Mitte der 7oiger Jahre durchströmte Österreich die erste staatlich verordnete Fitnesswelle. TV und Radio tönten, die Zeitungen schrieben von der Wichtigkeit des Sports und der Bewegung. Auch über dem kleinen, ummauerten Städtchen meiner Kindheit, Gmünd an der Lieser, schlug diese Welle zusammen. So kam es, dass Mutter uns drei Brüder, Fred 12, Eddy 6 und mich 8, eines Sonntags aus dem Bett störte, mit der Direktive, heute würde im Städtchen der Fitlauf starten. Und wir würden teilnehmen.
»Wer wir?«, fragte Fred verschlafen. »Du und Karli. Eddy ist wohl noch zu klein. Also rein in eure Trainingsanzüge.«
»Ich bin nicht zu klein«, protestierte Eddy, als wir geschlossen über die Lisa-Brücke der Stadt zustrebten.
»Wir werden sehen«, sagte Mutter. »Warum hängt da eine Fahne?«, fragte Eddy, als wir am Stadtschloss vorbeikamen. »Heute ist Nationalfeiertag«, erklärte Mutter und sog an ihrer Zigarette.
»Wo ist Papa?«, wollte Fred wissen. »Beim Frühschoppen«, erklärte Mutter. Stiefvater war damals, man muss es leider so bezeichnen, obzwar arbeitssam, ein kettenrauchender Alkoholiker. Er hatte Mutter zwar nicht dazu gebracht, dass sie ebenfalls an die Flasche hing, aber zum Rauchen hatte er sie bewegt. In ihrer Jugend war Skifahren ihre Leidenschaft gewesen und Toni Sailer ihr Held. Jetzt bewegte sie sich nur noch im Rahmen ihres unbefriedigenden Hausfrauen-Daseins. Uns Brüder hielt sie jedoch zum Sport an. Eine aufgeregte Menschenmenge, teils mit umgehängten Startnummern, stand am oberen Stadttor zusammen. Tee wurde gereicht, ein Mann mit Megaphon hielt eine Ansprache. Die Menge, es waren auch Kinder und Alte darunter, wirkte aufgeregt. Sofort sprang diese Aufregung auf mich über. Ich wappnete mich innerlich. So viel wusste ich: es wurde um die Wette gelaufen und ich musste alles geben. »Dort liegen die Startnummern aus, wir sind spät dran«, sagte Mutter. Sie zahlte das Nenngeld. »Ich will auch mit«, quengelte Eddy. »Der Kleine auch?«, fragte der Mann zweifelnd, während er uns beim Anlegen der Startnummern behilflich war. Mutter schüttelte den Kopf. »Aber eine Startnummer. Ich will eine Startnummer«, beharrte Eddy. Er bekam eine. Inzwischen hatte man sich zum Start begeben. »Beeilt euch, gleich geht es los«, sagte Mutter. Ich drängte mich zwischen die Menschen, als mir bewusst wurde, dass ich ja nicht einmal wusste, wohin die Reise ging! Ich wollte zurück. Doch das Gedränge war schon zu dicht. »Ich weiß nicht wohin wir laufen«, rief ich von Panik ergriffen. Ein älterer Herr meinte lächelnd: »Immer der Nase nach. Nein, lauf einfach den Leuten nach. Auf halber Strecke steht ein Ordner. Der stempelt dein Kärtchen.« »Ich hab kein Kärtchen!«, rief ich entsetzt. Irgendwie war Fred neben mich geraten. »Kein Kärtchen? Scheiße für dich. Deine Startnummer sitzt übrigens schief.« Ich wollte zurück, in dem Moment zerriss ein Schuss die Luft. Die Meute rannte los...und ich rannte mit! Ich wurde geschubst und gestoßen. »He, Kleiner Platz.« »Pass auf, dass ich dich nicht zertrete, Knirps.« »Zur Seite.« Ich rannte mit der Meute durch das Tor im Stadtturm, und über die Maltabrücke. Ich war entsetzt und elektrisiert zugleich. Das war kein simpler Lauf. Das war ein Überlebenskampf. Ich musste ihn um jeden Preis bestehen. Die drängelnden Läufer stachelten mich an. Denen würde ich es zeigen! Ich würde es allen zeigen. Ich würde eine Bravourleistung abliefern, wie in der Volksschule, die ich als Primus durchlief.
Doch das hier war konkreter. Mühevoller. Entsetzlicher. Ich war in einem Zustand halber Raserei. Mich Knaben hatte, vom Scheitel bis zur Sohle, der agonale Trieb erfasst. Die Gärung des Startes und das wilde Lospreschen der Meute hatte mich in eine kleine Kampfmaschine verwandelt. Unmittelbar nach der Malta-Brücke zog das trampelnde Feld nach rechts, in die untere Vorstadt. Von dort gings über die Bundesstraße und, an der Neuen Heimat vorbei, zum Uferweg der Malta, der in den nächsten Minuten kein Ende nehmen wollte, und auf dem das Feld länger und länger wurde. Meine Lunge begann zu stechen, meine Schläfen hämmerten. Fred sah ich nicht mehr. Er war mir weit voraus. Ich kam an einem Ständchen vorbei. Der Mann dahinter hatte wichtig ausgesehen.
»He, Kleiner. Du musst abstempeln!«, rief er mir jetzt hinterher. »Sonst ist dein Lauf ungültig!«
Ich machte kehrt und erklärte stotternd und außer Puste: »Ich...h...h...habe keine Karte...«
»So? Na das haben wir gleich«, sagte er, presste den Stempel besonders tief in das Stempelkissen, nahm meinen Kopf und presste mir das Zeichen auf die Stirn. »So. Und jetzt lauf.« Das tat ich. Der endlose Uferweg nahm ein Ende, erneut musste die Bundesstraße überquert werden und nun gings den dicht bewaldeten Schloßbichl hinauf, dem Gmündner Kreuzweg entlang. Zuerst kam gings an der Kapelle vorbei. Der Erlöser wurde dort ins Grab gelegt. Er hatte es hinter sich. Im Gegensatz zu mir. Meine Lungen brannten, mein Herz raste. Und kein Ziel, keine Erlösung in Sicht. Zu allem Überfluss, ich kam eben am Gekreuzigten vorbei, fand ich mich auch noch allein. »Na, kleine Mann, geht dir die Puste aus? Nur Mut, es ist nicht mehr weit«, erscholl eine Stimme. Ich erschrak zuinnerst. Der Herr hatte zu mir gesprochen! Nein, es war ein Herr, der mich, dank besserer Krafteinteilung, mit federnden Schritten überholte. Und wie er mir davonzog! Keuchend und schwitzend passierte ich eine Leidensstation nach der anderen. Ich rollte die Kreuzigung gleichsam von rückwärts auf. Während der Erlöser immer gesünder wurde, hier hing er noch am Kreuz, dort trug er das Kreuz, dort trug er es gar nicht mehr, sondern nur diese schmucke Dornenkrone, ging es mir zunehmend schlechter. Unerfahren in Fitläufen hatte ich mich mitreißen lassen und war zu schnell gestartet. Doch es kam auch ein psychologisches Moment dazu. Ich fand mich alleine. Nirgends waren Konkurrenten in Sicht, an denen ich mich reiben konnte. Niemand s a h meine Leistung. Wozu sich dann überhaupt abquälen? Der Mann mit der Dornenkrone und seine Quälgeister waren nicht dazu angetan, mich zu motivieren. Ich brauchte einen lebendigen Anhaltspunkt. Irgendetwas, so ahnte mir...und der Herr erhörte mich. Ich erhaschte einen Läufer weiter vorne. Er war von immenser Körperfülle und nicht zu übersehen. Ich spürte, dass er langsamer war, als ich. An ihn wollte ich mich heransaugen. Ich steigerte das Tempo und an der alten Burgruine, vor der langen Treppe, die zur Stadt hinableitet, war ich an ihm dran. Alles an ihm glühte in tiefsten Rot: der Specknacken, die Handgelenke, seine Ohren. Der Mann war am Ende. Wir erreichten die Treppe. Ich wollte vorbeischlüpfen. Die Masse Mensch blickte instinktiv zur Seite, ich sah Schweißperlen in einem grauen Schnauzbart blinken, und schnitt mir den Weg ab! Er wollte nicht weichen! Ich wäre fast gestolpert noch dazu. »He, he!«, rief ich. Ein Grunzen war die Antwort. Jetzt hieß es klug sein. Ich deutet links ein Überholmanöver an, der Mensch schwenkte ebenfalls nach links und flugs war ich rechts vorbei. »He, Bürschchen!«, ächzte der Mann. Einen offenbar nicht ungefährlichen Menschen hinter mir zu haben, gab meinen Knabenbeinen noch einmal ein Forte. Das Ende der Stufen war erreicht. Nun ging es nach rechts. Durch den dunklen Schlund des oberen Stadttores sah ich den hufeisenförmig von Menschen umgebenen Zielbereich. Die letzten Meter. Das Publikum schien nur auf mich zu warten, gespannt, wen das dämmrige Tor nun ausspuckten würde. Etwas fuhr in mich wie ein Blitz und ich steigerte noch einmal mein Tempo. Ich spurtete, als sei der Teufel hinter mir her. Ich war aus dem Tor und durch das Ziel...empfangen von einem unmäßigen Gelächter. Die Hände auf die Knie gestützt,keuchend, sah ich mich um. Das Gelächter galt mir. Daran bestand kein Zweifel. Rote Gesichter, Finger, die auf mich zeigten, höhnisch aufgerissene Mäuler. Wo war Mutter? Wo waren Fred und Eddy? Dort standen sie. Fred wies auf mich und lachte besonders laut. Mutter grinste - aber peinlich berührt. Sie machte einige Schritte auf mich zu und sagte: »Du verlierst ja deine Hose!« Dann lachte auch sie. Es war wie verhext. »Warte«, sagt sie und befeuchtete einen Finger mit Spucke. Zugleich nahm sie einen Zipfel ihrer Bluse. Der Finger zielte auf meine Stirn. Ich wich angewidert zurück. »Du willst den Stempel doch nicht behalten«, sagte sie. Der Stempel, schoss es mir! Ich war ein gezeichneter. Ich trug das Kainsmal dieses vermaledeiten Fitlaufes auf der Stirn! Dazu meine schlotternden Klamotten und die, wie ich jetzt erkannte, die bis zur Unkenntlichkeit verdrillte Startnummer. Ich war der Lacher des Tages! Die Sache wollte mir furchtbar peinlich werden, als ein Aufschrei durch die Menge ging. Ich wandte mich um. Der Dicke war im Tor erschienen. Er lief nicht mehr, er wankte wie ein angeschossener Elefant. Das Ziel zum Greifen nahe ging er in die Knie und sank seitlich hin. Helfende umringten ihn. Auch meine Mutter, Eddy und Fred rannten zum Ort des Geschehens. Ich blieb wo ich war, mit stechenden Lungen zwar, aber heilfroh, das der Fokus der Menge nun woanders ruhte.
Fred kam zurück: »Nur eine kurze Ohnmacht«, sagte er beinahe enttäuscht. Die Siegerehrung war ein arger Dämpfer.
Die Pokale gingen alle an andere. Fred bekam Urkunde und Plakette. Ich bekam Urkunde und Plakette und selbst Eddy bekam eine Plakette, obwohl er gar nicht mitgelaufen war. Ich verstand die Welt nicht mehr. Mutter blieb in der Stadt, um mit einer Freundin Kaffee zu trinken. Wir drei bekamen je eine Packung Sportgummi als Belohnung, selbst Eddy, der gar nict mitgelaufen war. Wir sollten rasch nach hause und uns baden. Auf der Maltabrücke hatte Fred seine Drops gefüttert. »Zeig einmal«, sagte er und griff sich meine Packung. Ehe ich protestieren konnte, griff er mit der vollen hand hinein und stopfte sich die Sportgummis in den Mund wie Heu! Gehässig grinsend gab er mir die Packung zurück. Sie war leer.
Tag der Veröffentlichung: 21.06.2011
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