Cover

Vorwort


Warum ein 18-Jähriges Mädchen, das durchaus Freunde hat und zudem noch in einer Beziehung steckt, mit ihrer Familie in den Urlaub fährt, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass ich es getan habe. Vielleicht weil ich aus Deutschland rauswollte. Vielleicht, weil ich ein letztes Mal intensiv Familie spüren wollte, bevor ich alleine in die weite Welt ziehen würde. Aber vermutlich war es eine eher spontane Idee. Eine spontane und unüberlegte Idee. Zugegeben hätte vermutlich jeder andere in meinem Alter lieber einen Teller Würmer gegessen, als mit der Familie in den Urlaub zu fahren, selbst wenn das Ziel Slowenien war.
Aber nein, anscheinend sollte ich den letzen Rest Hoffnung, ich sei wenigstens etwas normal, endgültig begraben. Und nun, bevor ich an den Anfang springe, möchte ich an dieser Stelle einen unwiderlegbaren Fakt anbringen:
Ich war bescheuert. Besser gesagt, die spontane Idee war bescheuert. Und der ungefähr zwei Wochen lange Urlaub mit meiner Familie hat nicht unbedingt zur Besserung meines geistigen Zustands beigetragen.

Achja. Falls mich jemand vor die Wahl stellen würde, ob Würmer oder noch einmal Urlaub mit Familie: Ich muss sagen, ich bin mir nicht sicher. Das liegt aber nur daran, dass ich überzeugter Vegetarier bin und mich absolut nichts dazu bringen kann, Tiere zu essen. Der Vorteil bei den Würmern ist, dass das Verspeisen keine 17 Tage dauert. Unser Urlaub war exakt 387 Stunden lang, also 23 220 Minuten, grob gerechnet 1 393 200 Sekunden. 1 393 200 Sekunden Familie intensiv. Wenn Würmer keine Tiere wären: Ich würde den ganzen Teller ohne zu zögern leeren.

1. Tag


Unser Urlaub begann Punkt 12:00Uhr an einem Freitag mitten im Juli. Alles nach Plan. Und wenn ich sage Punkt 12:00Uhr, dann meine ich exakt 12:00Uhr. Eigentlich fand ich das reichlich übertrieben. Was wäre an zum Beispiel 12:07Uhr so schlecht gewesen? Oder an der Formulierung „gegen 12Uhr“ oder „Mittags“? Doch hätte ich diese Wörter benutzt, so hätte ich gelogen. Papa plante nämlich alles gern bis auf die Sekunde und 12:00Uhr war halt 12:00Uhr und nicht 12:07Uhr.
Also stieg ich um 11:58 Uhr in unser Auto, meine Schwester Elli gleich nach mir, und so konnte exakt 12.00Uhr der Motor angelassen werden. 12.30Uhr hatten wir München wie geplant hinter uns gelassen und Papa am Steuer wurde etwas entspannter.

Meine 13-jährige Schwester begann sich prompt zu langweilen und so betätigte meine Mama, nach einer energischen Aufforderung von der Rückbank, den Einschaltknopf des Radios. Das war ein gewaltiger Fehler. Denn ab diesem Moment war der idyllische Urlaub endgültig vorbei. 32 Minuten nachdem er begonnen hatte. Mamas Finger drückte auf den Knopf und unser Auto war auf einmal von den Flötenklängen eines Mozart-Konzertes erfüllt. Ein Klassik-Sender. Ich stöhnte innerlich auf, doch verkniff ich mir jegliches Kommentar. Das würde sowieso Elli übernehmen. Erwartungsvoll sah ich sie an und tatsächlich rümpfte sie die Nase: „Anderer Sender!“, rief sie sofort nach dem sich die Runzeln auf ihrer Nase wieder geglättet hatten. Mama und Papa, beide leidenschaftliche Klassik-Liebhaber, ignorierten Elli vollkommen. „Umschalten!“, befahl Elli nochmals, und als sie wieder nicht beachtet wurde, fügte sie noch knurrend ein „Bitte...“ hinzu. Mama seufzte. „Elli, ich würde das gerne hören.“, sagte sie. „Das ist doch total langweilig!“, entgegnete Elli gereizt.
Die Pubertät war wirklich was feines! Man konnte den größten Mist anstellen, grob zu den Eltern sein und sich so respektlos wie nur möglich benehmen, am Ende hatte man doch eine Ausrede, die von allen mehr oder weniger akzeptiert wurde und das Verhalten entschuldigte: Meine Synapsen schließen nicht richtig. Und Elli unternahm normalerweise alles um uns das zu beweisen.
So auch jetzt. Anstatt klein bei zu geben und das Mozart-Konzert abzuwarten, begann sie plötzlich so laut wie möglich von Lady Gaga „Pokerface“ zu singen. Sagen wir lieber: zu schreien. Es war so schief, dass man kaum das Lied erkannte und der „Text“ bestand hauptsächlich aus: „Lalalalalalalalalala P-P-Pokerface“. Seine Wirkung verfehlte das Gegröle jedenfalls nicht: Mozart wurde komplett übertönt. „Elli!“, sagte Mama mit einem Drohen in der Stimme. Diesmal war es an Elli, Mama zu ignorieren. „P-P-Pokerface, lallalallala“ „Elisabeth!“, Na prima. Wenn Mama meine Schwester Elisabeth nannte, dann war sie wirklich sauer. „Hör auf zu singen!“ „Aber nur wenn du einen anderen Sender einstellst...“, trällerte meine Schwester in der Melodie von Lady Gaga. Mama drehte sich wutschnaubend um. „Elisabeth!“, brüllte sie so laut, dass sogar Ellis Gekreische für einen Moment nicht zu hören war. Natürlich ohne Wirkung. Mama war ratlos. Das sah man ihr an. Zuhause konnte sie wenigstens noch mit Internetverbot drohen, doch Elli würde so oder so zwei Wochen ohne Netz auskommen müssen, und so war das einzige Druckmittel nutzlos geworden. Mama wandte ihr hochrotes Gesicht plötzlich mir zu. „Sag doch auch mal was!“ Empört riss ich meinen Mund auf. Sie redete mit mir, als wäre ich ihr Ehemann! „Ich? Was soll ich denn machen?“, „Na ihr sagen, dass sie aufhören soll!“ Einen Augenblick starrte ich meine Mama fassungslos an. Konnte sie nicht einfach diesen blöden Sender umstellen? Ich wollte ihr schon meine Meinung sagen, dann beschloss ich mich lieber nicht aufzuregen, schließlich musste ich es noch eine halbe Ewigkeit mit meinen Eltern aushalten. „Elli, lass den Scheiß. Bringt doch nichts.“, sagte ich so ernst wie möglich. Elli grinste nur, sie wusste, dass ich im Stillen auf ihrer Seite war. Ich drehte mich wieder zu Mama. „Sie hört nicht auf mich.“
Ich versuchte mir vorzustellen, wie die Szene wohl für einen Außenstehenden wirken musste. Wahrscheinlich zum totlachen. Mir war jedoch nicht danach zumute. Mir war die Lust in den Urlaub zu fahren vergangen.
Ich zog mein Handy aus der Hosentasche. Als ich eine Taste drückte, lächelte mich das Gesicht meines Freundes an, das den Hintergrundbildschirm schmückte. Unwillkürlich musste ich schmunzeln, wenn auch ein wenig wehleidig, denn ich vermisste ihn jetzt schon. Ich beschloss ihm eine letzte SMS zu schreiben, bevor ich in ausländisches Netz mit überteuerten Preisen kommen würde. Währenddessen startete meine Mama immer wieder verzweifelte Versuche meine Schwester zum Schweigen zu bringen. Natürlich vergeblich.

