Sie trug ein Kleid aus blassblauem Leinen, das zu groß für sie wirkte. Ihr Blick wirkte starr. Sie lag da, als würde sie schlafen. Doch sie schlief nicht, sie war tot.
Das Kleid gehörte Katharina Gerster. In zwei Wochen hätte die blonde Laborassistentin ihren 26. Geburtstag gefeiert.
Wie Geister sahen sie aus in ihren einteiligen Anzügen aus weißem Plastik, die zu groß für sie wirkten. Etwa eine Handvoll bevölkerte die noble Neubauwohnung. Mit geübten Handgriffen erledigten die Mitarbeiter der Spurensicherung ihre Arbeit. Ohne weißen Plastikanzug, statt dessen mit dunkelbraunem Designer-Anzug und wie immer unrasiert inspizierte Philipp Weber, Chef der Mordkommission, den Tatort.
„Wer hat die Tote gefunden?“ Weber stellte diese Frage einfach so in den Raum. Das war seine Art.
Ein Mann in Weiß antwortete: „Die Frau wartet ihm Wohnzimmer.“
Auf dem roten Ledersofa saß eine junge Frau, Mitte 20. Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht und verschmierte dabei das dick aufgetragene Augen-Makeup.
„Guten Tag. Mein Name ist Hauptkommissar Philipp Weber. Ich leite die Ermittlungen.“
Das fröhlich leuchtend rote Kleid der Frau passte nicht zur Stimmung. Sie brachte schluchzend ein paar Worte hervor. „Wir waren zum Frühstück verabredet.“ Sie putzte sich die Nase und wischte die Tränen ab, die in Gebirgsbächen über die Wangen flossen. „Wie jeden ersten Sonntag im Monat.“
Kommissar Weber wirkte unbeeindruckt: „Sie haben die Tote gefunden?“
„Ja.“ Der freche Kurzhaarschnitt passte zu ihren schwarzen Haaren.
„Und Sie sind ...?“
„Ach, entschuldigen Sie. Mein Name ist Sandra Kerschbaum. Katharina ist meine beste Freundin. Nein, sie war ... “ Sie suchte in ihrer großen Handtasche nach einem neuen Papiertaschentuch. „Oh mein Gott. Dieses wunderschöne Kleid aus blass-blauem Leinen hat ihr Alexander – ihr Freund – zur Verlobung geschenkt. Und kurz darauf kam er ums Leben.“ Der Tränenbach stürzte erneute in die Tiefe. „Und jetzt ist auch sie tot. Nein, nein, das kann doch nicht sein!“
Diese Frau in diesem Zustand zu befragen hatte keinen Sinn.
„Ich muss sie nochmals befragen, wenn es Ihnen besser geht. Kommen Sie doch bitte morgen Nachmittag in mein Büro.“ Kommissar Philipp Weber reichte ihr seine Visitenkarte. Sie bemerkte es kaum. Mit einer plumpen Bewegung legte er die Karte auf dem Couchtisch und wandte sich wieder seinem Wohnungsrundgang zu.
„Herr Weber“, ein Mitarbeiter der Spurensicherung winkte den Kommissar zu sich. „Die Tote wurde erschossen. Und zwar aus nächster Nähe. Die Tatwaffe konnte noch nicht gefunden werden.“
„Und was ist mit diesem Chaos hier?“, stellte der Kommissar trocken fest „Schaut nach Raubmord aus.“ Die Hände hatte er bereits in den Hosentaschen verstaut.
Der Mitarbeiter der Spurensicherung ergänzte: „Schaut so aus. Die Türe wurde aufgebrochen. Alles wurde durchwühlt, aber Schmuck und Geld sind noch da. Und dieses Chaos schaut irgendwie komisch aus. So planlos.“
„Planlos?“ Der Kommissar konnte seinem Kollegen nicht ganz folgen. „Und wie schaut ihrer Meinung nach ein geplantes Chaos aus?“
Verärgert über diese arrogante Wortmeldung zuckte der Spurensucher die Schultern und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Der Chefermittler machte sich Notizen. Er sah blass aus. Das konnten auch seine dunklen, in die Stirn fallenden Haare und der Fünf- oder Sechs-Tage-Bart nicht verbergen. Von seinen Kollegen wurde der 30-jährige Kommissar „Phili-Chef“ genannt. Er war sehr von sich überzeugt. Seine Kollegen nicht ganz so sehr.
