Prolog
Da stand ich und konnte es kaum fassen. Obwohl ich es immer geahnt hatte, ja mir beinahe mit Gewissheit dessen bewusst war, dass ich es eines Tages sein würde. Nun war ich es.
Ich stand in der weißen Halle. Dem Ort, an dem die Entscheidungsträger der weißen Macht regierten und agierten. Man könnte sie als Götter bezeichnen, oder als Magier. Genau definieren kann ich es nicht. Nur, dass ich mich ihrer Wahl fügen musste. So wie es jeder von uns in jedem Jahrhundert tun musste. Wir sind die Engel des Lichts und vertreten das Gute, das Lichte.
Mit jedem Jahrhundert, das auf der Welt anbricht, steht ein Wandel bevor. Der Kampf um die Vorherrschaft der Mächte. Wer die Fäden in der Hand hält, Licht oder Dunkel, wer die Menschen führt und leitet.
Dabei ist es nicht so schwerwiegend, nicht im Ganzen. Das letzte Jahrhundert wurde von der weißen Macht regiert. Ihr seht es. Der Fortschritt in der Entwicklung der Menschheit ist ein Zeugnis davon. Doch die dunkle Macht mischt immer mit. Auch das seht ihr. Kriege, Kämpfe, Tod, Gewalt – all das ist ein Zeichen der Dunklen, der Dämonen.
Es ist immer das Gleiche. In jedem Jahrhundert liegen die Machtverhältnisse bei sechzig zu vierzig. Die herrschende Macht behält nur knapp die Oberhand.
Jetzt ist es an mir, diesen Kampf auszufechten. Den Sieg erneut an die Lichten zu geben, und so erneut die Vorherrschaft zu erhalten.
Isardir sah mich prüfend an. „Aurora, hast du gehört, was ich gesagt habe?“
„Ja, das tat ich. Ich bitte um Verzeihung, denn meine Gedanken schweiften ab.“
Der Obere nickte. Isardir war einer der fünf Obersten Weißen, demnach hatte er mir den Befehl erteilt, die Weiße Macht in diesem Jahrhundert zu vertreten.
„Du bist also bereit, mein Kind?“
Ich straffte meine Schultern und stellte mich noch gerader hin, als ich es sowieso schon tat. „Ja. Ich bin bereit. Meine Ausbildung ist lange abgeschlossen, aber das wisst Ihr. Kennt Ihr den Namen meines Gegners?“, fragte ich ihn.
„Es gibt diesbezüglich keine Sicherheit. Doch es ist anzunehmen, dass der Dämon den Namen Nouel trägt.“
Ich nickte ergeben. Wenn der Name wahr sein sollte, war dass blanker Hohn. Der Herrscher der Dunklen, Samael, tat nie etwas ohne Berechnung. Ich war der Weißen Macht demütig ergeben. Nichts lag mir ferner, als meinen Obersten zu verärgern und doch lag mir eine weitere Frage auf der Zunge. Er schien es mir anzusehen.
„Frag, was du zu wissen bedarfst. Es ist keine Schande“, forderte er mich auf.
„Wisst Ihr, wo der Kampf ausgetragen wird? Ist es immer der gleiche Ort?“
Isardir lächelte. „Nein. Dass weiß niemand. Es ist immer ein anderer Ort und immer eine andere Art und Weise, wie der Kampf ausgefochten wird. Doch darüber wurdest du ausreichend informiert“, erklärte er geduldig.
Erneut nickte ich. Isardir sah mich mit einem warmen Blick an. Er war mir schon immer als der netteste Oberste von den Fünfen erschienen. Ich mochte ihn, wie man einen Großvater mag.