Hey Rob, letzte SMS aus DEU, alles super,
Stimmung hochromantisch, heb schon mal
mein Grab aus. Wie soll ich das überstehen?
Hilfe! Du fehlst mir jetzt schon! <3

Plötzlich griff mein Papa in das Geschehen ein. Mit der linken Hand am Lenkrad und dem Blick auf der Straße, holte er eine CD hervor und legte sie ein. Mozart verstummte. Elli verstummte. Mama drehte sich wieder nach vorne. Es war still. Nur mein Handy vibrierte um mir mitzuteilen, dass die SMS angekommen war. Aus dem Radio erklang leise eine Gitarre, dann ziemlich heftige Musik. Mein Papa hatte wirklich „Judas Priest“ eingelegt. Halleluja. Ich war nicht gerade ein Fan von der Gruppe. Elli schaute etwas verdattert, grinste dann aber zufrieden als sie Mamas beleidigten Blick sah. Oje, das brauchte mindestens einen Rieseneisbecher um Mama wieder halbwegs zu versöhnen. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Der Urlaub begann also mit Heavy-Metal, mit Streit und langem Autofahren. Besser als erwartet. Mein Handy vibrierte. Eine neue Nachricht. Von Rob.

Hey, das überlebst du schon. Ist doch nur Urlaub.
Und es ist Slowenien! Wird bestimmt toll. Kopf hoch!
Ich liebe dich.

NUR Urlaub? Der hatte vielleicht Nerven...

Exakt 17Uhr fuhren wir auf den Hotelparkplatz, zu Papas höchster Zufriedenheit. Ich war spätestens jetzt wieder alltagsreif, meine Lust auf Urlaub im Minusbereich. Das Hotel sah ziemlich luxuriös aus, dahinter sah man einen großen See glitzern, der von hohen Bergen umgeben war. Meine Laune besserte sich schlagartig bei diesem Anblick, und die Temperaturen von über 30° C sorgten außerdem dafür, dass ich mich schon beinah wohl fühlte. Willkommen in Slowenien!

