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Die Örtlichkeiten, Unternehmen und Lokale in diesem Roman entsprechen fast alle der Realität. Die Handlung sowie die Charaktere sind reine Fiktion - Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.




Prolog



Leere Augen blickten in den wolkenverhangenen Himmel. Die ersten Schneeflocken dieses Winters rieselten auf den kalten, blutverschmierten Körper hinab. Die Scheinwerfer des Streifenwagens beleuchteten die Stelle und verliehen ihr etwas Unheimliches. Das flackernde Blaulicht ließ die Szene auf dem Parkplatz in der Maarstraße aussehen, als stamme sie aus einem Spielfilm.
Sarah Kern, die junge Polizistin, forderte über Funk die Kollegen der Kripo an, während ihr Kollege sich auf der anderen Seite des Parkplatzes übergab. Sie konnte ihn verstehen. Der Anblick des Mordopfers ließ auch ihren Magen rebellieren. Dass es sich um Mord handelte, war eindeutig.
Die Kleidung des etwa dreißigjährigen Mannes war grob zerrissen und mit Blut besudelt. Die Hose hing an den Knien und der Genitalbereich war verstümmelt worden. Als sie hier angekommen waren, hatte Sarah es nicht gleich erkannt. Erst bei näherem Hinsehen war ihr bewusst geworden, was man dem Opfer angetan hatte. Ihm war der eigene Penis in den Mund gesteckt worden.
Sarah steckte das Funkgerät zurück in die Halterung und atmete tief durch. Die eisige Winterluft strömte in ihre Lungen und verstärkte das Gefühl der Kälte noch. Hatte es hier jemals einen so grausigen Mord gegeben? Sie wusste es nicht.
Sie zitterte, als sie zu der Frau mittleren Alters trat, die die Polizei verständigt hatte. Glücklicherweise hatte diese den Toten nicht näher in Augenschein genommen. Dennoch sah man ihr deutlich an, dass ihr der Schrecken noch in den Knochen saß. Die Hände tief in die Taschen ihres Parkas vergraben, stand sie an der Parkplatzeinfahrt und blickte der Beamtin entgegen.
„Der ist wirklich tot?“, fragte sie, obwohl es mehr nach einer Feststellung, als nach einer Frage klang.
„Ja. Ich danke Ihnen, dass sie angerufen haben.“ Mit einem kurzen Schulterblick zu ihrem Kollegen, der sich inzwischen erholt hatte, griff Sarah die Zeugin am Arm und drehte sich mit ihr um, sodass diese die Fundstelle nicht einsehen konnte. Ihr Gespräch dauerte gerade einmal so lange, bis die Kollegen der Kripo und ein Krankenwagen am Ort des Verbrechens eintrafen.


Kapitel 1



Sonntag



Thorsten tigerte unruhig auf und ab. Martin hatte schon längst zurück sein wollen. Eigentlich hatte der gar nicht vorgehabt, zum Klassentreffen zu fahren, doch Thorsten konnte ihn dazu überreden. Wie oft sieht man schon seine ehemaligen Mitschüler? Besonders Martin, der wie er sagte, zu Schulzeiten heftigen Attacken seiner Mitschüler ausgesetzt war, sollte sich aus Trotz dort blicken lassen. Damit hatte Thorsten ihn jedenfalls ermuntert. Der Junge, der früher wegen seiner Homosexualität von den anderen geärgert worden war, sollte mit Stolz und hocherhobenen Hauptes zu diesem Treffen gehen. Der Junge, der heute ein erfolgreicher Geschäftsmann war … und immer noch schwul!
Jetzt machte Thorsten sich Sorgen. Es war bereits zwei Uhr durch. Vielleicht war seine Sorge unbegründet und Martin amüsierte sich köstlich. Dennoch blieb ein ungutes Gefühl, als er sich mit der Wolldecke aufs Sofa verzog.
Während er Löcher in die Luft starrte, malte er sich aus, dass sein Lebensgefährte eine tolle Nacht hatte. Vielleicht war er mit einem Teil seiner Ex-Mitschüler noch in eine Kneipe gegangen. Oder zum A1 gefahren, tanzen, feiern … was auch immer. Martin hatte sich bestimmt umsonst Sorgen gemacht, dass er weiterhin Probleme wegen seines Schwulseins haben würde. Aus den Teenagern mit der frechen Klappe waren Erwachsene geworden, die heute sicherlich mehr Verstand besaßen, als zu Schulzeiten.
Thorsten lächelte, als ihm in den Sinn kam, dass es eigentlich niemanden gab, der Martin nicht mochte. Herzensgut und hilfsbereit als Freund, pünktlich und aufrichtig als Geschäftsmann, als Partner treu und eine Granate im Bett. Seit acht Monaten waren sie jetzt ein Paar und Thorsten schüttelte den Kopf, als er daran dachte, was für ein Glück er doch hatte. Lange Zeit war es ein Wunschtraum gewesen, den perfekten Partner zu finden, jetzt war es die Wirklichkeit. Zusammen leben, alles teilen. Es war perfekt, auch wenn er jetzt hier auf dem Sofa hockte und auf seinen Mann wartete.

*



Joachim Gruber saß in seinem Wagen und fuhr die Kaiserstraße runter. Er hatte kaum geschlafen, dennoch war er hellwach. Müdigkeit konnte er sich nicht leisten, seit sie vor zwei Wochen das erste Opfer gefunden hatten. So wie es aussah, war er nun auf dem Weg zum dritten. Es war schon nach zwei gewesen, als er das große Büro, das der Sonderkommission als Zentrale diente, verlassen hatte. Nun war es kurz nach fünf und eiskalt. Dass ausgerechnet an diesem frostigen Wintermorgen jemand den Leichnam gefunden hatte, grenzte für Joachim an Irrsinn – wer war freiwillig in dieser Eiseskälte am Moselufer unterwegs, und das zu so früher Stunde? Laut seiner Kollegin, deren Anruf ihn aus dem Bett geschmissen hatte, war der Mann zum Joggen auf dem Moselradweg gewesen und dabei fast über den Toten gestolpert. Ob sich überhaupt Spuren finden ließen, stand in den Sternen. Denn während Joachim versucht hatte, etwas von dem verpassten Schlaf nachzuholen, war Neuschnee gefallen.
Es kam ihm vor wie ein Déjà-vu, als er über die Kreuzung fuhr, in Richtung der Römerbrücke abbog und das Blaulicht die Dunkelheit durchbrach. Er stellte sein Auto neben dem Streifenwagen ab und lief vorsichtig über die frische Schicht Schnee hinunter zum Radweg. Auf diesem ging er mit äußerster Sorgfalt, nicht, weil er vielleicht stürzen könnte. Es ging viel eher darum, eventuell vom Täter hinterlassene Fußabdrücke im Schnee nicht zu zerstören. Den uniformierten Kollegen, der ihm auf dem Radweg entgegenkam, erkannte er sofort.
„Hallo Jo“, grüßte der ihn.
„Guten Morgen, Hartmut. Wobei, gut trifft es wahrscheinlich nicht.“
„Da hast du recht. Der da hinten“, begann er und deutete mit dem Daumen über seine Schulter, „passt leider ganz genau zu den anderen.“
„Ich hab’s befürchtet. Mein Gott, ich glaube, so was hat die Stadt in ihren über zweitausend Jahren nicht gesehen …“, erwiderte er und schritt auf den Toten zu, der unter der Brücke lag und daher vom Neuschnee verschont geblieben war. Er brauchte nur kurz mit seiner Taschenlampe über den Körper zu leuchten, um zu sehen, dass Hartmut mit seiner Aussage richtig lag. Das Opfer war, wie die beiden vorhergehenden, zur Hälfte entblößt und Joachim verwettete sein gesamtes Hab und Gut, dass auch ihm ein wichtiger Teil fehlte. Zumindest wichtig für einen Mann. All das Blut, das um die Körpermitte verteilt und hart gefroren war, täuschte nicht darüber hinweg, dass etwas an dem Körper ganz und gar nicht stimmte.
Was ist das nur für ein Irrer?

