Leseprobe
Die alten Götter
Westlich des kalten Schleiers, am Fuße der Unbezwingbaren lebt meine Familie, meine Freunde und mein Volk. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an die Schrecken denke, die in der Nacht kamen, in der unsere Götter nicht bei uns waren.
Viele von uns sahen nicht mehr das Licht der aufgehenden Sonne. Ich und meine Familie, wir hatten das Glück, genug Zeit zum fliehen zu haben. Wir hörten Schreie, sahen Lichter, Blitze, Feuer. Als wir am Morgen zurück kamen, stand auf dem großen Platz ein hoher Schrein. Alle die noch da waren, standen um den Schrein und hörten der Stimme, die unentwegt sprach.
Das war der Tag der neuen Götter.
Es ist warm, die kalte Zeit ist vorbei. Unsere Vorräte hätten auch nicht viel länger gereicht. Die Wälder sind grün und voll mit Leben. Ich habe den Platz meines Vaters eingenommen. Er ist seit letzten Winter schwach und krank, so gehe ich auf die Jagd und versorge uns. Mein Revier ist südlich der Mauern der Stadt. Meine Familie hat das Privileg der Jagd. Hier in dem Wald sind wir die Herrn, in der Stadt sind es die Götter, deren Opfer wir täglich schuldig sind.
"Hast du etwas mitgebracht?", fragt neugierig Elway, der jüngere Bruder, der in seinem braunen Schulumhang an dem kleinen Tisch sitzt und eigentlich seine Hausarbeiten machen müßte. "Ja, das scheint ein gutes Jahr zu werden. So viele Rehe habe ich schon ewig nicht gesehen." - "Bringe den Leib rasch zu den Göttern", ruft der Vater aus dem hinteren Raum mit kraftloser Stimme. "Das werde ich. Ich gehe gleich los, schneide nur schnell den Kopf für uns ab." - "Farvell! Bete bitte für Mutter am Schrein." Farvell steht mit seinem, aus grobem Leder gegerbtem Gewand, welches bis zu den Knien reicht, im Raum und nickt, obwohl er weiß, daß sein Vater ihn nicht sehen kann. In dem Gebälk an der Decke hängen viele Felle senkrecht bis dicht über die zerzausten langen Haare Farvells und dämpfen den Klang der Stimmen. Das Tageslicht dringt durch die Tür und zwei Fenster in den Raum. Es wirft sein Licht bis zum Kamin, der aus Granitbrocken gemauert, massiv in den Raum ragt. Das Feuer am Kamin ist schon seit Tagen erloschen. Nur im hinteren Raum des Hauses, im Herd lodert ein Feuer, das leise unter einer kupfernen Kanne knistert. Farvell legt das Rehkitz auf den Boden vor dem Kamin und geht zu seinem Vater in den abgedunkelten hinteren Raum.
"Etwas Licht und Luft wird dir gut tun", sagt Farvell sanft und beugt sich über die Liege, auf der sein Vater unter einem dicken Fell liegt. Mit einem kurzen Ruck öffnet er den hölzernen Fensterladen. "Denke an unsere Götter. Bitte, Farvell," flüstert Vater und hält Farvells Hand fest, während das Sonnenlicht den Raum durchflutet. "Elway", ruft Farvell und schaut zur Tür, die zum großen Raum führt, indem sein Bruder immer noch gedankenverloren vor dem kleinen Tisch sitzt, "setze den Kräutersud an, das Wasser ist heiß." Farvell richtet wieder seinen Blick auf Vaters müdes Gesicht. "Ich werde eine gute Gabe den Göttern bringen. Mutter wird stolz auf uns sein."
Farvell hebt den Rehkadaver auf und tritt mit ihm über der Schulter, an der offenen schweren Holztür vorbei, vor die, aus groben Steinen gemauerte, Jagdhütte. Hinter der Hütte, unter einem Bretterverschlag lehnt ein schweres, aus Granit gefertigtes Beil an der Wand zur Hütte. An seinen Holzschaft hebt Farvell es über seinen Kopf. Der Granitkeil bleibt in dem Holzbock, der vor dem Bretterverschlag steht, mit einem dumpfen Klang stecken. Leib und Kopf des Rehs liegen zu beiden Seiten des massiven Gestells.
Die leblose Opfergabe liegt ruckelnd auf der mit Holzbrettern umrandeten Ladefläche des Handkarren, den Farvell entlang des Waldpfades schiebt. Die dichten Laubbäume weichen einem Kornfeld, das noch saftig grün sich dem seichten Wind beugt, der Farvells Haut angenehm kühlt. Der Karren holpert mit seinen Eisen beschlagenen Rädern über den steinigen Weg. Am Ende des Feldes ist die hohe und dunkle Stadtmauer zu sehen, die schnurgerade die Stadt von den Feldern und Wäldern trennt und nur von einigen wenigen fast zerfallenen Wehrtürmen unterbrochen ist. Der Weg führt Farvell noch eine Weile entlang der Mauer und dem Feld bis zu dem südlichen Stadttor. Die beiden Wachen mit ihren dicken ledernen Wams und den langen Speeren in den Händen, die jedem, der durch das alte Tor geht, ein Schwätzchen aufdrängen, lassen ihn diesmal, ohne ihn anzusprechen, durch. Sie kennen ihn und seine Familie. Sie kennen jeden und sie wissen immer das Neueste. Die Stadt ist groß, aber ruhig und friedlich. Viele kleine Wege zweigen von der Tempelgasse ab, die das Südtor mit dem Platz des Schreines verbindet. Mehrstöckige Häuser stehen eng aneinander. Geschäfte und Werkstätten säumen die Gasse. Die Händler und Handwerker sitzen vor ihren Läden und warten auf die wenige Kundschaft, die gerade zur Mittagsstunde ausbleibt. Farvell schiebt seinen Handkarren und stellt ihn immer wieder ab um zu grüßen und ein paar Worte zu verlieren. Die meisten Leute kennen sich, und der Weg bis zum Schrein ist durch die vielen kurzen Begrüßungen unterbrochen.
Am Platz des Schreines sind immer viel Menschen. Die einen beten und die anderen opfern. Farvell stellt wieder den Karren ab und trägt den Rehleib über den weiten, gepflasterten Platz, der von vielen unterschiedlich gebauten Häusern umsäumt ist, bis zu einem Priester mit dunklem Gewand, der vor dem hohen Schrein in der Mitte des Platzes steht. "Farvell, wir haben die ganze Woche noch keine Gabe von dir erhalten, ich kann es den Göttern nicht verschweigen." - "Ja, Vater war wieder schwach und ich konnte ihn nicht alleine lassen." - "Ich hoffe, die Götter mögen dir verzeihen." Der Priester und dessen Gehilfe nehmen den Leib entgegen und legen ihn in eine Öffnung am Sockel des Schreins. Ein Blitz aus der mannshohen Öffnung läßt den Leib schlagartig verschwinden. Nur ein Nebel bleibt, der schnell in das Innere des Schreins zieht. Farvell schaut zu den grauen, matten Wänden der Öffnung und es hat den Anschein, als wäre dort nie ein Rehleib hinein gelegt worden. "Sufatac scheint dir zu verzeihen. Nun mache Platz, der Nächste wartet schon mit seiner Gabe."
Farvell geht zur anderen Seite des Schreins und kniet neben anderen Leuten nieder. Wie ein mächtiger stählender Finger zeigt der Schrein in den Himmel. Farvell schaut zu dessen Spitze. "Bitte verzeiht mir, meine Götter. Ich werde die jetzige Zeit wieder gut machen. Ich schwöre es euch und ich bitte meine Mutter, nicht böse auf mich zu sein. Ich weiß, du schaust aus dem Reich der Götter auf mich und beobachtest jede meiner Bewegungen."
Jeden Baum, jeden Zweig kenne ich, aber diese Höhle ist mir fremd. Ich will vorsichtig hineingehen, aber ich bin schon drinnen und ich falle. Ich falle tief und es wird dunkel.
Farvell schreckt auf seiner Liege hoch. Es ist mitten in der Nacht. Er schaut sich um und sieht den Herd und die beiden anderen Liegen im Dunkel des Raumes. Das schwache Licht der Nacht dringt an den Rändern des Fensterladens vorbei in den Raum. Es ist alles ruhig. Er legt seinen Kopf wieder entspannt auf die Holzpfanne am oberen Ende seiner Liege und zieht das Lammfell über seinen Kopf.
Elway ruckelt an der Schulter von Farvell: "Steh auf, wir kommen zu spät." Farvell streckt sich und erwidert mit müder Stimme: "So ein doofer Traum. Jetzt hätte ich beinahe noch verschlafen." Sein Bruder zerrt ihn von der Liege. Farvell löst sich von der Hand seines Bruders. Er schaut nachdenklich zu ihrem Vater und sieht ihn ungestört schlafen.
