoffte Kilian, dass die Züge nicht zu voll waren. Er hatte keine große Lust, stundenlang herumzustehen.

Das Glück schien ihm gewogen, denn als er einstieg, gab es noch etliche freie Plätze. Wieder verstaute er seine Tasche und machte es sich gemütlich. Diesmal blieb er alleine auf der Zweier-Sitzbank, was ihm noch besser gefiel.

 

Unterwegs dachte Kilian darüber nach, wie das Schicksal wohl aussehen mochte. Er kannte nur Erzählungen und Gerüchte über Danyel, aber ein Bild hatte er noch nie gesehen. In seiner Vorstellung glaubte er gerne, es erwarte ihn ein weiser alter Mann mit einem weißen Rauschebart und Krückstock, doch er nahm nicht an, dass dem tatsächlich so wäre. Die Geschichten, die sich die Leute erzählten, zeugten von einem Mann mittleren Alters, der keine Güte besaß. Ob sie der Wahrheit entsprachen, würde sich herausstellen. Etwas Angst hatte Kilian immer noch, doch mehr wie Nein sagen konnte Danyel schließlich nicht, oder? Wenn er dem Schicksal den Vorschlag unterbreitete, die Lebenszeiten einfach zu tauschen, war das keine große Bitte. Es wäre etwas anderes, wenn er für seine Schwester mehr Zeit erbat, seine eigene dafür aber nicht aufgeben würde.

Zwei

Kilian kam planmäßig in Rom an.

Er freute sich, dass er bis zu seinem Termin noch die Gelegenheit dazu hatte, sich die Stadt anzusehen. Früher musste sie mal ein Anziehungspunkt und beliebtes Reiseziel bei Katholiken gewesen sein. Kilian konnte sich nur wenig darunter vorstellen. Er gehörte zu einer Generation, die Religionen nur noch von Erzählungen kannte. In der Schule hatten sie das Thema behandelt, weil es zur Geschichte der Menschheit gehörte. Für ihn war es unvorstellbar, sein Leben mit dem Vertrauen und dem Glauben zu leben, dass über ihn eine unsichtbare Gottheit wachte. Ein Gott, der alles lenkte … und was er am schlimmsten fand, dass Kriege im Namen eines Herrn geführt wurden, den die Menschen verehrt hatten. Vielleicht war das der Grund dafür gewesen, dass Danyel sich offenbarte und von diesem Moment an präsent gewesen war. War er es leid gewesen, dass die Kriege ihm seine Planungen durchkreuzten? Wie viele Menschen hatten ihr Leben gelassen, bevor der von Danyel festgelegte Tag erreicht worden war? Natürlich geschah das auch heute noch – so, wie es bei Kilians Vater passiert war – aber das hatte rein gar nichts mit religiösen Motiven zu tun.

Monja hatte Kilian mal von einem Vortrag erzählt, der in der Polizeischule gehalten wurde. Ein Analytiker hatte eine Statistik aufgestellt, aus welchen Gründen Verbrechen verübt wurden. Am Häufigsten war Geld der Grund gewesen. Konnte der Mensch in seiner Lebenszeit nicht ausreichend erwirtschaften, um ein sorgenfreies und glückliches Leben zu führen, wurde der Neid irgendwann zu Hass. Kurz vor dem Lebensende brach der sich bei gestörten Persönlichkeiten Bahn, es wurden Überfälle verübt, Geld oder Wertgegenstände erbeutet. Alles mit dem Wissen, man habe ja doch nichts mehr zu verlieren. Haftstrafen besaßen bei diesen Menschen keine abschreckende Wirkung mehr.

Ein weiterer Grund war das Streben nach Macht. Kontrahenten wurden eiskalt aus dem Weg geräumt und Kilian verstand nicht, weshalb sich Danyel da heraushielt. Als der Herr über Leben und Tod, der jedem sozusagen die Uhr programmierte, müsste er doch aufgebracht sein, wenn ein Mensch sich über sein Urteil hinwegsetzte und aus niederen Beweggründen einem anderen Menschen das Leben nahm. Kilian hatte schon oft darüber nachgedacht und kam zu dem Schluss, dass es dem Schicksal egal sein musste. Wen es nicht kümmerte, dass Eltern ihr Kind begraben mussten, dem war auch Mord und Totschlag kein Dorn im Auge.

Kilian verließ das Bahnhofsgebäude und sah ein paar Schritte entfernt einen großen Stadtplan in einem Schaukasten. Als Fremder in der Stadt traute er sich nicht, ein Taxi zu nehmen. Er vermutete, dass er deutlich mehr zahlen würde, als ein Einheimischer. Und das konnte er sich nicht leisten. Die Adressen, die er notiert hatte, lagen alle am Stadtrand, denn er hoffte, dort wären die Übernachtungspreise nicht ganz so hoch.

Leider hatte er die Größe der Stadt unterschätzt. Er studierte den Plan, fand nach einigem Suchen nahe beim Flughafen im Stadtteil Ciampino die Via Milano - die Straße, an der eine kleine Pension lag. Die erste auf seiner Liste. Anhand des Maßstabes konnte er die Entfernung gut schätzen und diese ließ nur einen Schluss zu: Er musste die Bahn nehmen. Seufzend stieß er die Luft aus und marschierte wieder ins Innere der Stazione Termini. Kilian verstand zwar die italienische Sprache nicht, doch die Pläne der Metro waren gut verständlich. Rasch fand er heraus, welchen Zug er nehmen musste. Dieser fuhr zwar nicht bis Ciampino durch, aber das war besser, als den ganzen Weg zu laufen. Kilian sah sich nach einem Ticketautomaten um und hatte den Eindruck, auf seiner Stirn stände groß und breit Tourist. Leute hasteten an ihm vorbei, sahen ihn zwar an, aber mehr auch nicht. Jeder schien es eilig zu haben.