, schoss es ihm zum wiederholten Mal durch den Sinn. Wie krank muss man sein, um einem Mann den Schwanz abzuschneiden und in den Mund zu stopfen? Obendrein behielt der Täter ein Souvenir – die Kronjuwelen. Jeder Leiche fehlten beide Hoden.
Joachim schüttelte sich. Das Schaudern ließ ihn einfach nicht los. Eigentlich liebte er seinen Beruf – empfand ihn sogar als Berufung – doch im Augenblick fühlte er sich gar nicht wohl, angesichts dieser Verbrechen. Vor sich lag Opfer Nummer drei und sie hatten nichts, aber auch rein gar nichts in der Hand. Die Männer aufzufinden, die auf diese Art und Weise getötet wurden, war schon grausam genug. Dem Täter dabei auch nicht nur Ansatzweise näher zu kommen, war schrecklich. Vor allem, da sich die zeitlichen Abstände zu verkürzen schienen. Zwischen Nummer zwei und drei lagen jetzt nur fünf Tage. Zwischen den ersten beiden waren es acht gewesen.
„Habt ihr ihn schon nach Papieren abgesucht?“, erkundigte er sich.
„Nein, wir wollten alles so lassen, wie es ist“, gab Hartmuts jüngerer Kollege zurück.
Joachim beleuchtete ihn kurz und sah, dass auch diesem jungen Beamten schlecht geworden war. Kein Wunder – selbst den härtesten Kerlen wurde übel, wenn sie einen Blick auf diese Grausamkeit richteten.
Sorgfältig zog Joachim sich die Einmalhandschuhe über, in der Hoffnung diesmal vorhandene Spuren nicht zu verunreinigen. Zuerst tastete er die Hosentaschen der Jeans ab, doch er fand nichts.
„Kein Schlüssel, kein Portemonnaie“, murmelte er und setzte seine Suche in der offenstehenden dicken Winterjacke des Ermordeten fort. In den Außentaschen fand er nur ein Streichholzbriefchen. In der linken Innentasche fand er dann die Börse, rechts einen Schlüssel und ein Handy, während er krampfhaft versuchte, dem Opfer nicht ins Gesicht zu sehen. Schließlich trat er mit etwas Erleichterung von dem leblosen Körper zurück. Durch die Fundstücke würde die Identität des Mannes nicht lange ein Geheimnis bleiben.
„Als ihr hier angekommen seid, waren da außer den Spuren des Joggers noch andere im Schnee?“, fragte er an Hartmut gerichtet.
„Nein. Nicht aus der Richtung, aus der wir gekommen sind. Der Anrufer kam von der anderen Seite und da sind nur seine Abdrücke von den Turnschuhen.“
„Verdammt!“, fluchte Joachim und stapfte zum Auto zurück.

Nach und nach trafen seine Kollegen ein, die sich um das Übliche rund um den Tatort kümmerten. Währenddessen warf Joachim einen Blick auf das eingetütete Handy und rief die letzten Anrufe auf. Keiner in der letzten Nacht oder am vergangenen Abend nach neunzehn Uhr. Anschließend fischte er den Personalausweis aus der gut gefüllten Geldbörse. Martin Brauer, gerade mal dreißig Jahre alt gewesen und wie es aussah, nicht arm. Joachim sah, dass der Tote über fünfhundert Euro bei sich gehabt hatte. An Geld war der Täter also auch dieses Mal nicht interessiert gewesen.
Auch die im Pass eingetragene Wohnadresse sprach dafür, dass das Opfer finanziell gut da gestanden hatte. Petrisberg, Neubaugebiet. Joachim wusste, die schicken Häuser da oben waren nicht billig und er war gespannt, wer ihn dort oben erwarten würde. Wenn es überhaupt jemanden gab.
Das Streichholzbriefchen stammte vom Hotel Deutscher Hof, was keine achthundert Meter vom Fundort entfernt lag. Eigenartig fand er, dass zwar drei Hölzchen fehlten, er jedoch keine Zigaretten bei dem Toten gefunden hatte.
Jetzt hieß es, die letzten Stunden im Leben des Opfers so gut es ging zu durchleuchten. Wo war er gewesen und mit wem? Wenn sie Glück hatten, gab es diesmal eine Spur, einen Hinweis, der sie zum Täter führen konnte. Allerdings wurden für den Fall langsam ein paar Beamte mehr nötig. Momentan hatte er als der leitende Hauptkommissar der SoKO ‚Kevin‘ dreißig Leute um sich, die sich mit den Ermittlungen beschäftigten. Beinahe jeder von ihnen hatte mehr als genug zu tun.