Sein Aussehen glich auch einem Großvater. Rundliche Statur mit einem stattlichen Bauch, der von Wohlstand sprach. Sein gepflegter Bart war schneeweiß, ebenso das verbliebene Haupthaar. Man könnte glauben, der Mann sei siebzig oder achtzig Jahre alt. Doch das war weit unterschätzt. Isardir war bereits über dreitausend Jahre alt. Was ihn am charmantesten erscheinen ließ, war seine Hautfarbe – schwarz. Der Oberste war ein Schwarzer.
„Aurora, wenn du also bereit bist, werde ich dich herunter schicken“, sagte er in einem leicht drängenden Tonfall.
Ein letzter Blick, den ich durch die Halle schweifen ließ, das Weiß ein letztes Mal vor Augen, dann nickte ich.
Ein Strudel schloss mich und mein Gepäck ein. Bei mir trug ich einen Rucksack, zwei Dolche und einen Beutel mit dem weißen Staub, der magische Kräfte enthielt. Ich hielt alle meine Sachen fest umklammert, der Strudel sog an meiner Kleidung und zerrte an meinen langen Haaren. Bunte Lichter flimmerten vor meinen Augen und plötzlich war es vorbei. Dunkelheit umgab mich. Nicht vom Glanz der weißen Halle war noch da. Nur reines Schwarz. Die Geräusche um mich herum ließen mich vermuten, dass ich inmitten der freien Natur gelandet war. Nur die leisen Geräusche, die von Tieren verursacht wurden, waren zu hören. Und das Rauschen des Windes.
Ich sammelte mich etwas und entfachte ein schwaches Licht mit meinen Händen. Ein Wald. Wie ich vermutet hatte.
„So und nun Aurora? Was tust du jetzt?“, fragte ich mich selbst.
Als wollte er mir antworten, hörte ich einen Uhu durch den Wald rufen. Da ich nicht ewig da stehen bleiben konnte, überprüfte ich kurz mein Gepäck und marschierte nach Norden los. Irgendwann würde ich schon jemandem begegnen.
Außerdem, wenn ich den Erzählungen Glauben schenkte, fanden die Dämonen die Engel und nicht umgekehrt. Vermutlich würde es nicht lange dauern, bis mein Gegner mich fand. Mein Ziel stand jedoch fest. Auch wenn die weiße Macht bereits das vergangene Jahrhundert regiert hat, ich würde den Dämon besiegen und die Macht erneut der guten Seite zuspielen. Zwar hatte mir mein Wille, und auch meine Eigensinnigkeit, schon einige Schwierigkeiten bereitet, doch das war mir egal gewesen. So war ich schon immer die Einzige der weiblichen Engelsgeschöpfe gewesen, die sich weigerte, ihre Haare zu flechten und hochzubinden. Meine brünette lange Pracht hing stets auf meinen Rücken herunter. Mit der Zeit hatte ich entdeckt, dass lange Haare nicht nur schmückend waren, sondern auch zur Waffe taugten. Denn die lange Mähne war gebündelt beinahe so fest wie ein Stick. Bei den Übungen hatte ich schon einige meiner Gegner beinahe stranguliert, was mir bei jedem Mal einen furchtbaren Ärger eingebracht hatte.
Während ich ein paar der herausragenden Trainingseinheiten noch einmal im Kopf durchging, lief ich durch den Wald. Immer darauf bedacht, bloß nicht zu viel Licht mit meinen Händen zu erschaffen. Ausreichend, dass der unebene Erdboden erkennbar war. Dabei konnte ich es kaum erwarten, dass der Tag anbrach und ich hoffentlich bald auf meinen Gegner traf.
„Der wird sich wünschen, mir nie begegnet zu sein!“, sagte ich vor mich hin. Nur leider war ich es, die sich schon bald wünschte, ihn nie getroffen zu haben!
Kapitel eins
Als der Morgen anbrach, lichtete sich der Wald. Die Bäume um mich herum wurden weniger, dafür gab es umso mehr Sträucher, um die ich herumlaufen musste. Das erste Licht des Tages zeigte mir einen wolkenlos schimmernden Himmel. Die Temperatur erschien mir in dem Moment angenehm, deutete jedoch an, dass der Tag Hitze bringen sollte. Wenn bereits die Nacht so mild gewesen war, dass ich nicht frösteln musste, als ich durch das Unterholz gelaufen bin.