Die Empfangsdame, oder sagen wir lieber die Empfangsoma sprach fließend Deutsch und so war das Einchecken kein Problem. Wir bekamen die Zimmerschlüssel und stellten uns samt Gepäck im Fahrstuhl ab. Papa hatte zwei Doppelzimmer gebucht. Wir mussten nicht überlegen, wie wir sie belegen wollten. Elli und ich das eine, unsere Eltern das andere. Schnurrend hielt der Fahrstuhl und Elli wurde beim frisieren im Fahrstuhlspiegel unterbrochen. Wir schliffen unsere Taschen hinter uns her und trennten uns dann vor den Zimmertüren. Elli öffnete unsere Tür und stürmte hinein. So. Das war also für die nächste Woche unser Zuhause. Es gefiel mir eigentlich recht gut. Ein riesiges Doppelbett in der Mitte des Raumes, ein Fernseher, den ich sowieso nicht benutzen würde, und sogar ein Balkon. Ich stellte unsere Tasche auf einen kleinen Schrank. Elli stand schon wieder vor einem der zwei riesigen Spiegel die an der Wand hingen und frisierte sich zu Ende. Letztlich sah sie genauso aus wie vorher, ihr schwarzes schulterlanges Haar in einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden. Ich inspizierte unterdessen die zwei Türen, die sich im Zimmer befanden. Ich öffnete die eine. „Wir haben ein Klo.“, stellte ich fest. Dann öffnete ich die zweite Tür. „Und eine Badewanne.“, fügte ich hinzu. Elli tat überrascht. „Boah.. Was!?! Wir haben ein Klo?? Na Mensch.. Wer hätte das gedacht!“ Sie zwinkerte mir zu. Ich musste grinsen. Sie konnte manchmal so bescheuert sein. „Oh, schau nur, das Klo funktioniert sogar mit Wasser, ey!“, rief sie entzückt. „Klasse!“, meinte ich nur. Dann streckte ich mich auf dem Bett aus. Es war weich und schön. Herrlich! Das erste Positive nach der Aussicht auf den großen See in diesem Urlaub. In der Tasche klingelte irgendwo ein Handy, beziehungsweise eine schrille Stimme forderte Elli auf, auf ihr Handy zu schauen. „Du hast eine Nachricht, du *******, du ********** geh endlich an dein Handy ran! ******* verdammt, jetzt mach schon, *****! Hier ist was für dich, du kleines mickriges **********...“ Ich erspar mir den Rest. „Elli, dein nettes Handy will was von dir!“ Die Klospülung ging, Elli kam aus der Tür gehüpft und kramte in der Tasche nach ihrem Handy. Als sie es aufklappte war sie ein wenig enttäuscht. „Nichts wichtiges. Die haben mich nur im Ausland begrüßt. Mir die Preise genannt und gefragt ob ich auf die neue Zeitzone umstellen möchte.“, sagte sie. „Auf die neue Zeitzone?! Wo sind wir denn hier gelandet?“, antwortete ich. „Wie ist die Zeitverschiebung denn hier?“, fragte Elli. Ich sah sie nur mit hochgezogener Braue an. Elli errötete leicht. Sie hatte begriffen. Den Blick setzte ich nur auf, wenn jemand etwas ganz dämliches sagte. „Wollen wir rüber zu Mama und Papa?“, fragte Elli um vom Thema abzulenken. Ich stöhnte. „Uäh.. Da müsste ich ja meinen dicken Hintern vom Bett heben.. “ und ächzend stand ich auf.
Mama und Papa hatten bereits all ihre Sachen aus dem Koffer in den Schrank geräumt. Wieder eine Sache, die ich nicht verstand. War es nicht einfacher alles in den Taschen zu lassen, und nur das herauszuholen, was man wirklich brauchte? So musste man doch im Prinzip zweimal packen! Viel zu umständlich, meiner Meinung nach. Aber gut, vielleicht dachte ich später auch einmal anders darüber.
Wir beschlossen vor dem Abendbrot, was Papa für 19:00Uhr eingeplant hatte an den See zu gehen um kurz ins Wasser zu springen.
Nach fünf Minuten waren wir schon am Ufer, doch noch war nicht an baden und Abkühlung zu denken, denn jeder Zentimeter war außnahmslos mit Handtüchern und halbnackten Körpern bedeckt. Während wir weiter am See entlanggingen, beobachtete ich die Menschen. Mir fiel auf, dass sie alle ziemlich braun gebrannt und verdammt schlank waren. Besonders die Frauen sahen fast alle so aus, als würde ihr Leben aus Sport, Salat und Kalorienzählen bestehen. Ich war in diesem Moment froh, dass Rob nicht mit war. Ich war zwar auch gertenschlank, insofern ich das von mir behaupten darf, aber so viel gut aussehende Konkurrenz war mir nicht geheuer. Meiner Schwester schienen die Modelmaße auch aufgefallen zu sein, denn sie schaute zerknirscht drein. Elli war ein klein wenig moppelig und hasste es. Ich kannte das nur allzu gut, es war wohl Tradition unserer Familie, in der Pubertät etwas dick zu werden.
Papa und Mama schienen die Mädchen wenig zu beeindrucken. Sie waren hingegen schon völlig von der Menschenmasse genervt, die hier in der Sonne schmorrte. Wir kamen an ein paar schönen Stellen vorbei, doch immer hatten sie etwas auszusetzen. Entweder war es zu sonnig oder zu hässlich, zu wenig Platz oder zu hügelig. Ellis Gesicht verfinsterte sich weiter. Sie hasste es lange zu laufen, besonders wenn sie lange ohne Grund laufen sollte. Und hier gab es nun mal keinen Grund, der das Weiterlaufen gerechtfertigt hätte, denn es wurde einfach nicht besser. Es schien, als hätte sich ganz Slowenien um diesen See versammelt, nur um meinen Eltern die gute Laune zu vermiesen und Elli und mich noch mehr zu reizen. Wir beschlossen irgendwann es aufzugeben unseren Eltern Stellen vorzuschlagen, ließen uns zurück fallen und trotteten ihnen hinterher. Und endlich... Nachdem unsere Laune tiefer gesunken war als unsere Lust die Flip-Flop behangen Füße zu heben, drehte sich Papa um. „Also ich glaube, dass wird hier nicht mehr besser.“ Elli und ich blieben wie auf Kommando abrupt stehen und schauten uns entgeistert an. Diese Erkenntnis kam nicht gerade zeitig. Ich schöpfte neuen Mut. „Dann bleiben wir doch einfach gleich hier!“, schlug ich hoffnungsvoll vor und deutete auf ein kleines Stückchen freien Kies. Elli nickte heftig. Mama verzog das Gesicht. Sie hatte sich noch immer nicht von Judas Priest erholt. Doch Papa setzte Gott sei Dank den Rucksack ab und fing an sich auszuziehen. Dem Himmel sei Dank!
Das Wasser war wunderbar kühl und klar. Während ich schon die ersten Schwimmzüge machte und sogar ein wenig tauchte, stand meine Schwester noch fröstelnd am Ufer, bis zu den Knien im Wasser und versuchte mit ihren verschränkten Armen ihren kleinen Bauch zu verstecken. Am liebsten hätte ich ihr zugerufen, dass sie schnell ins Wasser kommen sollte, wenn sie etwas gegen ihre Figur hatte, weil sie dann nämlich niemand mehr sehen konnte. Mir war aber klar, dass diese Bemerkung nicht gerade gut ankommen würde und so verkniff ich sie mir. Schließlich schien sie irgendwann selber auf die Idee zu kommen. Zufrieden drehte ich mich auf den Rücken, ließ mich treiben und schaute in den wolkenlosen Himmel. Dann schloss ich die Augen. Nach dem ganzen Abistress endlich Urlaub.