*



Thorsten wurde unsanft vom Klingeln an der Tür geweckt. Es war noch nicht einmal hell. Er rappelte sich vom Sofa auf und knallte beinahe der Länge nach hin, weil er sich in der Decke verheddert hatte. Er hatte schon eine gehörige Standpauke auf den Lippen liegen, die er Martin entgegenschleudern wollte. Doch als er die Haustür schwungvoll aufriss, blieben ihm die Worte im Hals stecken. Draußen stand nicht ein sturzbetrunkener Martin, sondern ein Mann Anfang fünfzig.
„Ja?“, blaffte Thorsten unfreundlich.
„Verzeihen Sie die frühe Störung, Joachim Gruber, Kriminalpolizei Trier“, sagte der Mann und zeigte seinen Ausweis. „Wohnt hier ein gewisser Martin Brauer?“
„Warum?“
„Darf ich hereinkommen?“
Thorsten nickte und ließ den Beamten rein. Was wollte denn die Polizei von Martin? Hatte er etwas angestellt?
„Stört es Sie, wenn ich Kaffee mache?“, fragte Thorsten über die Schulter, während er nervös vom kurzen Flur in die große Wohnküche trat. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn.
Der Mann räusperte sich. „Nein.“
„Setzen Sie sich ruhig“, bot Thorsten an und zeigte auf den modernen Esstisch, der die Küche vom Wohnzimmer trennte, „hat Martin was angestellt oder warum sind Sie hier?“ Die Frage so rauszuhauen kam ihm sinnvoll vor und obwohl er ganz normal geklungen hatte, konnte er das Zittern seiner Hände kaum verbergen.
„Ich gehe davon aus, dass Sie und Martin Brauer hier zusammen leben?“
„Ja, ich bin … wie sagt man so schön … sein Lebensgefährte.“
„Das habe ich mir gedacht. Und Sie heißen?“, erkundigte sich der Beamte mit hochgezogener Braue.
„Oh, verzeihen Sie. Klein, Thorsten Klein. Vor knapp sechs Monaten bin ich hierher zu Martin ins Haus …“ Er brach ab und betrachtete den Polizisten genauer. Er trug Jeans und eine dicke Jacke, durch deren offenen Reißverschluss er ein cremefarbenes Hemd erkennen konnte. Keine Krawatte. Der Beamte stand da in Zivil, was dafür sprach, dass er kein gewöhnlicher Polizist war.
„Was ist passiert?“, fragte er leise, als er die Schlussfolgerung daraus zog.
„Herr Klein. Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber so wie es aktuell aussieht, ist ihr Freund einem Tötungsdelikt zum Opfer gefallen.“
Thorsten blinzelte hektisch. Einem … was?
Das ist nicht wahr!, schrie er in Gedanken. Das kann nicht sein! Nicht Martin, der keiner Fliege was zuleide tut!
Er atmete hektisch und sein Herz hämmerte. Kraftlos sank er gegen die Küchenzeile, spürte kaum den harten Marmor an seinem Rücken und fröstelte, obwohl es nicht kalt im Haus war. Die Welt um ihn herum begann sich zu drehen und er nahm nur am Rande wahr, dass der Mann auf ihn zugetreten war. Er fühlte die Hand an seinem Arm, die ihn sanft aber bestimmt zu einem der Stühle dirigierte.
„Warum?“, hauchte er kraftlos und sank in sich zusammen.
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Vermutlich war Ihr Partner einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Aber eines ist sicher: Wir tun alles, um den Täter zu fassen.“
„Wie …?“ Thorsten sah den Beamten an, der sich als Joachim Gruber vorgestellt hatte.
Verdammt, warum konnte ich mir auf Anhieb diesen Namen merken, ohne zu kapieren, warum er hier ist?
„Die Details erspare ich Ihnen besser.“
Thorsten schluckte. Sofort schob sich eine Schlagzeile in sein Gedächtnis, die neulich im Trierischen Volksfreund gestanden hatte. Da war es um zwei Morde gegangen, die mitten in der Stadt passiert und die bei der Tageszeitung natürlich auf Seite eins gelandet waren. Von mysteriösen Mordfällen war da die Rede gewesen – von Verstümmelungen und dem Rätsel hinter den Morden, wer etwas gegen die Getöteten gehabt hatte und welchen Zusammenhang es geben könnte.
„Ist er wie die beiden anderen …?“
Gruber nickte. „Gibt es Verwandte, die wir verständigen sollten?“
Thorsten sog die Luft tief ein. Niemand hatte einen schrecklichen Tod verdient, auch wenn er nicht genau wusste, was den anderen angetan wurde – das Wort Verstümmelung in der Zeitung ließ nichts Schönes erahnen. Darüber wollte er jetzt nicht nachdenken, lieber die Frage beantworten, das erschien ihm besser.
„Nein, nicht dass ich wüsste. Martin hat keine Geschwister und seine Eltern leben nicht mehr. Sie haben ihn erst spät bekommen, als sie die Hoffnung auf ein Kind längst aufgegeben hatten – wie er mir erzählt hat.“
„Und Sie? Haben Sie jemanden, den Sie anrufen können? Sie sollten nicht allein sein.“
Thorsten überlegte. Kim könnte er anrufen. Wobei … es wäre grausam von ihm. Sie war die beste Freundin von Martin, sie kannten sich seit Jahren. Andererseits, irgendwann musste sie es erfahren und hieß es nicht immer: Lieber früher als später … galt das auch für schlechte Nachrichten?
Er seufzte. „Machen Sie sich um mich keine Sorgen – finden Sie das Schwein! Ich komme schon klar. Aber – ich will ihn sehen, mich verabschieden. Geht das?“
„Natürlich. Ich kann Ihnen Bescheid geben, sobald der Gerichtsmediziner seine Arbeit erledigt hat.“
Thorsten biss die Zähne zusammen. Er musste jetzt stark sein, für Martin. Er hätte bestimmt nicht gewollt, dass er sich heulend wie ein Mädchen aufs Sofa verkrümelte und sein Leid klagte. Zumal der davon auch nicht wieder lebendig wurde. War das kaltherzig von ihm? Er wusste es nicht.

*



Joachim betrachtete den jungen Mann vor sich, der die Schultern straffte und vom Stuhl aufstand. Es gab viele verschiedene Reaktionen auf eine solche Nachricht, wie er sie eben überbracht hatte. Er hasste diesen Teil seiner Arbeit, doch es führte kein Weg daran vorbei. Nach außen hin demonstrierte Stärke begegnete ihm dabei ebenso oft, wie der Zusammenbruch eines Angehörigen, den man vom Tod eines geliebten Menschen in Kenntnis setzte. Wie lange Thorsten Klein diese Stärke aufrechterhalten konnte, stand in den Sternen. Die wenigsten Männer gestanden sich Schwäche ein oder zeigten sie sogar. Als er vor der Tür gestanden hatte, war er sich nicht sicher gewesen, was ihn hier erwarten würde. Jetzt allerdings war er froh, nicht auf einen tuntigen Schwulen getroffen zu sein. Tränenreiches und divenhaftes Gekreische war das Letzte, was er gebrauchen konnte. In einem war er sich nun aber sicher: Der Täter hatte es eindeutig nur auf homosexuelle Männer abgesehen.
Thorsten Klein begleitete ihn schweigend bis zur Tür. Dann gab er ihm eine Visitenkarte, die er aus einer kleinen Box zog, die auf dem Schränkchen im Flur gelegen hatte.
„Da steht auch meine Handynummer drauf.“
„Danke. Ich werde mich bei Ihnen melden. Es kann sein, dass Fragen aufkommen und es wäre nett, wenn Sie uns diesbezüglich unterstützen könnten“, Joachim stockte. „Wissen Sie, wo sich Ihr Lebensgefährte gestern Abend aufgehalten hat?“
„Ja, sicher. Martin war zu einem Klassentreffen. Sie wollten essen gehen.“
Die Worte klangen tonlos und nüchtern, als habe der junge Mann den Text irgendwo abgelesen.
„Wissen Sie wo?“, erkundigte er sich.
„Im Deutschen Hof.“
Joachim nickte. Damit war die Frage nach dem Streichholzbriefchen geklärt und sein nächstes Ziel auch. Als er das Haus verließ, steckte er sich die Visitenkarte in die Jackentasche. Er glaubte allerdings, er würde sie an diesem Tag nicht mehr brauchen, um den Mann anzurufen. Zuvor musste geklärt werden, wie das Opfer den Abend verbracht hatte und dabei konnte Thorsten Klein ihm nun wirklich nicht helfen.
Auf dem Weg runter in die Stadt hielt er, einer Eingebung folgend, am Aussichtspunkt in der Sickingerstraße an. Im Laufe des Jahres wurden hier etliche Touristen mit dem Bus hochgekarrt, um einen guten Blick auf die älteste Stadt Deutschlands werfen zu können – die nun von diesen Verbrechen überschattet wurde. Joachim konnte sich nicht daran erinnern, wann er zuletzt an dieser Mauer gestanden und auf seine Heimat hinabgesehen hatte. Der Tag brach gerade erst an und die aufkommende Helligkeit ließ eine graue Wolkendecke erkennen. Die Stadt unten schien noch zu schlafen und wirkte friedlich mit der frischen, weißen Pracht, die sich nicht allzu oft ins Moseltal verirrte. Welch ein Hohn, angesichts der grausigen Morde!
Während er den Blick schweifen ließ, rauchende Schornsteine, beleuchtete Fenster und den Verkehr betrachtete, fuhren seine Gedanken im Kreis. Ganz so, wie die Fahrzeuge auf den winterlichen Straßen unter ihm. Der deutlichste Anhaltspunkt, den er hatte, war der Umstand der alle drei Opfer verband. Homosexualität.
Als sie den ersten Toten gefunden hatten, waren ihm und den Kollegen zuallererst Rachemotive in den Sinn gekommen. Vielleicht Rache für eine nicht angezeigte Vergewaltigung? Eine Kollegin hatte sogar eingeworfen, das Opfer sei vielleicht ein notorischer Fremdgeher gewesen, dessen Frau einen osteuropäischen Killer angeheuert hatte. Nun ja, sie waren ja nicht in irgendeinem Fernseh-Krimi, sondern in der Realität. Die Befragung der Witwe war dann ausgefallen, weil es keine gab. Entsprechend war es der Kollegin nicht erspart geblieben, von dem ein oder anderen im Team damit aufgezogen zu werden.
Joachim hoffte, dass sie dem Täter rasch auf die Spur kämen, damit es nicht noch mehr Männer erwischte. Es war ihm klar, wenn es nicht zügig mit den Ermittlungen voran ging, wäre das früher oder später der Fall. Spätestens in ein paar Tagen, und das war für ihn Ansporn genug.

