Alle Jahre wieder
„Mama, wann backen wir Plätzchen?“ Meine beiden Töchter guckten mich mit großen Kulleraugen erwartungsvoll an. Ich seufzte innerlich. Ist es schon wieder so weit? „Morgen ist Sonnabend, da können wir vormittags backen“, sagte ich mit einem müden Lächeln im Gesicht. Eigentlich wollte ich Fenster putzen und Gardinen waschen, damit ich die Fenster weihnachtlich schmücken kann. Das werde ich nun verschieben müssen. Ich backe überhaupt nicht gern. Meine Kuchen schmecken zwar, wie mir zu Familienfeiern immer brav versichert wird. Trotzdem ist Backen für mich ein Graus. Erst das Suchen der Zutaten, von denen bestimmt wieder eine fehlt, dann die laufende Inspektion des Ofens, damit der Kuchen nicht verbrennt. Zum Schluss gibt es noch Abwasch ohne Ende. Und am nächsten Tag würde ich zu all dem noch zwei kleine Helferinnen haben! Aber Plätzchenbacken gehört nun einmal zur Adventszeit wie der Bart zum Weihnachtsmann. Da ich Anna und Maria nicht enttäuschen will und außerdem als „gute Mutter“ gelten möchte, wird morgen gebacken! Mit ihren drei und sechs Jahren sind die beiden immer sehr eifrig bei der Sache, so lange, bis sie keine Lust mehr haben. Das ist meistens, wenn sich Plätzchen über Plätzchen in unserer winzigen Sechs- Quadratmeter- Küche türmen und das Chaos perfekt ist. Dann muss ich sehen, wie ich fertig werde. Meine Nerven liegen nach einem Vormittag Plätzchenbacken meistens blank. Als ich das erste Mal mit Maria Plätzchen gebacken habe, knetete ich mit ihr gemeinsam den Teig. Diesen Fehler begehe ich kein zweites Mal! Das Kind sah wie ein Schneemann aus und klebte überall. Auch die Küche brauchte eine Generalreinigung. Heute bin ich schlauer. Ich knete den Teig am Abend zuvor, heimlich, hinter verschlossener Küchentür. So kann es am nächsten Morgen gleich losgehen und meine kostbaren Nerven werden noch eine Weile geschont. Ich liege auf einer Wiese. Sie riecht nach saftigem, grünem Gras. Insekten summen an meinem Ohr. Die Sonne blendet mir in die Augen und Grashalme kitzeln mein Gesicht. Ein großer Käfer läuft mir den Arm hoch. Ich schrecke hoch. „Maamaa!“ wispert es. „Aufwachen. Wir wollen doch heute backen!“ Maria und Anna stehen mit ihren Taschenlampen an meinem Bett und blenden mich. Die Vorfreude auf den abwechslungsreichen Tag lässt sie von einem Bein aufs andere hüpfen. Ein Blick auf den Wecker bestätigt meine schlimmsten Befürchtungen. Es ist kurz vor sechs Uhr! Ich würde mich so gern noch ein paar Minuten im warmen, gemütlichen Bett räkeln. Doch kleine Kinder sind unerbittlich. Der Papa ist schließlich auch schon zur Arbeit, was soll Mama da noch im Bett liegen? Ich halte mein Versprechen und stolpere mit müden Augen ins Bad. Viel kaltes Wasser im Gesicht bewirkt, dass ich bei einem Blick in den Spiegel nicht zu sehr erschrecke. Nach einem schnellen Frühstück beginnen wir mit der Bäckerei. Ich atme noch einmal tief durch, um alle positiven Kräfte zu aktivieren. Die Mehltüte zum Bestreuen der Arbeitsfläche erregt bei Anna großes Interesse. „I c h will!“ verkündet sie fröhlich. Na dann, Augen zu und durch! Beim Teigausrollen tritt das erste Problem auf. In unserem Haushalt gibt es nur ein Nudelholz, aber zwei Kinder. „Ich will den Teig ausrollen!“ ruft Maria. „Ich kann das, ich hab` das schon mal gemacht!“ Schnell schnappt sie Anna das Nudelholz vor der Nase weg. Anna schreit enttäuscht auf. „Ich will auch mal!“ Die Zerreißprobe beginnt. Ich schließe kurz die Augen und finde dann mit ihr einen Kompromiss. Maria darf als Erste den Teig ausrollen, dafür darf sich Anna eine Ausstechform aussuchen. Maria mault. „Immer darf die sich ein Förmchen aussuchen. Ich krieg wieder keins!“ Es ist ja nicht so, dass wir keine hätten. Ein Beutel voller Ausstechformen mit den unterschiedlichsten Motiven liegt bereit. Der Kreativität sind also keine Grenzen gesetzt. „Maria“, sage ich, „wir haben doch so viele. Natürlich darfst du auch mit ausstechen! Aber davor musst du den Teig ausrollen.