Ich bemühte mich nicht, leise zu sein, wozu auch? Äste knackten unter meinen dünnen Sohlen, meine weißen Gewänder waren jetzt verschmutzt. Doch das störte mich nicht weiter.
Es war eine Wohltat, die Welt in ihren richtigen Farben zu sehen. Die wenigen Blicke, die ich vorab auf die Erde werfen konnte, hatten mir die Welt nur durch einen milchigen Schleier gezeigt. Das war der Nachteil des Spiegels. Die Welt des Lichts und die weiße Halle waren nicht mit der Erde verbunden. Wir leben in einer Zwischenwelt, die weder von der Erde noch vom Weltall aus gesehen werden kann. Es ist mehr mit einer anderen Dimension vergleichbar. Beinahe so, als würde die Atmosphäre, die die Erde umgibt, einen Spalt haben, der in die Welt des Lichts führt.
Anders sah es da bei unseren Gegenspielern aus, denn sie lebten schon immer inmitten der Erde. Dort wo kein Mensch, kein anderes Lebewesen überleben könnte, hausten die Dämonen mit ihrem Herrn. Einer dieser Dämonen sollte kommen und mich finden; der Kampf um die Macht würde erneut ausgetragen werden.
Doch vorerst lief ich zügig weiter. Schließlich konnte ich kaum hier stehen bleiben und warten. Das war nicht meine Art. Das heller werdende Licht zeigte mir immer deutlicher die Umgebung. Den Wald schien ich bald hinter mir zu lassen. Mit scharfem Blick erkannte ich in weiter Ferne ein Haus. Rundherum lagen Felder, die alle bestellt waren. Es wunderte mich nicht, denn auf der Erde herrschte Hochsommer, die Ernte stand noch nicht bevor. Ich befand, dass dieses einsame Haus dem Menschen gehören musste, der diese Felder bestellte. So setzte ich meinen Weg fort, um dem Besitzer des Hauses einen Besuch abzustatten. Es würde der erste Mensch sein, dem ich begegnete und ich freute mich darauf.
Als ich am Waldrand ankam, war die Sonne vollends aufgegangen. Die wärmenden Strahlen versprachen schon jetzt die kommenden Hitze des Tages.
„Aurora, besorg dir Wasser“, sagte ich mir.
Der Mensch in dem Haus vor mir würde mir sicher welches geben können. Also lief ich weiter. Die Luft um mich herum roch herrlich. Die Natur zeigte sich mir, an meinem ersten Tag auf der Erde, von ihrer schönsten Seite. Als wolle sie mich freundlich begrüßen. Allzu oft kam es nicht vor, dass ein Engel des Lichts, wie ich einer war, auf der Erde umherlief.
Im Gegenzug bedeutete es, dass auch die Dämonen nicht die Erde bevölkerten. Wir kamen nur her, um den einen Kampf auszutragen. Die Macht selbst, die Vorherrschaft über die Erde, wurde nicht durch persönliche Anwesenheit gelenkt. Zum Glück. Die Erde war voll genug, da mussten nicht noch Verbände von Engeln und Dämonen sich unter die Menschheit mischen. Zwar kam es immer wieder vor, dass ein Engel in Ungnade fiel und der Welt des Lichts verwiesen wurde, doch die Anzahl war gering im Vergleich zur Weltbevölkerung. Außerdem verloren besagte Engel ihre Macht und Kraft, wenn sie diese Strafe erhielten.
