Dead End Street
Prolog
Es ist eine zugeschneite Straße irgendwo in Leningrad. Ich weiß nicht wo ich bin, weil ich seit Wochen nicht mehr vernünftig gegessen habe und mein Gehirn folglich nicht vernünftig arbeiten kann. Mit der Flüssigkeitsaufnahme sieht es auch nicht viel besser aus, aber wenigstens ist uns der Himmel gut gesinnt, denn er schickt reichlich Schnee. Ich werfe einen Blick über die Schulter und sehe die beiden Soldaten mit ihren Gewehren im Anschlag. Eine falsche Bewegung meinerseits und ich war einmal. Ich richte meinen Blick wieder starr auf meine Füße, damit mir der Schnee nicht zu sehr in das Gesicht weht. Auch wenn ich mehrere Schichten an Wollpullovern übereinander trage ist es immer noch kalt. Am schlimmsten ist die beißende Kälte aber an den nackten Hautstellen, wie in meinem Fall dem Gesicht, denn die Mütze habe ich auf meinem Fußmarsch nach hier verloren und um ehrlich zu sein, habe ich mir auch nicht die Mühe gemacht, sie zurückzugewinnen. Ich werde mein Leben wohl noch früh genug lassen...
Mein Blick wendet sich nach rechts. Ich sehe nur grau – eine Häuserwand. Eine der wenigen in diesem Teil der Stadt, die noch steht. Ich frage mich, wer das Glück hat, dort zu wohnen. Wer dort das große Glück hat und immer noch ein Dach über dem Kopf hat und nicht in einem der vielen Feldlager wohnt, die notdürftig errichtet wurden. Ich habe zwar längst kein richtiges Zuhause mit 4 Wänden um mich herum mehr, doch ich weigere mich trotzdem, eines dieser Lager zu beziehen. Ich bin nicht schwach – ich schaffs auch so.
Naja, das dachte ich jedenfalls. Würde mir jetzt erneut jemand den Vorschlag machen, ein Feldlager zu beziehen – ich würde ihn freudestrahlend umarmen und mit ihm gehen. Vielleicht würde ich irgendwann auch das ein oder andere Glas auf seine Gesundheit hin heben – wer weiß, welche Überraschungen der Krieg sonst noch für uns bereit hält?
Unglaublich, diese Straße scheint kein Ende zu nehmen. Langsam bekomme ich das Gefühl, dass sie mich gar nicht erschießen wollen. Vielleicht haben sie in ihrem Gewehrläufen irgendeinen radioaktiven Stoff und sie wollen mich verstrahlen. Deshalb ist die Straße vielleicht so lang...damit die tödliche Dosis erreicht werden kann.
„Was habt ihr eigentlich vor?“, frage ich, da ich die Neugier langsam nicht mehr zurückhalten kann.
„Maul halten.“, erwidern die beiden Soldaten der Roten Armee bloß und einer von ihnen bohrt mir den Lauf seiner Maschinenpistols zwischen die Schulterblätter. Ich seufze und hebe entschuldigend die Hände in die Luft, sodass sie es sehen können. Schweigend setze ich meinen Marsch fort.
Langsam dringt Schnee in meine kaputten Stiefel. Ich richte meinen Kopf geradeaus und kann immer noch nicht das Ende der Straße sehen. Und der Schnee scheint stetig anzusteigen. Wo bin ich hier nur gelandet? Das kann doch nicht Leningrad sein. Es muss irgendeine Fantasiewelt sein. Vielleicht das Wunderland aus 'Alice im Wunderland'. Zur Bestätigung nicke ich kaum merklich und mein Kopf verschwindet zur Hälfte wieder in dem hohen Kragen meiner Jacke.
„Stehen bleiben.“, donnert der Soldat hinter mir und wie auf Kommando versagen meine Beine den Dienst und ich falle mit dem Gesicht zuerst in den kalten Schnee.
Soll es also so zu Ende gehen? Ich habe immer gedacht, dass ich ein mit ein bisschen mehr Würde sterben werde. Jedenfalls nicht mit dem Gesicht im Dreck.
Texte: Karokoenigin
Bildmaterialien: www.streuverluste.de
Tag der Veröffentlichung: 13.02.2012
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