Britta Madlener stapfte am nächsten Morgen in Kommissar Webers Büro. Das typische Schrittgeräusch kam von ihren Gesundheitsschlappern. Die Mitte 50-jährige fand es bequem und mit ihren paar Kilo zu viel auf den Hüften war das für ihren Rücken wahrscheinlich auch besser, anstatt die Absätze von Stöckelschuhen in Lebensgefahr zu bringen. Sie legte ihrem Chef die Berichte der Spurensicherung und der Obduktion auf den Schreibtisch, der wieder mal ordentlich unordentlich aussah.
„Die Berichte sind schon fertig?“ Kommissar Weber richtete einen fragenden Blick in Richtung seiner Sekretärin. „Was Interessantes dabei?“ Bevor Britta Berichte ihrem Chef vorlegte, studierte sie diese genauestens. Was zwar nicht ihre Aufgabe gewesen wäre, doch sie interessierte sich für die Fälle und „Phili-Chef“ war froh, wenn er sich Lesearbeit ersparen konnte.
„Dann legen Sie mal los, Britta.“
Britta schob ihre Brille in die kurz geschnittenen, leicht angegrauten Haare, und wartete nur darauf, ihrem Chef berichten zu können. „Der Tod trat zwischen 22.00 und 23.00 Uhr ein. Hochinteressant ist, dass an den Händen des Opfers Spuren einer puderähnlichen Substanz gefunden wurden. Dieses Zeug ist auch auf der Innenseite von Haushaltshandschuhen zu finden.“
„Und was soll daran so hochinteressant sein?“, unterbricht Weber seine Assistentin.
„Die Spurensicherung hat aber weit und breit keine derartigen Handschuhe gefunden. Auch nicht im Müll.“ Britta Madlener fand das im Gegensatz zu ihrem Chef sehr interessant.
Weber fuchtelte mit den Armen: „Frau Gerster wird eben Hausarbeiten erledigt haben. Was soll daran so interessant sein? Besonders bei einer Frau?“
Britta spielte nun ihre nächste Trumpfkarte aus. „Sie hat aber eine Raumpflegerin.“
Doch dieser Trumpf stach wieder nicht. „Britta, jetzt machen Sie doch nicht so einen Wirbel um Haushaltshandschuhe. Das ganze war ein Raubüberfall mit unglücklichem Ausgang. Basta.“ Für Kommissar Weber schien der Fall klar zu sein.
Seine Sekretärin grinste. Sie hatte noch ein Ass auf Lager. „Aber dann dürfte sie vielleicht interessieren, dass Frau Sandra Kerschbaum die Begünstigte der Lebensversicherung ist?“ Britta wedelte mit der Ver- sicherungspolizze und legte sie Weber auf den Schreib- tisch.
„Das hört sich aber interessant an.“ Weber kratzte sich an seinem sechs- oder sieben-Tage-Bart. „Sie die Berichte lesen zu lassen, war und ist einfach ein genialer Schachzug von mir. Finden Sie nicht auch?“ „Phili-Chef“ spielte wieder mal Chef. Er lehnte sich in seinem bequemen Bürostuhl zurück und studierte die Versicherungsunterlagen.
Britta stand mir ihrer vollen Breite vor Kommissar Webers Schreibtisch und wartete. Auf ein Lob. Oder Danke. Oder so etwas.
„Chef, da gibt es ein kleines Wörtchen für solche gut gemachten Dinge. Kennen Sie das auch?“
„Ja, ja, Britta. Klar kenne ich das.“ Er war total vertieft in seine Unterlagen, fraß die Blätter beinahe auf.
Britta wurde deutlicher: „Gut gemacht heißt das oder einfach nur DANKE!“
„Hhm.“ Er zupfte ohne aufzuschauen seine Krawatte zurecht. „Ah, ja. Gern geschehen, Britta. Nicht der Rede wert.“
Britta verdrehte ihre Kulleraugen, zuckte mit den Schultern und seufzte. Sie konnte sich nicht mal aufregen über ihren Chef. Er war nun mal so, ihr „Phili-Chef“.
„Ach ja, Britta, hab ich fast vergessen. Heute Nachmittag kommt Frau Kerschbaum ins Büro. Werde sie mal gleich nach der Versicherung fragen.“
Britta konnte auch bissige Töne anschlagen. „Hoffentlich vergessen Sie´s nicht ganz!“ Sie ließ die Tür hinter sich zuknallen.
„Frau Kerschbaum. Erzählen Sie mir mal, wie sie den gestrigen Morgen erlebt haben. Was ist passiert?“ Kommissar Weber saß einer Frau gegenüber, die noch immer nicht begreifen konnte, was passiert war.
„Tja, ich ... Ja, wir waren zum Frühstück verabredet, so gegen 9.00 Uhr. Wie jeden ersten Sonntag im Monat. Dann kam ich aus dem Lift und sah die angelehnte Tür. Und dann bemerkte ich das kaputte Schloss.“
„Und was haben Sie dann gemacht?“
„Ich bin vorsichtig hineingegangen. Und da habe ich Katharina gesehen. Wie sie da lag, rundherum nur Blut. Schrecklich.“ Sie holte ein Taschentuch aus ihrer Hand-tasche und trocknete sich die Tränen ab. Das rote Kleid vom Vortag hatte sie gegen einen grauen Hosenanzug eingetauscht. Dieser ließ ihre schwarzen Haare grau aussehen. Make-up konnte an diesem Tag keines zerrinnen. „Und dann habe ich gleich die Polizei gerufen.“
Kommissar Weber streifte sich seine Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Was haben Sie am Samstag zwischen 22.00 und 23.00 Uhr gemacht?“
„Am Samstag?“ Sandra Kerschbaum schaute gedankenlos in die Luft. „Wurde sie um diese Zeit umgebracht? Mein Gott, dann lag sie die ganze Nacht da.“ Frau Kerschbaum kullerten wieder die Tränen in Bächen die Wangen hinunter. „Aber warum fragen Sie mich das?“ Ihr verängstigter Blick richtete sich an Weber. „Sie verdächtigen doch nicht etwa mich?“
Der Kriminalbeamte versuchte zu beschwichtigen: „Das muss ich sie leider fragen.“
„Am Samstag – da war ich bei einer Vernissage in der Galerie MalArt, Austraße 2.“
Weber notierte die Angaben der Zeugin. „Das werden wir prüfen.“
„Können Sie gerne. Das können mindestens 30 Personen bestätigen.“ Sandra Kerschbaum klang ein bisschen eingeschnappt.
„Hatte Frau Gerster eine Lebensversicherung?“, wechselte Weber das Thema.
„Eine Lebensversicherung? Keine Ahnung!“ Kurze Nachdenkpause. „Oder vielleicht hatte sie so etwas, als ihr Lebensgefährte Alexander noch lebte. Das war tragisch. Sie hatten sich verlobt und drei Wochen später starb er bei einem Arbeitsunfall.“ Sie schaute wieder gedankenverloren in die Luft. „Aber warum fragen Sie?“
Der Chef der Mordkommission setzte seine steinerne Miene auf. „Weil Sie die Begünstigte der Lebensversicherung von Frau Gerster sind. Es geht hier um einen Betrag von 200.000 Euro.“ Der Kommissar zeigte ihr die Polizze.
„Wie bitte?“ Frau Kerschbaum war überrascht. Echt überrascht. „Das glaub ich nicht. Wie kommt sie auf so was?“ Sie schaute sich die Unterlagen an. „Aber warum hat sie mir nichts davon gesagt?“ Die Frau war völlig aufgelöst und begann wieder zu weinen.
„Frau Kerschbaum, Sie können gehen. Ich melde mich wieder bei Ihnen.“ Der Kommissar steckte Notizblock und Kuli in sein beiges Nobel-Sakko.
Britta Madlener stand „zufällig“ vor der Tür, als Sandra Kerschbaum das Weber´sche Büro verließ. Sie bemerkte, in welch schlechtem Zustand diese Frau war. „Kommen Sie, setzen Sie sich. Ich hole Ihnen ein Glas Wasser.“
Frau Kerschbaum ließ sich erschöpft auf den Stuhl sinken „Danke, das ist sehr lieb von Ihnen.“ Sie trank das Glas in einem Zug leer.
Sie schlug ihre Beine übereinander, stützte den Kopf in die Hände und blickte verloren auf den Boden. Wirre Gedanken schossen ihr durch den Kopf. „Katharina, warum musste das passieren? Was soll ich tun? Seit gestern habe ich nicht mehr geschlafen. Ich weiß nicht, ob ich das noch länger durchhalte! Diese Lügen. Dieser Zick-Zack-Lauf. Dieses Versteckspiel. Ich ertrage das nicht mehr!“
Ihr Weinen klang verzweifelt.
„Frau Kerschbaum? Kann ich Ihnen helfen?“ Britta reichte der Frau ein Taschentuch, legte ihre Hand sanft auf deren Schulter und holte sie aus ihrer Lethargie. „Hallo, Frau Kerschbaum?“
„Ja, äh, ja. Was ist los?“ Frau Kerschbaum schaute hilfesuchend in Brittas Augen.
„Kann ich Ihnen helfen?“ Britta holte einen Stuhl und setzte sich neben sie. „Sagen Sie mir, was Sie bedrückt. Sie können mir ruhig alles erzählen. Ich höre Ihnen zu.“ Britta blickte in Sandra Kerschbaums Augen und sah ihre Verzweiflung.
Frau Kerschbaum öffnete mit zittrigen Händen ihre Handtasche und zog ein Blatt Papier heraus. „Ich muss das jemanden zeigen. Damit werde ich alleine nicht fertig. Hier, lesen Sie.“ Ihr ganzer Körper zitterte vor Aufregung. Vor Angst.
Britta nahm den Zettel, holte ihre Brille aus dem Haar herunter und begann zu lesen:
„Liebe Sandra! Wenn du diesen Brief liest, wirst du mich nicht mehr lebend auffinden. Das ist gut so. Denn ich kann nicht mehr. Seit Alexanders Tod ist mein Leben ohne Sinn, ohne Wert. Ich wollte schon länger meinem Leben ein Ende setzen, doch deine Freundschaft hat mich bisher gehalten. Doch nun will ich nicht mehr. Meine Kraft ist zu Ende. Mein Leben ist so leer ohne Alexander. Ich will zu ihm.
Eine letzte Bitte habe ich noch an dich. Ich habe dir einige Anweisungen aufgeschrieben. Denn mein Tod soll nicht nach Selbstmord aussehen. Es soll so ausschauen, als hätte mich jemand ermordet. Den Grund für meine Vorgehensweise wirst du nach meinem Tod erfahren.
Auf dem Tisch habe ich alles Notwendige vorbereitet. Wie ich dich kenne, hast du den Ersatzschlüssel aus dem Blumentopf neben der Wohnungstüre benutzt, als ich nicht aufmachte. Zieh dir bitte die Handschuhe an. Es sollen schließlich keine Fingerabdrücke vorhanden sein. Brich mit dem Werkzeug von außen die Türe auf. Nimm mir die Waffe aus der Hand und zieh mir den Handschuh aus. Dann stecke alles in deine Handtasche. Auch den Wohnungsschlüssel. Wie ich dich kenne, hast du immer eine große Tasche dabei. Am Schluss durchwühle noch die Wohnung, damit es nach einem Raubüberfall aussieht. Nun kannst du die Polizei anrufen.
Danke für deine Freundschaft und bitte verzeih mir! Deine Freundin Katharina“
Britta hielt einen Moment inne. Dicke Tränen suchten einen Weg über ihre Wangen. Sie hielt Sandras Hand. „Es tut mir so leid für Sie, Frau Kerschbaum.“
Tag der Veröffentlichung: 28.04.2010
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