„Du willst so gehen?“, fragte mich Mama grob. „Ja, wieso denn nicht?“, fragte ich verblüfft und gereizt. Ich schaute an mir hinab. Kurze Hosen, ein Top und Sandalen, die aussahen wie von Römern persönlich entworfen. Ich schaute zu meiner Schwester. Sie sah nicht viel vornehmer aus. „Das ist dort unten wie ein Restaurant, ja?“, fügte Mama hinzu. „Na und?“, entgegnete ich immer noch etwas ratlos, doch mein Ton war aggressiver geworden. „Deine Haare!“, rief Mama, als hätte sie gerade einen von Maden zerfressenen Käse auf ihrem Teller gefunden. „Ja, was ist denn damit?“, fragte ich sauer. Ich hasste es wenn Jemand etwas an meinen Haaren auszusetzen hatte. Und Mama hatte das grundsätzlich immer. Sie sah aus, als hätte ihr eine der Maden eine Kusshand zugeworfen. „Na schau sie dir doch mal an!“ Widerwillig stellte ich mich vor den Spiegel. „Was denn? Sie sind etwa 10 Zentimeter lang, immer noch so schwarz wie vorher, sie stehen mir vom Kopf ab und sind total zerstrubbelt. Mama, so sehe ich immer aus und ich kann und will daran auch nichts ändern. Wann verstehst du das denn endlich?“ Jetzt war ich wirklich wütend, die Entspannung vom See wie weggeblasen. Mama klappte nur ihren Mund auf, als wollte sie etwas entgegnen, doch ihr fiel anscheinend nichts ein und sie klappte ihn wieder zu. In diesem Moment steckte Papa seinen Kopf durch die Tür. „Kommt ihr bald, wir sind nämlich schon ganz schön spät.“ Ich sah auf die Uhr. Es war 19:03Uhr. Der Speisesaal hatte seit drei Minuten geöffnet und würde bis mindestens 22:00Uhr das auch bleiben. Ich stieß ein seltsam wütendes Geräusch aus und stapfte mit meiner Schwester im Schlepptau an Mama und Papa vorbei aus dem Zimmer, ohne sie auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen.
Vor dem Speisesaal warteten wir auf unsere Eltern. Ich brodelte immer noch. Elli wusste das und sie hielt klugerweise den Mund. Wenigstens würden wir nicht die Ersten im Speisesaal sein. Das wäre ja noch das beste gewesen: Die gefräßigen Deutschen stehen Punkt 19:00Uhr allein vor dem Speisesaal und stürmen dann gierig das Buffet. Ich fand es sowieso nicht gut Deutsche zu sein. Man wurde sofort abgestempelt. Und zwar als: Fett, spießig und als Nazi. Herzlichen Glückwunsch!

Als ich meinen Teller voll Salat vor mir stehen hatte, war ich etwas besänftigter. Generell bekam ich immer gute Laune, wenn ich etwas essen konnte. Der Salat war natürlich nur die Vorspeise.
Im Speisesaal war ein Buffet aufgetischt, welches für die Vorspeise(n) und für das Dessert alles bot, was man sich vorstellen konnte. Salate, Suppen, verschiedene warme Gerichte wie Reis, Fleisch oder Kaiserschmarrn, Früchte, Kuchen, Eis, einfach alles. Der Hauptgang wurde serviert und man konnte jeden Tag das Menü für den nächsten Abend auswählen. Zwei Sachen waren mir ab diesem Moment klar: Erstens würde ich mich jeden Tag auf das Abendessen freuen wie ein Weihnachtsbaum und zweitens würde ich als Kugel nach Deutschland zurückrollen.
Ein vornehm angezogener Kellner zog mir meinen Teller unter der Nase weg, sobald ich mir das letzte Salatblatt in den Mund gestopft hatte. Verdutzt und mit vollem Mund schaute ich nach oben. Der Kellner grinste mich nur an. Instinktiv verengten sich meine Augen zu Schlitzen und ich sah ihn scherzhaft böse an. Erst im Nachhinein wurde mir bewusst, wie blöd das in Kombination mit meinen vollgestopften Backentaschen ausgesehen haben muss. Nur das Salatblatt, dass mir ein Stück aus dem Mund ragte, hätte noch zur Perfektion gefehlt. Und ich hatte mich ein paar Minuten zuvor noch über Deutsche aufgeregt. Ich war kein Stück besser!

Meine Eltern wollten nach dem Abendbrot nur noch eins: irgendwie die Treppen zu ihrem Zimmer bewältigen und dann lesen, faulenzen und dann endlich schlafen. Hauptsächlich würden sie aber etwas anderes tun: verdauen. Oder zumindest es versuchen. Ich hatte ja schon viel gegessen, aber was Mama und Papa in sich hineingeschaufelt hatten war echt famos. Ich fühlte mich wie ein vollgestopftes, schlachtreifes Spanferkel, und wollte lieber nicht wissen wie es meinen Eltern erging. Elli jammerte bereits, dass ihr schlecht sei, doch das war nicht verwunderlich, denn ihr Hauptnahrungsmittel an diesem Abend war Schokoladeneis gewesen.
Und während in den Bars vor unserem Hotel langsam Stimmung aufkam, lagen wir vier schon in unseren Betten, dämmerten im Halbschlaf vor uns hin, lauschten ein wenig den Tönen die durch die geöffneten Fenster in die Zimmer drangen und warteten bis uns die Müdigkeit endlich übermannte.


