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Eine junge Frau setzte sich ans Fenster des leeren Zugabteils, mit Blick in Fahrtrichtung. Die andere Richtung hätte ihr Magen nicht vertragen. Sie holte ein Notebook und eine Mappe mit Unterlagen aus ihrer Tasche und begann zu arbeiten. Bei der nächsten Station betrat ein Mann, etwa Mitte 30, das Abteil. In der linken Hand hielt er ein edles Lederköfferchen. Über seine Lippen schwappte ein leises „Hallo“. Er nahm gegenüber der jungen Frau Platz. Diese schaute kurz auf und erwiderte den Gruß. Sie schlug ihre Beine übereinander und vertiefte sich wieder in ihre Arbeitsunterlagen.

In seinem dunklem Anzug und der modischen Krawatte sah der junge Herr sehr elegant aus. Seine Brille mit der schwarzen, beinahe rechteckigen Fassung passte nicht zu seinem runden Gesicht. Sie verlieh ihm einen kantigen, kalten Ausdruck. Aufmerksam beobachtete der Mann die attraktive Frau. Ihre langen, dunkelbraunen Haare umspielten ihre Schultern. In ihrer eng anliegenden Jeans kamen ihre langen Beine besonders gut zur Geltung. Die rote, schlichte Bluse und die eleganten Sneakers, ebenfalls in Rot, machten das sportliche Outfit komplett.

Neugierig fragte der Mann sein Gegenüber: „Gestatten Sie eine Frage?“
Mit leichter Verzögerung kam die Antwort, denn die junge Frau arbeitete voll konzentriert: „Ja, bitte.“
„Sind Sie in der Baubranche tätig?“
Verblüfft schaute die Frau den Mann an und erwiderte: „Wie kommen Sie darauf? – Ach so, wegen der Baupläne. Ja, ich bin Architektin.“
„Oh, wie interessant. Woran arbeiten Sie denn gerade?“ Der Mann mit dem Koffer wollte das Gespräch fortsetzen.
An einer Fortführung war die Architektin nicht sonderlich interessiert. Sie musste unbedingt dieses Projekt fertig machen. Sonst würde ihr Chef in zwei Stunden nicht zufrieden sein. Und diese Arbeit erforderte Konzentration, ungestörte Konzentration.
„Äh – an einem Wohn- und Geschäftsprojekt“, lautete ihre kurze Antwort.
Er ignorierte ihre zurückhaltende Art und blieb hartnäckig: „Wie Interessant. Wissen Sie, diesen Job übe ich derzeit sozusagen auch aus. Ich bin in der Planungsphase meines Hauses.“
Die Architektin war in diesem Moment absolut nicht an einem „Bau-Smalltalk“ interessiert: „Ah, ja.“ Sie hoffte, diese desinteressierte Antwort wäre klar genug.
Er ließ nicht locker: „Wissen Sie, es ist gar nicht einfach, einen passenden Architekten zu finden.“
So einen Gesprächspartner konnte sie im Moment überhaupt nicht gebrauchen.
„Ah, ja – äh – Meinungen sind eben verschieden.“ Sie versteckte sich wieder hinter ihren Plänen.
Der Herr mit Köfferchen und Anzug war sehr von sich überzeugt: „Und da ist noch mein eigentlicher Job. In bin in der Kreditabteilung einer Bank tätig. Da ist die Freizeit karg. Darum muss man sich schließlich auf den Architekten verlassen können.“
„Ja ja.“ Sie nahm nicht weiter Notiz von ihm.

Die Schiebetür ging auf und eine Dame mittleren Alters betrat das Abteil: „Grüezi mitanand. Isch bi ihna no am Plätzli frei?“ Das war unverkennbar Schweizer Dialekt.
„Guten Tag. Ja natürlich.“ Die junge Frau zeigte mit der Hand auf die unbesetzten Sitze. Der Mann mit dem Koffer begrüßte die Schweizer Dame lediglich mit einem breiten Grinsen. Er fühlte sich wohl in seinem Redefluss gestört.
Die Dame zog ihren Pelzmantel aus, hängte ihn sorgfältig an den Kleiderhaken und setzte sich neben die Tür. Ein Hauch von Parfum erfüllte das Abteil. Es roch nach Lavendel und Moschus – einfach teuer. Etliche mit – wahrscheinlich echten – Brillianten besetze Goldringe zierten ihre braungebrannten Hände. Die Frau wühlte in ihrer dunkelgrünen Krokoleder-Handtasche. Sie zog eine Illustrierte heraus und begann darin zu blättern.

Der „Koffermann“ hatte alles genau beobachtet und drehte seinen Kopf wieder zur Architektin: „Und wissen Sie, wie schwer es ist, wenn man ein „normales“ Haus bauen will?“
Das Wort „normal“ konnte die Architektin in diesem Zusammenhang überhaupt nicht leiden. Sie erwiderte in leicht gereiztem Ton: „Was meinen Sie um Himmels Willen mit „normal“?“
Ihr Gegenüber antwortete etwas aufbrausend: „Normal? - Normal heißt für mich eben normal, einfach normal.“
Er blickte suchend aus dem Zugfenster, als ob da draußen eine bessere Antwort in Sicht gewesen wäre. Und die war es anscheinend auch. Er streckte seine Hand aus und deutete mit dem Zeigefinger auf ein Haus mit Flachdach: „Da, sehen Sie, so was ist zum Beispiel nicht normal. Diese „Schuhkartons“ schauen doch wirklich nicht normal aus.“
Die Architektin begab sich in die Verteidigerrolle: „Diese „Schuhkartons“, wie Sie sie nennen, haben aber auch immense Vorteile: geringere Baukosten, kompakte Außenform und ...“
Sie wurde von ihrem Diskussionspartner abrupt unter- brochen: „Kommen Sie mir nicht mit den Vorteilen! Diese Häuser schauen doch aus, als hätte man das Dach vergessen!“
Eine gespannte Stille lag im Raum.
Die Architektin konterte: „Aber gerade Sie als Bank- angestellter fördern diesen modernen Baustil. Oder glauben Sie, alle ihre Häuslbauer-Kunden nehmen einen Kredit auf, um eine altmodische Baracke hinzustellen?“
„Was heißt hier altmodische Baracke? So eine Frechheit!“ Der Bankangestellte verschränkte beleidigt seine Arme vor dem Oberkörper.