*



Als ihm bewusst wurde, dass er noch immer die Hand an der längst geschlossenen Tür hielt, drehte Thorsten sich um. Wie lange er dort gestanden hatte, wusste er gar nicht. Er wusste eigentlich überhaupt nichts. Nur dass Martin tot war. TOT! Es wollte ihm einfach nicht in den Kopf, dass der Mann mit dem sanften Lächeln nie mehr wiederkäme. Dass er nie wieder die Wärme des anderen spüren könnte, nie mehr dessen Stimme hören … nie wieder mit ihm streiten würde, weil Martin jeden Morgen im Waschbecken Rasierschaum und Bartstoppeln zurückließ.
Thorsten tappte wie ferngesteuert auf das Sofa zu und ließ sich fallen. Nicht nur physisch, auch psychisch. Er schluchzte, bis sein T-Shirt nass von all den Tränen war. Mit einem zittrigen Schnaufer zog er sich das Hemd über den Kopf und wischte Wangen und Nase daran ab. Dann blickte er auf und sah sich um. Das Haus war so leer, wie er sich fühlte. Die Stille, die ihn umgab, war erdrückend und fast so trostlos wie die Winterlandschaft, die ihn jenseits der großen Flügeltüren erwartete. Die kleinen Bäume im Garten waren kahl und auf den dürren Ästen lag eine feine, weiße Schicht. Der Boden bedeckt mit Schnee, der unberührt und so rein schien, dass Thorsten nur noch schreien wollte!
Stattdessen griff er zum Telefon. Ungeachtet der frühmorgendlichen Uhrzeit ließ er es klingeln, bis die Leitung automatisch unterbrochen wurde und wählte erneut. Als er dann endlich die verschlafene Stimme von Kim hörte, verließ ihn der Mut.
„Hallo? Wer ist denn da?“, fragte sie energisch nach.
„Kim … kannst du vorbeikommen?“, fragte er schließlich mit erstickter Stimme, ehe sie auflegen würde.
„Thorsten? Was ist denn los?“
„Bitte, komm einfach her“, erwiderte er und drückte das Gespräch weg, weil sich seine Augen erneut mit Tränen füllten.
Wut stieg in ihm auf. Was ist das nur für ein Verrückter, der anderen das Leben nimmt? Warum war das Schicksal so grausam zu ihm? Hatte er nicht ein bisschen Glück verdient? Vor einem Jahr hatte er sich geoutet und gehofft, endlich frei und glücklich sein zu können. Mit Martin an seiner Seite hatte es sich so gut angefühlt! Und jetzt sollte das alles vorbei sein? Alles zerstört – von einem Irren!