Als er den Automaten fand, wurde es kniffliger, denn er hatte keine Ahnung, zu welcher Preisstufe sein Ziel gehörte. Er versuchte zu entziffern, was er denn drücken musste. Er probierte einige Tasten aus und die unterschiedlichen Preise verwirrten ihn noch mehr.

„Sorry?“ Jemand tippte ihm auf die Schulter.

Kilian drehte sich um. Hinter ihm stand eine junge Frau, die ihn fragend ansah. Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Gehen Sie nur vor, ich verstehe das Ding sowieso nicht“, gab er murmelnd zu, während er beiseite trat.

„Soll ich’s dir zeigen?“, frage sie und Kilian zog überrascht die Brauen nach oben.

„Ähm, ja. Das wäre nett. Ich habe nicht erwartet, dass mir jemand hilft und schon gar nicht, dass mich jemand versteht.“

„Glaube ich. Dabei sind die Italiener ein freundliches Völkchen. Die Römer sind allerdings immer im Stress“, erwiderte sie zwinkernd. „Wohin musst du denn?“

„Zuerst Ciampino – ich suche eine günstige Übernachtungsmöglichkeit – die erste Adresse wäre in der Via Milano.“

„Aha. Ich nehme an, du bist aus einem bestimmten Grund in Rom, nicht wahr?“, fragte sie ihn, als sie auf den Automaten zu trat.

„Ja. Du kennst nicht zufällig ein billiges Hotel?“

„Nein, tut mir leid. Wenn du nach Ciampino willst, kannst du die Metro bis zur Endstation Anagnina nehmen und von dort mit dem Bus weiter. Oder du fährst gleich mit dem Bus, das ist etwas einfacher. Der pendelt von hier zum Flughafen raus. Dort kannst du umsteigen in einen Bus zum Bahnhof Ciampino.“

Kilian hatte Mühe, ihrer Erklärung zu folgen. „Okay, dann wähle ich die zweite Option. Wo finde ich denn den Bus?“

„Draußen, du musst nur um die Ecke, an der Via Marsalla. Ich glaube, auf den Bussen steht was mit Terra drauf. Das sind die Shuttle Busse zum Flughafen Ciampino“, erklärte sie geduldig.

„Dann muss ich am Flughafen nur den richtigen Bus finden …“, setzte er an, doch die junge Frau sprach weiter.

„Wenn ich etwas einwenden darf – bevor du da raus fährst, solltest du es in der Stadt versuchen. Es gibt einige Bed & Breakfast Hotels, vielleicht findest du da was Günstiges.“

„Danke. Ich werde es mir überlegen.“

„Gern geschehen. Ich muss jetzt los. Viel Erfolg!“, sagte sie und lächelte ihm zu.

„Vielen Dank für die Hilfe!“, rief Kilian ihr nach, als sie mit eiligen Schritten verschwand. Sie hob grüßend die Hand. Kurz darauf war sie um die Ecke verschwunden.

Kilian straffte die Schultern und stand erneut ratlos vor dem Automaten. Er entschied, dass er das mit Bus und Bahn erst einmal sein ließ. Draußen warf er noch einen Blick auf den Stadtplan, um eine grobe Orientierung zu bekommen und lief dann los. Er nahm sich vor, in Richtung des Tibers zu gehen, denn das Gelände der ehemaligen Vatikanstadt lag auf der anderen Seite des Flusses.

Sein Weg führte ihn an hohen Häusern vorbei, wie sie typisch für große Städte waren. Den Stil der italienischen Bauten fand er im Vergleich zu Deutschland allerdings schöner. Was ihn verwunderte, war die eigenartige Fahrweise der Einheimischen. Kilian glaubte fast, wenn die Hupe von Auto oder Motorroller defekt war, müsste das Fahrzeug entsorgt werden. Überall um ihn herum tutete es und die hektische, sowie chaotische Fahrweise veranlasste ihn dazu, nur an einer Fußgängerampel die Straße zu überqueren. Alles andere wäre lebensmüde …

 

Nach dem dritten B&B Hotel wollte er schon aufgeben. Sie waren für ihn zu teuer. Dabei hatte er nur bei denen gefragt, die unscheinbar wirkten. Die Unterkünfte, die gepflegt und mit Leuchtreklame auf sich aufmerksam machten, ignorierte er. Er hatte schon ein gutes Stück hinter sich gebracht und hoffte, noch vor Einbruch der Nacht einen Schlafplatz zu finden. In dieser riesigen Stadt musste es irgendwo ein Bett geben, das er sich leisten konnte.

Einer spontanen Eingebung folgend, lief er in eine schmale Seitenstraße. Kilian schätzte, er musste inzwischen anderthalb Kilometer zurückgelegt haben. Eine Trattoria zog seinen Blick auf sich. Das Lokal wirkte gemütlich und Kilian hoffte, dass sie ihm dort für einen Teller Pasta nicht ein Vermögen abknöpfen würden.

Schon als er eintrat roch es köstlich und sein Magen knurrte. Die rustikale Einrichtung sorgte für ein besonderes Flair – alt, urig und sehr einladend. Er setzte sich auf eine Bank, auf der statt Kissen Felle lagen. Der Tisch vor ihm sah aus, als wäre er einhundert Jahre alt.