Die elegant gekleidete Dame mit Schweizer Dialekt versteckte sich hinter ihrer Illustrierten und verfolgte schmunzelnd das Gespräch.

Nach wie vor von seiner Meinung überzeugt setzte der „Mann mit Anzug“ die Diskussion fort: „Wissen Sie, mein Haus wird das schönste in meiner Gegend. Da werden zum Beispiel etliche tolle Gaupen das Haus schmücken.“
Augen rollend antwortete die junge Architektin: „Bin ich froh, dass ich ihr Haus nicht planen muss. Für solche Bausünden bin ich nicht zu haben!“
Der Mann schaute entsetzt, hielt einen Moment inne und fragte dann vorsichtig: „Was meinen Sie mit Bausünden?“
Diese Rückmeldung überraschte die Architektin. Nach einer kurzen Nachdenkpause antwortete sie ruhig: „Diese schnörkeligen Gaupen kosten doch nur Geld und bringen überhaupt nichts.“
Total verwirrt und ratlos wirkte der Mann, sagte aber nichts dazu.
Die Architektin merkte, dass ihr der Bankangestellte nicht folgen konnte: „Heute wird eben anders gebaut. Eine kompakte Außenform ohne Einschnitte wie Gaupen oder Erker schont das Baubudget und wirkt sich später positiv auf die Heizkosten aus.“
Immer noch skeptisch, antwortete er: „Na ja, ich weiß nicht.“
Euphorisch kam ihre Antwort: „Und die geringsten Heizkosten haben Sie sowieso mit einem Passivhaus. Da kommen Sie ohne konventionelle Heizung aus.“
Sein ungläubiger Blick war nicht zu übersehen: „Da erfriere ich doch! Wie soll denn das funktionieren!?“
Die Architektin setzte ihre Erklärung fort: „Dies ist im Wesentlichen durch drei Faktoren zu erreichen: gute Wärmedämmung, Lüftungsanlage mit Wärmerück- gewinnung und Nutzung der Sonnenenergie.“
Ihr Gesprächspartner verstand zwar nichts, sagte aber trotzdem: „Aha, klingt einfach.“
Die junge Frau lächelte und knipste mit den Fingern: „Ist es auch.“
Der Mann warf einen Blick aus dem Fenster. „Oh, höchste Zeit zum Aussteigen.“ Er stand auf, nahm seinen Akten- koffer und verabschiedete sich. Bevor er die Abteiltür schloss, drehte er sich noch mal um. „Und Danke für das Gespräch, es war sehr aufschlussreich.“
„Gern geschehen. Und viel Glück beim Hausbau!“ Im Gesicht der jungen Architektin war ein leichtes Grinsen zu erkennen.

Die Dame mit Schweizer Dialekt legte ihre Illustrierte beiseite. „Junge Frau. Darf i Sie a Momentli stören?“
Die Architektin hatte sich wieder in ihre Arbeit vertieft, zögerte daher etwas: „Ja, natürlich.“
„Min Name ischt Charlotte Hämmerli-Nachbaur. I bin Architektin, jetzt allordings nümma aktiv. Mit minam Ma han i in dr Schwiz a renommierts Architekturbürro ufbaut.“
Die Neugierde der Architektin war geweckt. Sie legte ihre Unterlagen beiseite. Frau Hämmerli-Nachbaur hatte ihre volle Aufmerksamkeit.
„Ihre Idea imponierad miar. Es ischt schö, wenn si junge Lüt so in dia Materie ine lebend und zukunftsorientiert denkend.“
Die junge Frau freute sich über das Lob einer erfahrenen Kollegin.
„Dia Firma hat nun üsar Sohn überno. Und er suacht dringend qualifizierte Lüt. I gib Ihna Adresse und Telefon- nummer vom Bürro. Wenn Sie amol an Job sucha solltet, mealdet Sie sich bi ihm mit do beschta Empfehliga vo miar.“ Frau Hämmerli-Nachbaur drückt der jungen Architektin einen Zettel in die Hand.
„Etz muss i abr usstiega. I wünsch Ihna alles Guti. Uf Widarluaga.“

Die Schweizer Architektin verließ das Abteil und zurück blieb eine junge Frau, die die beiden Gespräche von vorhin noch gar nicht richtig verarbeitet hatte.
Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ent- spannt lehnte sie sich zurück und schaute gedanken- verloren zur Decke. „Ist das ein Wink des Schicksals?“, murmelte die junge Architektin vor sich hin. Ihr Arbeits- verhältnis war auf Grund der Babypause der Vorgängerin befristet. Und sie musste sich um einen neuen Job umsehen. Aber jetzt hatte sie ja eine Adresse aus der Schweiz. Und ein Job in einem ausländischen Architektur- büro war schon immer ihr Traum.

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Tag der Veröffentlichung: 21.01.2009

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