Im Hafen Amsterdam
singen die Seeleute von den Träumen,
die sie um treiben
weit draußen auf See
- vor Amsterdam
Jacques Brel
.
Der Mann in seinem blauen Jeansanzug mit den halblangen blonden Haaren und dem Dreitagebart, saß am Fenster der alternativen Hafenkneipe in Amsterdam. Er mochte an die vierzig sein. Mit seinen etwas tief liegenden blauen Augen blickte er vor sich hin. Ein großer schwarzer Ofen, der bollerte, warf den rötlichen Schein des Feuers auf sein scharf geschnittenes Gesicht und auf die alten Bilder, die an den Wänden hingen. Ob es sich um Drucke oder Originale handelte, wusste er nicht zu sagen und es fragte auch keiner danach. Ein gläserner Leuchter baumelte von der Decke. Es roch nach Rauch, frischem Bier und Schnaps.
Eben warf der Wirt mit dem roten, bärtigen Gesicht und dem ausgeleierten, blauen Pulli einige Scheite nach. Es zischte und krachte im Ofen. Vom Hafen her hörte man das Tuten der Schlepper. Der Mann blickte aus dem Fenster, an dem eine Möwe vorbei flog. Die Bäume, die draußen standen, trugen schon Knospen.
Er dachte über sein bisheriges Leben nach. Immer hatte er sich irgendwie durchgeschlagen, war kurze Zeit zur See gefahren und hatte mal hier und da ausgeholfen. Schon seit Vater war Seemann gewesen Das musste doch mal ein Ende haben! Sein Gesicht straffte sich. Zuletzt hatte er einige Wochen an den Kais gearbeitet, wo er beim Verladen der Container half. Dann wurde er entlassen, einfach weg rationalisiert. Er ballte die Fäuste. Aber er hatte etwas Geld gespart. Nur lange würde es nicht reichen. Er musste sich nach etwas anderem umsehen!
So stand er auf, bestellte beim Wirt noch ein "Amstel" und holte den "Telegraaf" und den "Spits", die auf einem der Tische lagen. Hier würde er keine Stelle finden! Der Wirt kam und stellte ihm das bestellte Bier hin. Der Mann blätterte die Zeitung durch und las die Meldungen, die ihn interessierten. Es waren hauptsächlich die kurzen; die großen Berichte zu verfolgen, hatte er keine Muße. Stellenanzeigen waren nur wenige im "Spits" drin und die, die da abgedruckt waren, betrafen gehobene Stellungen. Und er hatte nichts gelernt! Bald legte er die Zeitung beiseite und trank von seinem Bier.
Außer ihm saß noch eine Frau in der Kneipe, die um die fünfzig sein musste und eine Brille trug. Auf dem Tisch vor sich hatte sie einen Laptop stehen, in dem sie ab und an etwas eingab. Neben dem Computer stand eine Tasse Kaffee, aus der sie einen Schluck nahm. Der Mann beachtete sie nicht weiter. Er hatte einen Entschluss gefasst. Er würde zur Hafenmeisterei gehen und dort nach Arbeit fragen. Später wollte er etwas essen.
Im Hafen hatte man ihm mitgeteilt, dass kein freier Job zu besetzen war. Er schimpfte vor sich hin. So beschloss er, in das nächste asiatische Restaurant ein zukehren und erst einmal richtig zu speisen. Das hatte er schon seit langer Zeit nicht mehr gemacht! Immer hatte er von Butterbroten und Dosengerichten gelebt! So hielt er sich in der Altstadt an ein indonesisches Restaurant. Draußen roch es gut nach Gebratenem und asiatischen Gewürzen. Es war inzwischen dunkel geworden.
Über dem Eingang war ein riesiger, bunter Drache angebracht. Er trat ein, innen standen Tische, mit weißen Decken und aus Rohr gefertigte Stühle davor. In der Mitte des Raumes befand sich eine Theke mit verschiedenen Speisen in der Auslage. An der Wand hingen Drucke von Landschaften in Asien.
Er setzte sich an einen der Tische, es standen zwei Stühle daran. Eine junge Asiatin erschien und brachte ihm die Speisekarte. Eine nette Person dachte er. Nach einer Weile kam sie wieder und er bestellte Reis und Rind, dazu asiatisches Gemüse, wie Bambus sprossen und Pilze. Als Getränk wählte er eine Cola, da er nüchtern bleiben wollte.