Eine halbe Stunde später klingelte es. Thorsten hatte sich inzwischen aufgerafft, sich geduscht und frische Sachen angezogen. Als er Kim die Tür aufmachte, sah er beinahe normal aus – wenn man von den verquollenen Augen mal absah.
„Meine Güte! Wie siehst du denn aus?“, begrüßte sie ihn und schob sich an ihm vorbei. „Und, was ist los? Was hat er angestellt?“
„Angestellt?“, wiederholte Thorsten verdattert und folgte ihr.
„Dass du geflennt hast, sieht ein Blinder! Hat er ’nen anderen gefickt?“
Thorsten schloss die Augen und atmete langsam aus. Wie um Himmels Willen sollte er ihr sagen, was los war?
„Herzchen, bevor du kamst, hatte er ständig irgendwelche Bettgeschichten. Wenn er jetzt in das alte Muster zurückfällt, drehe ich ihm persönlich den Hals um!“, zeterte sie und raufte sich durch das kurze Haar.
„Setz dich, Kim.“
Sie sah ihn verständnislos an.
„Setz dich. Ist besser …“, wiederholte er nachdrücklich und biss sich selbst auf die Unterlippe. Ihm fehlten eindeutig die richtigen Worte für das, was er sagen musste.
„Mann, du machst es aber spannend“, schnaubte sie und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Gleichzeitig wickelte sie sich ihren Schal vom Hals.
Thorsten schluckte und wählte den Stuhl ihr gegenüber. Er fühlte sich elend, doch er kam nicht daran vorbei, es ihr zu sagen. Kim schälte sich aus ihrer Jacke und sah ihn erwartungsvoll an.
„Ich weiß gar nicht, wie ich dir das sagen soll. Kim, ich wünschte, er hätte mich mit einem anderen Kerl betrogen! Leider ist es viel schlimmer …“
„Was denn“, platzte sie dazwischen, „war es etwa ’ne Frau?“
„Nein, verdammt!“
„Dann versteh ich nicht, was schlimmer ist …“, warf sie ein, ehe er weitersprechen konnte.
„Jetzt unterbrich mich doch nicht dauernd!“, motzte er, allmählich sauer. „Du weißt nicht, was schlimmer ist, als einen fremden Arsch zu pimpern? Ich sag’s dir! Der Blödmann hat … hat … er ist tot, Kim“, presste er hervor und wischte sich über die Augen. Verflucht, war er wirklich so ein Weichei, dass er ständig zu heulen anfing? Und Kim? Die starrte ihn mit offenem Mund an, als wäre ihm plötzlich ein drittes Auge gewachsen!
„Jetzt sag doch was“, bat er.
„Was ist passiert?“, fragte sie leise.
„Ein Polizist war heute Morgen hier. Ich habe es nicht gleich kapiert, er war in zivil. Er sagte, Martin wäre gefunden worden. Ermordet. Er passt wohl zu den beiden anderen Männern, die sie schon gefunden haben.“
„Oh Gott! Nein!“
Ihren Gesichtsausdruck würde er wohl nie vergessen. Sie sah so gequält aus, schockiert und aufrichtig entsetzt. Thorsten tat es weh, die zierliche und sonst so quirlige Frau mit dem losen Mundwerk so schockiert zu haben. Hätte er ihr nicht irgendwie schonender sagen können, was mit Martin passiert war? War das überhaupt möglich? Konnte man schonend erklären, dass das Schicksal fies war und der Tod alles zerstörte, was man hatte?
„Es tut mir leid“, flüsterte er.
„Dir tut es leid? Bist du verrückt? Für was willst du dich entschuldigen? Weil er nicht mehr da ist? Das bringt ihn nicht zurück und Schuld hast du ja bestimmt nicht!“
Thorsten griff sich ein Kleenex aus dem gläsernen Spender und putzte sich die Nase. Kim zog währenddessen eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Jacke hervor, die an ihrem Stuhl hing, und steckte sich eine an.
„Jetzt darf ich ja wohl rauchen“, erklärte sie trotzig.
„Mir egal. Ich meinte eben, ich hätte dir das auch irgendwie freundlicher oder schonender erzählen können.“
„Ach ja? Und wie? Pass mal auf Herzchen, der Tod ist ein Arschloch. Er kommt, wann er will und keine Worte der Welt können das nett umschreiben. So, und jetzt? Was hat der von der Kripo gesagt? Sollst du dich um alles kümmern?“
„Er hat gar nichts gesagt, wollte nur wissen, wo Martin gestern Abend war. Er ruft an, wenn ich Martin sehen kann. Ich habe darum gebeten.“
Kim stand auf und schnippte ihre Asche in die Spüle. Als sie sich umdrehte, hatte Thorsten den Eindruck, er habe einen Teenager statt einer fast dreißigjährigen Frau vor sich.
„Darf ich mitkommen? Ich meine, nimmst du mich mit, damit ich ihm ‚Tschüss‘ sagen kann?“
„Natürlich. Du kennst ihn länger als ich.“
„Kannte“, erwiderte sie matt. Dann begann sie zu weinen.


Kapitel 2



Als Joachim Gruber im K11 ankam, war die Hölle los. Unzählige seiner Kollegen und Kolleginnen waren anwesend und er hatte den Eindruck, die Truppe wäre aufgestockt worden. Dabei hatte er noch gar nicht die Gelegenheit gehabt, Clemens anzurufen. Kriminalrat Clemens, um genau zu sein. Der war der Oberboss, wenn man so wollte. Die Leitung der SoKo ‚Kevin‘ hatte der jedoch Joachim übertragen.
Kaum dass er die Jacke ausgezogen hatte, kamen die ersten Kollegen schon auf ihn zu und versorgten ihn gleichzeitig mit allen möglichen Informationen. Der Pathologe wurde verständigt und käme wie so häufig von der Uniklinik in Mainz angereist … Spuren habe man bisher keine entdeckt, vielleicht ergäbe die Untersuchung der Kleidung des Toten noch etwas … Die SoKo wäre von dreißig auf vierzig Mann verstärkt worden … Das Umfeld der ersten beiden Opfer würde erneut unter die Lupe genommen, um vielleicht doch noch eine Verbindung zwischen ihnen zu finden … Der toxikologische Bericht des zweiten Opfers sei eingetroffen und auch bei ihm hatte man Spuren von Midazolam gefunden – der Täter schien leichtes Spiel zu haben, weil er den Opfern Benzodiazepine einflößte, die landläufig als K.O.-Tropfen bekannt waren …
Mit einer Handbewegung stoppte er die verschiedenen Ausführungen, ehe der Redefluss in einem Durcheinander von Worten endete, die keiner mehr verstehen konnte.
„Ich weiß, dass die Zeit drängt, aber ich bin gerade erst zur Tür reingekommen. Hat jemand ein Foto des jüngsten Opfers parat?“
„Die Tatortbilder hab ich hier!“, rief ihm jemand zu, der ihm unbekannt war. Der Mann kam auf ihn zu und hielt einen Packen Bilder in der Hand. „Michael Huber, K1“, stellte er sich vor, noch ehe er Joachim erreichte.
„Die Bilder meinte ich nicht. Oder soll ich zum Deutschen Hof fahren, denen ein Bild vorlegen, wo dem Toten noch der Schwanz im Mund steckt und fragen: Hey, kennen Sie den? War der gestern Abend hier?“
Huber blieb wie angewurzelt stehen und nuschelte etwas Unverständliches. Joachim rieb sich über die Stirn. Sein Nervenkostüm war anscheinend nicht das Beste. Mit einer fahrigen Geste machte er seine Entschuldigung deutlich, während Birgit mit dem Ausdruck des Führerscheinfotos auf ihn zukam.
„Hier“, sagte sie. „Wir sind alle etwas gereizt“, fügte sie etwas leiser an.
Er seufzte. „Danke. Ist noch Kaffee da? Und, gibt es was Neues, was uns einen Schritt weiter bringt?“
Weiter hinten im Raum schwenkte ein junger Kollege die gefüllte Glaskanne und beantwortete damit Frage eins.
„Na ja, die beiden ersten Toten waren – anhand der nachgewiesenen Menge Midazolam – zumindest so weit betäubt, dass Gegenwehr wohl nicht mehr möglich war. Das wird bei dem von letzter Nacht sicher nicht anders sein. Diese Mittel kriegt man ja nicht einfach so. Ich will deshalb mit Jäckels zusammen die Apotheken abklappern“, erklärte ihm Pit.
Joachim nickte dem Kommissar zu, den er schon viele Jahre kannte und schätzte. „Fragt auch in den Krankenhäusern nach, so häufig wird das Dormicum ja nicht mehr von Ärzten verschrieben. Im Krankenhaus nutzen die das allerdings weiterhin vor Operationen. Vielleicht fehlt etwas im Bestand“, wies er an. Pit stimmte zu, während er sich aus der Kaffeekanne bediente.
„Noch was?“, fragte er in die Runde und nahm die Tasse entgegen, die ihm kurz darauf von Pit hingehalten wurde.
„Nichts, was wir nicht schon wussten“, entgegnete Birgit.
Was nicht besonders viel war, wie Joachim zugeben musste. Das erste Opfer war in der Nacht seines Todes im Treff 39 gewesen. Früher war das Lokal als ein reiner Treffpunkt für Schwule bekannt, heute spielte die sexuelle Orientierung der Gäste kaum mehr eine Rolle – weder für diese, noch für die Betreiber. Der Fundort war nicht weit entfernt, dennoch hatte niemand etwas gesehen oder gehört. Es war nicht nachvollziehbar, was geschehen war, nachdem der Mann den Treff verlassen hatte. Streit hatte es keinen gegeben und gegangen war er allein.
Das zweite Opfer wurde in der Grünanlage der Nordallee gefunden. Anhand der Kinokarte in seiner Jackentasche war schnell klar geworden, dass dieser vor seinem Tod im Broadway Filmtheater gewesen war. Zur Spätvorstellung, allein. Auch da keine Zeugen, keine Hinweise am Tatort. Nichts schien die beiden zu verbinden, außer der Todesursache und dem Umstand, dass sie schwul gewesen waren. Beide verbluteten, nachdem man ihnen die Genitalien abgeschnitten hatte. Ab dem Moment war klar geworden, dass sie es mit einem Serientäter zu tun hatten, der mit Sicherheit wieder zuschlagen würde, sollten sie nicht schnell etwas in der Hand haben, um ihn dingfest zu machen.
Jetzt galt es, die letzten Stunden von Martin Brauer zu rekonstruieren. Nachdem Joachim auch von dessen Homosexualität erfahren hatte, vermutete er stark, dass der Täter homophob war. Er fragte sich, was den Killer dazu veranlasst hatte, sich auf diese brutale Weise an schwulen Männern zu vergehen. Irgendeinen Grund hatten sie alle, auch wenn es für einen geistig gesunden Menschen klar war, dass viele der Gründe keinesfalls einen Mord rechtfertigen würden. Ehrgeiz packte ihn. Er würde alles tun, um die Ermittlungen voranzutreiben und diese Mordserie zu beenden. Auch wenn das hieß, dass er sein Büro zu seinem zu Hause machte – es spielte keine Rolle. Bei ihm wartete nach der Arbeit keiner auf ihn.

*



Thorsten ließ Kim weinen. Tröstend in den Arm nehmen konnte er sie nicht, dafür war er selbst zu sehr mit Schmerz erfüllt. Tausend Dinge schwirrten ihm im Kopf herum. Martins Firma, eine Werbeagentur, die er im Nachbarland Luxemburg betrieb, musste benachrichtigt werden. Seine rechte Hand Theresa müsste sich um alles kümmern, was das Geschäftliche anging. Martins Auto, das Haus … Thorsten wusste gar nicht, ob er hier bleiben konnte. Er hatte keine Ahnung, wie viel von dem ursprünglichen Preis noch abzuzahlen wäre. Mit seinem Gehalt konnte er sich die Rate sicher nicht leisten, auch wenn er nicht schlecht verdiente. Er mochte die Stadt, die ganz anders war als Köln, und er mochte die Leute in der Nachbarschaft. Nur ungern würde er all dem den Rücken kehren.
Schließlich stand er auf und drückte Kim kurz. „Kannst du hier bleiben?“
„Wenn du das möchtest“, erwiderte sie mit zitternder Stimme.
„Ich kann nicht allein sein. Es ist alles so unfair … ich muss Theresa anrufen.“
„Thorsten, es ist Sonntag und gerade mal neun Uhr. Willst du jetzt echt da anrufen?“
Er setzte an, um zu antworten, klappte stattdessen aber den Mund wieder zu. Kim steckte sich eine neue Zigarette an.
„Kann ich eine haben?“
„Klar. Ich wusste gar nicht, dass du rauchst“, sagte sie erstaunt und hielt ihm die Schachtel hin.
„Nicht mehr. Habe es aufgegeben, als ich Martin kennenlernte. Er mochte es nicht.“
Sie nickte bloß und Thorsten griff sich einen der Sargnägel. Es hatte Zeiten gegeben, da brauchte er zwei Packungen am Tag. Als er den Filter zwischen die Lippen klemmte, war das Gefühl sofort vertraut. Anders als der Rauch, den er tief inhalierte. Er schmeckte widerlich und zwang ihn zu husten, dennoch nahm er einen zweiten Zug. Jetzt noch einen Whisky dazu und er hätte die perfekten Seelentröster in der Hand. Dieser Gedanke ließ ihn sarkastisch auflachen. Er fühlte sich so leer und verloren, dass er glaubte, sich mit Hochprozentigem und Nikotin davon ablenken zu können!
„Was ist?“
„Weißt du, ich hab mir gerade noch einen Whisky dazugewünscht und meine Tröster wären komplett. Alkohol und Zigaretten, zwei der Dinge, die Martin nicht ausstehen konnte“, erklärte er, „und kaum ist er weg, greife ich zu. Wie früher.“
„Wer könnte dir das verübeln?“
Er zuckte mit den Schultern und inhalierte ein weiteres Mal den aromatisch riechenden Rauch, der in seiner Lunge brannte. Nach dem nächsten Zug wurde ihm schwindelig, weshalb er die zur Hälfte gerauchte Zigarette unter dem Wasserhahn löschte und die Kippe in den Mülleimer warf. Kim hantierte unterdessen an der Bar im Wohnzimmer und kam mit zwei Gläsern zurück.
„Die Bar ist gut sortiert und siehe da, Whisky hab ich auch gefunden.“
„Ich habe das eben nicht ernst gemeint …“, wehrte er ab.
„Jetzt quatsch nicht Herzchen, trink. Das beruhigt.“
Thorsten nahm das Glas und kippte dessen Inhalt in einem Zug herunter. Die Wärme, die sich daraufhin in ihm breitmachte, hatte tatsächlich etwas Tröstendes. Das angenehme Gefühl hielt nur kurz an und machte deutlich, wie falsch die Annahme war, man könne seine Probleme in Alkohol ertränken. Bis auf die Ausnahmen, wenn er beim Essen mit Martin mal ein Glas Wein getrunken hatte, gehörte Alkoholisches nicht mehr zu seinem Alltag. Das war, wie das Rauchen, ein Teil seines alten Lebens, wenngleich er auch nie abhängig davon gewesen war. Bier trank er selten und Kölsch schon gar nicht – was in Anbetracht der Tatsache, dass Köln seine Geburtsstadt war, schon einer Sünde glich.
Seine Wirkung verfehlte der Alkohol allerdings nicht, zumal Thorsten vorher nichts im Magen gehabt hatte. Es fühlte sich leicht schwindelig, was ihn in der Kombination mit dem plötzlichen Nikotingenuss nicht weiter verwunderte. Viel geschlafen hatte er auch nicht, weil er auf Martin gewartet hatte. Martin …
„Er kommt nicht mehr wieder, Kim“, brachte er mühsam hervor, ehe er sich selbst die Hände um den Körper schlang, weil er das Gefühl hatte, jeden Moment auseinanderzubrechen.
Noch nie hatte er sich so verloren gefühlt, so allein. Auch nicht, als er erkannt hatte, dass sein Leben eine einzige Lüge war und er sich selbst und anderen jeden Tag etwas vorgemacht hatte, bis er endlich den Mut fand zuzugeben, dass er schwul war. Immer gewesen war.
Er begann zu zittern, als hätte er Schüttelfrost, und fühlte sich taub und leer. Kim schob ihn einfach von der Küche bis zum Sofa und er ließ sich widerstandslos dirigieren.
„Du legst dich jetzt dahin und machst die Augen zu. Was du brauchst, ist Ruhe. Hör auf zu denken“, wies sie ihn an.
„Ist gut“, gab er sich geschlagen.
Ein Blick in ihr Gesicht, der traurige Ausdruck in ihren Augen und das aufmunternde Lächeln auf ihren Lippen, machten jedes weitere Wort unnötig. Er war froh, dass sie hier war. Sie war stärker als er selbst, und das, wo sie doch eine so zierliche Person war. Kim war wie die Schwester, die er sich immer gewünscht hatte – für Martin war sie das wohl auch gewesen. Freundin, Vertraute, Schwester, Kumpel. Er schloss die Augen und legte den Kopf ans Polster.
„Danke“, flüsterte er.
„Herzchen, wir schaffen das schon.“

Thorsten schlief tatsächlich ein. Er wusste nicht, ob er träumte oder die Erlebnisse der vergangenen zwei oder drei Stunden nur ein Traum gewesen waren. Es war ihm auch egal, denn er lag mit der Mikrofaserdecke auf dem Sofa und das Klimpern eines Schlüssels weckte seine Aufmerksamkeit. Kurz darauf kam Martin um die Ecke, mit einem entschuldigenden Lächeln auf den Lippen.
„Ich wollte dich nicht wecken, Süßer. Ich dachte, du wärest längst im Bett.“
„Hab auf dich gewartet“, murmelte Thorsten schläfrig und setzte sich auf.
Martin beugte sich zu ihm herunter und küsste ihn sanft.
„Ich wollte nicht so lange bleiben, ich weiß. Entschuldige“, raunte er und verschloss Thorstens Mund mit seinem, ehe der antworten konnte.
Der zarte Kuss wurde schnell wilder, ihre Zungen fanden zueinander und fochten einen kleinen Kampf aus, während Martins Hände durch Thorstens Haare wuschelten.
Thorsten zog Martin zu sich auf das Sofa, bis er rittlings über ihm saß. Rasch verlor jeder seine Kleidung und die Lust aufeinander wurde unbezähmbar. Thorsten liebkoste Martins Körper, genoss das Gefühl der nackten Haut unter seinen Fingern. Er sog den Geruch von Martin in sich auf, diese ganz persönliche Note, die durch die angefachte Lust noch verlockender schien. Er spürte das Gewicht des Mannes, den er liebte und hielt den Atem an, als er in Martin eindrang.
„Ich liebe dich!“, keuchte Martin.
Thorsten wollte antworten, doch plötzlich wurde alles dunkel.
Erschrocken fuhr er hoch, blinzelte wegen des plötzlich wieder vorhandenen Lichts und sah sich um. Martin war nicht da und er selbst war nicht nackt. Die Realität hatte ihn wieder – dabei hatte es sich so schön und so echt angefühlt …
„Alles okay?“, hörte er Kim fragen.
„Ja … nein. Er war hier, alles war in Ordnung. Er hat mir gesagt, dass er mich liebt.“
„Du hast von ihm geträumt.“
„Ich weiß nicht, es fühlte sich für einen Traum zu echt an. Verdammt“, murrte er, nachdem ihm bewusst wurde, wie echt.
„Ich hab ihn nicht gesehen, und ich saß die ganze Zeit hier. Also hast du geträumt.“
„Der Meinung ist nicht jeder Teil von mir …“
„Na ja, es dauert sicher eine Weile, bis dein Kopf es so richtig kapiert. Wenigstens hast du etwas geschlafen.“
„Danke, Mami! Am Kopf liegt es nicht. Ich, wir … wir hatten Sex, um genau zu sein und ich bin immer noch hart!“, fluchte er. „Ist das krank!“
Kim lächelte. „Nein, ist es nicht. Du vermisst den Mann, den du liebst. Ich finde, das ist völlig normal“, erklärte sie und hörte sich verdammt nüchtern und klug an. „Und ich hoffe, der Täter wird geschnappt, bevor er den Nächsten erwischt!“, zischte sie.
„Meine Güte! Deine Stimmungsschwankungen innerhalb eines Satzes sind gewöhnungsbedürftig. Aber ich gebe dir recht. Lieber wäre mir allerdings, ich würde das Schwein selbst in die Finger bekommen.“
„Herzchen, überlass das Bestrafen dem Gesetz, auch wenn es sich besser anfühlen würde, wenn du es selbst in die Hand nimmst. Dafür gehst du aber dann in den Bau.“
Thorsten nickte. „Ich muss hier raus. Sollen wir was frühstücken gehen?“
Kim sprang sofort auf. „Du glaubst gar nicht, wie sehr ich das verstehe.“
Fünf Minuten später waren sie auf dem Weg runter in die Stadt. Thorsten hatte keine Ahnung, wohin Kim mit ihm in ihrem knallroten Mini Cooper fuhr, es war ihm auch egal. Hauptsache raus aus dem Haus, das nur noch eine leere Hülle zu sein schien, selbst wenn er darin war.

*



Gruber wusste inzwischen, wann Martin Brauer den Deutschen Hof verlassen hatte. Er war mit einigen der anderen Gäste losgezogen und Bärbel Stockmann, eine ehemalige Mitschülerin, die im Hotel geschlafen hatte, wusste auch, wohin. Sie war beleidigt gewesen, als die anderen sie nicht hatten mitnehmen wollen. Einer der Männer hatte sie ausgelacht und gesagt, sie würden in die Hafenmelodie gehen, da hätte sie als Frau ja nichts zu suchen. Gruber fragte sich allerdings, was Martin Brauer da gewollt hatte. Zumindest musste er dem Nachtclub jetzt auch noch einen Besuch abstatten. Allerdings glaubte er kaum, dass er am noch recht frühen Sonntagmorgen jemanden dort antreffen würde.
Stattdessen rief er zwei seiner Kollegen an, die sich um den Wagen von Brauer kümmern sollten. Dieser stand auf dem Hotelparkplatz. Eine zugeschneite Limousine Marke BMW. Nun fragte er sich, ob die Gruppe zu Fuß bis in die Karl-Marx-Straße gelaufen, oder mittels Fahrgemeinschaft zu dem Club aufgebrochen war. Um alle Details zu klären, musste jeder einzelne befragt werden, der mit Martin Brauer zusammen gewesen war.