‚Der muss schon eine Menge erlebt haben!‘, dachte er und lehnte sich erschöpft zurück. Eine kleine Pause konnte er gut gebrauchen.

Eine Frau mittleren Alters kam auf ihn zu. „Buonasera!“

Kilian nickte ihr zu und erwiderte den Gruß. Als sie ihn etwas fragte und er sie nicht verstand, machte er das mit einer Geste deutlich und sagte: „No italiano.“ Er zeigte auf sich selbst, dann auf sie. „Deutsch oder Englisch?“

„Si“, sagte sie lächelnd, deutete auf sich selbst und ergänzte: „Non posso.“

Kilian bediente sich erneut einer Geste, indem er ratlos mit den Schultern zuckte. Anschließend tat er so, als würde er etwas trinken und etwas essen. Die Italienerin lachte. Sie griff zum Nachbartisch und hielt Kilian die Karte hin. Auch wenn er kein italienisch beherrschte, ging er doch davon aus, dass er zumindest einen Teil des Geschriebenen verstand.

Das tat er auch. Der Belag der Pizzen ließ sich nicht enträtseln. Mit der Pasta konnte er schon mehr anfangen. Die Getränkeliste war auch nicht allzu schwierig, das meiste war ihm bekannt, weil es Marken waren, die es auch in Deutschland gab. Die Preise überraschten ihn etwas, denn er hatte mit mehr gerechnet.

Als die Bedienung wiederkam, bestellte er sich die Spaghetti Bolognese und ein Pellegrino. Sie nickte bestätigend und verschwand im hinteren Bereich des Lokals.

Kilian war nicht der einzige Gast. An der windschiefen Theke saßen zwei ältere Herren, die nicht nur mit Worten, sondern mit ausladender Gestik diskutierten. An einem Tisch weiter hinten saß ein junges Pärchen, das sich leise unterhielt.

 

Als er später zahlte, gab er trotz seiner schwachen Finanzen ein Trinkgeld, zumal das Essen nicht teuer gewesen war. Die Spaghetti hatten hervorragend geschmeckt und die Portion war riesig. Kilian fühlte sich pappsatt und obendrein hundemüde. Ihm fehlte aber weiterhin eine Übernachtungsmöglichkeit.

Es dämmerte, als er auf die Straße trat. Er atmete tief durch und rieb sich mit den Händen über das Gesicht. Entgegen seinem Vorsatz, ein möglichst günstiges Bett zu bekommen, nahm er sich vor, das nächstbeste zu nehmen. Er musste unbedingt schlafen!

Er sah sich um und entschied, noch tiefer in die Seitenstraße hinein zu laufen. Nach dreihundert Metern fand er, was er suchte. Ein verblichenes Schild an einer Hauswand bewarb die Unterkunft:

Maria’s B&B

Kilian zögerte nicht. Die Tür war unverschlossen, und als er hineinging, klingelte es leise. Eine blonde Frau kam um die Ecke und grüßte ihn. Kilian schätze sie auf Mitte bis Ende Dreißig.

„Buonasera – no italiano“, erwiderte er und sah sie entschuldigend an.

„Deutsch?“, fragte sie zu seinem Erstaunen, was er bejahte.

„Das habe ich mir gedacht. Entschuldige, wenn ich das so sage, aber du siehst nicht gerade aus, wie ein Italiener. Ich bin Maria, willkommen in meinem kleinen Haus.“

Kilian lachte. „Ich bin ja auch keiner! Was bin ich froh, dass Sie Deutsch sprechen“, gab er zu.

„Ich bin in Deutschland aufgewachsen. Ich nehme an, du brauchst ein Zimmer?“

„Ja, wie sind Sie nur darauf gekommen?“, sagte er übertrieben. Nicht, weil er sie veralbern wollte, sondern weil sie ihm sympathisch war.

Sie lachte. „Wie lange?“

„Das kommt drauf an, was mich das kostet.“

Maria musterte ihn von oben bis unten. Anschließend deutete sie auf den Durchgang, aus dem sie gekommen war.

„Komm doch erst mal richtig rein. Wir werden uns schon einig“, bot sie an.

Kilian ging ihr nach. Im Grunde war es egal, was er zahlen musste. Zur Not würde er einfach sein Konto überziehen. Wenn alles glattging, brauchte er bald kein Geld mehr; und wenn für den Vermieter seiner Wohnung nichts mehr übrig blieb, tat ihm das zwar leid, aber er nahm es in Kauf.

Der Raum, in den sie ihn führte, war eine Mischung aus Büro und Wohnzimmer. Die bunt zusammengewürfelte Einrichtung passte vorne und hinten nicht, sah trotzdem nett aus. Ähnlich, wie in der Trattoria – es hatte seinen Charme.

„Setz dich. Möchtest du etwas trinken?“

„Danke, nein.“ Kilian setzte sich auf einen Hocker und stellte seine Tasche neben den Füßen ab.

„Du hast nicht viel bei dir, also schließe ich daraus, dass du nicht lange bleiben willst.“

„Stimmt. Montag, vielleicht auch bis Dienstag.“

Maria zog sich einen Stuhl herbei und setzte sich ihm gegenüber. Im Licht der Strahler erkannte er, dass ihre Haare gefärbt waren. Der dunkle Ansatz, den er im Flur nicht erkannt hatte, ließ ihn ahnen, dass ihre Wurzeln hier in Italien lagen.