Bald brachte sie das Getränk und dann das Gericht. Er aß und studierte dabei die Speisekarte. Ihm stach die Peking-Ente mit süßsaurer Sauce ins Auge. Er würde sie das nächste Mal nehmen! Dann war er fertig mit dem Essen und müde, sodass er beschloss, nach Hause zu gehen. Er wohnte nahe der Herengracht und das war noch ein kleines Stück Weg. So rief er die freundliche Kellnerin, zahlte, nicht ohne ihr ein ordentliches Trinkgeld zu geben und verließ das Lokal mit einem "Tot ziens". Die Kellnerin erwiderte seinen Gruß und sah ihm nach.
Das Wetter war trocken und ein lauer Wind wehte. Er zog die Luft tief durch die Nase und eilte durch die Stadt, entlang an den alten Häusern mit ihren verschiedenen Giebeln und den Grachten. Er war immer noch sauer! Schon bald hatte er das Haus erreicht, in dem er wohnte. Nachdem er die Tür hinter sich zugeworfen hatte, warf er sich angezogen aufs Bett und schlief bald darauf ein.
Die Sonne, die durch das Fenster schien und in sein Gesicht, weckte ihn. Er stand auf, zog sich aus und duschte. Dann zog er frische Sachen an. Er eilte ans Telefon um den Flughafen "Schiphol" anzurufen. Er kannte dort einen Herrn Hartema, der bei der Gepäckabfertigung arbeitete. Er wurde auch gleich mit ihm verbunden.
"Hier ist Hendrik des Boer. Habt ihr was zu tun für mich?"
"Im Moment nichts. Rufe wieder in zwei, drei Wochen an. Dann sind viele in Urlaub. Vielleicht kannst du dann einspringen!"
"Bedankt", sagte Hendrik und legte auf.
Er würde sich Spiegeleier machen und dann weitersehen. Er seufzte.
So ging er zum Küchenherd, denn seine Absteige bestand nur aus einem Raum mit Kochecke. Er nahm die Bratpfanne, tat Fett hinein und machte den Herd an. Als das Fett zu brutzeln begann, schlug er drei Eier hinein und wartete. Schon bald hatten sie einen dunklen Rand. Er holte sich einen Teller, tat eine Scheibe Brot darauf und dann die Eier, die er aus der Pfanne nahm. Zwischen den Eiern und dem Brot schob er ein Stück Dauerwurst, das er aus dem Kühlschrank angelte. Er würde einen ausgedehnten Spaziergang machen und in eine Kirche gehen. Davon gab es ja in der Stadt genug!
So aß er, tat den Teller in die Spüle und trank ein Glas Saft, welchen er sich einschenkte. Dann stellte er das leere Glas ebenfalls in die Spüle, zog seine Jacke über und ging hinaus. Kühle Luft empfing ihn, sodass er die Jacke schloss. Er fühlte sich gut!
Er lief über den Dam und bemerkte, dass heute nicht so viele Leute unterwegs waren. Am Denkmal saßen kaum welche. Es war wohl noch zu kalt. Auch in der Altstadt, wo er wenig später ankam, war es leerer, obwohl heute Sonntag war. Er begab sich zur Norderkerk, deren Glockenspiel, welches gerade erklang, ihn magisch anzog. Dort ging er hinein und setzte sich auf einer der vorderen Bänke. Still dankte er Gott, dass er ihn die letzten Wochen so wunderbar begleitet hatte. Ihm war kein Unfall passiert und auch sonst war alles glatt gelaufen. Er dachte daran, Lis zu besuchen, denn er war lange nicht bei ihr gewesen.
Dann stand er auf und ging in das Herz der Altstadt. Er hatte beschlossen, ein Stück durchs Rotlichtviertel zu gehen. Ansonsten mied er diese Straße, aber so konnte er abkürzen. Die Damen in ihren aufreizenden Bikinis, zum Teil auch oben ohne, präsentierten sich auch an diesem Tag in dem roten oder auch lila Licht. Manch eine winkte ihm zu. Er beeilte sich hindurch zu kommen.
Dann war er in der Straße, in der Lis wohnte. Würde sie zu Hause sein und ihn überhaupt hineinlassen? Er hatte sich lange nicht blicken lassen! Vor dem alten Giebelhaus hielt er, ihr Name stand noch auf der Klingel. Er drückte sie. Der Summer ertönte und er drückte die Tür auf. Im niedrigen Flur sah er sie in ihrer Wohnungstür stehen. Sie schien erstaunt zu sein, denn ihr hübsches, ovales Gesicht mit der Stupsnase verriet Überraschung, aber ihre braunen Augen leuchteten.
"Du-?", sagte sie, "lässt du dich auch mal wieder sehen?"