“ Nachdem die Wogen vorerst geglättet sind, atme ich auf. Ich stimme das heitere Lied von Rolf Zuckowski an: „In der Weihnachtsbäckerei gibt es manche Leckerei. Zwischen Mehl und Milch macht so mancher Knilch eine riesengroße Kleckerei…“ Herr Zuckowski spricht vermutlich aus Erfahrung. Die Mehltüte stürzt ab. Ich kann mich gerade noch davon abhalten loszubrüllen. Das macht man nicht, und schon gar nicht in der besinnlichen Vorweihnachtszeit. Erstmal schicke ich die beiden ins Bad, Hände waschen und „entmehlen“. Die Küche erfährt in der Zeit eine Grobreinigung. Betreten kommen Maria und Anna zurück. Ich lächle versöhnlich. Wir schauen gemeinsam in den Backofen. In der Küche duftet es verführerisch nach Zimt und süßen Leckereien. Das erste Blech mit Plätzchen ist fertig. „Juhu! Mama, darf ich gleich was draufmachen?“ Maria ist ganz aufgeregt. Für sie ist das Verzieren das Schönste am Plätzchenbacken. Da kann sie nebenbei naschen. Ich stecke die Schokoglasur ins Wasserbad und hole die bunten Streusel aus dem Schrank. Anna gefallen sie so gut, dass sie die Verpackung kräftig schüttelt. Viele kleine bunte Perlen kullern über den Tisch auf den Fußboden. Jetzt ist mir alles egal. Ich will nur noch fertig werden mit Backen und die Küche wieder in einen ordentlichen Zustand versetzen. „Mama, was gibt es heute zum Mittag?“ Auch das noch! Es ist schon halb zwölf, der Papa müsste bald von der Arbeit kommen. Jedes Jahr kurz vor Weihnachten sind so viele Aufträge zu erledigen, dass er auch samstags bis Mittag arbeiten muss. Wenn er dann heimkommt, hat er natürlich Hunger. Und in unserer Küche ist das Plätzchenbacken noch in vollem Gange, von einem herzhaften Mittagessen sind wir meilenweit entfernt. „Ich schäle erstmal Kartoffeln, stecht ihr noch ein bisschen Teig aus.“ Wie durch ein Wunder finde ich noch einen freien Platz für den Topf. „Autsch!“ Fast fertig mit Kartoffelschälen, schneide ich mir doch noch in den Finger. Sofort lasse ich kaltes Wasser über die Wunde laufen, aber der Schnitt ist tief und es blutet stark. „Ich hole dir ein Pflaster, Mama!“ Maria saust hilfsbereit ins Bad und kommt mit einer großen Packung Verbandszeug zurück. „Danke, mein Schatz, das ist ganz lieb von dir.“ Gemeinsam verbinden wir den lädierten Finger. Anna schaut ehrfürchtig zu, wie sich das Pflaster rötlich verfärbt. „Ich lege mich mal ganz kurz auf die Couch.“ Beim Anblick des vielen Blutes war es mir etwas schwummerig geworden. Ich schleiche in die Stube. Ah, liegen tut gut! Das schlechte Gewissen meinen Kindern gegenüber hält sich in Grenzen. Gerade, als ich mich der Vorgänge in der Küche mit einer leichten Ohnmacht entziehen will, ruft Maria: „Mama, die Plätzchen sind schon ganz dunkelbraun!“ Ich schnelle in die Höhe und stürze zum Herd. Der schmerzende Finger und das Unwohlsein sind vergessen. Herd aus, Blech raus- Gott sei Dank, die Plätzchen sind gerettet! Anna ist es langweilig. Lustlos knetet sie Teigreste in ihren Händchen und verklebt diese dann auf dem Tisch. Noch Plätzchen verzieren? Nein, sie hat den ganzen Vormittag gebacken! Und flink wie ein Wiesel ist sie fort. „Aber wasche dir erst noch die Hände!“, rufe ich ihr hinterher. „Tut dein Finger noch schlimm weh?“, will Maria wissen. „Nein, es geht“, beruhige ich sie. „Weißt du, Mama, ich gehe jetzt auch lieber spielen.“ Husch, auch Kind Nummer Zwei verdrückt sich. Ich atme tief durch. Endlich allein. Keinen Streit mehr schlichten müssen und so tun, als wäre Backen meine allerliebste Lieblingsbeschäftigung. Ich habe noch eine Menge Arbeit, langweilig wird mir in den nächsten Stunden nicht. Aber nach und nach werde ich das schaffen. Meine Gedanken gehen auf Wanderschaft. Warum, um alles in der Welt, tue ich mir das jedes Jahr wieder an? Einmal im Jahr organisiertes Chaos in der kleinen Küche, angezettelt durch die Kinder. Wollen sie prüfen, wie viel ich aushalten kann? Die Wohnungstür geht auf. „Papa, Papa!“, ruft es wie aus einem Mund. Zwei glückliche Mädchen sausen ihrem Papa in die Arme. „Wir haben heute mit Mama gebacken!“, informieren sie ihn stolz. Ihre Augen leuchten wie der Herrnhuter Weihnachtsstern in unserer Stube. „Ja, das habe ich schon geahnt. Bei uns riecht es jetzt richtig weihnachtlich!“ Er kommt in die Küche, gibt mir einen Kuss und stibitzt sich ein Plätzchen. „Hm. Lecker!“ Anna und Maria strahlen ihn begeistert an. Auf einmal wird es mir klar. Deshalb tue ich mir das einmal im Jahr an. Plätzchenbacken gehört nun mal zum Advent wie der Bart zum Weihnachtsmann.
Tag der Veröffentlichung: 01.02.2009
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