Die Zeit verstrich, wobei der Sonnenstand mir den einzigen Anhaltspunkt gab. Mein Ziel, das Haus, erwies sich viel weiter entfernt, als gedacht. Das hatte ich von meinen guten Augen. Ich war gesegnet mit einer hervorragenden Sehschärfe, die meine Ausbilderin oft gelobt hatte. Sie war es gewesen, die mir erzählt hatte, warum die anderen Engel mich oftmals eigenartig ansahen. Denn meine Augen erschienen nicht normal, wenn ich Dinge fokussierte, die in weiter Ferne lagen. Die Iris würde sich dabei verformen, hatte Eleanor gesagt. Zumal meine Iris, für einen Engel, eine ungewöhnliche Farbgebung aufweist. Meine Augen erscheinen nicht so blau, wie es bei den anderen der Fall ist. Sie sind grau. Silbergrau. Unsere Oberen sind die einzigen deren Augenfarben sich von den anderen Engeln absetzten. Warum das bei mir auch der Fall ist, hatte niemand erklären können.
Der Feldweg unter meinen Füßen staubte mit jedem Schritt. Die Erde war trocken, es schien längere Zeit nicht geregnet zu haben. Das wäre nicht gut für die Ernte des Menschen. Die Felder, die ich passierte, und die darauf wachsenden Getreidesorten, erschienen mir jedoch gesund und kräftig zu sein. Ich wünschte mir mit jedem Schritt, das Haus erreicht zu haben. Die Vormittagssonne brannte unbarmherzig. Leider war ich auf die verminderte Kraft meines Körpers und die menschliche Erscheinung angewiesen. Die Kraft, die mir in der Welt des Lichts zu eigen war, konnte ich hier nicht nutzen. Ich vermisste die Schnelligkeit, meine Möglichkeit zu schweben. Doch auf der Erde waren andere Kräfte am Werk, die meine Engelskräfte ausbremsten. Leider. Doch genau aus diesem Grund wurde ich, gemeinsam mit den anderen, speziell ausgebildet.
Als das Haus nach einer gefühlten Ewigkeit in erreichbare Nähe rückte, stand die Sonne im Zenit. Meine weißen Kleider, die vom Wald verschmutzt gewesen waren, hatten zusätzlich eine Staubschicht bekommen. Zudem war alles durchgeschwitzt. Der einzige Grund, warum ich mich nicht von einem Teil der Sachen befreit hatte, war der Schutz vor der Sonne. Ich verbot mir, die weite Hose bis zu den Knien aufzukrempeln. Ebenso ließ ich die langen Ärmel der Wickelbluse unten. Besser ein wenig mehr Stoff, als die Sonnenstrahlen ungebremst auf meine blasse Haut zu lassen. Schatten suchte man neben den Feldern vergeblich.
Das Haus war jetzt nur noch geschätzte fünfhundert Schritte entfernt, die Sonne spiegelte sich in den Fensterscheiben und es sah friedlich aus. Ich hoffte, dass der Mensch zu Hause war, denn mein Mund schien wie ausgetrocknet. Das hatte ich in meinen fast siebenhundert Jahren noch nie erlebt. Ich kam mir ausgedörrt vor, als ich endlich den Hof erreichte.
Da ich niemanden sehen konnte, stieg ich die Stufen zur Veranda hinauf. Ich klopfte an die Haustür und wartete. Kein Laut war zu hören. Während ich krampfhaft schluckte, um wenigstens den verbliebenen Speichel aus meinem Mund zu verteilen, sah ich mich um. Der Hof war so staubig wie der Weg, der mich hergeführt hatte. Die Scheune war verschlossen, eine Kette um die beiden Griffe geschlungen. Das einzige Fahrzeug, das ich erkennen konnte, war ein rostiger Traktor, der hinter einem wild wachsenden Busch stand.
Eigenartig …
, dachte ich.
Das Haus erschien mir von außen gepflegt, die Fenster waren alle sauber und mit Vorhängen versehen, die mir einen Blick ins Innere verwehrten. Ich versuchte es erneut und schlug etwas kräftiger gegen die Tür.