Unsere Götter schenken uns Wissen. Die Kinder lernen von den Göttern. Auch wenn das Ende der alten Götter mit soviel Leid kam, so sind die neuen Götter ein Segen. Es sind nun unsere Götter. Sie geben uns soviel.
Farvell und sein Bruder gehen zusammen in die Stadt. So früh am Morgen sind die Gassen der Stadt leer. Wenige Händler öffnen jetzt schon ihre Läden. Die meisten besorgen noch ihre Waren. Direkt neben dem, mit mächtigen Steinquadern erbauten Tempel am Platz des Schreins, ist die Schule. Die beiden trennen sich vor dem großen Fachwerkbau. Elway geht zügig durch den offenen Eingang. Farvell schaut noch kurz seinem Bruder nach, wie er in dem Dunkel des Hauses entschwindet. Er wendet sich ab und überschreitet den Platz. In Höhe des Schreines blickt er auf zu dessen Spitze. Dann schaut er zu dem Tempel. Eine kurze Treppe führt zu der Pforte der breiten Tempelanlage. Farvell will schon dort hindurch gehen, doch er entscheidet sich anders. "Ich werde viel Opfer bringen, Vater," sagt er leise und läuft weiter über den Platz und bis in den nördlichen Bezirk der Stadt.
Er sucht in einem kleinen verkramten Laden in der Kaufmannstraße nach einer neuen Zange, um die Sehnen seines Bogens besser zu spannen. Der alte Händler reicht Farvell eine Zange. Die Hand des Händlers ist gelb von dem Schwefel des vielen Eisens, das sie berührt hat. Farvell hält die Zange in Richtung des breiten Eingangs, durch den das Morgenlicht in den Laden dringt, und mustert sie genau. "Diese ist gut" und er legt sie neben zwei anderen auf den abgenutzten Kaufmannstisch. "Bis zum nächsten Mond bekommst du neun Rehleiber." - "Passe auf deinen Vater auf", erwidert der alte Mann, "gebe ihn in die Hände Balandas." - "Vater ist zu schwach. Er hat noch Fieber. Ich kann ihn so nicht in die Stadt zum Tempel bringen." - "Gebe mir sechs Rehleiber. Die anderen opfere", der alte Mann lächelt Farvell an, "ich ging einst mit dem Vater deines Vaters zur Schule. Lange Zeit waren wir zusammen. Er ist am Tag der neuen Götter im Kampf gestorben. Wir kämpften alle auf der Seite dieser Teufel. Gut, daß unsere Götter uns das vergeben haben. Es wäre traurig, wenn sein einzigster Sohn so früh von uns geht. Daher, opfere die drei anderen Rehleiber für ihn."
Ich kann mich kaum an meinen Urvater erinnern. Alles ist überdeckt von meiner Angst des einen Tages, an dem unsere Götter diese Dämonen vertrieben haben. Es war ein stämmiger großer Mann mit langem Bart. Sein langer Bogen hing über seinen Rücken und reichte vom Boden bis über den Kopf. Er stand neben meinem Vater und mir. Ein großes Fest mit Tanz und Musik, am Abend auf dem Platz, wo heute der Schrein steht. Laute Worte hallten über den Platz und ich hörte Schreie. Ich wurde in der dichten Menge der Leute geschubst und mein Vater faßte meine Hand. Er konnte mich kaum festhalten und so nahm er mich auf die Schulter. Da sah ich es über die Köpfe der vielen Leute hinweg. Blitze und Feuer und brennende Menschen. Die Nacht wurde durch ihr Feuer hell. Mein Vater lief mit mir schnell durch viele Gassen bis vor die Stadt. Meinen Urvater hatte ich seit dem nie mehr gesehen.
Farvell legt die Zange in einen Stoffbeutel, den er über seine Schulter gehangen hat und verläßt den Laden. Sein Weg führt ihn durch die vielen Gassen bis zu dem südlichen Stadttor. Die beiden Wachen dort reden miteinander und beachten ihn nicht. So geht Farvell unter dem massiven Torbogen hindurch. Er schaut nach oben zu den Zinnen. "Wer hat das gebaut, wozu?", geht ihm durch den Kopf. Er sieht das Kornfeld vor der Stadt und überlegt, wann er heute jagen soll.
Heute kommt Batwan der junge Händler aus der Südstadt vorbei. Er tauscht immer Fleisch gegen Brot und kauft uns die seltenen Drampilze ab, falls wir welche gefunden haben. Sie sollen den Priestern die Möglichkeit geben, direkt mit den Göttern zu reden, aber ich weiß nicht wie das gehen soll. Wer sie ißt stirbt. Gefunden haben wir dieses Jahr aber auch noch keine.
Und so kommt auch am späten Tag Batwan mit seinem, mit vielen Säcken beladenen Karren. Er stellt ihn auf dem kleinen sandigen Platz vor der Jagdhütte ab. Farvell, der seine Beute gerade hinter dem Haus abgelegt hat, kommt Batwan entgegen. "Du bist heute alleine?", begrüßt Farvell den, mit einem aus hellbraunen Leinen gewebten Gewand, bekleideten Mann, der die Säcke auf dem Karren ordentlich hinrückt. "Seid gegrüßt, Farvell. Ja, meine Frau hat unsere zweite Tochter nun geboren und durfte zu den Göttern." - "Ihr glücklichen. Komme hinein, ich habe noch Beerenwein aus dem vergangenen Sommer, der ist köstlich. Darauf sollten wir anstoßen."
Beide Männer gehen ins Haus. Batwan nimmt auf einem der weichen Felle, die um den massiven Kamin liegen, Platz. "Was macht dein Vater?" Farvell kommt aus dem hinteren Zimmer mit einer Flasche zurück. "Mein Vater schläft. Er schläft viel. Und wenn er wach ist, ist er selten ansprechbar. Er redet dann nur von Leina, meiner Mutter und macht sich Sorgen über das Wohlwollen unserer Götter." - "Ja die Götter", sagt Batwan, wie in sich gekehrt, "ich habe heute am großen Schrein zu meiner Frau gebetet." - "Und?" - "Sie sagte, wie glücklich wir sind, und daß sie immer bei mir ist, egal wo ich bin." - "Ist doch gut." - "Nein", sagt Batwan kaum hörbar und schüttelt schwach den Kopf, "sie redet mit mir nur am Schrein. Nur da. Und..." Er nimmt einen Schluck aus dem Becher, den Farvell ihn gab, "... und, es ist drei Tage her, daß sie ging. Ich habe dreimal am Schrein mit ihr gesprochen. Jedes Wort was sie am ersten Tag zu mir sprach, hat sich in mir eingebrannt. Es waren heute genau die selben Worte." - "Sie hat bestimmt lange überlegt, was sie dir sagt und hat es wiederholt." - "...wenn du meinst." Batwan und Farvell schauen noch eine Weile auf den trockenen Holzscheit im Kamin. "Es ist warm, viele Frischlinge gibt es in den Wäldern, auch die Felder der Bauern blühen. Die Götter sind uns gut", sagt Farvell, "ich habe es heute am Schrein gespürt. Batwan, du mußt nicht traurig sein. Sogar Leina, meine Mutter hat noch den Weg zu den Göttern gefunden. Auch wenn sie für die Teufel geopfert wurde. Dein Weib ist immer bei dir und wird auf dich achten, genauso wie meine Mutter es bei uns tut."
Die Tage vergehen. Ich gebe mir alle Mühe mein Wort zu halten und gebe täglich alles was geht am großen Schrein ab. Mein Bruder kommt morgen auch wieder nach Hause, die Lehrzeit ist bis zum nächsten Mond vorbei. Unserem Vater geht’s besser, er kann wieder etwas laufen, aber sein Geist scheint verwirrter zu sein. Ich werde mit ihm wohl heute in die Stadt zu dem Tempel gehen. Ich hoffe die Götter werden ihm beistehen.
"Es ist gut das du den Weg zu uns gemacht hast. Dein Vater war lange nicht mehr am Schrein. Die alten Teufel, die uns Generationen lang gepeinigt haben, sind schon dabei die Seele deines Vaters zu zersetzen. Wir behalten ihn ersteinmal bei uns und werden ihn wieder läutern." Lakradat, der Priester von Balandas, dem Gott der Heilung, den Farvell schon als Kind kannte, nimmt ihn beiseite und sagt leise: "Die alten Götter sind nicht tot, Karazak, Neidon alle diese Monster. In der Nacht der Wende, da wurden sie geschwächt, aber nicht besiegt. Die einzig wahren, unsere Götter haben sie aus unserem Leben verdrängt, aber das Böse will wieder zurück." Beide schauen von den Stufen des Tempels zum großen Schrein hinüber. "Dort am Schrein, ist die Kraft dieser Teufel aufgehoben, aber in den Wäldern, in den hintersten Winkeln unserer Stadt, dort finden sie ihre Nahrung. Seelen die schwach und krank sind." - "Ist es schon so schlimm?", fragt Farvell und schaut Lakradat an. Ein Mann mit langen und glatten weißen Haaren und weißen Bartstoppeln. Er steht im Schatten der Vorhalle des Tempels und das untere Ende seines dunklen Gewandes berührt die Stufen der Treppe. "Nein. Es sind sehr wenige Übergriffe. Unsere Götter sind stark, und die Teufel sind schwach. Aber auch den wenigen müssen wir helfen. Wie gesagt, laß deinen Vater ersteinmal bei uns. Balandas wird wissen was zu tun ist."