2. Tag


7.30Uhr klingelte der Wecker von Ellis Handy. Diesmal ging keine Schimpfkampagne über uns nieder, sondern „Everybody was KongFu fighting“. Eindeutig viel zu viel Gute Laune am frühen Morgen! Meine Schwester sprang sofort aus ihrem Bett und während sie mit ihrem Hintern im Takt wackelte und keine Anstalten machte den Wecker abzuschalten, riss sie die Vorhänge samt Fenster auf und atmete tief ein. „Hach...“, seufzte sie zufrieden, drehte sich dann zu mir um und sah mich grinsend an. „Guten Morgen!“ Meine Antwort war nur ein heiseres Brummen. Ich zog mir die Decke bis zum Kinn und drehte mich auf die andere Seite. „Ey! Aufstehen!“, rief meine Schwester und begann mir die Bettdecke wegzuziehen. Ich ließ sie los und wurde vollständig aufgedeckt. „Kann man dich irgendwie ausschalten?“, fragte ich zerknittert. Elli grinste immer noch. „Gut schaust du aus!“ Ich sah sie nur finster an. Dann stand ich langsam auf und schlurfte ins Badezimmer. Meine Haare standen mir senkrecht vom Kopf ab, meine Augen waren verquollen und auf meiner Nase prangte einer neuer roter Pickel. Angewidert stöhnte ich auf. Das war nun wirklich zu viel für 7:30Uhr. Ich quetschte meinen Pickel aus, überschminkte ihn und wuschelte mir dann durch die Haare, bis sie so unordentlich waren, dass sie mir gefielen. Mama wusste ja nicht was gut aussah. Ich konnte mir schon jetzt ihren missbilligenden Blick vorstellen.
Genau dieser Blick lag eine halbe Stunde später auf mir, als Mama mir beim Frühstück gegenüber saß. Doch nicht nur ihr Blick lag auf mir, sondern wie ich bemerkte auch der des Kellners, vor dem ich mich den Abend zuvor zum Deppen gemacht hatte. Um diesen Eindruck wieder wett zu machen, lächelte ich ihn an. Nicht nur das, ich gab ihm sogar mein schönstes Lächeln, sofern das mit meinen verquollenen Augen möglich war. Nach einer heißen Tasse Cappuchino schienen die Tränensäcke aber auch abzuschwellen und nach dem ersten Bissen in ein Käsebrötchen besserte sich sogar meine Laune und ich hatte die Morgenmuffelphase endgültig überstanden.
Papa sah auf die Uhr und rümpfte die Nase. Wahrscheinlich hatte ich gerade 32 Sekunden zu spät begonnen Joghurt in mich hineinzuschaufeln. „Was ist heut der Plan?“, fragte ich mit vollen Mund, wobei ich die Hälfte des Joghurts über den Tisch sprühte. „Oh, Tschuldigung“, sabberte ich weiter, während ich gleichzeitig versuchte mir den Joghurtschleim vom Kinn zu wischen. Mama starrte mich angewidert an. Irgendwie war heute nicht mein Tag. „Ich dachte, wir könnten uns heute einen Wasserfall ansehen. Ist eine kleine Wanderung. Später könnten wir baden gehen. Was haltet ihr davon?“, sagte Papa und ignorierte gnädigerweise mein Essverhalten, was heute morgen dem eines zahnlosen Pavians glich. Ich nickte. Selbst wenn ich den Kopf geschüttelte hätte, wären wir zu dem Wasserfall gegangen. Nur, dann hätten wir alle schlechte Laune gehabt und ich hätte in ewigen Diskussionen klein beigeben müssen. Papas Vorschläge mussten immer ohne zu zögern angenommen werden. Oberstes Gebot, wenn man den Urlaub mit möglichst wenig Ärger über die Runden bringen wollte. Diese Einstellung hatte zur Folge, dass ich eigentlich nie darüber nachdachte ob ich auf irgendetwas Lust hatte, oder nicht. Elli hatte anscheinend ähnlich Ansichten und hielt erstaunlicherweise auch einmal den Mund. Mama sagte sowieso nichts mehr. Ich wollte lieber nicht wissen, was nachts in Mamas und Papas Zimmer los gewesen war, denn Mama hatte noch nicht einmal was zu meinen Haaren gesagt. Die einzigen Wörter die ich heute von ihr gehört hatte waren: „Bring Butter mit.“ Und das waren für meine kalorienzählende, figurbewusste Mutter wirklich bedenkliche Worte.
36 Minuten später stapften wir in unseren klobigen Wanderschuhen die Straße entlang, die vom Hotel in den Nachbarort führte. Die Sonne brannte schon jetzt ordentlich vom Himmel und keine einzige Wolke trübte diese verlockende Aussicht. Deutschland war weit weg, kilometerhohe Berge vor uns und heute Nachmittag würden wir baden gehen. Ich liebe Urlaub!