Sie hatte dabei den rechten Arm an gewinkelt und stützte ihn in der Hüfte. Er nickte und dachte daran, dass er ihr Blumen hätte mitbringen können.
Nach einer Weile sagte sie: "Komm rein, - wenn du schon mal da bist. Ich habe gerade einen Tee aufgesetzt."
Sie nahm den Arm herunter und drehte sich um. Er folgte ihr ins Wohnzimmer. Sie ging zur Anrichte in der Küche, wo sie Wasser in eine große Kanne goss. Die Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fielen, ließen ihre roten Haare leuchten. Kein Kuss auf die Wange, keine Berührung.
"Ich habe gearbeitet, von früh bis spät", sagte er leise.
"Du hättest dich trotzdem mal melden können." Sie sagte es, ohne einen Vorwurf in der Stimme. Trotzdem hatte er ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen.
Dann brachte sie zwei Tassen, Zucker, Milch und die Kanne auf einen Tablett. Sie trug ein tief ausgeschnittenes, blaues Kleid, das ihre Figur betonte. Das nahm er zur Kenntnis. Sie stellte die Tassen auf den kleinen, flachen Tisch, der vor ihrem Sofa stand.
"Nun setz´ dich schon!"
Er ließ sich steif in einen der Sessel nieder.
"Willst du deine Jacke nicht ausziehen?", fragte sie und zog sie ihm über die Schulter, nachdem sie das Tablett abgestellt hatte.
Dann schenkte sie Tee in die Tassen.
"Zucker und Milch kannst du die selbst nehmen. Nun erzähl schon, was gab es sonst in letzter Zeit?"
Sie setzte sich neben ihn auf die Arm lehne des Sofas.
"Wie gesagt, viel Arbeit und abends war ich einfach kaputt. Bin nach Hause und habe geschlafen."
Er seufzte.
Sie lächelte.
"Und nun ist die Arbeit zu Ende?"
Er nickte
"Ja, sie hatten nichts mehr für mich."
"Vielleicht weiß ich was für dich. Wenn du das nächste Mal kommst, habe ich sicher was."
Sie strich ihm über die Wange. Er trank Schluckweise von dem Tee.
"Ich hatte Glück", sagte sie, "ich konnte einige Bilder verkaufen."
Er nickte.
"Komm, ich zeige dir meine neuesten Werke."
Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn hinter sich her in ihr Atelier, das an ihrer Küche grenzte. In dem mittelgroßen, Licht durchflutendem Raum standen Bilder am Boden und hingen an der Wand. Eins stand auch auf einer Staffelei. Sie deutete darauf.
"Dieses hier ist zum Beispiel neu, es ist aber noch nicht fertig."
"Es gefällt mir gut", sagte er.
Das Bild zeigte eine abstrakte Landschaft mit einem gelben Punkt, der wohl die Sonne darstellen sollte.
"Ich habe dich vermisst", sagte sie und zog ihn an sich.
Die Küsse, die sie ihm gab, erwiderte er vielfach. Langsam begann sie ihn zu entkleiden und er sie.
Sie schwankten hinüber ins Schlafzimmer, wo das große Bett stand. Zusammen fielen sie darauf. Wild küsste er ihre wohl geformten Brüste, dann vereinten sie sich.
Als er erwachte, war es dunkel. Sie lag neben ihm in seinem Arm und atmete tief. Langsam zog er seinen Arm unter ihrem Körper hervor. Sie bewegte sich im Schlaf und murmelte etwas. Leise zog er sich an. Er ging zur Tür und schlüpfte hinaus. Draußen atmete er tief durch, es roch frisch. Er ging in die Nacht hinaus. Er würde durch die Stadt laufen und schauen, ob er irgendwo etwas trinken konnte. Das brauchte er jetzt! Dann würde er zu ihr zurückkehren.
Er hatte Glück, eine kleine Bar hatte noch geöffnet und er betrat sie. Der Schankraum war klein, trotzdem waren noch ein paar Personen darin. Er stellte sich an den Tresen und fragte nach einem Kaffee. Die kräftige Dunkelhaarige mit dem dunklen Pullover sagte aber, dass die Maschine schon "aus" sei. So bestellte er sich ein "Heineken". Die Dunkelhaarige schob es ihm gleich darauf hin und er nahm einen kräftigen Schluck. Er hatte Appetit auf eine Zigarette.
So fragte er den kleinen Mann, Anfang sechzig, der neben ihm stand, nach einer. Der hielt ihm die Packung hin und er nahm eine heraus. Der Mann reichte ihm Feuer.
"Wohl kein Geld mehr?", fragte der Kleine, doch er erwiderte, dass er das Laster aufgegeben hatte und nur manchmal eine rauchte.