„Also junger Mann, was führt dich nach Rom? Die Kunst? Die Geschichte oder bist du wegen dem gekommen, der sich Danyel nennt?“

Kilian versuchte zu lächeln, es gelang ihm aber nicht richtig. Maria war neugierig und er verstand nicht, was diese Frage mit dem Zimmerpreis zu tun hatte. Er war schon immer ein Mensch gewesen, der die Ehrlichkeit bevorzugte, also sagte er die Wahrheit.

„Ich bin hier, um mit dem Schicksal zu verhandeln.“

Maria nickte leicht. Ihre Miene ließ nicht erkennen, was sie dachte. Sie saß gerade auf dem Stuhl, die schlanken Beine übereinander geschlagen, und die Hände über den Schenkeln gefaltet.

„Darf ich dir einen Rat geben? Danyel schert sich nicht um menschliche Gefühle. Ich habe einige Leute kennengelernt, die bei ihm waren.“

„Dann hoffe ich, dass er gut gelaunt ist“, erwiderte Kilian. Er wollte die Hoffnung nicht aufgeben.

„Um wen geht es? Ich will nicht aufdringlich sein, oder so. Du musst also nicht antworten.“

Kilian dachte einen Moment nach. Er kannte die Frau nicht, hatte sie nie zuvor gesehen. Sollte er ihr wirklich reinen Wein einschenken? Andererseits hatte er, außer mit Monja, mit niemandem über sein Vorhaben gesprochen …

Er holte tief Luft und dann sprudelte alles aus ihm heraus. „Ich will erreichen, dass Danyel die Lebenszeit von mir und meiner Schwester tauscht. Sie wünscht sich einen Partner und Kinder. Aber dafür reicht ihre Zeit nicht mehr. Wenn ich mit ihr tausche, kann sie unsere Mutter zur Großmutter machen. Sie ist allein. Unser Vater starb bei einem Überfall. Monja soll die Chance haben, dass ihre Träume in Erfüllung gehen. Weder sie noch unsere Mutter weiß, dass ich hier bin. Monja will den Tausch nicht und meine Mutter verurteilt alle, die zu Danyel gehen, um zu verhandeln. Sie sagt, man muss sich mit dem abfinden, was man hat.“

Maria sah ihn schweigend an. Kilian kam sich vor, wie unter Beobachtung – als hätte er etwas Falsches getan. Schließlich räusperte sie sich.

„Das ist sehr selbstlos. Du musst deine Schwester sehr lieben, wenn du an ihrer Stelle jung sterben willst.“

Kilian presste die Lippen aufeinander und nickte. Monja musste weiterleben, lange Leben.

„Du hast gefragt, was das Zimmer kostet. Ich biete dir ein Einzelzimmer, klein aber sauber – fünfundvierzig Mäuse für zwei Nächte und einem kleinen Frühstück. Wenn du ausgeschlafen hast, reden wir weiter. Einverstanden?“

Kilian blinzelte. Träumte er schon? Das war ja ein Schnäppchen!

„Ja klar“, sagte er zu.

Maria stand auf. „Komm mit, ich zeig‘s dir … bevor du mir hier einschläfst.“

Machte er wirklich einen so erschlagenen Eindruck? Anscheinend. Und nicht weiter verwunderlich. Wenn er nach seinem Gefühl ging, könnte er glatt im Sitzen schlafen.

 

Maria führte ihn die Treppe herauf. Im ersten Stock lief sie durch den Flur, öffnete die hinterste Tür und schaltete das Licht ein.

„Wie gesagt, klein, aber sauber. Das Bad ist gleich nebenan.“

Kilian ging an ihr vorbei und war zufrieden. Wirklich klein – ein Einzelbett, eine Nachtkommode und ein Regal – mehr hätte auch nicht hineingepasst. Der wenige Platz dazwischen reichte aus, um sich zu bewegen. Aber er wollte hier ja nicht turnen, sondern bloß schlafen. Und das Bett sah verlockend gemütlich aus!

„Ich nehme es. Soll ich direkt zahlen?“

„Nein. Wir machen das Morgen. Ich glaube kaum, dass du davonläufst.“

„Vielen Dank.“ Kilian stellte seine Tasche ab und sah ihr nach. Als sie am Treppenabsatz verschwand, schloss er die Tür und drehte den Schlüssel herum.

Er zog sich bis auf die Boxershorts aus und ließ die Sachen achtlos zu Boden fallen. Anschließend machte er das Licht aus, von draußen wurde der kleine Raum noch gerade soweit erhellt, dass er das Bett sehen konnte. Als er hineinkrabbelte, stieg ihm der Duft nach frischer Wäsche in die Nase. Wohlig seufzend schloss er die Augen.

Drei

Kilian schreckte auf. Um ihn herum war es stockfinster. Sein Herz raste und er zitterte. Nur langsam registrierte er, wo er war.

‚Es war nur ein Traum!‘, dachte er erleichtert und sank zurück auf das Kissen. Die Gewissheit half jedoch auch nicht dabei, dass sein Herzschlag sich beruhigte. Er war im Haus des Schicksals gewesen …

Schon als er eintrat, schlug ihm muffiger Geruch entgegen. Alt, abgestanden, widerlich. Ein gebückt laufender alter Mann im Frack kam auf ihn zu und verlangte die Karte zu sehen. Kilian zeigte sie ihm, worauf der Alte ihn anwies, immer weiter zu gehen.

Nervös war er durch die große Halle gegangen. Die christlichen Reliquien lagen zerschlagen herum, die wunderschönen Malereien waren mit schwarzen Schlieren überzogen – beschmiert, zerstört. Kilian bedauerte das, er hatte Bilder von diesen Kunstschätzen gesehen, und auch wenn sie zu einer ausgestorbenen Religion gehörten, war es ein Verlust.