Jeden Tag besuche ich meinen Vater beim Opfergang, bete zu meiner Mutter. Mein Bruder begleitet mich und der Tag kommt, an dem Vater zu uns zurück kommt. Alle sind wir wieder zusammen. Mein Vater ist voller Kraft und nimmt mir die Jagd wieder ab. Für mich ist Zeit alles für die kalten Tage vorzubereiten. Fleisch zu räuchern, Felle zu gerben, Holz zu hacken und mich mit meinen Freunden zu treffen.
Es folgt eine wunderbare sorglose Zeit, die kalten Tage. Wir haben gut vorgesorgt und das letzte Jahr war reich an Beute. Gepriesen seien unsere Götter.
Elway hat seine Schulzeit bald hinter sich, mit dem nächsten Mond ist er ein Mann. Er kann es kaum erwarten, selber auf Jagd zu gehen, aber ich glaube er wird enttäuscht sein. Als Ältester werde ich die Privilegien der Jagd vom Vater übernehmen, nicht er. So sehr ich ihm es auch wünschen würde, aber so ist das nunmal. Er wird Arbeit in der Stadt finden, im Tempel oder bei den Göttern. Für uns alle ist gesorgt.
"Farvell!", ruft Lakradat quer über den großen Platz. Farvell läßt den Karren stehen und geht zu den Stufen des Tempeleingangs. "Seid gegrüßt, Ehrwürdiger." - "Ich habe mit dir zu reden, komme mit!" So gehen beide in die kühle, leere Vorhalle des Tempels. Sie ist nicht sehr groß und das Licht der Frühjahrssonne fällt von der Platzseite hinein und wirft einen scharfen Umriß des eckigen Eingangs auf den mit großen Steinplatten verlegten Boden. "Du kennst Batwan?", fragt Lakradat mit ernster Mine. "Ja, das ist unser Händler, aber ich habe ihn schon eine Weile nicht mehr gesehen." - "Sage mir bitte, wenn er bei euch erscheint. Halte ihn auf und unterrichte mich, wenn er bei dir ist." - "Was ist denn los?" Der Priester holt tief Luft: "Also, ich habe dir doch gesagt, daß die alten Götter noch da sind. Und... und Batwan ist von Ihnen besessen. Er ist gefährlich und Sufatac selbst ist erzürnt." Farvell steht erstaunt da: "Wieso erzählst du mir das? So oft ist er bei uns auch nicht." Lakradat tritt nah an Farvell heran und schaut ihm tief in die Augen, als suche er in ihnen die Wahrheit auf alle Fragen. "Ich kenne dich seit deiner Kindheit. Ich habe dich nie aus den Augen verloren. Du bist rein und stark im Geist." Lakradat legt seine Hand auf Farvells Schulter, "ich weiß, daß dir die Lügen aus dem Munde Batwans nichts anhaben können und ich weiß, daß Batwan Jünger sucht und ich weiß, daß er dich deshalb aufsuchen wird, weil er weit ab von dem Schrein denkt, bei dir ein leichtes Opfer zu finden." - "Ich kann ihn nicht aufhalten und euch verständigen." Aus seinem langen Gewand zieht Lakradat einen handgroßen Quader und legt ihn vorsichtig in Farvells Hand. "Doch, du kannst. Presse diese Rune fest in deiner Hand und ich werde alarmiert. Das ist ein Werkzeug der Götter, zeige es niemanden und verwahre es gut."
Es ist traurig, ich habe Batwan gemocht. Er war beim letzten Besuch bei uns irritiert. Ich war mir sicher, daß sich das legt. Es macht mir Angst, daß er besessen ist. Zu leicht kann es passieren. Aber die nächste Zeit ist Batwan nirgends erschienen, und so geht das alltägliche Leben für mich und meine Familie weiter. Vater sitzt jeden Abend vor unserem Haus und schaut auf den aufgehenden Mond. Ich setze mich oft dazu. Gespannt schauen wir auf die helle Scheibe am Firmament, wie sie von Nacht zu Nacht runder wird. Elway verlebt die letzten Tage in der Schule. Mit Vollmond wird er als Mann sein Leben meistern. Nicht nur Vater ist stolz darauf, auch ich bin es.
Nach der Dunkelheit findet der Fall auf einem weichen Boden sein Ende. Ein bläuliches Licht durchflutet den Raum. Es ist Vollmond. Farvell liegt wie erstarrt auf seiner Liege und traut sich zu keiner Bewegung. Ist der Traum vorbei?
Ich liege im Bett. Aus dem Traum mitten ins weiche Bett gefallen. Es ist Vollmond, mein Bruder ist nun ein Mann.
Vater und ich gehen zum Tempel und feiern den neuen Lebensabschnitt von Elway. Was immer die Götter für ihn entscheiden, es wird zu seinem Wohl sein.
In der großen Halle des Tempels stehen all die Jünglinge, die in diesen Kalenden ihre Zeremonie haben. Vor ihnen ist der steinerne rechteckige Altar, der auf einer kleinen Empore am Ende des Raumes seit Urzeiten steht. Der oberste Priester mit seiner schwarzen Kutte steht neben dem Altar und weiht die Jünglinge. Die Väter, Brüder und Schwestern stehen hinter ihnen und lauschen den Worten des obersten Priesters. Farvell steht neben seinen Vater und schaut auf Elway, der sich zwischen den anderen Jünglingen eingereiht hat. Sie alle tragen die gleichen braunen Schulgewänder. Viele Fackeln an Säulen und Wänden erhellen flackernd die Halle und geben einen lieblichen Geruch ab, den Farvell nur von seiner eigenen Weihe her kennt.
"All die Zeiten mögen vergehen, in denen Glück oder Trauer unsere Herzen erfüllt, unser Glaube bleibt." So beginnt der Priester mit kräftiger Stimme seine Rede. "Nur unsere Götter kennen die Zukunft. So liegt es auch in ihrem Wissen uns zu sagen, welche Aufgabe in unserer Gemeinschaft für uns die richtige ist. Seht auf diese jungen Männer. Sie werden unsere Zukunft sein. In unserer und in der Welt der Götter werden dieses Jahr wieder Plätze vergeben." Der Priester hält inne, und an den Rändern der Halle schlagen hohe Flammen auf. "Und so soll es sein." Eine tiefe und alles durchdringende Stimme erhallt den Raum. Über dem Altar erscheint schwebend eine fast menschlich aussehende Gestalt, die wie Nebel durchsichtig ist und wie Nebel nicht wirklich erkennbar. "Unter dem Schutz von Sufatac soll die Weihe beginnen. Wir danken euch für eure endlose Güte", ruft der Priester und alle anderen knien sich augenblicklich nieder.
Es ist ein ergreifender Moment. Sufatac, der Gott unserer Götter. Das zweite Mal in meinem Leben, daß ich ihn sehen darf. Und trotzdem, ich verstehe das nicht. Sufatac hat Elway zum Jäger bestimmt, obwohl er mich bei meiner Weihe schon dazu bestimmt hatte.
Vater umarmt Elway, "ich freue mich, du bleibst bei mir." - "Ich kann’s noch gar nicht fassen", antwortet Elway und kann Vater im Tempelhof nach der Weihe kaum loslassen.
Nachdem wir alle noch am Schrein waren und die Jünglinge ehrten, die ihre Aufgabe bei unseren Göttern gefunden haben, gehen wir nach Hause. Ich bekomme kein Wort heraus. Ich freue mich ja für Elway, aber ich bin voller Fragen.
Elway geht nun mit Vater zusammen zur Jagd. Ich fühle mich unnütz. Im Haus sorge ich für die beiden. Aber innerlich spüre ich meine Unzufriedenheit und die Ruhelosigkeit.