Es dauerte eine ganze Zeit, dann hörte ich, wie sich Schritte näherten. Dem Geräusch nach zu urteilen musste es ein Kind sein. Nur kleine Füße hörten sich so an. Und ich behielt recht. Ein kleines blondes Mädchen tauchte neben der Tür auf und sah mich durch das Glas hindurch an. Ich lächelte und hockte mich hin, um auf ihre Höhe zu gelangen.
„Wer bist du?“, fragte sie. Ihre Stimme klang gedämpft durch die Scheibe.
„Ich heiße Aurora. Ich bin auf einer Reise. Doch die Sonne hat mich durstig gemacht, weswegen ich hier bin. Ich möchte um etwas Wasser bitten“, sagte ich.
Abschätzend blickte das Mädchen mich an. Sie runzelte die Stirn, als würde sie intensiv nachdenken.
„Sind deine Eltern nicht zu Hause?“, fragte ich sie.
Sie schüttelte den Kopf zur Antwort. Dann biss sie sich auf die Unterlippe.
„Sie haben dir gesagt, dass du niemanden hineinlassen sollst, nicht wahr? Das musst du ja nicht, aber es wäre nett von dir, wenn du mir etwas Wasser nach draußen geben könntest“, versuchte ich sie freundlich zu überreden.
„Das stimmt. Mein Papa hat gesagt, dass ich keinen Menschen hereinlassen soll, solange sie auf dem Markt sind. Du siehst aber nicht aus wie ein Mensch“, befand sie nach einiger Überlegung.
„Nein? Wie sehe ich denn aus?“, fragte ich das Kind überrascht.
„Wie ein Engel. Du leuchtest“, erklärte sie sachlich.
Das war ein Schock für mich. Ich war mir nicht bewusst gewesen, dass die Menschen mich nicht für Ihresgleichen halten würden.
„Oh!“, sagte ich daher nur.
Die Kleine verschwand vom Fenster und ich vermutete, dass ich sie derart verschreckt hatte, dass ich nichts zu trinken bekäme. Doch kurz darauf hörte ich erleichtert, dass die Tür aufgeschlossen wurde.
Das Mädchen öffnete mir und lächelte.
„Komm herein, Engel Aurora. Du musst nicht da draußen in der Hitze sitzen“, forderte sie mich auf.
Ich rappelte mich vom Boden auf und nahm die Einladung dankbar an.
„Ich danke dir, junge Dame. Wie heißt du?“
„Ich bin Luisa und fünf Jahre alt!“, erklärte sie stolz.
„Und dann bist du ganz alleine zu Hause? Fünf ist ja noch nicht so alt“, gab ich zurück.
„Aber ich bin doch schon groß!“, sagte sie trotzig.
„Ja, das bist du. Es ist großzügig von dir, mir zu helfen“, dankte ich nochmals.
„Ich glaube, wenn ich dir nicht helfe, wird der Herrgott böse auf mich. Das möchte ich nicht.“
Erschrocken über die Ansichten des Kindes hockte ich mich erneut auf ihre Augenhöhe.
„Luisa, der Herr ist niemals böse auf ein Kind! Egal was es tut. Kinder sind die größte Freude des Herrn“, sagte ich zu ihr. Es passte zwar nicht ganz, doch es entsprach der menschlichen Sicht auf den Herrn und Schöpfer.
„Das ist gut. Komm mit, da hinten ist die Küche, dort kannst du so viel Wasser trinken, wie du möchtest. Wir haben auch selbst gemachte Limonade!“, sagte Lucia und lächelte fröhlich.