*



Kim lenkte den Wagen in eine Parklücke, während Thorsten nur nach vorne durch die Scheibe starrte. Er hatte nichts mehr gesagt, seit sie das Haus verlassen hatten. Was sollte er auch großartig Worte verlieren, wenn er gar nicht die fand, die ausdrückten, was er fühlte?
„Wolltest du jetzt hier sitzen bleiben und Wurzeln schlagen?“
Thorsten antwortete nicht, löste aber den Gurt und stieg aus. Sobald er die Füße auf dem Boden stehen hatte, sortierte er all seine Extremitäten zurück in ihre normale Position. Mit seinen eins vierundneunzig war er nicht sonderlich Mini tauglich. Es wunderte ihn, dass Kim dieses Auto gekauft hatte, denn für eine Frau war auch sie mit etwa eins fünfundsiebzig nicht gerade klein.
Warum mache ich mir jetzt über so etwas Gedanken?
„Darf ich dich etwas fragen?“ Kim sah ihn von der Seite an, als sie nebeneinander in Richtung Innenstadt liefen.
Thorsten zuckte mit den Schultern. „Warum nicht?“
„Weißt du eigentlich, dass ich dich immer beneidet habe? Du konntest Martin so nah sein, wie ich es nie hätte sein können. Es gab eine Zeit, da habe ich gehofft und mir gewünscht, da wäre mehr als Freundschaft. Es hat lange gedauert, bis ich darüber hinweg war. Ich würde gerne wissen, ob ihr Pläne hattet. Vielleicht klingt das jetzt blöde für dich, aber Martin war in vielen Dingen Perfektionist, und ich würde wetten, er hat für den Fall der Fälle sogar ein Testament hinterlegt.“
Die weiße Wolke, die aus Thorstens Mund stob, als er heftig die Luft ausstieß, wurde von einem leicht entsetzten Ton begleitet. Wie konnte sie nur so denken? Die gemeinsame Zeit mit Martin war doch viel zu kurz gewesen und es gab nichts, was daran beneidenswert wäre. Eher das Gegenteil war der Fall. In ihm herrschten Leere und das ohnmächtige Gefühl, dass sich an der Situation nichts ändern ließe, gleich was er tat. Es kam ihm so vor, als habe sich der schwarze Mantel der Traurigkeit nicht nur auf ihn gelegt, sondern ihn vollkommen ausgekleidet.
„Kim! Wie kannst du jetzt an so was denken! Und außerdem bist du es, die zu beneiden ist. Du hast ihn jahrelang gekannt. So viel Zeit! Die ich mit ihm nicht hatte.“
„Ja, irgendwie schon. Als Freundin, vielleicht wie die kleine Schwester … du aber bist der, der mit ihm Dinge geteilt hat, die ich nicht hatte. Zweisamkeit, Leidenschaft. Glaub mir, du kanntest ihn besser als ich.“
Thorsten verdrehte die Augen. Dafür konnte er sich auch nichts kaufen. Martin käme nicht zurück, egal wie er es drehte und wendete. Das Schicksal war nicht bestechlich, das wusste er nur zu gut aus seinem alten Leben. Er war nicht gläubig, absolut nicht. Aber jetzt im Moment wünschte er sich, es gäbe Himmel und Hölle. Martin wäre sicher gut aufgehoben dort oben bei all den Engeln. Und für den Mörder wünschte er sich, dass er bis in alle Ewigkeit in der Hölle schmoren würde.
„Stopp, wir sind da“, unterbrach Kim seinen inneren Monolog und zog ihn zur Eingangstür des kleinen Cafés.
„Ich war in Gedanken“, entschuldigte er sich.
„Das, Herzblatt, kann ich verstehen.“

Thorsten trank den letzten Schluck seines Milchkaffees, während Kim sich auch dessen Orangensaft einverleibte. Er vertrug ihn nicht und hatte ihr das Glas überlassen. Plötzlich kicherte sie.
„Hm?“, machte Thorsten.
„Die Leute hier müssen uns zwei für ein komisches Paar halten, wir werden immer wieder angesehen“, flüsterte sie ihm zu.
Er runzelte die Stirn.
„Während du, bis auf deine Augen, wie aus dem Ei gepellt aussiehst, bin ich ein schlampig angezogenes Mauerblümchen. Du bist ein hübsch verpackter Trauerkloß, und ich komme mir neben dir fehl am Platz vor.“
„Ich?“, fragte er und sah an sich herab. Was bitte meinte sie? Er trug Jeans, Hemd und Pullover. Kim trug Jeans und einen dicken Winterpulli. Einen, das musste er zugeben, der ihre zierliche Modelfigur ganz gut versteckte.
„Ja du. Hast du immer schon soviel Wert auf dein Äußeres gelegt?“
„Fällt dir nichts Wichtigeres ein, als unsere Kleidung? Außerdem wirkst du überhaupt nicht deplatziert. Vielleicht gucken die Leute nicht, weil wir negativ auffallen …“
„Weshalb sonst? Außerdem will ich dich bloß ablenken!“, beschwerte sie sich.
„Danke. Aber das kannst du nicht. Ich sehe ihn ständig vor mir.“
„Was mir beweist, wie sehr du ihn liebst.“
Er lächelte nur schwach. Tatsächlich geisterte ihm immer wieder Martin vor den Augen herum. Entweder lächelnd oder von Herzen lachend, ganz so, als ob alles in Ordnung wäre. Jedes Mal, wenn er sich das Bild des Mannes ins Gedächtnis rief, stach es in seiner Brust.
„Kim? Kann man Schmerzen haben, wenn man so richtig traurig ist?“
„Ja, Herzblatt. Es gibt viele Menschen, die schon bei Liebeskummer wirklich krank sind, obwohl ihnen körperlich nichts fehlt. Ein gebrochenes Herz tut weh.“
„Danke, Frau Doktor“, erwiderte er und zauberte ihr damit ein Lächeln auf die Lippen.
„Noch nicht, mein Freund, noch studiere ich, schon vergessen?“
„Nein, habe ich nicht. Ich wollte nur mal testen, wie das klingt.“
Kim schnaubte und schüttelte den Kopf.
„Hat der Typ was gesagt, wie lange es dauert, bis wir zu Martin können?“, wechselte sie plötzlich das Thema.
„Nein. Nur, dass er anruft.“
„Und was jetzt?“
„Keine Ahnung. Aber ins Haus zurück, das kann ich noch nicht. Ich kann nicht nach Hause gehen, wenn er nicht dort auf mich wartet.“


Ende der Leseprobe. Ich hoffe, bis hier her hat es euch gefallen.

Impressum

Texte: Sophie R. Nikolay
Bildmaterialien: Covergestaltung: Sophie R. Nikolay, eigenes Material
Lektorat: Korrektur: Mick - danke dir! Lektorat: dead soft Verlag
Tag der Veröffentlichung: 30.12.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Das erste Danke geht immer an meinen Mann und meine Jungs - ich bin froh, dass ich euch habe! Dann geht erneut ein großes Dankeschön an Mick - weil du meine Patzer und sprachlichen Marotten findest. Ganz wichtig und nicht zu vergessen: Ein dickes Danke an Bernd - ohne deine Erklärungen und Einblicke in die Arbeit der Kriminalpolizei wäre dieses Buch in dieser Form nicht möglich gewesen. Danke auch an Simon Rhys Beck und den dead soft Verlag - es macht immer wieder Spaß!

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