"Einer Daheim?" Farvell tritt aus der Tür der Jagdhütte und sieht Batwan an, der verlumpt und dreckig direkt vor ihm steht. "Wo ist dein Karren, Batwan?" - "Den habe ich nicht mehr. Bist du alleine? Ich muß mit dir reden, Farvell. Aber lasse uns dazu in die Hütte gehen." - "Vater und Elway sind jagen." Farvell läßt Batwan eintreten und folgt ihm bis vor den Kamin. Dann geht er kurz in die hintere Kammer und kommt mit der kleinen würfelförmigen Rune des Priesters in der Hand wieder zum Kamin. "Ich kann dir doch vertrauen?" Farvell sagt kein Wort. "Sie haben uns getäuscht, wir haben uns getäuscht." Batwan packt Farvell fest am Arm und seine Stimme wirkt auf einmal hektisch. "Die Götter... diese verdammten Götter". Farvell preßt den Quader. "Was soll mit den Göttern sein?" Der Quader wird kochend heiß und er muß ihn fallen lassen. Sofort spürt er einen süßlichen Duft und fällt zu Boden.
Nebel liegt über dem Boden, alles schimmert bläulich. Ist da etwas am Ende des langen Raumes? Es bewegt sich doch, aber ich kann nicht aufstehen. Was hält mich fest?
"Er träumt, ihm ist nichts passiert". Lakradat läßt den Bettvorhang wieder zurück gleiten. "Wir werden ihn trotzdem hierbehalten. Mir scheint, als haben die Götter noch etwas mit ihm vor. Geht nun nach Hause und macht euch keine Sorgen." Elway und Vater verlassen schweigend die Kammer. Lakradat schaut noch einen Moment gedankenverloren in die kleine Kammer, in der nur wenig Licht durch eine Öffnung in der hinteren Wand fällt.
Vorsichtig öffnet Farvell die Augen. Farvell steht aus dem Bett auf. Er hat nur ein Nachtgewand an und in dem kleinen Zimmer ist nichts als das Bett. Die Tür ist offen und er geht hinaus auf einen Hof. Er kennt diesen Hof. Es sind flache Bauten mit Vordächern, die diesen Hof eingrenzen. Das ist das Lazarett der Stadt. Ein Priester bemerkt ihn und eilt quer über den Hof zu ihm. "Du bist wohl auf. Das ist gut zu wissen. Lakradat will sicher mit dir reden, aber ziehe dir etwas an, du holst dir ja noch den Tod." Farvell nickt noch etwas verwirrt.
Was ist geschehen? War ich gerade noch in der Jagdhütte, so bin ich plötzlich in der Stadt. Batwan, er war meine letzte Erinnerung. Nun will mich Lakradat sehen. Ich habe die Rune, so wie er es verlangte, gepreßt.
"Du hast deine Prüfung bestanden", Lakradat geht in einem großen Zimmer auf und ab, "ich war mir ganz sicher, daß du das schaffst." - "Was?", fragt Farvell, der noch unsicher auf den Beinen an der Tür steht und dem weißhaarigen alten Priester nachsieht. - "Batwan ist nicht mehr er selbst, er ist ein Ketzer, ein Verbündeter der Teufel. Er hat die Macht unsere Seelen zu zerstören. Du hast ihm getrotzt und nun können wir ihn von dem Bösen erlösen." - "Was passiert mit ihm?" - "Ich übergebe ihn Balandas. Nur die Götter wissen was zu tun ist." - "Lakradat, Ehrwürdiger, ich bin verwirrt. Ich habe Fragen, viele Fragen." - "Dann stelle sie. Heute bin ich für dich da." Lakradat nimmt Farvells Hand und geleitet ihn zu zwei Stühlen. "Setze dich neben mich und frage mich. Ich werde dir antworten, so gut ich kann."
Lakradat sagte mir, daß die Götter zu meinem Schutz mich haben neben Batwan einschlafen lassen. Er sollte keine Chance haben, meine Seele anzugreifen. Sie haben ihn und mich schlafend in die Stadt gebracht. Und Elway, mein Bruder sollte der Jäger werden, weil sie für mich eine andere Bestimmung haben. Sie wollen mich im Tempel unterweisen.
"Wir haben nie Schutz gebraucht, wir werden nie Schutz brauchen. Wozu soll es einen Tempelwächter geben?" - "Lakradat, die Götter wollen es so. Und wir stellen keine Fragen." Obara, der oberste Priester macht eine Geste zu einem Diener. "Bringt mir den Anwärter". Farvell wird von zwei Dienern in den Audienzsaal des Tempels geführt. Er läuft den langen Saal entlang, an dessen Seiten Säulen und Statuen von Götzen sich abwechseln. Über den Statuen sind hohe schmale Öffnungen in den massiven Wänden, die für einen kühlen Wind und ausreichend Licht sorgen. "Du bist ledig, du kannst mit Waffen umgehen, du hast bewiesen, daß deine Seele Angriffen stand hält. Lakradat hält viel von dir. Die Götter haben eine neue Aufgabe für dich. Lege den Jäger ab, du bist ab nun ein Diener Sufatacs." Der Priester winkt Farvell näher an sich heran. "Der Tempel ist nun dein Zuhause. Hier wirst du lernen, was du wissen mußt, um auch erfolgreich zu sein. Habe also keine Angst, alles was dir aufgetragen wird, wirst du auch können."
Jetzt bin ich hier schon seit vielen Monden. Ich habe eine kleine Kammer in der Tempelanlage für mich. Jeden Morgen bekomme ich eine Liste von einem Diener überreicht, in der steht, was ich an diesem Tag ausüben soll. Doch alles was von mir verlangt wird, sind Bewegungsübungen und ich lerne jedes Haus, jeden Strauch in der Stadt auswendig. Auf was werde ich vorbereitet? Seit gestern muß ich mit langen Messern herumwedeln. Scharf wie eine Rasierklinge können diese Waffen dicke Äste von Bäumen abschlagen. Ich möchte nicht wissen, was einem Menschen geschieht, der den Klingen im Weg steht.
Lakradat läuft zusammen mit einer Stadtwache direkt auf Farvell zu, der auf den Steinplatten des Tempelhofs liegt und seine Beine leicht über den Boden hält. In der einen Hand hält Lakradat ein schweres altes Buch. Farvell steht auf und läuft beiden etwas entgegen. "Kalim, die Stadtwache wird ab nun täglich mit dir trainieren, Farvell", sagt Lakradat und weist mit der Hand auf den großen Mann neben ihn, der die dicke lederne Rüstung der Stadtwachen trägt. Farvell verbeugt sich kurz. "Ich habe hier ein Buch der Kampfkunst. Ihr werdet es zusammen durcharbeiten." Farvell nickt. Er nimmt das Buch entgegen. Lakradat redet weiter: "Ihr werdet solange miteinander üben, bis jede deiner Bewegungen sicher ist." Er entfernt sich wieder von den beiden, die sich gegenseitig stumm mustern. "Nu dann," beendet Kalim das Schweigen. Bis zum Abend kreuzt Farvell mit ihm hölzerne Klingen.
"Das ist keine gute Idee", sagt Lakradat zu Obara, dem obersten Priester. Beide schauen aus einem Fenster in den Hof, über den die Abendsonne lange Schatten zieht. Farvell und Kalim schlagen in dessen Mitte mit Holzklingen aufeinander ein. "Seit der Wende ist niemand mehr gewaltsam gestorben. Waffen sollten nur als Symbol des Gesetzes oder zur Jagd da sein." - "Lakradat, du weißt, was Sufatac verlangt. Und wir werden der Ketzer nicht mehr Herr." Obara wendet sich vom Fenster ab und geht in den dunklen Raum. "Nein, das Einzigste, was mich stört ist das ewige Klackern der Holzklingen."
Es vergehen Monde. Farvell geht jeden Abend vom Tempel hinüber zum Schrein und ruft seine Mutter. Er fühlt ihr Wohlwollen bei seinen Gebeten und er weiß, daß er keine Furcht haben muß. Die Götter werden ihn führen.
Es hat mich losgelassen. Ich stehe auf und gehe durch den Nebel in Richtung eines flimmernden Scheins am Ende des langen Raumes. Was ist das? Ich wache auf. In mir ist tiefe Trauer. So plötzlich ist Vater verstorben. Als Elway gestern zum Tempel gelaufen kam, war es schon zu spät. Die Götter werden Vater bestimmt gut gesonnen sein und ihm ein neues Leben schenken.
"Wir übergeben den Körper den Flammen. Sie werden die Seele dieses guten Menschen von dem Fleische trennen, und die Götter werden ihr ein neues Haus geben." Elway und Farvell zünden gleichzeitig den Holzstapel an, auf dem der Leichnam ihres Vaters liegt. Die Flammen schlagen schnell hoch in den Abendhimmel, als die Fackeln den Reisig unter dem Holzscheit berühren. "Elway, du bist nun der Jäger und übernimmst das Revier deiner Familie. Möge dein Leben voller Glück und Zufriedenheit sein". Lakradat dreht sich zu Farvell: "Dein Weg wird unter der schützenden Hand Sufatacs verlaufen." Die vielen Bekannten der Familie stehen auf dem kleinen Hügel vor der Stadt und schauen den Flammen zu. Farvell und Elway stehen zwischen ihnen.
Für Elway hat sich sein Traum erfüllt. Er ist Jäger, und er hat auch schon ein Weib. Ich sehe ihn fast jeden Tag bei seinen Opfergaben am großen Schrein. Es ist schön zu sehen. Er ist glücklich und hat eine wichtige Aufgabe. Alle Menschen haben eine Aufgabe. Nur welche habe ich?
"Lakradat will euch sehen", der Diener zeigt auf die Tür zum Audienzsaal. Farvell legt die Klingen beiseite und geht geradewegs dorthin. "Komm schon", sagt energisch Lakradat, der an der Tür auf ihn wartet, "du bist nun bereit."
Das Haus ist direkt an der westlichen Stadtmauer. Farvell hat einen dunklen Umhang übergezogen. Er betritt bei tief dunkler Nacht einen der alten Wachtürme, der in die Stadtmauer eingelassen ist und steigt eine Treppe hinauf, die zu dem Wehrgang der Mauer führt. Die morsche Tür am oberen Ende der Treppe läßt sich nicht ohne Kraft öffnen. "Oh nein", sagt Farvell leise, als die Tür aus ihren Lagern bricht und mit einem Rums auf den Steinboden des Wehrgangs fällt. Farvell hält inne. Er blickt bewegungslos zu dem Haus, welches direkt an der Mauer errichtet ist, doch es rührt sich nichts. Erst nach einem langen Moment steigt Farvell über die Tür auf den Wehrgang. Er läuft ihn einige Häuser weit entlang, bis er sein Ziel erreicht hat. Barfuß klettert er die Dachziegeln des Dachs hinauf, das sich direkt an der Stadtmauer anlehnt. An einer Stelle, direkt neben dem Schlot des Hauses, löst er die großen Ziegel und schiebt sie leise beiseite. Er hangelt sich durch die entstandene Öffnung. Jetzt muß er sich konzentrieren. Kein Laut darf von ihm dringen. Ein kleiner, schwach leuchtender Stein hilft ihn, sich zu orientieren. Er setzt behutsam Fuß vor Fuß, bis er eine staubige schmale Treppe erreicht, die hinunter zu dem Wohnbereich führt. Es ist mühselig den Weg im Haus, an den beiden Kindern vorbei, bis zu dem Ketzer zu finden. Im Vorraum liegen die Kinder separat von ihren Eltern auf einer großen Liege. Der Sand des Bodens ist sorgsam gekehrt. Im hinteren Raum liegt der Ketzer neben seiner Frau. Farvell beugt sich über das Bett. Nur ein paar Tropfen in die Augen sollen reichen um dessen Seele zu reinigen. Niemand wird etwas merken, niemand wird beunruhigt. Mit einem Lineal, welches Farvell seinem Umhang entnimmt, zieht er lautlos beim Hinausgehen den Sand hinter sich wieder glatt.
Ein starker Schmerz durchdringt meinen Körper und der Schlag wirft mich zurück auf den nebligen Boden. Ich schreie und werde wach.
Farvell öffnet atemlos und voller Schweiß weit die Augen. Er schaut auf die glatt verputzte Decke seiner Kammer, deren Konturen er kaum im Dunkel zu erkennen vermag. Er richtet sich auf und geht flink, nur mit seinem Nachtgewand bekleidet, aus seiner Kammer und über den Hof des Tempels. Alles ist ruhig und alle Priester schlafen in dieser Nacht. Er drückt entschlossen die Tür zu einem Saal auf. Im Licht der Nacht, das nur durch diese weite Tür dringt, sieht er am Ende vieler Säulen den steinernen Altar auf der flachen Empore stehen. Schnellen Schrittes geht er zu ihm, auf die Empore. Er kniet sich auf den Boden und seine Arme wirft er auf die steinerne Fläche des Altars. Er drückt seine Stirn auf den kalten Stein. "Was wollt ihr von mir? Was verlangt ihr?", flüstert er flehend. "Was wollt ihr von mir? Was verlangt ihr?", wiederholt er immer lauter. "Was wollt ihr von mir? Was verlangt ihr?", ruft er hysterisch und trommelt mit den Fäusten auf den Altar. Er sinkt kraftlos und weinend in sich zusammen. "Was verlangt ihr bloß von mir," murmelt er zusammengekauert am Altar im großen Saal des Tempels.
...
(2. Kapitel)
Die grausame Königin
Die Welt zwischen den hohen Bergen ist nicht die einzige. Vieles ist nur ein Schein. Wer kennt die Wahrheit, und wer spricht sie aus. Das Volk, aufgewachsen mit Lügen, glaubt ihren Göttern. Nur unter den Dienern der Götter selbst regt sich ein hilfloser Widerstand, der sich an ein Amulett aus einer längst vergessenen Epoche klammert.
"Es ist ruhig", der oberste Priester dreht sich vom Altar zu Farvell um, "seit Monden gab es keine Übergriffe der Teufel mehr. Es scheint, als habe sich der Feind zurückgezogen." - "Ja, Ehrwürdiger, es ist Frieden in unserer Welt, und der Schutz unserer Götter ist allgegenwärtig." Farvell kniet vor dem obersten Priester. Das Licht einiger Fackeln erhellt den großen Saal. "Und doch warnen mich die Götter. Eine Gefahr böser und mächtiger als die Teufel der Gegenwart, zieht auf. Ich selbst spüre diese Macht. Sie ist nah, zu nah". Der Priester streicht mit der Handfläche über den Stein des Altars. "Du weißt, was das für ein Altar ist?" - "Ich weiß nur, daß wir hier unsere Götter sehen." - "Noch in deiner Kindheit wurden auf diesem Schrein Menschenopfer erbracht, alles für die alten Götter." Farvell schaut zu dem Priester hoch, und dieser spricht weiter: "Die alten Götter sind verdrängt, aber sie scheinen etwas Älteres erweckt zu haben. Etwas, was sich schwer fassen läßt und doch...", er schaut wie suchend in den Raum." Wir müssen ihm Einhalt gebieten." - "Was soll ich tun?" Farvell kann dem Priester nicht direkt in die Augen schauen und blickt kniend auf den Boden. Er fragt sich, ob nicht nur er selbst das Amulett an seiner Brust spürt. "Du bist kein Priester, und doch ist deine Seele standfest und den Göttern treu. Dir ist von Sufatac aufgetragen, Kontakt zu diesen Dämonen aufzunehmen, ihr Vertrauen zu gewinnen, um sie zu hintergehen." - "Ich, ich weiß nicht, ob ich es vermag. Wenn unsere Götter es nicht können, wie kann ich es?" - "Schweig!" Der Priester dreht sich zu dem knienden Farvell. "Dämonen und Götter reden nicht miteinander. Du wirst dabei nicht alleine sein. Du wirst den Schutz, die Kraft und den Segen der Götter haben. Du wirst die Hand Sufatacs in dieser Welt sein."
Die Zeremonie im großen Saal im Tempel dauerte fast den ganzen Tag. Die Priester standen um mich herum und weihten mich, beschwörten und beteten. Ich habe es über mich ergehen lassen. Lakradat sagte mir zuvor, daß ich von nun an keine falschen Gedanken haben darf, um die Unternehmung nicht zu gefährden. Die Götter sind bei mir und überwachen mich. Ich weiß, was er meint, und ich werde unseren Göttern dienen, so gut ich das vermag.
Die Sonnenstrahlen durchdringen die sandige Luft. Es ist heiß. Der oberste Priester steht auf dem Hof des Lazaretts und sagt zu Lakradat, der neben ihm steht und auf das große Loch schaut, in dem viele Diener mit Schaufeln buddeln: "Es kann noch Tage dauern, bis wir zu den alten Tempelgewölben vordringen. Hole Arbeiter aus der Stadt heran, wir werden sonst nie fertig!" Lakradat nickt.
Ein Priester schickt mich zum Lazarett. Dort soll ich mit Obara, dem obersten Priester, reden. Ich rüste mich. Ich bin mir fast sicher, daß der heutige Tag der wirkliche Grund meiner Ausbildung ist. In meiner Kammer liegen die beiden langen Klingen in ihren Schäften nebeneinander auf dem Tisch. Nacheinander binde ich sie sorgsam an ihren Lederriemen auf den Rücken. Den Käscher mit den Pfeilen und den langen Bogen hänge ich über die Schulter. Ich ziehe mein ledernes Gewand straff und binde mir den Gürtel um. Die kleine Lampe hänge ich an ihn. Ich verlasse die Kammer, schreite über den Hof des Tempels. Ich gehe durch die kleine Vorhalle, dann über die Steinstufen hinunter zum Platz des Schreins. Wie immer sind hier viele Menschen mit Opfergaben. Ich laufe am Rand des Platzes entlang, an der Schule vorbei, bis zu dem flachen Karree, dem Lazarett. Hier haben tagelang die Diener des Tempels und Arbeiter aus der Stadt gegraben.
"Unter uns erstreckt sich ein Labyrinth des Grauens, eine Tempelanlage älter als unsere Welt, voller Tod und Verderbnis. Vor Generationen wurde sie zugeschüttet, in der Hoffnung, die Mächte in ihr auszuhungern und für alle Zeiten erlöschen zu lassen. Doch es regt sich wieder etwas. Steige hinab und berichte uns oder vernichte es. Das ist deine Mission, Wächter des Tempels." Farvell schaut zu dem Loch. Es ist nicht sehr tief, aber ein Stollen führt weiter ins Erdreich. Der oberste Priester und Lakradat stehen am Rand des Loches und schauen zu, wie Farvell hinein klettert und in dem Stollen verschwindet.
Der Stollen ist tief in die Erde getrieben, Fackeln erhellen ihn, und Bretter an Decke und Wänden stützen ihn ab. Am Ende ist eine durchbrochene Wand aus Mauerwerk, Farvell klettert hindurch. Er hält die Fackel in der einen und seine Klinge in der anderen Hand. Ein großes gemauertes Gewölbe tut sich vor ihm auf. "Warte!", hallt es von hinten zu ihm. Er schaut zurück und sieht wie Lakradat durch den Wanddurchbruch steigt. "Sage kein Wort! Wir wollen doch keine Götter erwecken", sagt Lakradat, als er Farvell erreicht hat. "Das ist sicher jetzt geschehen", erwidert Farvell leise und schmunzelt. Schweigsam gehen beide durch das dunkle Gewölbe über dicke Staubschichten bis zur anderen Seite. Vor einem eckigen, steinernen Tor bleiben beide stehen. Viele kleine Verzierungen sind in das Tor eingemeißelt. Lakradat schaut sich die Verzierungen an. "Das ist keine Schrift, das ist nur Schmuck." - "Sicher?" Farvell schaut Lakradat an, dieser nickt. Farvell will vor das Tor treten und es aufdrücken. Lakradat hält ihn an der Schulter zurück. "Du weißt warum wir hier eindringen?", fragt er leise. "Dämonen erschlagen?" - "Nein, dein Amulett. Obara spürt seine Kraft, und die Götter denken, daß die Quelle der Kraft hier unten zu finden ist. Sie fürchten sich vor dem, was hier verborgen ist. Und sie irren. Was immer wir hier finden, es ruht." - "Lassen wir es ruhen?" - "Es kommt darauf an, was wir hier finden." Lakradat läßt Farvells Schulter los. Farvell tritt vor das Tor und stemmt sich dagegen. Stück für Stück geht es auf. Beide treten hindurch und stehen in einem großen Saal. Tageslicht dringt durch einige Schächte in der Decke, die durch zwei mächtige Bögen gehalten wird. Der Saal ist leer, nur ein brusthoher und gelblich schimmernder Quader steht in der Mitte des Raumes.
"Ihr seid hier nicht willkommen, Diener eurer Götter". Die Stimme ist ganz leise und zart und scheint aus allen Richtungen des Saals zu kommen. Lakradat schaut sich um. "Wer bist du?", fragt er. "Ich bin Kalandra. Einst war ich die Gemahlin Inlas, die Königin der Welt. Heute bin ich gefangen und verflucht. Neidon hat mich in den Quader eingießen lassen. Mein Amulett läßt mich jedoch nicht sterben." Farvell und Lakradat gehen vorsichtig zu dem Quader. Sie gehen dichter heran. Farvell hält die Fackel hoch. Wie in Bernstein sehen sie darin eine hockende junge Frau. Farvell erkennt das Amulett an den fast nackten Körper, er faßt sich erschrocken an die Brust, das selbe trägt auch er.
Das Amulett! Ich trage auch dieses Amulett. Dieses Weib in diesem Block, sie lebt. Ich spüre es, als ob jeder Teil meines Körpers versucht mich in Richtung dieser Frau zu zerren. Ich muß dem widerstehen.
Farvell macht einen Schritt zurück. "Ich habe Inlas gesehen und gesprochen", ruft er und versucht sich dabei zu beherrschen, "das Amulett soll mir den Weg zu den Göttern zeigen." - "Was willst du bei den Göttern? Du sollst ihnen doch hier auf der Welt dienen?" Lakradat fällt ins Wort: "Sage uns was du weißt." - "Warum sollte ich das tun? Befreit mich, dann sage ich euch was ich weiß." Farvell schaut Lakradat ratlos an, "ja, wie denn?" Die zarte Stimme aus dem Raum antwortet: "Löst den Stein um mich, aber verletzt mich nicht."
Vorsichtig stichelt Farvell mit der Klinge an dem Stein herum, der sich recht leicht auflöst. Lakradat schaut nachdenklich zu, wie sich Brocken für Brocken löst. Die letzten Stücke fallen von alleine von ihrem Körper ab, als sie sich langsam erhebt. Kalandra ist frei. Eine wunderschöne Amazone steht vor ihnen. Ihre blasse Haut, übersät mit kleinen Krümeln des Harzes, glitzert in dem wenigen Licht des Saals. Helles, verklebtes Haar hängt ihr bis über die Schultern. Lakradat gibt ihr seinen Umhang. Farvell steht sprachlos vor ihr.
"Ich bin frei", die Stimme kommt aus ihrem Mund, nicht aus dem Raum, "ich bin frei. Ich weiß nicht, wie lange ich hier gefangen war. Es muß Generationen her sein." Kalandra holt tief Luft und macht einen ersten Schritt. Sie winkelt ihre Arme an und streckt sie kurz aus. Sie schaut auf ihre Hände und bewegt ihre Finger. "Was ist in der Welt geschehen, nicht viel drang bis zu mir vor?" - "Es ist auch nicht viel geschehen", sagt Farvell, der seinen Blick nicht von ihr lassen kann, "die Götter sind verdrängt, dafür gibt es neue Götter." Kalandra blickt zur Decke des Saals. "Ja Götter. Es waren keine Götter, und es sind jetzt bestimmt auch keine." Sie geht langsam Schritt für Schritt an dem zerbrochenen Quader vorbei, in den hinteren Teil des Saals. Man merkt, daß ihr das Laufen nicht leicht fällt. Die beiden Männer folgen ihr. "Das hier waren die Gewölbe des Palastes. Im Krieg haben wir die Wohnräume unter die Erde verlegt." - "Was war das für ein Krieg?", fällt Lakradat ein. "Der letzte. Unser Reich gegen das südliche Reich unter der Führung von Karazak. Neidon war sein Kriegsherr. Und...", sie bleibt stehen und schaut auf den mit Staub bedeckten Boden, "... sie waren stärker als wir. Ihrer Magie hatten wir kaum etwas entgegenzusetzen. Mein Gemahl entnahm die gesamte Kraft seines Amulettes und ließ, als der Gegner kurz vor unserer Hauptstadt stand, den Berg neben ihnen einfallen. Er hat große Teile des Heeres begraben. Das hat uns aber auch nichts mehr genutzt. Sie überrannten uns. Mich gossen sie ein, was danach geschah, weiß ich nicht."
In einer verwüsteten Kammer bleiben sie stehen. "Das sind meine Gemächer, davon ist nicht viel übrig". Farvell hält die Fackel so, daß er Kalandras Gesicht gut sehen kann und fragt: "Was hat es mit den Amuletten auf sich?" Kalandra schaut Farvell an, als ob sie jede Pore in seinem Gesicht zählt. "Die Welt war selten einig. Meistens tobten Kriege. Es gab aber in meinen jungen Jahren eine Zeit ohne Krieg. Die Priester dieser Zeit erkannten das und führten es auf das Wohlwollen der damaligen Herrscher zurück. In einer mächtigen Beschwörung, der sich alle Priester anschlossen, wurden acht Amulette geschaffen, zwei für jedes Reich. Die Könige sollten für ewig herrschen und den Frieden bewahren. Die Amulette vergeben Lebenskraft und verhindern das Altern. Es sei denn man entzieht Kraft diesen Amuletten, so wie es mein Gemahl machte. Dann holt sich das Amulett seine Kraft aus dem Körper und der Träger kann dabei sterben."
Dieses Weib, Kalandra, ich fühle mich ihr verbunden. Ich weiß nicht wieso, aber meine Sinne können nichts anderes mehr wahrnehmen.