Seine Schritte hallten, als er über den marmornen Boden lief. Es schien niemand sonst da zu sein. Es war unheimlich. Zu still.

Als er etwa die Hälfte durchquert hatte, tauchte am anderen Ende eine schwarz gekleidete Gestalt in seinem Blickfeld auf. Diese schien ihn heranzuwinken. Beim Näherkommen erkannte Kilian, dass es ein Mann war. Hoch gewachsen und von eher hagerer Statur.

Er zitterte vor Aufregung und ging weiter auf den Mann zu, der als das Schicksal bekannt war und sich Danyel nannte. Kilian zweifelte nicht, dass er es war. Dieser betrachtete ihn, wie ein Raubtier auf Beutezug. Seine Mimik ängstigte Kilian und er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Je näher er kam, umso deutlicher erkannte er den Ausdruck auf dem Gesicht. Verachtung.

Dann trennten sie nur noch fünf Meter.

„Knie nieder!“

Der Befehl ging Kilian durch Mark und Bein. Hart ausgesprochene Worte, in denen nichts als Kälte lag. Er ließ sich auf die Knie sinken. Hoffend, dass Gehorsam belohnt würde.

„Weshalb bist du gekommen?“ Der Blick aus den dunklen, fast schwarzen Augen, schien sich in ihn zu bohren.

„Um mit dem Schicksal zu verhandeln“, erwiderte Kilian.

„Ich höre.“

Kilian straffte sich und wandte den Blick nicht ab, auch wenn ihm noch so unbehaglich zumute war. „Ich möchte mit meiner Schwester die Lebenszeit tauschen.“

„Warum?“

„Damit sie diejenige ist, die lange lebt und ich an ihrer Stelle jung sterbe.“

Danyel lachte laut auf. Doch es hatte nichts Fröhliches an sich. Das Schicksal beantwortete seine Aussage mit höhnischem Gelächter und es erstarb so plötzlich, wie es begonnen hatte.

„Weshalb solltest du das tun? Weshalb sollte ich das gewähren? Ein jeder lebt so lange, wie es bei der Geburt festgeschrieben wird. Was hast du mir zu bieten?“

„Ich besitze nicht viel. Und ich bitte um einen einfachen Tausch …“

„Auch ein einfacher Tausch ist nicht umsonst!“, donnerte Danyel dazwischen. „Ich will kein Geld, keinen Besitz.“ Langsam schritt er auf Kilian zu, blieb dicht vor ihm stehen und ging dann in die Hocke.

Kilian hielt vor Angst die Luft an. Aus der Nähe in die schwarzen Augen zu blicken erschien ihm, als würde er in einen Abgrund gesogen.

„Bitte abgelehnt“, zischte er und erhob sich. Mit großen Schritten eilte er davon.

„Aber …!“, rief Kilian ihm nach.

Danyel drehte sich um. Kilian glaubte, wenn Blicke töten könnten, wäre er auf der Stelle tot umgefallen.

„Du wagst es? Geh mir aus den Augen, du Wurm! Ihr Menschen seid nichts als jammernde Kreaturen, die nicht zufrieden sind mit dem, was sie haben!“

Kilian blieben die Worte im Hals stecken. Was sollte er jetzt auch noch sagen?

Starr vor Enttäuschung kniete er auf dem harten Boden und bemerkte erst, als es zu spät war, dass Danyel umgekehrt war. Ein schwarzer Stiefel schoss auf seinen Brustkorb zu …

In diesem Moment war er aufgeschreckt und in die Wirklichkeit zurückgekehrt. Die Angst, dass dieser Albtraum ein schlechtes Omen wäre, ließ sich nicht vertreiben. Doch er wollte und durfte die Hoffnung nicht aufgeben, dass die Verhandlung erfolgreich verlaufen würde.

An Schlaf war nun nicht mehr zu denken. Bis zur Dämmerung wälzte er sich unruhig hin und her. Ob es nun Marias Worte gewesen waren, oder seine eigene Fantasie, die mit ihm durchging, spielte kaum eine Rolle. Die Bilder in seinem Kopf ließen sich nicht mehr vertreiben. Schließlich fiel er doch wieder in den Schlaf. Diesmal traumlos.

 

Warme Sonnenstrahlen kitzelten ihn wach. Kilian streckte sich und im Tageslicht erschien ihm der schräge Traum gar nicht mehr so beängstigend. Eher wie ein gruseliges Abbild seiner Furcht, es könnte schief gehen. Es mochte zutreffen, dass dem Schicksal menschliche Gefühle fremd waren. Dennoch glaubte er, überzeugend genug reden zu können, dass der Tausch vollzogen würde.

Was Maria als selbstlos bezeichnet hatte, nannte er eher egoistisch. Und feige. Er konnte sich nicht vorstellen, sein Leben ohne seine Schwester zu führen. Wenn Monja starb, würde er auch sterben – innerlich. So ging er lieber den Handel ein, verzichtete auf sein eigenes Leben, damit seine Schwester ein längeres haben könnte. Er war sich bewusst, dass Monja wütend, unglücklich und enttäuscht reagieren würde. Und doch war Kilian sicher, dass sie ihre große Liebe fände, dass sie Kinder bekäme und schließlich glücklich wäre. Irgendwann könnte sie akzeptieren, was er getan hatte und mit einem Lächeln auf den Lippen an ihn denken. Was ihre Mutter anging … naja, da war er sich sicher, dass sie nicht nur wütend, sondern stinksauer wäre. Aber damit kam er klar.