2 Stunden später:
Ich hasse Urlaub! Keuchend und puterrot im Gesicht quälte ich mich den Weg nach oben. Die Sonne knallte auf uns herunter, ich bewunderte die Berge nicht mehr, sondern verfluchte sie. Zentimeter um Zentimeter krochen wir über die Almwiese. Unsere Sachen klebten uns am Körper fest und wir überlegten ernsthaft ob wir mit unserem Schweiß die Wasservorräte wieder auffüllen sollten. Mama hatte immer noch nichts gesagt, vielleicht war sie schon so ausgedörrt, dass sich ihre Zunge in einen dicken fussligen Filzpantoffel verwandelt hatte. Das schlimmste an der Sache war allerdings, dass der Wasserfall noch immer nicht in Sicht- oder Hörweite war. Elli ließ ihre Wut auf Papas hirnrissigen Vorschlag an den Wiesenblumen aus. Aufgebracht vor sich hinbrabbelnd riss sie alles aus was ihr in den Weg kam. Nur Papa schien unsere missmutige Laune nicht zu bemerken und forderte uns alle fünf Sekunden auf, die Umgebung zu betrachten. Doch das einzige was ich noch von der Umgebung aufnahm war: Kein Wasserfall.
Irgendwann stöhnte Elli entnervt auf: „Wie weit ist es denn noch?“ „Wir müssten gleich da sein.“, meinte Papa. „Das glaubst du doch nicht ehrlich! Wir stehen in mitten einer Almwiese. Der Wasserfall kann frühestens dort hinten im Wald sein und bis dahin sind es garantiert noch an die 20.000 Kilometer.“, sagte ich vielleicht etwas zu gereizt. Papa sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Jetzt seid nicht so zimperlich. Ihr seid doch keine Memmen, oder?“, meinte er nach kurzer Zeit. Dieser Spruch hatte vielleicht gezogen als wir noch in die Grundschule gingen, als wir ihm unbedingt beweisen mussten, dass wir seine „tapferen Mädchen“ waren. Aber weder Elli noch mich beeindruckte dieser Satz heute. Wir entschieden uns dafür Papa matt anzulächeln und einfach weiter zu laufen. Schleichen. Schlurfen. Vielleicht trifft es das Wort „fortbewegen“ am besten von allen. Denn was auch immer es war, als „Laufen“ möchte ich es nicht mehr unbedingt bezeichnen. Und nach einer halben Stunde stellte ich fest, dass ich mich mit der Entfernung maßlos überschätzt hatte. Nach einer halben Stunde schon, traten wir in den Schatten der 20.000 Kilometer entfernten Bäume. Juhu! In der Kühle ging es einem gleich viel besser. Ich denke während auf der Wiese ca. 43°C geherrscht haben, waren es hier nur noch 38°C. Eigentlich liebte ich Hitze und war eine Frostbeule hoch fünf, aber selbst ich wünschte mir in diesem Moment nichts lieber als irgendwo in Norwegen mit einem Eis in der Hand auf einem Berg zu sitzen und Schneefelder zu betrachten. „Ich will nach Norwegen.“, schnaufte ich. Elli ließ sich auf eine Wurzel am Wegesrand fallen und machte dabei Geräusche, die sich furchtbar eklig anhörten und mich an Todesröcheln und Kettenrasseln erinnerten. „Na, nächstes Jahr können wir ja nach Norwegen. Wir müssen sowieso noch planen, wo wir nächstes Jahr hinwollen.“, sagte Papa und bei dem Wort „planen“ leuchteten seine Augen gefährlich auf. Es war jedes Jahr das Gleiche: Papa startete IM URLAUB die Planungen für den nächsten Urlaub. Irgendwie fand ich das Ironisch. Aber mir sollte das dieses Mal gleich sein. Nächstes Jahr würde ich garantiert nicht mehr mitkommen. Ich ließ mich auf die Wurzel neben Elli fallen, wobei ich sie mit meinem dicken Hintern fast von ihrem Platz kickte. Doch Elli war so erschöpft, dass sie mich noch nicht einmal böse ansah. Dann öffnete Papa die letzte Wasserflasche. Ich hätte ihn dafür abknutschen können, doch im Moment konnte ich mich nicht dazu überwinden meinen Hintern wieder zu erheben. Ich streckte nur noch meine Hand aus, nahm die Flasche ehrfürchtig und setzte sie an meine Lippen. Wasser! Leckeres, kühles und vor allem flüssiges Wasser. Wasser! WASSER!!! Es war lauwarm und das widerlichste Wasser, was ich je getrunken habe, aber in diesem Moment hätte ich drei Kanister ohne zu zögern geleert. Das einzige Problem an der Sache war, dass ich mir nicht mehr als drei Schlucke erlauben durfte, die anderen wollten schließlich auch noch und es musste für den ganzen Weg zurück reichen. Nach gefühlten 3 Sekunden Pause standen wir also wieder auf und liefen weiter. Nach weiteren 5 Sekunden hielt Papa an. „Schaut euch doch mal diese Bäume an!“ Ich blickte von meinen Schuhen auf und sah sie an. Es waren ganz normale Bäume. Ich beschloss bei Papas „Schaut euch doch mal...“ -Sätzen nie wieder aufzusehen. Das verbrauchte viel zu viel Energie. Außerdem war mir heute schon eine Überdosis dieser Sätze verabreicht worden: „Schaut euch doch mal diese Berge an!“ „Schaut euch doch mal diese Wiese an!“ „Schaut euch doch mal diese herrliche Aussicht an!“ „Schaut euch doch mal den Fluss hier an!“, ich hoffe es nimmt mir niemand übel, dass ich es bei diesen Sätzen belasse und nicht das gesammelte „Schaut euch doch mal“-Werk Papas aufschreibe. Als ich gerade wieder meinen Blick auf den Boden richten wollte, sah ich jedoch etwas, was mein Herz schneller schlagen ließ: Ein Schild. Ich beschleunigte meine Schritte. 10 Minuten bis zum Wasserfall und 5 Minuten bis zu irgendeiner Gaststätte. Jedenfalls nahm ich das an, Slowenisch konnte ich nicht, aber irgendwie ähnelte diese Sprache so vielen anderen, dass ich mir vieles zusammenreimen konnte.
Nach einer Viertelstunde waren wir dann an der Gaststätte vorbei. Und nach einer halben Stunde standen wir vor dem Wasserfall. Ich gebe zu, ich hatte mindestens so etwas Großes wie die Niagarafälle erwartet. Dann hätten sich die Strapazen hier hoch vielleicht sogar gelohnt. Jetzt starrte ich skeptisch auf das kleine Rinnsal Wasser, was dort aus vielleicht drei Metern in die Tiefe plätscherte. Waaahnsinn.. Papa jedoch war völlig aus dem Häuschen. Vor lauter Aufregung und dem unbändigen Drang Fotos von diesem fallenden Bächlein zu schießen, wäre er fast selber abgestürzt. Zugegeben wäre das wahrscheinlich eine größere Attraktion als dieser mickrige Wasserfall gewesen, aber das konnte ich nicht zulassen, denn Papa trug die Wasserflasche auf seinem Rücken. Gelangweilt stütze ich mich auf das Geländer und starrte in das Wasser. „Klatsch!“, etwas hatte ziemlich heftig auf die Rückseite meines linken Oberschenkels geschlagen. „Au!“, rief ich. „Nicht bewegen.“ Das war Mamas Stimme. Die ersten Worte nach „Bring Butter mit!“, ich war so erstaunt, dass ich wirklich still hielt. Es war beruhigend zu wissen, dass Mama doch keinen Filzpantoffel im Mund hatte. „Klatsch!“, der andere Oberschenkel. Diesmal tat es wirklich weh. „Au!!“, schrie ich. Was sollte das werden? „Was zum Teufel machst du da?“, fragte ich und drehte mich um, gerade noch rechtzeitig um zu sehen wie Mama erneut ausholte. Rasch wich ihr aus. „Bremsen.