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Bernhard Bertel lebte ein ausgesprochen wohl geordnetes Leben. Er lebte nach der Uhr. Herr Bertel stand jeden Morgen um die gleiche Zeit auf, kam um die gleiche Zeit in sein Büro, aß um die gleiche Zeit zu Mittag und ging um die gleiche Zeit schlafen. Seit mehr als 20 Jahren arbeitete er bei der selben Firma.

Dieser Donnerstag im November begann wie jeder Donnerstag. Aufstehen um 6.30 Uhr, Frühstück, 10 Minuten Zeitung lesen, Fahrt mit dem Bus um 7.18 Uhr. An diesem Donnerstag-Vormittag geschah jedoch etwas Außerplanmäßiges. Bertels Chef bat ihn um ein kurzes Gespräch unter vier Augen. Bernhard war sich nach kurzem Überlegen sicher, der Grund für das Gespräch musste eine außertourliche Gehaltserhöhung sein. Immerhin hatte er sich die Jahre hindurch stets bemüht und alles korrekt und zum Wohle für die Firma erledigt. „Ja, ganz bestimmt – darum geht es“, einen anderen Grund konnte sich Bertel nicht vorstellen.

Die Wanduhr in Bertels Büro zeigte 9.50 Uhr. Bernhard legte seinen Stift zur Seite, zog sein Sakko an und machte sich auf den Weg zum Chefbüro. Vor Anspannung und Freude bebte er innerlich. Nervös war er jedoch auch.
Bertel klopfte an die Türe des Chefbüros. Ein kräftiges „Herein“ war zu hören. Bernhard drückte mit kalt-feuchter Hand die Klinke und betrat das Büro. „Guten Tag, Herr Hansemann. Sie wollten mich sprechen.“ Seine Stimme klang zögerlich.
„Nehmen Sie doch Platz, Herr Bertel.“
Bernhard rückte den Stuhl gerade und setzte sich.
„Herr Bertel, Sie sind nun schon seit über 20 Jahren bei uns. Tja – das war sogar schon vor meiner Zeit in dieser Firma.“ Ein kläglicher Versuch, etwas Lockerheit ins Gespräch zu bringen.
Bernhard war sich nun ganz sicher, Herr Hansemann würde gleich zur Sache – besser gesagt zur Gehaltserhöhung kommen.

„Kommen wir zum Grund unseres Gespräches, Herr Bertel.“
Endlich! Bernhards Herz raste beinahe einem Kollaps entgegen.
„Tja, lieber Herr Bertel, es fällt mir nicht leicht, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir Ihnen leider die Kündigung aussprechen müssen.“
Bertel erstarrte für einen Moment und schaute seinen Chef verdutzt an. „Wie bitte?“
„Ja, wie gesagt, es tut mir sehr leid. Aber die Aufträge sind auf Grund der derzeitigen Wirtschaftslage massiv zurückgegangen. Wir sind leider gezwungen, Personal abzubauen. Damit haben wir noch eine Chance, die Firma vor dem völligen Untergang zu bewahren.“

Bertel war unfähig, auch nur ein einziges Wort über die Lippen zu bringen. Die Nachricht hatte ihm die Kehle zugeschnürt. Er saß wie in Beton gegossen auf dem Stuhl und war sich nicht sicher, ob sein Herz durchdrehte oder still stand. Ein Blick auf seine Armbanduhr schien ihm ein Quäntchen Halt zu geben.

„Ein kleiner Trost für Sie: Es sind noch weitere 12 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betroffen. Die genauen Informationen werden wir Ihnen noch schriftlich zukommen lassen. Aber diese Erst-Information wollte ich Ihnen persönlich überbringen. Das gehört sich.“ Ein erbärmlich wirkender, krampfhafter Versuch von Herrn Hansemann für einen versöhnlichen Schlusssatz.

Bertel verließ wortlos und mit versteinertem Blick das Chefbüro. In einem trance-ähnlichen Zustand wandelte er zu seinem Büro. Dort angelangt konnte er nicht sagen, ob ihm auf dem Gang jemand begegnet war oder nicht. Er legte sein Sakko ab, rückte seine Krawatte zurecht und setzte seine vorher unterbrochene Arbeit fort.

Der restliche Donnerstag verlief wie jeder andere Tag. Mittagessen zur gleichen Zeit, gleich lange Mittagspause. Nur einen Unterschied gab es. Dieser Tag lief wie ein Film an Bernhard vorüber. Er wusste nicht mehr, was real und was nicht real war. Hatte er dieses Gespräch mit seinem Chef nur geträumt? Nein, hatte er nicht. Es war harte Wirklichkeit, eine verdammt harte. Wie sollte es nun weitergehen? Bertel hatte keine Ahnung. Er war nicht im Stande, einen klaren Gedanken zu fassen. Sein Kopf war nur leer, leer wie ein Maisfeld, nachdem der Mähdrescher darübergedonnert war.

Bernhard Bertel verließ wie jeden Tag pünktlich um 17.30 Uhr sein Büro. Der Pförtner in der Empfangshalle sagte: „Pünktlich wie immer, Herr Bertel.“ „Stimmt genau“, sagte Bernhard mit gesenktem Kopf. Das übliche „Auf Wiedersehen“ brachte er diesmal nicht über die Lippen. Diese waren wie mit Superkleber zugeklebt.

Nachdem er die üblichen drei Minuten an der Haltestelle gewartet hatte, stieg Bertel in einen Bus der Linie 60. Heute sprach er keine paar Worte mit dem Busfahrer. Bernhard konnte nicht. Er setzte sich auf den gleichen Platz wie jeden Abend. Er las seine Zeitung, bis der Bus an seiner Haltestelle ankam. Dort stieg er aus und ging den gewohnten Weg zu seinem Haus, Lindenstraße 22. „Warum eigentlich Lindenstraße?“, dachte sich Bertel. Seit Jahren standen hier keine Linden mehr, wurden wahrscheinlich auch wegrationalisiert.

Wie gewöhnlich machte er sich etwas zu essen. Nach dem Essen machte er den Abwasch, räumte auf und ging ins Wohnzimmer, wo er den Fernseher einschaltete. Um 23.00 Uhr machte er den Fernseher aus und ging ins Bett. Später ging er nie ins Bett. Er brauchte seinen Schlaf. Und wenn er nicht innerhalb von 15 Minuten einschlafen konnte, nahm er eine Schlaftablette. Eine aus der blau-weißen Dose, die immer in seinem Nachkästchen lag. Denn Bernhard brauchte seinen Schlaf. Und an diesem Donnerstag wusste er, dass er nicht sofort einschlafen konnte. Nicht nach dieser Nachricht von 10.13 Uhr. Er schraubte den Deckel der Dose ab, füllte seine gewölbte Handinnenseite mit den blauen Pillen und spülte sie mit einem großen Schluck Wasser hinunter. Bernhard Bertel legte sich ins Bett. Diesmal würde er tief schlafen. Sehr tief. Und sehr lange.

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Tag der Veröffentlichung: 20.01.2009

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