"So habe ich auch wieder angefangen", sagte der Kleine.
Aus dem einen Bier wurden fünf und er war schwankte leicht, als er die Bar verließ. Der Kleine schaute ihm hinterher. Schleunigst lief er zurück zu Lis Haus. Er würde klingeln und sie würde ihm öffnen. Es begann nun langsam hell zu werden. Von weitem hörte er die Möwen schreien,
Tatsächlich stand sie schweigend im Morgenmantel in der Tür, als er schellte und ließ ihn herein. Schnell hatte er sich entkleidet und legte sich wieder zu ihr ins Bett. Ihr Wecker zeigte sieben Uhr.
Als er später mit ihr frühstückte, fragte sie nicht danach, wo er in der Nacht gewesen war. Nach dem Frühstück ging sie einkaufen und kehrte bald darauf zurück, während er in den vielen Magazinen blätterte und las, die sie aus liegen hatte. Sie packte die eingekauften Waren auf den Küchentisch und räumte sie danach in den Schränken und in den Kühlschrank.
"Ich habe den Geschäftsführer im Supermarkt gefragt und du sollst vorbei kommen. So um vierzehn Uhr."
"Ich werde hingehen", antwortete er und nahm sie in den Arm. "Danke, dass du gefragt hast."
Er küsste sie auf den Mund.
"Mache ich doch immer", erwiderte sie und machte sich los. Sie setzte Wasser für einen Tee auf und schwieg.
Pünktlich kurz vor vierzehn Uhr war er bei dem Supermarkt mit den orangenen Folien an den Schaufenstern um die Ecke. Was erwartete ihn? Ob es der richtige Job war? Ohne weiter nachzudenken ging er hinein. An den drei Kassen vorbei, lief er den Gang entlang, bis er auf einen jungen Angestellten im roten Kittel traf.
"Ich habe einen Termin bei Herrn Slotendijk", sagte er zu ihm.
"Moment!"
Der Mann drehte sich um und eilte durch die Gänge. Kurze Zeit später kam er mit einem grauhaarigen Herrn, mit weißem Hemd und Schlips zurück. Sein dünnes Haar hatte er nach hinten gekämmt.
"Sie sind Herr de Boer und wollen bei uns anfangen? Lisbeth fragte mich heute Morgen schon danach. Kommen sie."
Er lief vornweg und Hendrik hatte Mühe zu folgen. Schließlich verließen sie den Laden durch eine weiße Holztür und gelangten in einen größeren Raum. Überall lagen Kartons herum.
"Hier können sie erst einmal aufräumen. Ich schaue dann nach ihnen. Einen Kittel habe ich auch schon für sie."
Er trat auf ein Regal zu und holte ein in Plastik geschweißtes orangenes Kleidungsstück hervor und reichte es ihm.
"Der müsste eigentlich passen. Lisbeth sagte mir ihre Kleidergröße."
Hendrik riss die Verpackung auf und zog den Kittel an. Er passte, nur die Ärmel waren zu lang.
"Die können sie umschlagen."
Der Geschäftsführer lächelte, dann verließ er ihn.
Ich habe wieder was zu tun und es wird bezahlt, dachte Hendrik, mal schauen, wie es läuft! Er machte sich an die Arbeit und sammelte die Kartons ein. Dann legte er sie zusammen und stapelte sie auf einen Rollcontainer. Als er fertig war, fegte er das Lager mit dem Besen aus, der an der Wand lehnte. Dann erschien der Marktleiter.
"Was haben sie vorher gemacht?", fragte er.
"Ich war im Hafen und habe beim Verladen der Container geholfen", antwortete Hendrik
"Ja, das hier ist was anderes. Aber hier können sie aufsteigen, wenn sie sich bewähren."
Hendrik stellte den Besen an die Seite und der Geschäftsführer zeigte ihm den Markt. An den Kassen verweilten sie.
"Wenn es nachher etwas ruhig wird, zeigt Britta ihnen die Kasse. Sie ist Schwedin und hat wie sie ganz unten angefangen. Rechnen können sie ja? Wir können immer gute Leute gebrauchen."
Hendrik nickte.
"Einstweilen können sie Obst und Gemüse auffüllen. Wo die Waren stehen, wissen sie ja jetzt."
Hendrik ging ins Lager und suchte nach einem Wagen, den er mit Kartons mit Tomaten, Gurken und Äpfeln belud. Er hatte gesehen, dass diese Artikel im Laden fehlten. Dann fuhr er
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 11.09.2014
ISBN: 978-3-7368-3856-7
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