Da ich nickte, führte sie mich durch das Haus. Es war hier drin so sauber, wie ich es von außen vermutet hatte. Wir gingen an einem großen Wohnraum vorbei, der einen imposanten Kamin hatte. Im Anschluss passierten wir eine verschlossene Tür, dem Geruch nach zu Urteilen eine Vorratskammer. Darauf folgte eine große und helle Küche. Eine Seite bestand nur aus Fenstern, mit darunter angeordneten Schränken und einem weißen altmodischen Spülstein. Der Herd stand seitlich davon. In der Mitte des Raums befand sich ein rustikaler Tisch, an dem zehn Leute ausreichend Platz haben könnten.
„Es ist hübsch hier“, sagte ich in die Stille hinein.
„Ja. Ich wohne gerne hier. Möchtest du Wasser oder die Limonade?“, fragte sie mich.
„Wasser genügt“, gab ich ehrlich zurück. Die Limonade war eine Versuchung, der ich ohne Probleme widerstand. Engel tranken nur Wasser, alles andere wäre eine Sünde. Doch das musste ich dem Mädchen ja nicht sagen.
Lucia kletterte mit einem Glas in der Hand auf den Schemel, der vor dem Spülenschrank stand. Sie füllte das Glas und brachte es mir.
„Bitte, du kannst dich setzen“, lud sie mich ein.
Doch ich verzichtete. Ich trank das Wasser, darauf bedacht, nicht zu schnell zu trinken, da es meinem aufgeheizten Körper nicht gut tun würde. Das leere Glas gab ich ihr zurück.
„Möchtest du noch eins?“
„Nein. Es genügt, danke. Doch es wäre schön, wenn ich etwas Wasser mitnehmen könnte.“
„Das ist kein Problem. Mein Papa hat große Flaschen, die er immer mit auf das Feld nimmt. Ich kann dir eine füllen“, erklärte Luisa und klang dabei fast wie eine erwachsene Frau.
„Das wäre wirklich lieb von dir“, bedankte ich mich lächelnd. Das kleine Mädchen war entzückend.
Sie strahlte, als sie aus der Küche ging. Es rumpelte nebenan, so ging ich davon aus, dass die besagten Flaschen in der Vorratskammer standen. Ich hatte nicht vorgehabt, mich zu setzen, doch der lange Marsch unter der Sonne war ermüdend gewesen. So setzte ich mich auf einen der Küchenstühle, wie Luisa es mir angeboten hatte.
Nur kurz ausruhen!
, dachte ich mir und schloss für einen Moment die Augen.
Dass kurz gar nicht kurz war, bemerkte ich erst, als ich die Augen öffnete. Der Himmel, draußen vor den Küchenfenstern, färbte sich bereits. Es musste Abend sein. Erschrocken sprang ich auf, wobei der Stuhl über den Boden schabte. Ich sah mich panisch um. Keine Spur von Luisa. Doch ich sah, dass im Schatten des Türrahmens jemand stand. Der Größe nach zu Urteilen ein Mann. Er beobachtete mich.
„Verzeihung!“, stammelte ich.
„Nur keine Sorge. Ich weiß, wer du bist“, erklang seine sonore Stimme.
Er trat in die Küche ein und mir stockte der Atem. Wenn das Luisa‘s Vater war, hatte sie viel von ihrer Mutter geerbt, denn er war nicht so blond wie das Mädchen. Das Gegenteil war der Fall. Er trug sein schwarzes Haar kurz geschnitten und die dunklen Augen erschienen mir auch fast schwarz zu sein.
„Ich sollte gehen“, begann ich unsicher. „Ich sollte nicht hier sein. Vor allem nicht so lange“, erklärte ich hastig.
„Du bist hier genauso richtig wie an jedem anderen Platz auf der Welt, Aurora.“
Er kannte meinen Namen? Luisa musste es ihm gesagt haben, sonst gab es keine Erklärung, dass der Mensch wusste, wer ich war.
„Ich möchte mich von Luisa verabschieden. Anschließend werde ich gehen“,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Sophie R. Nikolay
Bildmaterialien: Sophie R. Nikolay
Tag der Veröffentlichung: 23.09.2011
ISBN: 978-3-86479-653-1
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