Er schwang sich aus dem Bett und stellte mit Erstaunen fest, dass es fast schon Mittag war. Frühstück konnte er demnach vergessen …

 

Nach einer Dusche und mit frischen Sachen am Leib fühlte er sich gleich, wie ein neuer Mensch. Sein Gepäck ließ er im Zimmer, schloss ab und lief die Treppe hinunter.

„Hallo? Maria? Sind Sie da?“, rief er.

„Hier!“, schallte es aus dem Büro-Wohnzimmer.

Kilian schob die angelehnte Tür auf. „Entschuldigung.“

„Für was? Weil du geschlafen hast, wie ein Murmeltier?“

Er zuckte mit den Schultern. Es war eigenartig, aber es machte ihm nichts aus, dass sie ihn duzte.

„Hunger? Ich mache dir ein spätes Frühstück. Ach, meine Tochter kommt um zwei – sie gibt Stadtführungen, wenn du willst, kannst du mitgehen und dir das schöne ‚Roma‘ ansehen“, bot sie an. Das leichte Zwinkern dabei war ihm nicht entgangen.

„Ähm!“, Kilian war perplex. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet.

Maria kam hinter dem Schreibtisch hervor. „Nun setz dich, ich bringe dir was.“

„Danke“, brachte er hervor und fragte sich, ob das alles eine glückliche Fügung war.

 

Maria war ein Mensch, den man früher gerne als einen Engel bezeichnet hatte. So viel Herzlichkeit war Kilian selten begegnet. Wenn er sie mit Märchenfiguren vergleichen sollte, wäre sie so etwas wie eine gute Fee.

Das Frühstück entpuppte sich als kalt-warmes Mittagessen, und während er aß, unterhielten sie sich über belanglose Dinge. Die Zeit verstrich und weder Maria noch er selbst lenkte das Gespräch auf Kilians Vorhaben. Das Angebot mit der Stadtführung schlug er aus. Zudem wollte er sich einen Teil der Sehenswürdigkeiten im Alleingang ansehen.

Bevor er aufbrach, bezahlte er bei Maria das Zimmer für die zwei Nächte. Eine dritte Nacht hielt sie frei, falls er am Montagnachmittag noch nicht abreisen würde und weil im Moment sowieso nicht viel los war.

 

Kilian lief gefühlte zehn Kilometer durch Rom. Die Überbleibsel aus der Römerzeit faszinierten ihn. Die Stadt musste zur damaligen Zeit imposant gewesen sein, wenn ihn schon die Überreste zum Staunen brachten.

Er besuchte auch eine der größeren Kirchen. Eine der wenigen, die noch stand. Es tat ihm leid, dass zu der Zeit des Umbruchs so manche Kirche abgerissen wurde. Auch wenn sie ihren eigentlichen Zweck nicht mehr erfüllten, waren es doch grandiose Bauwerke gewesen. Skulpturen, Plastiken, Fresken und die Glaskunst der Fenster – verlorene Schätze. Manche gestohlen, manche zerschlagen. Schade eigentlich. Der Altar, vor dem er gerade stand, war ein bildhauerisches Meisterwerk. Die Verzierungen, die in den schwarzen Stein gehauen waren, flößten Kilian Respekt vor dieser Arbeit ein. In seinen Augen wäre es ein Verbrechen, all diese Dinge zu zerstören. Selbst die Jesusfigur an dem Kreuz oberhalb des Altars schloss er mit ein. Sicherlich, diesen Mann hatte es nie gegeben – doch das Kunstwerk sollte wie alles andere als Kulturgut und Erinnerung aufbewahrt werden.

Kilian war der Ansicht, die Zeit in der Geschichte der Menschheit, die vom Glauben dominiert wurde, war ebenso wichtig, wie jede andere. Die rund 1900 Jahre hatten zwar etliche schlechte Seiten gehabt, doch er war der Meinung, die Religionen hatten auch dazu beigetragen, dass sich soziale Strukturen entwickelten.

Als er noch in der Schule war, hatte er Geschichte geliebt. Das einzige Fach neben Mathematik, in dem er immer eine Eins gehabt hatte. Nun stand er im Mittelgang und starrte an die hohe Decke. Zu gerne hätte er das Gesicht seines Lehrers bei diesem Anblick gesehen – der Mann war ein wahrer Kunstkenner gewesen. Die Begeisterung, mit der er über die italienischen Künstler gesprochen hatte … Kilian lächelte.

‚Herr Schubert wäre hier voll in seinem Element gewesen!‘, dachte er und wandte sich zur Tür um.

 

Donnernd fiel die schwere Eichentür hinter ihm zu. Ihm blieb noch eine Stunde, ehe es dunkel wurde. Einen Moment hielt er inne, dachte daran, dass er so gerne zu Haus anrufen würde, um Monja und seiner Mutter von den vielen Dingen zu erzählen, die er am Nachmittag gesehen hatte. Leider konnte er seine Freude nicht mit den beiden teilen, ohne Ärger zu riskieren. Wie sie reagieren würden, sah er so deutlich vor sich, wie die Stufen, auf denen er stand.

So lief er mit einem lachenden und einem weinenden Auge zurück zu seiner Unterkunft. Nach einer halben Stunde Fußmarsch war er da. Es klingelte wieder, als er durch die Tür trat. Diesmal kam Maria nicht um die Ecke. Kilian wartete einen Augenblick, und als sie nicht auftauchte, stieg er die Stufen hinauf.

 In dem kleinen Zimmer setzte er sich auf das Bett und seufzte. Kilian glaubte, in seinem ganzen Leben noch nicht so viel gelaufen zu sein! Und das alles, weil er sich nicht traute, die Metro zu benutzen. Wäre er nicht so ein Hasenfuß, dann hätte die Zeit sicherlich ausgereicht, um sich die ehemalige Vatikanstadt näher anzusehen. So musste er am kommenden Tag frühzeitig los, weil er keine Ahnung hatte, wie lange er bis dorthin brauchen würde. Und zu spät kommen war das Letzte, was er wollte!

 

*

 

Heute war wieder so ein Tag, der ihn alles andere als erheiterte. Die Französin, die vor ihm stand und mehr Zeit für ihren kleinen Sohn erbat, rang ihm nicht einmal ein spöttisches Lächeln ab.

Die zierliche Frau war hartnäckig, das musste er ihr lassen. Aber ihr letztes Angebot stimmte ihn auch nicht um. Was kümmerte es ihn, wenn das jetzt dreijährige Kind seinen zwanzigsten Geburtstag nicht erlebte? Daran konnte auch ihr eher anstoßendes wie verlockendes Angebot, den Preis mit ihrem Leib zu zahlen, nichts ändern.

Die Tränen, die aus den dunkeln Augen auf ihre blassen Wangen kullerten, entlockten ihm kein Mitgefühl. Wäre ihr Vorschlag etwas origineller gewesen, statt einfach nur Sex anzubieten, hätte er sich vielleicht auf einen Handel eingelassen. Sex könnte er haben, mit wem und wann er wollte, dafür musste er nicht handeln. Außerdem konnte er dem nicht viel abgewinnen, er war übersättigt und gelangweilt von allem.

Als Danyel sie mit einem ‚Nein‘ vor die Tür setzte, warf sie ihm an den Kopf, dass sie mit ihrem Sohn sterben würde. Er nahm es regungslos zur Kenntnis und wandte sich seinem Schreibtisch zu.

Vier

Hier ist das Ende - nein. Natürlich nicht. Nur endet hier der Auszug aus dem Buch. Es handelt sich dabei um die ersten 42 Seiten des Romans, der insgesamt 264 Seiten hat.

Das hier ist die aktualisierte Version des ersten Entwurfs - danke an Mick für die wachsamen Augen bei der Korrektur.

Das Buch wird im dead soft verlag erscheinen - geplant ist Oktober. Genauer Termin folgt.

 

Danke fürs Lesen.

Sophie

Rezension von ebookmeter.info

Quelle: ebookmeter.info

 

Danyel – Mit dem Schicksal lässt sich handeln

 

Stellen Sie sich für einen kurzen Moment vor, die Menschen wüssten in naher Zukunft, wann sie sterben; dass es eine höhere Instanz gibt, die auf den Tag genau festlegt, wann das Leben zu Ende ist. Wenn diese Vorstellung nicht bedrückend genug ist, gehen Sie einen Schritt weiter und stellen Sie sich weiter vor, dass ein Ihnen nahestehender Mensch nur noch wenige Wochen auf der Erde verbringen darf, während Sie jedoch wüssten, vor Ihnen liegen noch Jahrzehnte. Ist diese Vorstellung noch immer nicht beklemmend genug? Dann gehen Sie den finalen Schritt weiter und tauchen noch einmal ab ins Reich der Vorstellung: Dieses Mal jedoch vor dem Hintergrund, dass Sie ihr eigenes Leben für deutlich ‘verzichtbarer’ hielten auf Erden, als das Leben der Ihnen nahestehenden Person, die nur noch wenige Tage leben darf. Würden Sie versuchen, mit der höheren Instanz einen Deal einzugehen, bei dem Sie vorschlagen, mit dem vorherbestimmten Schicksal der Ihnen nahestehenden Person zu tauschen und sich zu ihren Gunsten selbst zu opfern; ihr das Leben zu schenken, das eigentlich Ihnen zusteht…? Vor diesem sehr interessanten Hintergrund hat Sophie R. Nikolay ihr Buch “Danyel – Mit dem Schicksal lässt sich handeln” angesiedelt. Wir haben es für Sie gelesen:

 

Zum Inhalt:

 

Danyel ist der, den man das Schicksal nennt. Er entscheidet über die Lebenszeit der Menschen, kalt und ohne Emotionen. Kilian ist ein Mensch, und er will nicht akzeptieren, dass seine jüngere Schwester früher stirbt als er. Also plant er, seine Lebenszeit mit ihrer zu tauschen und reist nach Rom, um mit Danyel zu handeln. Kilian ahnt nicht, in was er hineingeraten wird, als er Danyels Reich betritt, denn der übt sofort eine unheimliche Anziehungskraft auf ihn aus.

 

Quelle: Klappentext bei amazon

 

Unsere Meinung:

 

Legt man bereits bei seinen ersten Veröffentlichungen Punktlandungen hin, die sich bereits kurz nach Erscheinen nicht nur über zahlreiche positive Rezensionen, sondern auch über die vorderen Ränge in den Bestsellerlisten bei amazon erfreuen können, dann wird es für einen Autor oder in dem Fall eine Autorin schwer, ihre Fans und Anhängerschaft mit weiteren Büchern zu überzeugen: Immer das gleiche Schema mit leichten Abwandlungen führt irgendwann zu einer Übersättigung, Abwandlungen und etwas vollkommen Neues birgt das Risiko in sich, die Fans zu enttäuschen, sodass diese sich dann abwenden.

 

Diese Geschichte ist mal etwas neues! Sehr schön geschrieben, interessante Handlung und eine ungewöhnliche Sicht auf die Welt und das eigene Leben. Die Romantiker unter uns werden auf ihre Kosten kommen und auch die erotischen Szenen sind sehr ansprechend gestaltet. Von mir gibt es eine definitive Kaufempfehlung. Rezensent bei amazon

 

Umso bewundernswerter ist der Mut von Sophie R. Nikolay, sich mit ihrem neuesten Buch “Daniel – Mit dem Schicksal lässt sich handeln” auf streckenweise vollkommen neues Terrain zu begeben. Und bereits nachdem man wenige Seiten gelesen hat muss man erkennen, dass sich das Risiko für Sophie R. Nikolay absolut gelohnt hat. Denn mit diesem Buch ist ihr das gelungen, was nur sehr wenigen Autoren gelingt: Den gewohnten Pfad verlassen und ganz bewusst einen Schritt weiter gehen, ohne dabei bisherige Leser und Anhänger zu verprellen, sondern um nicht nur diese zu befriedigen, sondern auch neue Leser hinzuzugewinnen. Es ist ein Buch, dass sich zwar “Romance” nennt, doch bei dem der Leser nicht bereits im ersten Kapitel mit dem Ausleben von Begierden und Trieben rechnen kann. Genau gesagt spürt man das erste Mal in Kapitel 6 ein leichtes knistern und liest einen zunächst zaghaften, später jedoch sehr intensiven Hautkontakt in Kapitel 7. Erotik als Mittel die Geschichte abzurunden und nicht eine Geschichte nur der Erotik wegen.

 

Primär im Vordergrund steht die Geschichte von Kilian, der sich, wie wir bereits anfangs erwähnten, entscheidet, seiner jüngeren Schwester seine eigene Zukunft abzutreten. Er verzichtet, geplagt von Zweifeln und einem inneren Kampf darauf, sein eigenes Leben zu leben und will stattdessen das Schicksal seiner Schwester im Tausch gegen sein eigenes erfahren. Zu diesem Zweck macht er sich auf nach Rom zu Danyel – Jener Instanz, die bereits bei der Geburt darüber entscheidet, wie lange ein Mensch leben darf. Ob sein Plan aufgeht…?

 

Es ist ein Buch, das eine ganz eigene Dynamik erzeugt und beim Lesen die Zeit wie im Fluge vergehen lässt: Da ist das Grundgerüst, das ein Thema aufgreift, welches sicher alles andere als ‘gewöhnlich’ ist und den Leser sich selbst die Frage stellen lässt, ob und wenn ja unter welchen Umständen er bereit wäre, seine eigene Lebenszeit zu Gunsten eines Dritten zu verkürzen. Dann ist Danyel, das personifizierte Schicksal in Form eines attraktiven, jungen Mannes und nicht zuletzt schwebt bei diesem Zusammentreffen die ‘ewige Stadt’ Rom über der Handlung, die für sich schon sehr viel Mysteriöses und Geheimnisvolles zu bieten hat. Jene Eigenschaften, die von der Autorin so gekonnt in Worte gefasst wurden, dass man als Leser das Gefühl hat einzutauchen und selbst vor Ort zu sein. Nicht zuletzt die Begegnung zwischen Kilian und Danyel, die geprägt ist vom Rätselhaften und Erotischen. So entsteht eine Mischung, die derart perfekt dosiert wurde, dass sie insgesamt ein Lesevergnügen bis zur letzten Seite bietet.

 

Die Formatierung für den KINDLE (getestet mit dem KINDLE fire, dem iPad sowie den KINDLE Lese Apps für PC und Mac) ist sehr gut. Ebenso bemerkbar ist ein sauberes Lektorat, denn das Buch hält keinerlei Schwächen in dieser Hinsicht bereit, sodass das Lesevergnügen durch formelle Dinge keineswegs getrübt wird. Der Preis ist mit 5,99 € sicher nicht billig, aber angesichts einer nicht nur hervorragenden und intelligent ausgedachten Geschichte, sowie der Kunst, die Genregrenzen zwischen Drama, Fantasy und auch Erotik ineinander verschmelzen zu lassen und nicht zuletzt der professionellen Formatierung und Präsentation des Gesamtwerkes erscheint der Preis als fair und angemessen.

 

danipad Insgesamt besticht das Buch “Danyel – Mit dem Schicksal lässt sich handeln” durch eine beeindruckende Rahmengeschichte, in deren Verlauf sich die Grenzen zwischen den Genres aufheben. Den Leser erwartet ganz großes Drama, gewürzt mit einem Hauch Fantasy und abgerundet mit gekonnter Erotik. Dabei ist es der Autorin zu Gute zu halten, dass sie den Schritt wagte, etwas vollkommen Neues mit diesem Buch auszuprobieren und dem Leser dadurch ein Buch an die Hand gibt, welches sich nicht mehr so schnell vergessen lässt und das wirklich Maßstäbe setzt. Selbst als Vielleser hat man nach diesem Buch den Eindruck, soeben ein Buch gelesen zu haben, an dem sich andere messen lassen müssen. Hier ist wirklich alles perfekt. Ein Buchtipp, liebe Leser, der es wahrlich in sich hat.

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Impressum

Texte: Sophie R. Nikolay
Bildmaterialien: Sophie R. Nikolay
Lektorat: Korrektur Mick, Lektorat dead soft Verlag
Tag der Veröffentlichung: 19.04.2013

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