"Ihr sagt, Karazak sei besiegt," Kalandra bückt sich und schiebt mit der Hand die Reste eines kleinen Tisches beiseite. Sie öffnet eine alte Schatulle, die sie zwischen den Resten im Staub findet, "Karazak trägt ein Amulett und er ist der Fürst des Südreiches. Keiner auf der Welt vermag ihn zu verdrängen. Wer immer eure Götter sind, sie sind nicht von dieser Welt." Sie nimmt zwei Ringe aus der Schatulle und steht wieder auf, dann dreht sie sich zu den beiden hin und streift die Ringe über ihre beiden Zeigefinger. "Ahh, meine Kraft kehrt nun langsam zurück", flüstert sie. Ein greller Lichtbogen zündet sich zwischen ihren beiden ausgestreckten Handflächen und wie Feuer strahlt es aus ihren Augen. Lakradat zuckt instinktiv ein Schritt zurück und hält eine kleine rot leuchtende Kugel in der Hand. Eine Stimme in Farvells Kopf sagt: "Ich weiß, was du suchst. Kehrt zurück und berichtet euren Göttern von mir!" Sie sagt laut: "Einer der wahren Götter eures Volkes existiert noch, Kalandra! Und ich werde mir holen was mein ist, geht!"
Wieder an der Oberfläche im Hof des Lazaretts stehen Lakradat und Farvell bei dem obersten Priester. "Ein uralter Gott der Finsternis. Wir haben es hier oben spüren können", sagt Obara, "es ist gut, euch trotzdem heil und unversehrt wieder an der Oberfläche zu wissen. Wir müssen nun auf den Rat der Götter warten."
"Farvell", Farvell dreht sich im Bett, "Farvell, du trägst das Amulett Inlas. Inlas ist somit du, und du bist Inlas."
Kalandra, diese Augen, dieser Körper. Das Amulett und ihre Stimme in meinem Kopf, ich bin besessen. Diese alten Götter haben mich in ihrem Bann. Mir ist das bewußt, aber ich vermag es nicht zu verhindern. Ich will es auch nicht. Es ist ein schönes Gefühl. Ich kann sie spüren. Ich weiß, wo sie ist und was sie tut. Ich vernehme einen Teil ihrer Gefühle. All das kann ich mir nicht erklären, aber ich werde es nicht zulassen, daß ihr ein Leid widerfährt.
Alle Priester und auch Farvell stehen vor dem Altar, als die Flammen an den Wänden hochschlagen, und Sufatac über dem Altar erscheint. Alle knien nieder. "Sufatac, Gott der Götter, wir haben den Feind gefunden." - "Ich weiß", hallt eine tiefe Stimme durch den Raum, "schickt die Schar eurer Diener in die Gewölbe und vernichtet den Dämonen!" Sufatac löst sich wieder in Luft auf, und die Priester stehen auf.
Noch am selben Tag gibt Obara den Befehl. Lakradat steht mit ihm am Loch und sie schauen zu, wie einhundert Diener in den Schacht strömen. Nach einiger Zeit tritt süßlicher Rauch aus den Stollen heraus. Sie blicken gebannt noch eine Weile auf den Stollen. "Nichts, kein Zeichen," sagt Lakradat zu dem obersten Priester. "Wir werden hineingehen", antwortet dieser. "Und wenn wir auch nicht zurückkommen? Was wird mit unserem Volk? Wir müssen die Götter bitten uns zu unterstützen." Der oberste Priester nickt. "Ja, das wäre weise."
Sufatac hat versprochen zu helfen. Er werde seine göttlichen Abgesandten schicken, um das Böse in den Gewölben zu vernichten. Er sagt, am dritten Tag werden sie eintreffen.
"Farvell". Farvell wird wach, "Farvell, du trägst das Amulett Inlas. Inlas ist somit du, und du bist Inlas. Komme zu mir, ich brauche dich, ich begehre dich, ich will dich jetzt, komme zu mir!" Die Stimme ist überall; zart, sanft aber gebieterisch. Farvell kann nicht anders. Er steht auf, zieht sich an, geht hinüber zum Lazarett und steigt in die Gewölbe hinab. Auf dem Boden liegen überall verkohlte Leichen. Der Raum riecht nach verbranntem Fleisch. Farvell nimmt das nicht wahr. Kalandra rennt ihm entgegen. Sie umarmt ihn, preßt ihn an sich und haucht: "Inlas, solange mußte ich auf dich warten." Sie umschlingen sich und fallen in den staubigen Boden. Sie wälzen sich drüber. Kalandra streift Farvells Gewand von seiner Haut. Farvell verspürt unsagbare Glücksgefühle. Der Boden unter ihnen reißt auf. "Wir sind vereint", flüstert er ihr ins Ohr. Die ganze Nacht vergeht für ihn wie im Trance.
Kalandras Augen springen auf. "Sie kommen." Dunkle Gestalten, helle Lichter tauchen in der Halle auf. Grelle Blitze kommen von ihnen. Farvell und Kalandra umschlingen sich immer noch. Nichts scheint sie stören zu können. Und doch spürt Farvell, wie sein Amulett wärmer wird und er kraftloser. Nach einem Moment löst sich Kalandra von Farvell und stellt sich vor den Gestalten auf. "Das ist alles, was ihr Götter bieten könnt?", ruft sie, dann weitet sie ihre Arme, und ein Lichtbogen entsteht wieder zwischen ihren Handflächen. Sie klappt diese zusammen und ein leicht bläuliches, grelles Licht verbreitet sich wie eine Welle in Richtung der Angreifer. Nur Rauch ist noch zu sehen. Farvell ist aufgestanden, und Kalandra packt seinen Arm. "Komm, laß uns gehen. Hier stinkt es zu sehr!"
Was war das für eine Nacht? Ich habe das bekommen, wonach ich zutiefst Sehnsucht hatte. Doch ich war wie benommen, als ob das nur ein Traum war.
Farvell kann langsam wieder klare Gedanken fassen. "Was ist mit mir?", fragt er Kalandra. Sie schaut ihm tief in die Augen. "Du spürst es noch nicht? Du nennst dich Farvell, aber du bist Inlas. Du hast die Seele Inlas, nur sein Gedächtnis hast du nicht mehr. Inlas kann dein Amulett tragen, sonst niemand." - "Ich war aber schon immer ich, Farvell." - "Nenne dich, wie du willst, wir gehören zusammen. Das spürst du, und das spüre auch ich." - "Ja", Farvell preßt Kalandra an sich, "wir gehören zusammen."
Die Seelen der Toten bekommen neue Körper. In mir ist die Seele Inlas. Kaum einer weiß, welches Leben er vor seiner Geburt geführt hat. Nur große Magie oder der Zufall deckt das auf. Lakradat hatte mir nach dem Tod meines Vaters viel über die Seelenwanderung erzählt. Er gab mir damals Mut und Trost. Ich weiß es trotzdem nicht, was Inlas in mir macht. Ich bin mir nur sicher, daß meine Träume nicht zufällig waren.
Jetzt stehe ich mit Kalandra in der dunklen Halle zwischen all den verbrannten Leichen. Mir ist nun klar, daß meine bisherigen Götter meine Gegner sind. Ob ich auf der richtigen Seite stehe, ist mir nicht bewußt.
Farvell und Kalandra schauen sich die Überreste der dunklen Gestalten an. "Menschen sind das nicht," sagt Farvell. "Wir müssen hier weg," erwidert Kalandra, "noch haben sie uns unterschätzt. Ihr nächster Angriff ist sicher nicht so leicht abzuwehren."
"Es ist dunkel", flüstert Farvell, "laß mich vorgehen". Er beugt vorsichtig seinen Kopf aus dem Stollen. "Da ist Obara." - "Wer ist das? " - "Der oberste Priester", sagt Farvell leise. "Er wird uns nicht weiter stören", antwortet sie und tritt an Farvell vorbei. Farvell zieht sie zurück. "Warte!", Fravell hält Kalandra am Arm und geht mit ihr ein Schritt zurück. "Er macht nur eine Runde. Er ist gleich wieder weg". Der Priester verläßt auch wieder das Lazarett.
Die beiden schleichen durch den Hof. "Sieht aus, als ob das Lazarett verlassen ist", sagt Farvell. Er betrachtet nochmals Kalandra und schaut auf ihren makellosen Körper, der kaum von Lakradats Umhang verhüllt ist. "So kannst du aber hier nicht weiter herumlaufen", sagt Farvell, "sehr hübsch, aber wir sollten etwas Kleidung für dich finden."
In der Nacht ist es ein Leichtes aus dem Lazarett zu fliehen. Außer dem obersten Priester traut sich keiner in die Nähe. Selbst die Priester nicht, die auf eine neue Handlung der Götter warten. Farvell findet sogar Zeit, Kleidung für Kalandra in einer der Kammern zu suchen. So laufen sie die ganze Nacht bis zu dem Felsspalt, der zur Höhle unter dem Unbezwingbaren führt.
Kalandra ist hier am Felsspalt sicher. Die Höhle ist der Priesterschaft nicht bekannt. Ich suche aber immer noch den Weg zu den Göttern. Ich kann auch nicht für Ewig bei der Felsspalte bleiben.
"Ich muß zurück", sagt Farvell, "ich muß Lakradat fragen, ob er gesehen hat, wo unsere Angreifer her kamen." Kalandra nickt, und Farvell rennt den langen Weg zurück.
Im Tempel angekommen, stürmt der oberste Priester Farvell entgegen. "Wo warst du? Das Böse ist immer noch da. Die Götter sind erzürnt." - "Ich weiß, ich war bei meinem Bruder. Ich bin sofort hergerannt." Farvell kann kaum Luft holen. Fast einen Tag ist er nun gerannt. "So, Wächter des Tempels bist du, hier ist dein Platz!" - "Ja, Ehrwürdiger." - "Begib dich zu dem Lazarett und wache dort." - "Ja, sofort."
Am Loch im Hof des Lazaretts steht Lakradat. "Schön dich zu sehen", begrüßt Farvell ihn, immer noch außer Atem. "Der Feind kann uns vielleicht hören", sagt Lakradat leise. "Was ist genau geschehen?" - Lakradat antwortet: "Die Götter schickten ihre Streiter. Alle gingen sie hinein, keiner kam heraus." - "Und wo haben unsere Götter so viele Streiter herbekommen?" - "So viele? Es waren wohl noch zu wenige. Sie kamen durch das Südtor der Stadt. Keiner von uns weiß, wo sie wirklich herkommen." Lakradat drückt Farvells Hand, "... mache keinen Fehler, Wächter des Tempels! So viele schauen nun genau, was du tust." Farvell blickt Lakradat fragend an. Er kann nicht deuten, was Lakradat damit ausdrücken will. Lakradat setzt nach: "Nachts ist die Gefahr am größten. Wenn irgendwas aus dem Lazarett entkommen will, dann wird es das nachts tun. Halte heute Nacht deine Augen besonders auf. Morgen werden die Götter erneut eingreifen." Lakradat wendet sich von Farvell ab und geht vom Hof des Lazaretts.
Lakradat weiß nicht, daß Kalandra schon aus dem Gewölbe heraus ist. Er warnt mich, und er will, daß ich sie in Sicherheit bringe. Morgen also, werden die Götter zu einem weiteren Schlag ausholen. Und es scheint auch so, als ob ich nicht mehr das volle Vertrauen des Tempels genieße. Egal wo die Kämpfer der Götter herkamen, sie kamen nicht aus dem Schrein und auch sonst nicht aus der Stadt. Ich werde mich in der Nacht zu Kalandra absetzen. Hier kann ich nichts mehr bewirken.
Farvell läuft schnell entlang der Gasse zum Nordtor der Stadt. Es ist stockdunkle Nacht. Die Lichter in den Häusern sind längst erloschen, und der Weg bis durch das Stadttor ist menschenleer. Farvell bleibt schwer atmend stehen und dreht sich zu der Stadt um. "Hört, ihr Götter", schreit er schrill und wütend, kaum mit ausreichender Luft in den Lungen, "ich bringe uns zurück, was unsres ist!"
"Ich kann nicht mehr, halte mich, ich muß schlafen." - "Ja, Liebster." Farvell fällt Kalandra in den Schoß. Kalandra sitzt am Rand des Felsspalts, streichelt Farvell durchs Haar und schaut der aufgehenden Sonne zu. Nach und nach erhellt sie das Tal. Kalandra sieht die Wälder und die Umrisse der Stadt. Sie kann sogar die Stadtmauern erkennen. Sie schaut hinüber zum Ewigen Eis. Tränen laufen ihr aus den Augen. Sie blickt zu ihrem Schoß und schaut sich Farvells Kopf an, der auf ihm ruht.
"Wache auf!" Farvell wird geschüttelt. "Schaue es dir an!", sagt Kalandra hektisch und zeigt auf einen tiefblauen Strahl, der aus dem Himmel direkt in die Stadt hineinfällt. "Was ist das?", fragt Farvell, der sich aufrichtet. "Ich weiß nicht," antwortet sie, "das ist wohl ein mächtiger Zauber, den diese Götter gegen mich entsendet haben." Nach kurzer Zeit verschwindet der Strahl wieder, und dunkle Staubwolken steigen über der Stadt auf.
So etwas habe ich noch nie gesehen, ein beeindruckendes Schauspiel. Die Macht der Götter muß endlos groß sein. Wie sollen wir dagegen standhalten?
Kalandra schaut Farvell mit großen Augen an. "Noch kennst du unsere Macht nicht, aber gegen das da", Kalandra zeigt auf die Staubwolke über der Stadt, "haben wir alleine keine Chance." Farvell schaut ihr nach, wie sie den Spalt wieder hinunter klettert. Von unten ruft sie: "Wir müssen uns verbünden." - "Ja, kennst du denn jemanden?", ruft Farvell herunter. "Allerdings. Komme herunter zu mir." Farvell geht zu ihr. "Faß meine Hand! Denke einfach, mir etwas Kraft zu schenken, dann tut‘s mir nicht so weh!" Farvell faßt sie etwas zögernd an, doch sie nickt nur, und so denkt er...
Ich will Kalandra Kraft geben, so wie sie es verlangt. Ich merke wie mein Amulett wärmer wird, und wie die Wärme in die Hand fließt, die Kalandra hält.
"Karazak, Herrscher über das Reich des Südens, tritt in Verbindung mit mir!" - "Autsch, das üben wir aber irgendwann noch mal", sagt sie leise zu Farvell. Ein kleiner Lichtschein erscheint vor ihnen, der schnell größer wird. Ein Gesicht eines jungen Mannes formt sich daraus.
"Sieh an, Inlas und Kalandra", kommt raunend aus dem Gesicht, "Inlas, dich habe ich irgendwie anders in Erinnerung und Kalandra, du bist wohl nicht gut genug verschnürt worden. Ihr kommt aber zu spät. Eure Eroberungspläne sind gescheitert, und eine neue Macht steht am Firmament und lenkt die Geschicke dieser Welt." - "Laß uns unseren alten Gram vergessen Karazak!", erwidert Kalandra. "Wie könnte ich das, Kalandra. In eurer Machtgier habt ihr fast alles Leben ausgelöscht." - "Ja, und ich bereue...", sagt Kalandra. Karazak bleibt einen Moment stumm. "Wir waren jung und dachten..." Karazak fällt ihr ins Wort: "Was willst du nun von mir? Die alte Ordnung wieder herstellen?" - "Vielleicht", antwortet Kalandra. "Unsere Völker sind versklavt. Eures genauso wie das meine", erwidert Karazak, "ich bin nur noch ein Wanderer zwischen den vielen kleinen Welten, die die neuen Herren geschaffen haben." Farvell ruft: "Du hast aufgegeben, Karazak!" - "Nein aufgegeben habe ich nicht, nur keine Hoffnung mehr. Ich weiß einiges über diese... Götter." Farvell entgegnet: "Dann schließe dich uns an. Wenn wir zusammen es nicht schaffen, dann schafft es wohl niemand. Und unsere Welt wird für ewig so bleiben." - "Zu verlieren gibt es nichts mehr", sagt Karazak nachdenklich, "kommt zum Hafen von Parsa. Tretet mit mir in Verbindung, wenn ihr da seid." Das Gesicht löst sich in der Luft auf, und Farvell starrt über die große Lichtung vor dem Felsspalt.
Meine Gedanken, alles dreht sich um mich. Ich bin erschrocken, ich bin ratlos. Wieder scheine ich mich nicht für das Gute entschieden zu haben. Kalandra, wieso? Wieso ist sie nicht das Gute?
"Puh", raunt Kalandra. Farvell dreht sie zu sich hin. "Du hast mir etwas vorgemacht, Kalandra!" Farvell schaut sie zornig und verzweifelt an, "ihr wart die Kriegstreiber." Kalandra löst sich von Farvell. "Nicht ihr, wir waren es, ja!" Kalandra geht um Farvell herum. "Das ist Generationen her. Wir waren die Herrscher über Tod und Leben unseres Volkes. Ich war die Königin, du der König. Grausam und gerecht, wenn wir dazu Lust hatten. Wir wurden verehrt und angebetet. Wir waren die Götter. Wir sind größenwahnsinnig geworden, und wir haben teuer dafür bezahlt." Kalandra bleibt stehen und sagt leise: "Nun sind wir zurück. Das ist nicht ohne Grund geschehen. Wir werden unser Volk wieder führen." Farvell weiß nicht mehr, was er denken soll und schaut sie hilflos an. Kalandra tritt dicht vor ihn. "Aber zuerst haben wir ein Problem, wir müssen nach Parsa", flüstert sie Farvell ins Ohr, "und ich denke nicht, daß du weißt wo das ist."
...
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copyright 2010 Autor: Karsten Wappler
Verlag tredition GmbH
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Printed in Germany
ISBN: 978-3-86850-681-5
Tag der Veröffentlichung: 17.06.2010
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