“, sagte Mama nur. Jetzt war ich an der Reihe Mama zu schlagen. Eigentlich hasse ich es Tiere zu töten, aber wenn Mama jetzt gestochen wurde, dann hatte sie furchtbar schlechte Laune und wer Bremsen kennt, der weiß, dass sie sich nicht verscheuchen lassen, sondern hartnäckig ihr Opfer verfolgen, bis sie ihnen das Blut aussaugen können. Ich schlug glücklicherweise daneben. Das war gut, weil ich kein schlechtes Gewissen wegen der Bremse hatte und Mama dachte ich wollte ihr im Vernichtungskampf gegen die Bremsen helfen. Und schon wieder musste ich mir vorstellen, wie wir von außen aussehen mussten: Papa völlig fasziniert von so einem bisschen Wasser, was irgendwo herunterfällt, kraxelte über Steine um das absolut beste Foto von diesem Rinnsal zu schießen und beachtete seine Familie kein bisschen. Und diese Familie, bestehend aus drei mehr oder weniger erwachsenen und hysterischen Frauen, hält sich wacker im Kampf gegen Bremsen. Besser gesagt schlugen wir wie die Bekloppten um uns, Elli und Mama mit der Absicht so viele wie möglich von den Insekten zu töten, ich darauf bedacht möglichst keine zu treffen, aber trotzdem authentisch zu wirken. Es kamen ein paar andere Touristen vorbei, die uns belustigt anstarrten. Sie hatten anscheinend nicht viel über gutes Benehmen gelernt, denn sie glotzten unverhohlen auf uns. Ich fand so etwas unmöglich, also blieb ich stocksteif und schaute sie ebenfalls unübersehbar und mit offenen Mund an. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie merkten, was ich wollte. Ihre Gesichter wurden ärgerlich und als ich zu allen Überfluss noch so tat als würde ich popeln, während ich sie konsequent anstarrte, wandten sie sich endgültig ab. „Autsch!“, das war Mamas Hand auf meinem Hinterkopf. „Sag mal, schämst du dich denn nicht?! Du spinnst wohl! Was machst du denn da?“ Wütend rieb ich mir meinen Hinterkopf. „Ich habe sie davon abgebracht, dass sie uns weiter anglotzen, als wären wir Affen im Zoo!“ Mama sah mich zornig an. „Geh hin und entschuldige dich!“, schnaubte sie. „Was soll ich? Du spinnst wohl! Einen Scheiß werde ich!“, rief ich empört. „Wie redest du denn mit mir?“ „Ich rede so wie ich es in diesem Moment für angebracht halte. Ich bin doch nicht bescheuert und entschuldige mich bei denen. Mama, ich bin Achtzehn. Du kannst mir nichts mehr sagen. Und ich werde mich garantiert nicht bei den Leuten entschuldigen. Basta.“ So. Jetzt war es raus. Ich überlegte, ob ich noch etwas hinzufügen sollte, doch beschloss, dass es vielleicht doch besser war, einfach meinen Mund zu halten. Schnaufend ließ ich mich auf einen Stein fallen und starrte auf meine staubigen Wanderschuhe. Ich hätte jetzt gerne eine SMS an Rob geschrieben, aber mein Handy lag seelenruhig im Hotel auf meinem Nachttisch. Unwillkürlich musste ich daran denken, dass ich jetzt mit Rob Zuhause im Garten liegen könnte, während abwechselnd die Sonne und er meinen Bauchnabel küssen würden. Doch stattdessen saß ich verschwitzt und einsam auf diesem blöden Stein, mit meiner Familie vor der Nase, bei der ich es mir wahrscheinlich endgültig verschissen hatte. Und es gab da etwas, was meine Situation noch verschlimmerte: Wir befanden uns hoch oben in den Bergen und es gab nichts wohin ich flüchten konnte. Und außerdem dauerte der Urlaub noch zwei Wochen. Erst dann würde ich Rob wiedersehen. „Tania, jetzt komm endlich.“, rief Mama energisch. Ohne aufzusehen erhob ich mich und schlurfte meiner Familie hinterher. Ich hatte absolut keine Lust den gesamten Weg wieder zurückzulaufen. Mama würde so tun als wäre nichts gewesen, besser gesagt würde sie es mit keinem Wort mehr kommentieren, aber an der Art wie sie mit mir sprechen würde, mit diesem kalten Missgefallen in der Stimme würde sie mir zu verstehen geben, dass ich Mist gebaut hatte. Das war jedes Mal so wenn wir uns in den Haaren hatten. Wieder musste ich wehleidig an Rob denken und wünschte mir sehnlichst mein Handy. Und während ich mir so die schönsten Situationen ausdachte und über unsere Beziehung grübelte, machte ich eine erstaunliche Entdeckung: Wenn man intensiv nachdachte, und zwar nicht darüber wie lange man noch laufen würde, verging die Zeit um einiges schneller. Ich beschloss gar nicht mehr mit dem träumen aufzuhören bis wir wieder unten waren. Ungefähr zwei Stunden ging der Plan auf. Dann lief Elli so langsam, dass sie irgendwann neben mir stand. „Taaaniaaa?“, fragte sie mit äußerst nerviger Stimme, die gerade überhaupt nicht in mein Traumkonzept passte. „Mir ist laaangweilig!!“, fuhr sie erbarmungslos fort. „Was machst du denn hier hinten?“,fragte sie. „Wonach sieht es denn aus?“, brummte ich zurück. „Nach schmollen.“, kam sofort von Elli. „Ich schmolle nicht!“, schmollte ich. Elli sah mich grinsend an. „Schon klar. Du musst hier nicht cool tun. Du kannst das ruhig zugeben. Wir alle stehen hier zu unseren Behinderungen.“ Die dumme Kuh. Ich konnte mir mein Lachen jetzt wirklich nicht mehr verkneifen. Und nichts ist schlimmer als Lachen zu müssen, wenn man es eigentlich gar nicht will. „Du bist doch doof..“, sagte ich und beschleunigte meine Schritte. Das hatte jedoch zur Folge, dass Papa und Mama immer näher kamen und ich ließ das schneller laufen deshalb wieder bleiben. „Nerven die dich denn überhaupt nicht?“, fragte ich Elli. „Klar. Immer. Permanent. Schon vergessen? Pubertät ist die Zeit in der die Eltern beginnen schwierig zu werden.“, meinte sie. „Sehr witzig.“ Mir war gerade nicht nach Scherzen zu Mute. „Sind wir bald da?“, fragte ich. Elli nickte. „Wird aber auch Zeit. Wir laufen ja schon seit Ewigkeiten. Wenn das bei Papa eine „kleine Wanderung“ ist, dann möchte ich nicht wissen, wie bei ihm eine Große ist. Und ich will es nicht nur nicht wissen, sondern ich habe verdammte Angst davor. Scheiß wandern. Ich kann nicht verstehen, was die ganzen Leute daran finden.“ Das konnte ich auch nicht. Elli klebte jedenfalls für den Rest der Wanderung an mir wie eine Klette und wir unterhielten uns über alles mögliche, hauptsächlich aber über Ellis Lieblingsthema: Computerspiele. Das einzige Problem war hierbei nur, dass ich dafür null Interesse zeigen und auch nichts erzählen konnte. Also redete Elli die ganze Zeit und ich lief schweigend nebenher. Ob ich zugehört habe oder nicht, kann ich leider nicht mehr sagen. Jedenfalls habe ich absolut keine Erinnerungen mehr an das Gespräch.
Als die Kühle in der Empfangshalle uns umfing, konnte ich mein Glück kaum fassen. Die Wanderung, oder der „Horrortrip“, wie meine Schwester sie liebevoll nannte, war vorbei. Wir waren wieder zurück. Dort wo es eine Dusche gab. Ein Klo. Endlich ein Klo. Und ein Handy mit dem man Rob erreichen konnte.
Oben auf unserem Zimmer prügelten Elli und ich uns erst einmal um das Klo. Ich gewann und Elli musste mit überkreuzten Beinen vor der Tür warten. Ich überlegte kurz, ob ich mir vielleicht extra viel Zeit lassen sollte, dachte mir dann aber doch, dass das vielleicht etwas zu fies wäre. Also beeilte ich mich widerwillig und ließ dann die gequält aussehende Elli zum Klo. Ich ging zu meinem Bett und nahm mein Handy vom Nachttisch.

Hey Rob, das Land ist toll, das
Hotel super. Familie nervt. Wäre
lieber bei dir. Vermisse dich. Wie geht
es dir, ist mein Grab schon fertig?
Ich liebe dich.
P.S.: Ich werd ganz dick zurückkommen
wegen dem vielen Essen :)

Senden. Endlich senden. Das Signal als er meine SMS empfangen hatte, war wie eine Erlösung. Ich ließ mich auf das Bett fallen und starrte erwartungsvoll auf den Display meines Mobiltelefons. Nichts. „Komm schon, rette mich... schreib mir!“, knurrte ich es an. Nichts. Elli kam aus der Tür. Und das war erst der zweite Tag. Wie sollte ich das überstehen? Nichts. Elli starrte mich an. „Wartest du auf was von Rob?“, fragte sie. Ich nickte. „Tja, Tanni, der wird dich bestimmt sitzen gelassen haben. Hat sich bestimmt schon eine andere gesucht.“, meinte sie böse grinsend. „Elli, du bist total blöd. So ein Quatsch. Warum sollte Rob so etwas machen?“ „Ganz einfach: Er ist ein Mann.“ Ich rollte nur mit meinen Augen und starrte dann wieder auf mein Handy. Nichts.
19:05Uhr saßen wir noch mit nassen Haaren an unserem Tisch im Speisesaal. Wir waren im See baden gewesen und hatten sogar recht schnell einen Platz gefunden, da Mama und Papa anscheinend endgültig ihre Ansprüche an Badestellen heruntergeschraubt hatten. Wir hatten zwar nicht viel miteinander geredet, aber es war doch eine schöne Beschäftigung gewesen um die Zeit bis exakt 19Uhr zu füllen. Und jetzt saßen wir am Tisch und schaufelten Salat in uns hinein. Heute gab es am Buffet etwas neues: gebackene Bananen. Ich hatte mir eine genommen und war recht gespannt. Vorsichtig piekste ich das schlabbrige Etwas mit der Gabel auf und knabberte daran. Das Erste was ich schmeckte war: Fett. Diese Banane war das fettigste, was ich je gegessen hatte. Abgesehen von dem Fett schmeckte sie nach warmer Banane mit irgendeiner knusprigen Hülle, die sich so mit Fett vollgesogen hatte, dass sie nach nichts anderem mehr schmeckte. Tapfer aß ich das Ding auf und war dankbar dafür, nicht noch mehr genommen zu haben. Während ich mir mit der Serviette die glänzenden Lippen abwischte, spürte ich schon wieder den Blick des Kellners auf mir ruhen. Ich beugte mich zur Seite und flüsterte Elli ins Ohr. „Der Kellner da neben der Säule. Der starrt mich die ganze Zeit an. Aber jetzt nicht hingucken!“ Natürlich schaute Elli sofort und alles andere als unauffällig zu dem Kellner. Ich sah auch hin, ich konnte nicht anders. Und tatsächlich blickte er zu uns und senkte schleunigst den Kopf, als er bemerkte, dass wir es wussten. Hastig lief er zu einem Tisch und räumte schmutziges Geschirr ab. Ein Hauch rot erschien auf seinen Wangen. Elli kicherte. „Na ist doch ganz süß, findest du nicht?“ Ich musterte ihn so unauffällig wie möglich. Ganz süß sah er schon aus. „Nein?!? Der ist nicht süß. Der ist noch nicht einmal hübsch!“, rief ich empört und so leise ich konnte. Elli lachte nur.
Am Abend wollten meine Eltern wieder bloß lesen, doch mir war dafür ehrlich gesagt die Zeit zu schade. Schließlich war ich nicht jeden Tag in Slowenien und lesen konnte ich auch Zuhause. Ich schnappte mir Elli und wir gingen zusammen vor das Hotel. Auf einer Brücke blieben wir stehen und schauten schweigend in das Wasser unter uns. Nichts. Rob hatte mir immer noch nicht geschrieben. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Ich fragte mich, wie das nur werden sollte, wenn ich in 2 Monaten mein Auslandsjahr in Irland anfing. Ich würde ja sterben vor Sehnsucht! „Ich hab Hunger.“, sagte Elli und riss mich aus meinen etwas trübsinnigen Gedanken. „Was?“, fragte ich ungläubig. „Ich habe Hunger!“, wiederholte Elli so laut und deutlich wie möglich. „Ja, ich hab schon verstanden, aber warum hast du Hunger? Wir hatten doch gerade ein übelstes Abendbrot!“ Elli grummelte etwas von „Wachstum“ und „dann halt nicht“. Ich lachte. „Vielfraß! Was ist, du willst doch ein Eis oder? Du hast keinen Hunger, du willst nur ein Eis, stimmts? Ich kenn dich doch!“ Elli grinste etwas verlegen und kratzte sich am Kopf. „Ich...“, sagte sie, doch mehr fiel ihr dazu nicht ein. „Na komm, wir holen uns eins.“, sagte ich lächelnd und 5 Minuten später standen wir mit einer Eistüte am See. Das Eis war zwar wirklich teuer, aber es schmeckte wahnsinnig gut. Ich beschloss später einmal ein Eiscafé mit genau solchem Eis in Deutschland zu eröffnen. Wir zogen unsere Schuhe aus, setzten uns auf ein paar Steine am Ufer und schauten mit den Füßen im Wasser planschend und Eis essend in den Sternenhimmel.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 11.10.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /