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Kapitel 1

Der Bus war voll. Estera musste stehen bleiben und konnte sich nur mit Mühe irgendwo festhalten. Aber das war nötig, denn der Busfahrer fuhr scharf in die Kurven und schien eine besondere Vorliebe darin zu haben schnell an Ampeln heranzufahren um dann abrupt abzubremsen.

Wie nervig.

Außerdem war es heiß. Schwitzende Menschen standen dicht gedrängt um sie herum und sie fing an sich zu ekeln.

Von dem Geruch und der Hitze wurde ihr schlecht. Estera konnte nur hoffen, dass das ihr Kreislauf mitmachte.

Auf den Weg ins Schulgebäude fühlte sie sich so schlecht, dass sie befürchtete nicht mal die ersten Stunden zu überstehen. Und tatsächlich sollte sie damit Recht behalten, wenn auch in einer anderen Hinsicht als sie glaubte.

Das Gefühl kaum Luft zu bekommen machte sich in ihr breit und in ihren Ohren breitete sich ein Rauschen aus. Aber bevor es schlimmer wurde hatte sie schon ihren Platz erreicht und setzte sich hin. Estera beachtete ihre Klassenkameraden nicht, die teils herumsaßen oder standen und sich unterhielten.

Sie schwitzte.

Angestrengt wühlte sie in ihrer Tasche nach einer Wasserflasche und trank einige Schluck, es war eine Überwindung, weil ihr immer noch übel war.

Niko grüßte sie und lächelte dabei einnehmend. Sie nickte ihm zu.

„Manche Leute sollten ab und zu mal zur Deoflasche greifen.“, kam es plötzlich spöttisch von links.

Müde blickte sie hoch, direkt in das Gesicht von Sarah. Ihr frisches Aussehen empörte sie beinahe. Ihr Gesicht glänzte nicht, ihre Haare wallten luftig über ihre schmalen Schultern und ihre Augen glitzerten wach.

Um ihren Mund spielte ein höhnisches und irgendwie herausforderndes Lächeln.

Und das galt Estera.

Seit sie ihr vor einigen Wochen bei einem Schulausflug ihre Meinung gesagt hatte, stichelt Sara sie bei jeder ihr sich bietenden Gelegenheit. Also gut, sie musste zugeben an jenem Tag ging es ihr nicht gut und ise hatte eine innere Wut in sich verspürt, die sich nicht bändigen ließ. Der Grund dafür war, dass Sara über einige abgerissene Gestalten am Hauptbahnhof hergezogen war. Und zwar gerade so laut, dass sie das hören konnten. Es handelte sich um eine Mutter mit zwei kleinen Kindern. Sie sahen sehr verwahrlost aus und die Mutter hatte eine Flasche mit unbestimmten Inhalt in der Hand.

Aber wer waren wir, dass wir über andere Urteilen durften, fand Estera.

Waren wir wirklich so großartig, nur weil wir in einer stabilen Familie aufgewachsen waren?

Langsam verflog die Übelkeit.

Mit einem Knall stelle sie ihre Flasche ab. Und mit demselben Knall entfachte sich in ihr wieder diese Wut.

Na toll.

Sie stand auf um sich auf Sara zu stürzen um sie zu schubsen, sie zu rütteln, ihr diesen Gesichtsausdruck aus dem Gesicht zu schlagen.

Aber sie ging an ihr vorbei und verließ den Raum, als der Lehrer gerade eintrat.

So gut sie konnte lächelte Estera und rannte als sie auf dem Flur war, bis sie bei den Toiletten war.

„Was ist das?“, wo kam dieses unbändige Gefühl her? Das konnte doch nicht nur wegen einem dummen Mädchen entstehen.

Sie war alleine. Alle anderen Schüler mussten bereits in den Klassenräume sein.

So wie sie das auch sollte.

Sich Wasser ins Gesicht spritzend, konnte sie sich mit jedem Atemzug ein bisschen mehr beruhigen.

Es lag bestimmt an diesem Wetter, sie war einfach nicht der Typ für den Sommer.

Ehrlich gesagt lag ihr auch nicht der Winter mit seinen nasskalten Tagen. Und eigentlich auch nicht der Übergang zum jeweils anderem. Sie erkältete sich leicht und hatte ziemlich oft Fieber. Im Großen und Ganzen würde sie sich als Mimose bezeichnen, zumindest was ihren körperlichen Zustand anging.

Früher war das nicht so…

Erfrischt und beruhigt ging sie langsamen Schrittes wieder zurück Richtung Klassenraum.

Sie hasste es zu flüchten, aber sie konnte ja schlecht dieser Wut in ihr nachgeben und gewalttätig werden, dann lief sie lieber weg. Sie wollte kein Monster sein.

Estera machte die Tür auf, schlich sich auf ihren Platz, mit hochgezogener Augenbraue sah Herr Müller zu ihr rüber, sagt aber nichts, macht sich nur eine Notiz und erzählt dabei weiter, wie sich welches Gen verhält.

Sie konnte nicht besonders gut lernen, deswegen hörte sie meistens nicht zu. Dafür war sie im Unterricht leise und schrieb so gut sie konnte mit. Neben ihr saß Tim, ein großer Junge, der konzentriert in sein Heft zeichnete. Gar nicht schlecht fand sie. Als er sah dass sie auf seine Zeichnung schaue legt er seinen Arm davor und sah sie giftig an.

Okay, okay, demonstrativ schaute sie wieder nach vorne.

Genervt klickte sie mit dem Kugelschreiber herum, bis sich Anna von vorne umdrehte und Estera ebenfalls genervt ansah. Sie verzog ihre Mundwinkel nach oben und ließ den Stift demonstrativ fallen.

Wie nervig!

Zu allem Übel nahm sie jetzt auch noch Herr Müller dran, und sie hatte keine Ahnung um was es jetzt ging.

„Ich weiß es nicht“, antwortete sie auf seine Frage zum Chromosom. Er fing an nachzuhaken und sie beschwörend anzusehen.

„Komm schon Estera, das weißt du, denk nach!“, das war ein Satz den sie von Lehrern so richtig hasste. Wenn sie sagte, dass sie es nicht wüsste, dann wusste sie es eben nicht.

Wieder kocht die Wut in ihr auf und sie biss ihre Zähne fest zusammen.

„Estera, dann sag mir wenigstens wo das Erbgut liegt!“, zähneknirschend ballte sie ihre Hände zu Fäusten.

„Ich hab doch gesagt, dass ich es nicht weiß!“, polterte sie los und hielt die Luft an. Herr Müller zog seine Brauen hoch. Die anderen Schüler sahen mich verwundert und erstaunt an.

Was ist nur los, warum reagierte sie so übertrieben? Seit einigen Wochen konnte sie sich kaum noch beherrschen.

Sara stand plötzlich auf und zeigte auf sie.

„Herr Müller, ich muss an dieser Stelle sagen, dass mich Estera schon den ganzen Morgen extrem bedroht. Sie hatte mich sogar geschlagen.“, fassungslos drehte sie sich zu der schwarzhaarigen um, die mit einem ängstlichen Blick zu ihr rüber sah und mit den Augen blinzelte, als ob sie sich das weinen verkneifen wollte.

Und jetzt zog sie auch noch ihre Nase hoch.

„Was soll das denn?“, fraget Estera zu perplex um wütend zu sein.

„Ist das wahr?“, fragte Herr Müller und sah sie ernst an.

Ihr blieb der Mund offen stehen.

Sie hatte noch nie jemanden geschlagen, so etwas mitten im Unterricht zu behaupten war wirklich… Dann fiel ihr ein, dass sie gesehen haben musste wie Niko, Saras Niko, ihr vorhin Hallo gesagt hatte. Esteras Blick huschte kurz zu ihm rüber und dann wieder zu Sara. Kurz verzog sich ihr Mund zu einem selbstgefälligen Grinsen, nur ganz kurz. Als der Lehrer wieder zu ihr sah war sie wieder kurz vorm Heulen.

„Warum lügst du?“, fragte sie Sara, weil sie nicht wusste was sie sagen sollte. tSie schaute sich in der Klasse um.

„Wer hat gesehen dass ich sie geschlagen haben soll?“, keiner hielt Blickkontakt, alle waren plötzlich wahnsinnig beschäftigt.

„Herr Müller, ich kann nicht gemeinsam mit ihr in einem Raum sein, ich habe Angst.“, hauchte Sara nun und schniefte wieder.

„Weißt du was mir Angst macht? Dein Schauspieltalent! Ich habe bis jetzt immer gedacht dass du nichts außer deiner Haare richtig machen kannst!“, fauchte Estera sie an und war an der Grenze ihrer Beherrschung. Sollte sie einfach aus dem Raum laufen? Aber wäre das nicht ein Schuldeingeständnis?

„Herr Müller, sie mobbt mich, hören sie nicht? Ich habe Angst dass sie mich noch mal schlägt!“, mit ihrer Hand schmiss Estera ihren Stuhl zur Seite und war mit zwei Schritten bei Sara. Die schwarzhaarige zuckte zurück und die Gesichter der beiden jungen Frauen trennten nur noch wenige Zentimeter.

„Komm her, wenn du unbedingt geschlagen werden willst!“, unfähig sich zurückzuhalten griff Estera nach Saras Kragen und schüttelte sie.

Jemand umschlang sie von hinten und riss sie von ihr fort.

Aber sie sah rot.

„Du Miststück hast es verdient geschlagen zu werden! Komm her!“, Estera wurde festgehalten, sie gab sich auch keine richtige Mühe sich zu befreien. Denn irgendwo in ihr drin war sie unglaublich erschrocken über sich. Was tat sie da?

Estera war froh dass man sie aufhielt, sie wollte niemanden verletzen.

Aber diese arrogante und eingebildete selbstverliebte Kreatur verdiente es, dass man ihr wehtun sollte.

„Estera! Was ist los mit dir! Beruhig dich!!“

Erschrocken erstarrte sie.

War sie wirklich so großartig jemand anderen zu verurteilen? Immerhin war sie es, die grad gewalttätig werden wollte.

Tief holte sie Luft und ließ sie dann durch ihre Nase wieder entweichen.

Und als statt durchsichtiger Luft heißer Rauch aus ihrer Nase strömte fing Sara an zu schreien.

Estera fühlte sich wie ein Monster.

 

Zuhause wartete sie mit ihrer Mutter darauf, dass ihr Vater kommen würde.

Ihre Mutter reichte ihr mit sorgenvoller Miene eine heiße Tasse Tee. Nachdem sie ihre Mutter aus dem Lehrerzimmer abgeholt hatte und ihr Herr Müller erzählt hatte, wie sie aggressiv auf ihre Mitschülerin losgegangen war, saßen sie nun hier in dem schönen Wohnzimmer. Estera lag auf der Couch, weil sie einen Kreislaufzusammenbruch hatte. So hatte ihre Mutter es auch dem Lehrer erklärt. Dass sie gesundheitlich angeschlagen wäre und deswegen ihre Gefühle nicht unter Kontrolle hätte. Dass sie sie zunächst in ärztlicher Behandlung geben würde, bevor sie sie wieder zur Schule schicken würde.

So hatte man sich wieder beruhigt.

Aber die Wortfetzten die Estera in der Schule mitbekommen hatte waren nicht sehr schön gewesen.

„Wie tollwütig ist sie auf Sara losgegangen!“, oder „Sie war plötzlich voll irre!“, andere nannten sie gleich irre oder psychisch krank. Vielleicht stimmte das sogar.

„Es tut mir Leid.“, gab sie zerknirscht zu. Die ganze Geschichte hatte sie ihrer Mutter bereits erzählt. Sie hatte ihr stumm zugehört. Estera hatte geweint, sie wusste nicht was mit ihr los war. Erst als sie sich hingelegt hatte und den Tee trank, konnte sie sich ein bisschen beruhigen.

„Kannst du dich noch an die Geschichte erinnern, die von deiner Geburt?“, wie durch einen Nebel hörte sie ihrer Mutter zu.

„…Ja, da war dieser Typ der mich ein Wunderkind genannt hatte.“, sie konnte sich sehr gut an diese Geschichte erinnern. Da ihre Eltern keine Situation ausließen um anderen davon zu erzählen.

„Das war nicht irgendein Mann. Das war ein Geistlicher aus den Bergen, aus der Welt der Wesen. Er erzählte uns, dass er grad in der Stadt war und gespürt hatte, dass ein besonderes Kind geboren wird.“, ihre Mutter hielt inne und strich ich über das Gesicht. Estera schloss die Augen. Sie genoß die zärtliche Geste.

„Außerdem erzählte er uns noch mehr.“, von mehr wusste Estera nichts, aufmerksam hörte sie zu.

„Er erzählte, dass er große Macht in dir spüren würde. Und um diese Kraft zu beherrschen bedürfte es einer geeigneten Ausbildung.“, das Mädchen öffnete irritiert ihre Augen.

„Was?“, ihre Mutter nickte bestätigend.

„Ja und dann hat er uns von der Eidschule erzählt. Er sagte, es wäre eine Schule in der die Wesen gehen, sie würde auch Kinder wie dich aufnehmen.“, wieder hellwach setzte sich Estera auf.

„Was? Ich bin doch keins von den Wesen! Ich bin ein Mensch, wieso sollte ich so eine Schule besuchen!“.

Abseits von den Menschen gab es tatsächlich diese Wesen, die besondere Fähigkeiten hatten und angeblich für den Frieden auf der Welt da wären. Oder eben dem Gegenteil, es sollte solche und solche geben. Es gab diese Elfen, Geflügelten und Meerjungfrauen, aber mit den Menschen hatten sie bis auf die regelmäßigen Friedensbesuche kaum Kontakt. Besondere Wesen mit besonderen Fähigkeiten.

Aber Estera war ganz normal! Jedenfalls normal genug um wie ein Mensch, welcher sie ja auch war, zu leben. Panik machte sich in ihr breit.

„Beruhige dich. Dein Vater und ich haben beschlossen, dass du bei uns bleiben sollst. Allerdings machen wir uns in letzter Zeit Sorgen um dich.“, Estera fielen ein paar Situationen ein, in denen sie zuhause ebenfalls Probleme mit ihrer Selbstkontrolle hatte. Kurz huschte ihr Blick zu dem Fenster dass sie vor zwei Wochen mit einer teuren Vase zerschlagen hatte. Es war aber längst ausgetauscht.

Ihr Herz fing an heftig gegen ihre Rippen zu schlagen. In einem ungewöhnlichen Rhythmus und einen Moment konnte sie sich nur darauf konzentrieren.

Dann schlug es wieder normal.

Sie zitterte.

„Leg dich wieder hin, wir warten auf deinen Vater, trink noch einen Tee.“, heftig atmend nahm sie die Tasse von ihrer Mutter entgegen und trank vorsichtig. Der Tee schmeckte komisch, so einen hatte sie noch nie getrunken.

„Was ist das eigentlich für ein Tee?“, fragte sie, als sie sich müde zurücklehnte.

„Ein Beruhigungstee.“, erklärte ihr ihre Mutter und lächelte sie schmerzlich an. Irgendwas stimmte hier nicht. Wie konnte in Beruhigungstee so eine starke Wirkung haben?

Estera schloss die Augen, als sie sie nicht mehr offen halten konnte. Sie konnte noch hören, wie ihre Mutter ihr sagte, dass sie auf sich aufpassen solle.

Was bedeutete das? Ihre Gedanken kreisten wirr, bis sie sich der Wirbel legte und alles in einem tiefen Schlaf versank.

 

Sie wachte auf, als sie jemand beim Namen rief.

„Estera, kannst du mich hören?“, sie blinzelte, versuchte sich an das Licht zu gewöhnen. Es war still, bis auf die Stimme.

„Estera, wach auf, du hast lange genug geschlafen.“, wer war das, der bestimmte, wie lange sie schlafen durfte? Verärgert machte sei nun die Augen ganz auf. Die Decke war weiß und es hing eine Lampe mit mehreren Kerzen daran.

Ein Kronleuchter?

Verwirrt kniff sie die Augen zusammen. Aber das Bild änderte sich nicht. Sollte das nicht ein Problem für den Rauchmelder darstellen? Wer hatte denn heutzutage noch Kronleuchter mit echten Kerzen angebracht?

Wo war sie?

Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Sie saß auf einem Bett, der Raum war nicht groß und nur spärlich aber hübsch eingerichtet. Er erinnerte sie wegen der Vorliebe für weiß an eine Krankenstation.

Neben ihr saß ein Mann im mittleren Alter. Er hatte kurze Haare deren Farbe sie nicht ganz bestimmen konnte. War das wirklich ein rosa-grau? Irritiert musterte sie den Mann genauer. Er trug ein sportliches Jackett das an den Säumen einen grauen Streifen hatte, der Rest war dunkelgrün. Seine Hose war, soweit sie sehen konnte sehr weit geschnitten, hatte dieselben Farben wie das Oberteil und schien auch aus Leinen zu sein.

Es sah für sie wie eine Verkleidung aus.

„Mein Name ist Jutelin. Ich bin der Ranghöchste Heiler dieser Eidschule und habe mich bisher um dich gekümmert.

Estera kniff die Augen zusammen und betrachtete ihn genauer. Er schien sehr groß zu sein, auch wenn sie ihn nur im Sitzen sah.

„Wie bitte?“, brachte sie schließlich heraus.

„Du bist in einem Zustand total aus dem Gleichgewicht. Deine Eltern berichteten uns, dass du häufig krank bist und unter heftige unkontrollierbare Emotionen leidest. Stimmt das?“, irritiert legte Estera die Decke beiseite. Dabei bemerkte sie dass sie blos ein langes Kleid anhatte. Es sah aus wie ein Nachthemd. Sie griff sich an ihren Oberkörper um festzustellen, dass sie wirklich nichts darunter trug. Knallrot lief sie an und nahm die Decke wieder an sich um sich darin einzuwickeln.

Der Mann namens Jutelin schaute ihr dabei unbeeindruckt weiter ins Gesicht und schien noch auf eine Antwort von ihr zu warten.

„Wo bin ich hier? Und wie komme ich hier her?“, fragte sie und schaute sich noch einmal um.

„Du bist an der Eidschule in Nemesreich. Ab heute wirst du hier als Novizin anfangen.“, nun blickte sie ihm in die Augen um festzustellen wie ernst er das meinen konnte, doch er schien es sehr ernst zu meinen. Als sie nichts sagte, reichte er ihr von einem kleinen Tisch neben sich eine dampfende Tasse.

„Trink den Tee, der wird dir gut tun.“, sie nahm ihn entgegen und roch daran. Dann erinnerte sie sich wieder an… daran als ihre Mutter ihr das letzte mal einen Tee gereicht hatte.

„Wo sind meine Eltern?“, jetzt seufzte Jutelin.

„Deine Eltern kannst du in vier Wochen sehen, hier gibt es strenge Besuchszeiten für Menschen. Immerhin befinden wir uns im Lane Nemes.

Nemes, das Reich der besonderen Wesen. Hier lebten keine Menschen. Unwillkürlich fragte sich Estera was dieser Doktor wohl für ein Wesen war, immerhin sah er ganz normal aus. Ganz menschlich.

Heftig schüttelte sie den Kopf.

„Ich verstehe immer noch nicht was ich hier zu suchen habe.“, langsam machte sich eine innere Unruhe in ihr breit.

„Du wurdest mit einer besonderen Gabe geboren. Du musst lernen sie zu beherrschen, ansonsten wirst du durch das Ungleichgewicht in dir immer mehr…Schwierigkeiten haben zurecht zu kommen. Deswegen bist du hier.“

Langsam dämmerte es ihr was das bedeutete. Sie würde auf diese Schule gehen und wohl für immer von allen anderen Menschen getrennt leben und wahrscheinlich obendrauf noch eine Aufgabe hier in dieser Zauberwelt bekommen. Denn hieß es nicht immer, dass die Wesen ihre Fähigkeiten für den Frieden und dem Gleichgewicht der Welt einetzten und so weiter?

„Moment, ich will das gar nicht, ich wurde nicht mal gefragt!“, stellte sie fest und erhob sich nun doch. Den Tee stellte sie zurück auf den Tisch. Der Mann folgte ihrer Handlung.

„Dieser Tee ist ein HEiltee. Er wird dir helfen zu Ruhe zu kommen.“ Also wieder so ein Beruhigungstee, wie ihn ihr ihre Mutter gegeben hatte.

„Nein danke!“, das Pochen ihres Herzens wurde immer lauter. Ihre Atmung schneller. Hektisch schaute sie sich im Raum um.

Jutelin erhob sich nun auch zu seiner vollen Größe, die wirklich beachtlich war. Er war ganz bestimmt an die zwei Meter groß. Fast war Estera eingeschüchtert.

Aber nur fast. Die plötzliche Wut in ihr wuchs unbeeindruckt bis sie sich fühlte als müsse sie platzen.

„Ich will einfach nur zurück nachhause!“, sagte sie und stürmte zur Tür. Der Heiler griff nach ihrem Arm und hielt sie so auf.

„Das geht nicht. Du kannst deine Wut und deine Macht kaum zügeln. Du könntest damit jemanden Verletzen. Willst du nicht auch lernen wieder Herr über deine Kräfte und Gefühle zu werden?“, diese Wut loswerden? Das war ein verlockendes Angebot. Estera dache einen Moment darüber nach, dann entzog sie sich Jutelin.

„Ich kann das alleine schaffen.“, antwortete sie trotzig.

„Du überschätzt dich.“, nüchtern betrachtete er sie aus seinen klaren grauen Augen.

Estera griff nach der Tür, doch der Heiler hielt mit seiner Hand die Tür fest.

„Halte mich hier nicht fest!“, fauchte sie und wieder nahm sie dieses arrhythmische Pochen in ihrem Herzen war.

Voller Wut stampfte sie mit dem Fuß auf und stemmte sich gegen die Tür.

Heißer Rauch umwehte sie und ihr Sichtfeld wurde von einem dunklen Rot umrahmt. Immer schneller schlug ihr Herz.

„Beruhige dich!“, hörte sie den großen Mann sagen, beachtete seine Worte aber nicht weiter. Diese Tür war ihr Weg nachhause, also musste sie sie öffnen. Jutelin stand ihr im Weg. Nur ihren Emotionen folgend, die in ihr herumrasten, schubste sie den Hünen und wollte die Tür aufreißen. Doch Jutelin strauchelte nur kurz, woraufhin er ihren Arm ergriff und sie an die Wand drückte.

Heftig atmend und mit verschleierten Blick und einem Rauschen in den Ohren schrie sie laut auf.

„Lass mich los!“, fauchend stemmte sie sich gegen ihn. Und plötzlich konnte sie Rauch wahrnehmen, wieder wie an ihrem letzten Tag in der Schule, als sie vor Sara stand.

Kam der Rauch aus ihrer Nase? Warum kam da Rauch raus?

Mit großen Augen und offenem Mund verfolgte sie die Schwaden die nach oben an die Decke schwebten.

„Welche Macht wohnt wohl in diesem Mädchen?“, hörte sie Jutelin sagen, der genau wie sie an die Decke starrte.

Langsam klärte sich ihr Sichtfeld wieder und auch das Rauschen verschwand.

Nur ihr Herz pochte wie wild weiter und dieser heiße Zorn in ihr tobte noch immer.

Mit aller Macht stemmte sie sich gegen den Mann vor ihr.

„Versuch dich zu beherrschen!“, aber es war unmöglich. Sie konnte sich nicht beruhigen, sie glaubte, dass sie nie wieder dazu in der Lage sein würde.

Direkt neben ihnen wurde schwungvoll die Tür aufgerissen.

Ein junger Mann kam herein. Sofort fielen ihr die weißen Haare auf. Der Junge erfasste das Bild der beiden, Estera an der Wand gelehnt, festgehalten von Jutelin dem Heiler.

„Was ist passiert?“, seine Stimme war tief und hatte einen unglaublich sanften Klang. Und als sie in seine Augen schaute stellte sie fest, dass sie dunkelblau waren.

„Estera kann ihre Fähigkeiten überhaupt nicht beherrschen, sie hat den Tee des blauen Krautes nicht getrunken und ist so kaum händelbar.“, fasste es Jutelin der Heiler kurz zusammen.

Empört über seine Worte stemmte sie sich erneut gegen ihn und schaffte es sogar beinahe sich zu befreien.

„Du hast vergessen zu erwähnen, dass ich hier festgehalten werde!“, stellte sie fauchend klar und mobilisierte all ihre Kräfte.

„Achso, das ist in Ordnung Jutelin. Lass sie los, ich kümmere mich um sie.“, ungläubig zog der Heiler seine Augenbrauen hoch. Aber bevor er sich entscheiden konnte, ob er dem Vorschlag des weißhaarigen befürwortete, stieß Estera ihn nun doch weg und atmete tief ein.

„Also gut Wannik, dann liegt es an dir, behüt dich der Allmächtige bei dieser Aufgabe!“, schnaubend drehte sich Estera um und verließ den Raum.

Sie hörte wie dieser Wannik ihr folgte.

„Ich will einfach nur zurück, weißt du. Ich will das hier alles nicht.“, erklärte sie ihm und atmete heftig ein und aus. Plötzlich schwappte irgendwas in ihr über und für einige Augenblicke setzte ihr Herz aus. Wie erstarrt blieb sie stehen und sackte auf ihre Knie.

„Was ist mit dir?“, der Junge eilte sofort zu ihr und schaute ihr in die Augen.

Als ihr Herz wieder anfing zu schlagen, atmete sie entgeistert wieder ein und aus. Völlig entkräftet ließ sie sich auf den Boden sinken und stützte sich mit beiden Armen ab.

Und als sie diesem Wannik so in die Augen sah, erkannte sie, dass er gar nicht blaue Augen hatte, sondern dass sie viel dunkler waren, sie trugen die Farbe Indigo.

„Solche Augen habe ich noch nie gesehen.“, stieß Estera schließlich hervor und schüttelte gleichzeitig den Kopf.

Als wenn das eine Rolle spielen würde.

Der Junge lächelte.

„Weißt du, wenn du den Tee trinken würdest, würde es dir besser gehen, glaub mir, ich hab sowas ähnliches durchgemacht. Danach können wir doch immer noch reden.“ Schwitzend und schwindelig nickte sie schließlich. Sie fühlte sich, als hätte sie sowieso keine andere Wahl.

„Schön, dann komm mit, ich stütz dich.“, seiner Stimme lauschend stand sie mit seiner Hilfe auf. Seine Stimme war unglaublich beruhigend und sie spürte wie ihr Herz und der ganze Aufruhr in ihr drin sich anfingen wieder zu entspannen.

„Okay.“, sagte sie und gemeinsam gingen sie den Flur zurück in das Zimmer, in dem sie aufgewacht war.

 

 

Kapitel 2

6 Monate später:

 

Estera war wütend. Richtig wütend. Wie konnte es diese Wald und Wiesen Schnepfe wagen sie mit diesem hochnäsigen Blick in den Augen zu fragen, ob sie schon immer so unkontrolliert wie ein Tier wäre.

Die Hände zu Fäusten geballt und mit letzter Selbstbeherrschung atmete sie tief ein und aus.

„Kleiner Waldgeist, glaub mir, es sähe anders aus, wenn ich unkontrolliert wäre. Dann würdest du nämlich nicht mehr da neben deinem Tisch stehen und ich nicht mehr hier auf meinem Stuhl sitzen!“, die Nymphe schluckte sichtlich. Die anderen Schüler beobachten aufmerksam den Wortwechsel.

Aber es sollte auch eine Warnung sein. Wer kam auf die Idee, die mächtigste Schülerin der Eidschule, nämlich sie, Estera, solch eine primitive Frage zu stellen? Und dann auch noch mit diesem hochnäsigen Blick im Gesicht.

„Estera, lass dich nicht reizen, komm lieber mit, ich habe Süßes dabei.“, Katinka lächelte sie einnehmend an. Unentschlossen folgte Estera mit Blicken der Waldnymphe. Diese verließ mit zwei anderen Nymphen den Raum. Alle Nymphen, die sie in den letzten Monaten, in denen sie in der Zauberwelt Nemes lebte begegnet war, waren ihr unsympathisch. Sie wusste nicht genau woran es lag, aber irgendetwas hatten sie an sich was sie unglaublich reizte.

„Was für Kuchen hast du denn dabei?“, Estera drehte sich zu der zierlichen Katinka um, die mit ihrer zierlichen Gestalt und dem honigblonden Haar wie ein Engel aussah.

Katinka strahlte sie an und packte ein Päckchen aus einer Tasche aus. Als sie dieses auswickelte, seufzte Estera erfreut auf.

„Ich liebe diesen Kuchen!„ Ihr lief sofort das Wasser im Mund zusammen. Der Kuchen war mit Abstand der Beste den sie je im Leben gegessen hatte. Er war unglaublich schokoladig und das Beste, er hatte einen Kern aus warmer und flüssiger Schokolade. Das blonde Mädchen lächelte und ihre goldenen Augen strahlten dabei.

„Ich weiß.“, grinsend reichte sie ihr ein Stück davon.

Estera spürte wie sie sich wieder beruhigte. Zum Glück rastete sie nicht mehr bei jeder Kleinigkeit aus. Na gut, vielleicht noch bei jeder zweiten… Aber immerhin konnte sie sich schneller wieder fassen. Wenn sie zurückdachte wie alles angefangen hatte in dieser Schule voller Wesen, dann konnte sie nur tief Luft holen. Wie viele Wutanfälle sie gehabt hatte, wie oft sie aufgehalten werden musste, damit sie niemanden verletzte oder sich selbst. Wie oft sie jemanden verletzt hatte...

Aber es war besser geworden.

Vor ihr saß der Junge mit dem weißen Haar, dem sie fast alles zu verdanken hatte.

„Wannik! Komm her, es gibt Kuchen!“, rief sie ihn fröhlich zu. Wannik stand mit dieser ihm eigenen Ruhe auf und drehte sich lächelnd zu ihr um.

„Sehr gerne.“ Sie sah ihm kurz in die Augen. Und all der Ärger war wie fortgespült. So wie immer wenn sie ihn ansah.

Alle Schüler saßen oder standen gemütlich im hellen Klassenraum herum, als der Meister der Strategiekunde eintrat setzten sich alle so schnell sie konnten auf einen Platz. Feste Plätze gab es nicht.

Es ist ganz anders als früher in der normalen Menschen-Schule, sann Estera nach, hier war alles viel strenger. Aber alle, mehr oder weniger, hielten sich an die Regeln. Und wenn nicht, gab es harte Konsequenzen. Man wusste was einem blühte wenn man zu spät kam oder eine Aufgabe nicht erfüllt hatte. Und weil man das genau wusste, war es auch nicht so furchtbar. Außer natürlich man sollte den gesamten Hof harken, oder alle Fenster in einer Etage putzen. Oder 50 Runden um das Schulgebäude laufen.

Was dann ganz genau dran war, dass kam auf den jeweiligen Meister dran.

Meister Itha, der den Schüler Strategie in der Theorie beibringen sollte zum Beispiel, hatte immer viel Spaß daran die Schüler ganze Bücher abschreiben zu lassen. Na ja, zumindest einige Kapitel davon. Das gemeine an den Strategie-Büchern waren die Seitenlangen Skizzen.

Estera seufzte, erst letzte Woche hatte sie so eine Aufgabe abgegeben. Meister Itha hatte es sich kurz durchgeblättert und danach vor ihren Augen in die Feuerstelle geworfen. Sie war kurz davor erneut einen Wutanfall zu bekommen. Diese ganzen Tage und Nächte an denen sie daran gesessen hatte!

Da waren ihr die Strafen, die eine leibliche Erprobung nach sich zogen lieber. Sie hatte sich zwar damals wie tot gefühlt, als sie die 50 Runden fertig gelaufen hatte (und auch noch die nächsten 5 Tage), aber das war immer noch besser als Stunde um Stunde am Schreibtisch gefesselt zu sein um irgend so ein dämliches Buch abzuschreiben und sogar Bilder abzumalen!

Meister Itha war ein Geflügelter. Sie hatte einmal seine Flügel gesehen, sie waren so rot wie seine Haare und aus riesigen Federn.

Außer Strategie in der Theorie unterrichte der riesige Mann natürlich Strategie in der Praxis und Waffenkämpfe.

Meister Itha lief unruhig vor der Klasse auf und ab. Dabei erzählte er etwas vom Volk der Meermenschen und erklärte irgendwelche Finten die mit abtauchen zu tun hatten.

Wie langweilig! Damit konnten doch nur die ganzen Fische hier was anfangen, Estera jedenfalls, konnte nicht kilometerlang tauchen.

Es war sehr ruhig im Raum. Wenn jemand eine Frage hatte, dann meldete er sich und stand dann auf um seine Frage zu stellen.

Estera war so langweilig! Meister Itha wirkte nervös wie er da vorne herum lief. Sie vermutete, dass auch er die praktischen Fächer bevorzugte.

Endlich waren die 40 Minuten herum. Das war wirklich etwas Gutes, im Gegensatz zu früher, hier dauerten die theoretischen Schulstunden blos 40 Minuten! Die aktiven Fächer dafür meistens drei Stunden…

„Ich habe noch eine wichtige Ankündigung an euch.“, sofort horchte Estera auf. Eine wichtige Ankündigung?

„Ihr seid jetzt alle bereits drei Jahre in der Ausbildung. Fast alle.“, fügte er mit einem Seitenblick auf Estera hinzu. Ein paar Blicke wanderten kurz zu ihr, dann jedoch wieder zu dem rothaarigen Lehrer nach vorne.

„Deswegen wird es dieses Jahr eure erste Reifeprüfung geben.“, aufgeregtes Gemurmel und leise Freudenrufe. Estera schaute sich interessiert um. Aha, hier freuten sich die Schüler also auf eine Prüfung, fast musste sie grinsen.

„Und noch etwas. Ihr seid ein besonderer Jahrgang. Ihr wisst, unsere Prinzen sind in ihrer Ausbildung ebenso weit wie ihr und werden für die Reifeprüfung zu euch stoßen! Das Ganze geht dann morgen los. Auf Wiedersehen!“, Meister Itha verschwand und der Lärm im Klassenraum schwoll an.

„Die Prinzen!“, ungläubig drehte sich Katinka zu Estera um.

„Das kann doch nicht sein! Wie spannend!“, Katinka blieb der Mund offen. Estera grinste nun doch über die Vorfreude ihrer Freundin.

Sie selbst fand es natürlich auch aufregend, aber da sie dieses Land erst seit ein paar Monaten kannte und diese Prinzen noch nie gesehen hatte, fand sie daran nichts weiter spannend, bis auf die Tatsache, dass sie demnächst leibhaftige Prinzen vor sich hätte.

Und was hieß das überhaupt für sie, dürfte sie überhaupt an dieser Prüfung teilnehmen? Da sie erst seit einem halben Jahr hier war und nicht wie die anderen drei Jahre galt die Prüfung ihr vielleicht gar nicht?

Sie musste unbedingt Meister Itha fragen! Sofort!

Ohne weiter zu überlegen sprang sie auf und lief aus dem Raum Richtung Lehrer Domizil.

Die Gänge waren nicht sehr voll. Nur eine Hand voll Schüler liefen hier von einem Raum zum nächsten.

Die Wände im gesamten Innenraum waren aus Naturstein und sorgten dafür dass es in der Eidschule immer kühl war.

Der ebenfalls steinerne Boden war mit einem roten Läufer ausgelegt, was dem ganzen etwas Edles trotz des grauen Felsen an Wänden, Decke und Boden gab.

So schnell sie konnte bog die braunhaarige Schülerin um die Ecken der winkeligen Gänge und landete dann vor der Tür der Meister.

„Zu den Lehrkräften“, war dort in schöner Schrift zu lesen.

Fast wie bei uns in der „normalen“ Welt, fuhr es Estera durch den Kopf. Dass sie hier die meisten Lehrer Meister nennen musste hatte sie sich erst angewöhnen müssen. Aber die sechs Monate fühlten sich eher wie sechs Jahre an. Eine lange Zeit, in der sie viel gelernt hatte.

Und in denen sie ihre Eltern nicht gesehen hatte. Sie hatten wohl einmal angerufen. Aber Estera hatte sie nicht sprechen wollen. Es war einer jener Momente gewesen, in denen sie einfach nur um Selbstbeherrschung gerungen hatte. Und als ihr in dem Moment auch noch diese grässlichen Probleme mit ihrem Herzen hatte, hatte sie nicht wirklich Lust gehabt mit ihrer Mutter zu sprechen. Oder ihrem Vater.

Plötzlich wurde die Tür geöffnet und Estera fiel fast in die Person vor ihr.

„Schülerin?!“, hastig machte sie einen Schritt zurück und entschuldigte sich. Sie sah hoch.

Auch das noch. Vor ihr stand der große Heiler Jutelin. Seit ihrer ersten Begegnung hatte sie zwiegespaltene Gefühle gegenüber ihm. Einerseits respektierte und achtete sie ihn sogar für das was er war, andererseits, sie konnte ihn einfach nicht leiden.

„Oh, Estera! Wie geht es dir?“, freundlich lächelnd wie immer erkundigte er sich nach ihrem Wohlergehen.

Sie nickte.

„Gut gut. Ich hab keinen Grund zum Klagen!“, sie konnte noch nicht mal sagen warum er sie nervte und manchmal auch wütend machte. Er war ja nur freundlich.

Der Heiler runzelte die Stirn. Oh, das war wohl eher ein Satz den man hier nicht so ganz verstand.

Sie war sich sicher, er würde gleich nachfragen, deshalb kam sie ihm zuvor.

„Ich muss ganz dringend Meister Itha sprechen, ist er da?“, äußerte sie ihr Anliegen. Jutelin sagte, dass er nachsehen würde.

Estera holte tief Luft.

Bleib ruhig Estera! Sie durfte nicht wegen jedem bisschen die Kontrolle verlieren! Ruhig bleiben und tief durchatmen! Sie erinnerte sich an die Meditationsstunden mit Wannik. Schon spürte sie, dass sie sich tatsächlich ruhiger fühlte! Vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, aber doch, auch ihr Herzschlag hatte sich wieder normalisiert.

Mit einem Ruck war ihre gesamte Selbstbeherrschung dahin. Jemand hatte sie angerempelt!

War das Absicht?

Wutentbrannt drehte sie sich um und vor ihr stand ein großer Schüler. Sie erkannte ihn an seiner Schuluniform. Er starrte sie aus seinen grauen Augen an, aber ehe er die Chance hatte zu antworten stellte sie ihn zur Rede.

„Was soll das, Trottel?“, fauchte sie ihn an. Irritiert zog der Junge die Brauen zusammen. Er war hübsch, aber das interessierte Estera nicht. Sie hatte ihn zuvor noch nie gesehen und das hätte auch gerne so bleibe dürfen, wenn er so ein Tölpel war und sie anstoßen musste.

„Hör mal, das ist ein breiter Flur, wie kann es sein dass du mich nicht siehst und mich anstoßen musst? Hast du ein Problem mit dem Gleichgewicht?“, verblüfft starrte er sie nur weiter an. Was nicht unbedingt dazu beitrug sie zu beruhigen.

„Kannst du nicht sprechen?“, fragte sie unverblümt. Sei fragte sich kurz, was er für ein Wesen war. Sie konnte es nicht erkennen. Er zeigte kein markantes Zeichen, wie zum Beispiel eine blasse Haut wie die Wassermenschen, oder rote Augen wie die Elfen.

„Ich bin nicht stumm, aber ich verschwende meinen Atem ungern an solche wie dich!“, er hatte eine laute Stimme und so wie er redete, wirkte er wie jemand, der es gewohnt war Befehle zu erteilen.

Ehe sie sich wehren konnte, schubste er sie erneut zur Seite und betrat den Lehrerbereich.

„Was?“, wie kommt er dazu einfach ins Domizil der Meister zu laufen?

Und noch viel schlimmer, dachte sie bei sich, wie kommt er dazu mich zu schubsen, zum zweiten Mal?

Schnaubend stampfte sie wütend auf und wäre ihm am liebsten hinter dem Vorhang gefolgt. Sie überlegte ernsthaft ob sie ihm folgen sollte.

Dann teile sich der Vorhang und Meister Itha stand vor ihr. Er hatte eine Braue nach oben gezogen und starrte sie ungeduldig an.

„Estera, was möchtest du?“, die Schülerin blähte ihre Nasenlöcher um irgendwie wieder ruhig zu werden.

„Hier ist grad ein Schüler reingelaufen!“, platzte sie heraus. Kurz war der Strategie-Lehrer irritiert, dann schien er zu wissen von wem sie redete.

„Das war kein normaler Schüler. Das war Prinz Zadon.“, seine Worte wirkten wie ein kalter Eimer Wasser den man ihr übergeschüttet hätte.

„Was?“, stotterte sie hilflos und riss die Augen auf.

Oh nein! Sie hatte tatsächlich einen Prinzen beleidigt!

Ungeduldig wippte Itha mit dem Fuß auf dem Boden.

„War das dein dringendes Anliegen?“, Estera schüttelte den Kopf und versuchte sich irgendwie wieder zu fassen.

„Nein… ich… wegen der Prüfung. Darf ich auch daran teilnehmen?“, in Gedanken war sie noch bei ihrer Begegnung mit dem Prinzen.

Das durfte doch nicht wahr sein!

Andererseits; auch er brauchte sie nicht blöd von der Seite anrempeln. Es wäre doch das normalste von der Welt sich daraufhin zu entschuldigen, dachte sie schließlich.

„Natürlich, die gesamte Klasse nimmt daran teil. Und du gehörst zur Klasse, oder etwa nicht?“, fragte ihr Meister sie und zwar so, dass sie sich ein bisschen blöd vorkommen musste.

„Ja.“, sie bedankte sich, innerlich fluchend, für die Auskunft und ging schnell wieder weg.

Das durfte doch nicht wahr sein!

Zurück vor dem Klassenzimmer musste sie feststellen, dass der Unterricht bereits wieder begonnen hatte. Auch das noch. Das würde sicher wieder eine blöde Strafarbeit geben!

Ohne zu zögern klopfte sie an und betrat ohne zu warten den Klassenraum.

Meisterin Darawane stand vor der Klasse und schenkte ihr einen tadelnden Blick.

„Es tut mir Leid.“, Estera, die Menschenschülerin, hielt sich nicht mit langen Entschuldigungen auf. Es tat ihr leid, darauf kam es an, oder?

„Estera, setz dich. Bleib nach dem Unterricht noch ein bisschen länger.“, danach malte Darawane weiter an ihrem Tafelbild.

Still seufzend setzte sich Estera, so leise sie konnte neben Raban. Katinka war jetzt in einem anderen Kurs. Eigentlich war das hier ein Kurs nur für Elben und anderen Erdwesen. Estera war eigentlich kein Elb, aber da nicht klar war was sie genau war, sollte sie erstmal bei den Erdwesen mitlernen.

Die Elben waren okay, eigentlich auch voll nett. Die Dryaden und Oreaden dagegen konnten auch ganz schön nervig sein.

Und dann waren da noch die Zwerge. In diesem Kurs nur zwei. Es waren lustige Kerle, ein bisschen derb wenn sie zuviel getrunken hatten, sehr genau wenn es um handwerkliches Geschick und ihrer Geschichte ging. Estera mochte die Zwerge. Sie waren immer gut gelaunt.

Aber noch lieber mochte sie Raban. Raban war ein Elb mit rotem Haar und grünen Augen. Die meisten Elben hatten rötliche Haare und grüne oder blaue Augen, Elben sahen den Menschen noch am ähnlichsten, fand Estera. Nur waren die meisten etwas größer und alle waren sie durchtrainiert oder zumindest etwas muskulös.

Raban war nett zu ihr, was nicht alle waren und er war ein toller Gegner bei den Übungskämpfen. Manchmal machten sie auch außerhalb des Unterrichts etwas, aber nur selten. Viel Zeit gab es hier nicht.

Raban sah gebannt auf das Tafelbild, grinste aber und Estera wusste dass es ihr galt. Sie lächelte etwas.

„Das Menschenmädchen fällt gerne negativ auf.“, hörte sie weiter hinten jemanden tuscheln. Sicher eine von den Waldnymphen, diesem unsympathischen Volk. Estera holte tief Luft.

In der Mittagspause lief sie zügig in den Speisesaal. Sie achtete darauf niemanden anzurempeln, aber auch die anderen Schüler gingen ihr aus dem Weg, wenn sie konnten. Leider waren ihre Wutausbrüche berüchtigt und dass sie nicht zu den schwächeren Schülern gehörte auch.

Viele Freunde hatte sie hier nicht.

Im Speisesaal saß Katinka schon an ihrem Stammplatz. Sie hatten sich dadurch kennengelernt, dass Katinka vor drei Monaten in Esteras Zimmer eingezogen war. Sie musste aus ihrem alten Zimmer ausziehen und erklärte sich als einzige bereit zu Estera zu wechseln. Wieso wusste Estera bis heute nicht.

„Es gibt heute Wurzelgemüse mit Tauben!“, verkündete die zierliche Blondine und strahlte sie mit ihren goldenen Augen an.

Estera lächelte und setzte sich zu ihr. Kurz warteten sie, vielleicht würde Wannik noch kommen, aber dann gingen sie sich schon mal das Essen an der Ausgabe holen.

Später erzählte Estera ihrer Zimmergenossin von ihrem Unfall vorhin.

Katinka blieb der Mund offen.

„Was? Und das war wirklich Prinz Zadon?“, leider ja, antwortete die braunhaarige. Katinka versuchte sie zu trösten, aber sie winkte ab.

„Ach schon gut, er wird mich schon nicht in den Kerker werfen, woher soll ich auch wissen dass er ein Prinz ist?“, gleichgültig biss sie ein Stück Fleisch ab. Jemand setzte sich ihr gegenüber neben ihre Freundin.

„Wer ist ein Prinz?“, hakte Wannik nach und grüßte Katinka freundlich. Dann wandte er sich wieder Estera zu. Sie beugte sich ein Stück zu ihm vor.

„Na Prinz Zadon. Er hat mich vorhin angerempelt und da hab ich ihn ein bisschen zurechtgewiesen.“, sie nahm einen Schluck Traubensaft. Ihr Gegenüber hielt beim Kauen für einen Moment inne, dann kaute er grinsend weiter.

„Ach Estera, dich darf man nicht alleine lassen!“, leise lachte er vor sich hin. Und einen Moment beobachtete sie ihn dabei.

Was war er nur für ein Wesen? Seine weißen Haare, die dunklen ungewöhnlichen Augen… sie hatte ihn einmal gefragt. Da hatte er nur geantwortet, dass er es ihr sage würde, sobald sie wüsste wer sie eigentlich war.

Wannik war ein Mysterium. Aber eines dass sie schon so oft gerettet hatte.

„Meinst du das gibt irgendwelche Konsequenzen?“, fragte Katinka leise. Wannik zuckte die Schultern, dann schüttelte er den Kopf.

„Ich denke nicht, zumindest keine ernsthaften.“, Estera schnaubte.

„Und wenn schon, damit werde ich auch noch fertig.“

Sie war in einer Welt voller außergewöhnlicher Wesen der einzige Mensch und war zudem auch selbst jemand mit übernatürlichen Fähigkeiten, wenngleich sie noch nicht genau wusste, was sie eigentlich war. Da konnte sie so ein Prinz auch nicht mehr ängstigen.

 

Estera nahm alles zurück. Prinz Zadon schien sich sehr an den Vorfall zu erinnern und seine Blicke mit denen er sie bedachte waren nicht gerade freundlich.

So ein Mist, dachte Estera, wie hatte sie es geschafft sich den Kronprinzen zum Feind machen? Noch dazu hing alles zusammen mit der Prüfung. Sollte sie diese nicht schaffen, müsste sie wahrscheinlich eine Klasse wiederholen. Dann wäre sie nicht mehr mit Kathinka, Raban und Wannik in einem Jahrgang, das durfte nicht sein!

Dann musste sie sich halt freundlich verhalten, ja, sie konnte sehr wohl auch nett sein! Estera war ein herzensguter Mensch, fand sie.

Es müsste sich nur eine passende Gelegenheit dazu bieten.

 

Heute saßen die beiden Prinzen, Zadon und Ylma bei ihnen im Klassenraum. Alle Schüler, eigentlich die ganze Schule, waren total aufgeregt. Die Prinzen! Die Prinzen! Estera verdrehte die Augen. Sie war sich dessen bewusst, dass sie nur nicht so aufgeregt war, weil sie eben nicht aus dieser Welt kam und es sich für sie nicht wie echte Royale anfühlte. Wenn sie sich dagegen vorstellte, dass in ihrer alten Schule plötzlich echte Prinzen gewesen wären… das wäre krass! Als sie sich das vor Augen malte konnte sie ihre Klassenkameraden jetzt etwas besser verstehen.

Es würde zwei Gruppen für die Prüfung geben. Sie sollten sich zu zweit aufteilen, immer ein Krieger und ein Heiler. Sie hatten ein Paar nur mit Kriegern. Dann loste der Meister die die Pärchen für die Gruppen aus.

Natürlich hatten Estera und Katinka sofort ein Paar gebildet. Katinka war Heilerin und Estera war Kriegerin. Wobei sie auch Heilungs-Talente besaß, aber sie kämpfte lieber. Wannik dagegen konnte beides sehr gut, betonte ihr gegenüber aber stets, dass er das Heilen bevorzugte.

Sie verstand es nicht. Heilen war langweilig, Kämpfen war abwechslungsreich.

Jeder der Prinzen war in einer der Gruppen. Der Lehrer loste und schrieb dann die Namen unter denen der Prinzen auf die Tafel. Hier gab es tatsächlich noch Schiefertafeln und echte Kreide. Während es bei Estera zuhause alles schon digitalisiert ablief, erlebte sie hier teilweise „Mittelalter“, wie sie fand. Obwohl es hier auch Computer gab, sie hatte mal einen im Zimmer des Schulimperators gesehen.

Estera hoffte inständig dass sie in die Gruppe des anderen Prinzen kommen würde, nicht die von Zadon.

Sie hatte damit kein Glück. Dafür kam sie mit all ihren Lieblingsmitschülern in eine Gruppe.

Katinka las die Namen ihrer Gruppe leise mit.

„Prinz Zadon, Raban, Wannik, Katinka, Estera, Ulinpa, Bak und Lamina.“, aufgeregt tuschelten die meisten Schüler durcheinander.

Estera grinste Wannik an, der sich zu ihnen umdrehte. Sehr gut, wenn sie mit Wannik in einer Gruppe war, dann konnte sie die Prüfung doch nur noch bestehen.

Die Prüfung würde über mehrere Tage gehen und morgen früh beginnen. Heute sollten sich die Gruppen zum ersten Mal treffen und die Pflichtrollen festlegen, die eingeteilt werden sollten.

Der Meister ging und sofort übernahmen die Prinzen das Kommando. Na toll, hieß das jetzt sie bestimmten alles? Estera beobachtete wie alle ihnen folgten und ehrfürchtig zu ihnen hochschauten.

Ihre Gruppe traf sich in einem leeren Raum und setzte sich auf die Stühle oder Tische. Prinz Zadon stand vor ihnen. Ganz in der Rolle eines angehenden Herrschers.

Wir sind also eine Gruppe, lasst uns unser Bestes geben, ich freue mich auf eine gute Zeit mit euch!“, er lächelte, sah dabei aber nicht in Esteras Richtung.

„Es freut uns auch sehr und ist uns eine Ehre mit euch die Prüfung ablegen zu dürfen!“, Raban der Elb verneigte sich vor dem Prinzen. Zadon winkte ab.

„Bitte lasst alle Ehrentitel weg, ich bin jetzt einer von euch, ein Schüler der seine Prüfung ablegt, alles andere wäre merkwürdig.“, Estera beobachtete wie Wannik ein kleines bisschen lächelte. Wieso lächelte er? Was fand er lustig?

„Nun, lasst uns die Pflichtrollen verteilen. Wir brauchen einen Anführer der Gruppe.“, einen Moment sagte niemand etwas. Estera konnte nun nicht mehr an sich halten.

„Aber die Rolle hast du doch schon eingenommen, oder sehe ich das falsch?“, sie konnte hören wie Katinka neben ihr die Luft einsog. Alle anderen waren ebenfalls ruhig. Jetzt sah der Prinz sie direkt an.

„Meinst du das? Wie heißt du und was für ein Wesen bist du?“, Estera blieb auf dem Tisch sitzen.

„Ich bin Estera. Ich bin eine Kriegerin. Aber ich meine es ernst. Alles andere wäre doch merkwürdig, oder sieht das jemand anders?“, jetzt ergriff Wannik das Wort.

„Prinz Zadon, übernehmt ihr den Platz des Anführers dieser Prüfungsgruppe?“, schließlich nickt er, dann fragt er nach anwesenden Heilern. Estera meldete sich nicht. Stattdessen Wannik, Katinka und die Schönheit Lumina.

„Wer von euch möchte unser führender Heiler sein?“, Estera merkte wie Kathinka sich gleich ganz klein macht. Sie möchte das nicht gerne, sie hat Angst vor so viel Verantwortung, überlegte sie.

„Kathinka, Lumina, möchte einer von euch diese Rolle haben?“, Wannik lächelte beide an. Kathinka wirkte nervös, traute sich aber auch nicht abzulehnen. Und eigentlich, dachte Estera, wäre das auch eine gute Position um in der Prüfung eine besser Note zu bekommen.

Dann meldet sich Lumina zu Wort, und das machte sie nicht oft. Als sie redete verfehlte ihre Stimme nicht ihre Wirkung. Es war wohl so weil sie eine Nixe war, ihre Stimme jedenfalls hatte so einen wunderbaren Klang, dass man nicht anders konnte als ganz genau hinzuhören. Es war so schön das man am liebsten immer mehr hören wollte. Ihre Worte waren wie Samt und Seide, oder wie eine Melodie.

„Ich kann das gern übernehmen, aber du Wannik, bist doch der beste Heiler von allen. Und Kathinka, du bist doch mindestens genauso gut wie ich, warum nimmst du diese Position nicht ein?“, Estera hörte ihr wie gebannt zu. Wie konnte man nur so eine schöne Stimme haben?

Eine Weile sagte niemand etwas, dann als erstes der Prinz Zadon.

„Gut, dann entscheide ich… dass du es machst, Lamina. So, dann brauchen wir einen Hauptkrieger und einen Strategen.“, Stratege hörte sich gut an, Estera verdrehte innerlich die Augen, aber eigentlich war er doch nur dafür verantwortlich alle Papiere dabei zu haben und sich alles Notwendige aufzuschreiben, Sozusagen der, der die meiste Arbeit hatte, wie Estera fand. Das, fand sie schon immer, war die blödeste Rolle bei solchen Gruppen.

„Ich würde gerne der Krieger sein.“, Raban meldete sich dafür. Weiter hinten sprang der Feuerelf auf.

„Ich möchte diese Position! Raban, mach doch den Strategen!“, Estera drehte sich zu Bak um. Sie fand ihn interessant. Er sagte nicht viel, aber im Kampf war er herausragend. Das merkwürdige an ihm war, dass er eine schwarze Sonnenbrille trug. Warum auch immer er die Brille trug, sehen konnte er. Estera hatte ihn eine Weile ganz genau beobachtet. Er schrieb im Unterricht mit und auch an der Tafel hatte er schon mal geschrieben. Aber seine Augen hatte sie noch nie gesehen.

Irgendwann würde sie ihn fragen.

Und jetzt, dachte Estera, wie entscheidet unser Prinz diese Situation, ohne sich unbeliebt zu machen? Estera überlegte, sicherlich wird er Raban nehmen, er ist etwas größer und sieht auf dem ersten Blick stärker aus. Außerdem sieht er seine Augen. Menschen, oder andere Wesen, legen viel Wert auf Augenkontakt, das wusste Estera. Oder warum sonst gab es diese Sagenumwobene Liebe auf den ersten Blick? Dieses sich in die Augen schauen, Fenster zur Seele und so weiter… Jeder will in die Augen seines Gegenübers sehen können. Alles andere irritiert einen zunächst.

„Dann wähle ich aus. Ich wähle Raban aus.“, Estera verkniff sich ein Grinsen. Sie konnte Bak von weiter hinten schnauben hören.

„Ich kenne euch nicht, deswegen wähle ich den aus, der sich zuerst gemeldet hatte.“, Estera fand das nicht diplomatisch und sagte das auch direkt.

„Nach dem Motto: Wer zuerst kommt mahlt zuerst?“, alle schauten sie verwirrt an. Ach ja, Estera hatte vergessen, dass es wieder ein Sprichwort von den Menschen war.

„Schon gut, das war ein Sprichwort aus… egal. Einen Posten haben wir ja noch, wer macht den denn?“, Estera fuhr sich durch die Haare, die sie locker in einem seitlichen Zopf trug.

Zadon sah jetzt Estera ganz genau an.

„Wieso machst du nicht den Strategen? Das würde doch gut passen, hat jemand was dagegen?“, fragte der Prinz mit einem leisen Grinsen. Estera riss die Augen auf. Sie war außer sich. Sie war kurz davor zu explodieren. Aber da beendete der Prinz schon die Runde und ging.

„Er soll sich jetzt blos in Sicherheit bringen!“, Estera biss die Zähne zusammen und war kurz davor dem Prinzen hinterher zu springen. Aber da war Wannik schon bei ihr.

„Wenn du willst kann ich das Amt auch übernehmen. Das macht mir nichts.“, Estera war gerührt und beruhigte sich ein bisschen. Dann seufzte sie.

„Nein, das hat er aus Rache gemacht, da sollst du nicht drunter leiden.“, Lamina, die schöne Nixe mit den rosa Haaren verließ den Raum, als sie an ihnen vorbei ging hörte Estera sie ganz deutlich „wie niedlich“ sagen. Estera wollte jetzt wirklich aufspringen, aber Wannik hielt sie fest.

„Bleib jetzt kurz hier Estera.“, sie sah kurz in seine Augen, dann auf ihre Fußspitzen. Wie er so vor ihr stand und so freundlich war. Plötzlich war ihr ihre unbeherrschte Art peinlich. Sie stand auf.

„Schon gut.“, jetzt gingen auch die anderen Schüler aus dem Raum. Estera beobachtete sie dabei. Bak rannte fast heraus, in seinem Gesicht ein sarkastischer Zug und etwas Ungeduldiges. Ulinpa sah noch einmal zurück und ging dann ebenfalls hastig hinaus. Sie hatte immer so etwas Trauriges an sich. Wie Estera fand.

Jetzt waren nur noch Katinka, Wannik und Raban noch da.

Raban sagte, dass er sich freute mit ihnen in einer Gruppe zu sein. Dann fragte er ob sie auch fänden, dass der Prinz etwas merkwürdig zu Estera war. Estera antwortete hastig, dass sie das gar nicht so wahrgenommen hätte.

Sie wollte nicht das Raban erfuhr dass sie den Prinzen angemacht hatte. Sie wollte nicht dass Raban alle schlechten Momente von ihr wusste. Dann verabschiedete sich Raban und ging vor.

Estera seufzte tief. Wannik stand immer noch vor ihr und sah sie an. Kam jetzt eine Predigt in Sachen Ruhe bewahren? Oder hatte er wieder ein Buch was sie unbedingt lesen sollte, um den fehlenden Stoff nachzuholen?

„Hast du jetzt Zeit?“ fragte er tatsächlich und sie seufzte. Estera spürte dann dass sie jemand am Arm ergriff. Kathinka sah sie mit ihren großen Augen an.

„Soll ich schon vorgehen?“, Estera nickte und sah ihr dann kurz nach. Kathinka lief mit kleinen leichten Schritten. Für Estera war sie wie eine Elfe. So zart und verletzlich.

„Also gut Wannik, ich hab Zeit. Was machen wir heute? Meditation oder gibst du mir neue Bücher?“, daraufhin grinste er sie an. Eigentlich war sie genervt, aber wenn dieser Junge lächelte konnte sie nicht ärgerlich sein.

„Komm mit, wir trainieren ein einfach!“, verblüfft nickte Estera dem weißhaarigen. Sie hatten bisher eher selten gemeinsam trainiert, daher freute sie sich darauf.

Als sie ihm den Gang entlang folgte begegneten ihnen einige Schüler. Insgesamt gab es hier zehn oder zwölf Klassen mit je 20 bis 30 Schülern. Allerdings fanden viele Kurse in unterteilten Gruppen und teilweise auch Klassenübergreifend statt. Wie zum Beispiel die Wesenspezifischen Kurse oder die Kampf- und Sportkurse.

Viele der Schüler kannte Estera nicht, so lange war sie ja noch nicht hier.

Wannik führte sie in eine der Kampfhallen. Die Wände waren aus einem festen Material, dass auch starken physischen Kräften standhielt. Das war auch notwendig auf einem Institut in dem Wesen lebten, die die vier Elemente beherrschen und steuern konnten.

Wannik und Estera standen sich gegenüber.

„Hey, mit oder ohne Hokuspokus?“, wollte sie wissen. Damit meinte sie ob sie ihre besonderen Fähigkeiten einsetzen wollten oder nur reine Körperkraft.

„Alles ist erlaubt!“, antwortete ihr Gegenüber. Er war ganz ruhig. Estera freute sich auf die Übung und war schon ganz hibbelig.

„Gut, also wann geht es lo…-„, fragte sie, wurde aber unterbrochen als Wannik sie mit einem starken Windschlag nach hinten schleuderte.

Gerade so konnte sie sich noch abfangen, sodass es zu keinen schweren Abschürfungen kam.

„Hey“, beschwerte sie sich etwas sauer. Aber Wannik zog die Brauen hoch.

„Alles erlaubt, also braucht es keinen offiziellen Start!“, dann sprang er auf sie zu.

Estera sprang so schnell sie konnte wieder auf ihre Füße. Sie wünschte sie hätte andere Schuhe an. Heute Morgen hielt sie es für eine gute Idee Halbstiefel anzuziehen, aber jetzt störten sie.

Wannik griff sie an, sie parierte seine Schläge und Tritte, kam selbst aber zunächst nicht zum Angreifen.

Sie konzentrierte sich, dann versuchte sie es mit einem kleinen Erdbeben um ihn aus der Balance zu bringen.

Es klappte, und als Wannik strauchelte sprang sie ihn kombiniert mit einem Luftangriff an und warf ihn zu Boden.

Zumindest war das ihr Plan, doch noch bevor er mit dem Rücken aufschlug drehte er sich in der Luft mit ihr einmal um die eigene Achse, sodass sie plötzlich auf dem harten Boden aufschlug und nach Luft rang.

„Die erste Runde habe ich gewonnen“, sprach Wannik das offensichtliche aus. Aber das war in Ordnung, er gewann sowieso immer, damit hatte sie sich längst abgefunden.

Er rollte sich neben sie und blieb auf den Knien hockend neben ihr sitzen.

„Wenn du es schaffen würdest deine innere Mitte zu finden, könntest du dein wahres Potential entfalten. Estera, es steckt weitaus mehr Macht in dir als du denkst.“, Estera rang immer noch um Atem.

„Blablabla“, machte sie nur und verdrehte die Augen. Er wieder, dachte sie, er war nicht davon abzubringen, dass es noch mehr Kräfte in ihr gab, noch mehr Fähigkeiten, als die, die sie seit sechs Monaten eh schon hatte.

„Ich kann die vier Elemente beherrschen und kann es im Kampf bestimmt mit jedem Schüler hier aufnehmen, außer mit dir. Was sollte ich denn noch können?“, sie setzte sich auf und sah herausfordernd zu ihrem Gegenüber.

Er sah ihr in die Augen.

Estera starrte zurück.

Dann stand er kommentarlos auf und nickte ihr zu.

„Ich will, dass du die Prüfung bestehst!“, Estera stand ebenfalls auf.

„Dann haben wir dasselbe Ziel.“, ein bisschen gerührt war sie schon von seinen Worten. Wenn es ihm wichtig war, dass sie durch die Prüfung kam, dann musste sie ihm doch wichtig sein. Sie hatte nicht viele Leute, von denen sie wusste, dass sie sie wirklich gern hatten. Natürlich, ihre Eltern, sie liebten sie bestimmt auch aber… das war im Moment ein bisschen schwierig.

 

Nachdem Estera die nächsten drei Runden ebenfalls verloren hatte, gingen sie zurück in das Hauptgebäude.

Die Eidschule war nicht allein eine Schule. Im Keller waren die Verliese und darüber die Richtsäle. Da wurden Urteile gefällt. Die regierenden Häupter dieser Welt waren wohl häufig in den Kellergewölben um sich um die Verbrecher zu kümmern. Zuerst fannd Estera das ein bisschen gruselig. Über einem Gefängnis zu schlafen war irgendwie… andererseits, die Schule war voll von angehenden Kriegern, die Gefangenen hatten keine Chance zu flüchten. Den neben der staatlichen Wache mussten auch abwechselnd zu jeder Stunde ein paar Schüler Wache stehen. Bisher musste Estera das jedoch noch nicht.

Und nicht weiter hinter der Eidschule waren auch schon die Staatsgebäude, das Schloss und andere wichtige Gebäude.

Die Eidschlue war nicht nur eine Schule. Hier wurden Schüler ausgebildet, es wurden Krieger, Priester und Heiler ausgebildet, Gefangene bewacht und Allianzen geschaffen. Nicht selten wurden hier Partnerschaften geschlossen, entweder direkt von den Schülern, oder häufiger von ihren Eltern oder Meistern.

Estera wusste von einigen Mädchen in ihrer Klasse, die bereits Verlobt oder sogar schon verheiratet waren. Wenn beide hier zur Schule gingen bekamen sie sogar ein Zimmer zusammen. Aber erst nach der Heirat, was das anging war es hier sehr streng.

Hier, in diesem seltsamen Land war es nichts Ungewöhnliches früh zu heiraten. Ganz anders als bei den Menschen, Estera hatte schon oft überlegt was sie besser fände. Sie war sich nicht sicher, wobei sie das mit dem Heiraten okay fand, solange beide Partner damit einverstanden waren und das nicht nur von den Eltern entschieden wurden war.

Im zweiten Stock trennten sich Estera und Wannik. Die Mädchen und Jungentrakte waren in Gegenüberliegenden Richtungen.

„Trink deinen Tee!“, Rief ihr der junge noch zu, als sie sich schon umgedreht hatte.

Sie lachte und schüttelte den Kopf. Trink deinen Tee! Er war doch nicht ihre Mutter!

Aber er hatte nicht Unrecht, der spezielle Tee den sie am ersten Tag hier bekommen hatte, half ihr sehr, sich unter Kontrolle zu halten. Sie trank ihn jeden Abend und Morgen. Manchmal auch noch mittags. Je nach Tagesform.

Die Tür zu ihrem Zimmer war aus stabilen Holz. Sie öffnete sie und trat ein.

Es gab nicht viel hier im Raum. Zwei Betten, zwei Schränke, einen großen Tisch und zwei Stühle.

Dazu hatten sie den Luxus eines kleinen Bades und sogar eines winzigen Balkons.

Estera sah Katinka auf dem Balkon stehen. Ihre goldenen Haare wehten ein bisschen im Abendwind. Im Abendlicht konnte man gut die feinen hellen Linien auf ihrer Haut erkennen, die ein markantes Merkmal ihrer Art waren. Katinka war eine Sylphe, sie konnte sogar mit ihren Flügeln fliegen und Winde herbeibeschwören. Aber ihre ganze Leidenschaft galt der Heilkunde.

Estera lächelte. Sie mochte es mit so einem gutherzigen Wesen zusammen zu sein, dann hatte sie immer das Gefühl oder auch die Hoffnung, es würde etwas davon auf sie abfärben.

Nachdem sie sich gewaschen hatte und zurück ins Zimmer kam, sah sie, dass ihre Zimmergenossin noch immer auf dem Balkon stand. Estera ging zu ihr nach draußen.

„Träumst du?“, fragte sie und folgte dem Blick des blonden Engels.

Ihr Balkon war auf der Südseite, das hieß, dass sie statt auf die anderen Gebäude direkt über den Wald auf die Berge schauen konnten.

Die Sicht war klar, nur die hereinbrechende Nacht verhinderte einen genaueren Blick auf die schöne Landschaft.

Katinka lächelte, dann nickte sie.

„Ich denke schon…“, Estera grinste. Katinka war manchmal eine richtige Träumerin.

Plötzlich überfiel sie eine Angst. Wie würde Katinka in der Prüfung zurechtkommen? Estera schwor sich auf ihre Freundin aufzupassen und dafür zu sorgen, dass ihr nichts passieren würde.

 

 

Kapitel 3

Estera rappelte sich wütend wieder auf. Mühsam beherrscht drehte sie sich zu der Person um, von der sie die letzten Treppenstufen hinuntergeschubst wurde.

Die Waldnymphe Narya strahlte sie mit funkelnden Augen an.

„Oh, das Menschenmädchen ist wohl etwas ungeschickt?“, ihre Freundinnen lachten leise, aber amüsiert.

Estera hatte nicht vor sich auslachen zu lassen.

Knurrend machte sie einen Satz auf das Mädchen mit den grünen Haaren zu, diese machte verblüfft einen Schritt rückwärts und war offensichtlich nicht auf diesen Angriff vorbereitet.

Aber sie hatte es nicht anders gewollt!

Mit beiden Händen packte sie das zierliche Mädchen, hob sie hoch und drückte sie wütend an das Treppengeländer.

Die Waldnymphe zischte erschrocken und zappelte, konnte sich aber nicht befreien.

Ganz nah kam Estera ihr. Dann flüsterte sie in ihr Ohr.

„Willst du wirklich Ärger mit mir haben?“, fragte sie und hoffte, dass die Nymphe ja sagen würde.

Sie bekam keine Antwort, daraufhin schüttelte Estera Narya. Irgendjemand versuchte Estera wegzuziehen, sie spürte zwei Hände an ihrer Seite, aber der- oder demjenigen gelang es nicht.

„Was ist? Keine Antwort? Sonst hast du doch auch eine große Klappe!“, Estera beobachtete das Minenspiel des Mädchen vor sich.

Sie schien sich sehr unwohl zu fühlen, vielleicht wusste sie auch nicht, wieweit Estera gehen würde. Nun, das wusste Estera selbst auch noch nicht.

Als Sie die Nymphe noch weiter gegen das Geländer drückte, spiegelte sich deutlich eine leichte Panik in den Blick von Narya. Noch immer sagte sie nichts.

Was soll das? Verärgert schnaubte Estera.

Sie kochte, diese Narya erinnerte sie stark an Sara, ihre ehemaligen Klassenkameradin. Genauso eklig und nervig. Gut, Sara hatte sie genervt, weil sie eifersüchtig auf ihre Beziehung mit Nico war, und Narya tat dies, weil Estera anders war. Trotzdem eine gewisse Ähnlichkeit.

Sie war nicht wie sie, sie war ein Mensch und kam aus der Menschenwelt. Narya war nicht die einzige, die der Meinung war, dass Estera hier nicht hergehörte.

Aber Estera wurde ja schließlich nicht gefragt in dieser Angelegenheit. Sie hatte sich das schließlich nicht ausgesucht.

Plötzlich schwappte ein grenzenloser Zorn über sie hinweg und sie wusste nicht was sie als nächstes Tun würde. Als hätte sich diese rote Wut an sie festgekrallt mit dem Ziel, sie nie wieder loszulassen.

Estera starrte in die braungrünen Augen der Nymphe, ihre Pupillen waren so kein, ihre Augen so groß. Eine Stimme tief in ihr drin fragte sie, ob sie noch ganz dicht wäre, dass sie jemanden mit Gewalt festhielt und sogar bedrohte. Aber sie war nicht in der Lage darauf einzugehen.

Estera atmete aus und nahm nur am Rande den Rauch war, der sich aus ihrem Mund und ihrer Nase einen Weg aus ihrem Innern bahnte.

Die zierliche Nymphe hatte jetzt deutlich Angst und fing wieder an zu strampeln um sich zu befreien.

Estera drückte sie jetzt noch weiter nach hinten, der Oberkörper der Waldnymphe hing nun über dem Geländer und sie würde hinüber fallen, würde Estera sie nun loslassen.

Plötzlich wurde Estera von hinten umschlungen und weggerissen. Der Unbekannte war stärker als sie, chancenlos musste sie die Nymphe loslassen, aber erst als sie diese ein Stück mitgerissen hatte.

Narya stolperte nach vorne und landete auf ihre Knie und Handflächen. Keuchend starrte die Nymphe das Mädchen aus der Menschenwelt an. Es gab zwar genügend Gerüchte, aber das Estera wirklich so stark war und leicht zu provozieren war, hätte sie trotzdem nicht geglaubt. Als sie für einige Momente in die stechend grünen Augen dieser Bestie schauen musste, hatte sie gedacht, Estera hatte vor sie umzubringen.

Fluchend stand sie auf. Warum erlaubte die Schule diesem Mädchen ihren Besuch auf dieser? Narya strich sich die grünen Haare zurück. Diese Estera war gemeingefährlich!

Eilig rauschte sie an den anderen Schülern der Eidschule vorbei, und jeder an dem sie vorbei lief meinte zu hören wie das Laub an den Baumkronen rauschte.

 

Estera landete nicht hart, als sie auf ihren Gegner gerissen wurde. Der Aufschlag raubte ihr trotzdem für einen Moment den Atem. Als sie wieder Luft bekam versuchte sie sich von der Umklammerung zu befreien. Aber der Griff war eisern. Mühsam arbeitete sie daran sich umzudrehen, damit sie wenigstens sah, wer sie nun festhielt.

„Verdammt!“, fluchte sie als sie Wannik erkannte. Natürlich, wer auch sonst.

„Atme tief ein und langsam wieder aus!“, gebot er ihr.

„Ich habe jetzt kein Bock auf deine Meditationsübungen!“, patzte sie ihn an und machte sich endlich los. Wahrscheinlich schaffte sie dies nur, weil er sie ließ.

Kurz nahm Estera wahr, dass ungefähr ein dutzend Schüller sie anstarrten. Einen Moment überlegte sie, ob sie sich ein paar von denen, die so interessiert herschauten, etwas näher kommen sollte um ihn klar zu machen, dass es sehr unhöflich war zu starren.

„Estera, komm mit.“, ihr Blick flog wieder zu Wannik. Noch immer schlug ihr Herz heftig in ihrer Brust und ihre Nasenflügel blähten sich vor unterdrückter Wut.

Sie sollte mit ihm gehen, sie sollte wirklich mit ihm gehen. Denn wenn sie es nicht tat, dann würde sie vielleicht wieder etwas Dummes tun.

Estera rührte sich nicht.

Sie sollte wirklich mit ihm gehen, überlegte sie wieder.

Dann kam Wannik auf sie zu. Direkt vor ihr blieb er stehen und streckte seine Hand auffordernd nach ihr aus.

Als sie ihm in seine Augen schaute brauchte sie nicht mehr zu überlegen und ergriff seine Hand.

Wannik führte sie, nicht wie angenommen in einen der leeren Unterrichtsräume, sondern in Richtung der Meisterräume.

Sie schluckte, würde er sie etwa zum Direktor bringen?

Stattdessen gingen sie daran vorbei und traten schließlich in die Krankenstation ein. Wannik setzte sich auf einen Stuhl und deutete auf ein Bett.

Estera blieb zögernd stehen.

„Mir geht’s gut.“, sie verschränkte die Arme.

Wannik zog eine Braue hoch und sah sie sorgenvoll an.

„Estera, was war das gerade?“, seine Stimme war tief und hatte einen sanften Klang. Sie wollte nicht dass er sauer auf sie war. War er denn sauer? Sie war sich nicht sicher ob Wannik überhaupt wütend sein konnte.

„Diese Waldtussi hat mich provoziert.“, erklärte sie trotzig.

Ihr Gegenüber sagte nichts, sah sie aber mit diesem Blick an. Einen Blick der so ruhig wie der Nachthimmel war und gleichzeitig stechend wie der eines Adlers.

Ihm entging wohl nichts.

„Ja okay, ich habe die Beherrschung verloren. Aber sie hat mich geschubst! Die Treppe runter, ehrlich!“, Estera fand, das war ein triftiger Grund. Diesmal war sie wirklich nicht Schuld gewesen, diese Narya war Schuld, sie hatte angefangen und hätte ihr sogar wehtun können.

Sie hörte wie Wannik tief ein- und ausatmete.

„Siehst du, es ist so... es spielt keine Rolle wer dich provoziert. Deine Aufgabe ist es die Kontrolle über dich zu wahren! Wenn du das nicht lernst, dann kannst du... dann hast du ein ernsthaftes Problem! Du bist wie eine Naturgewalt, wie ein Hurrikan, den keiner Beherrschen kann und der nur zerstört!“ Estera konnte es sich nicht verkneifen die Augen zu verdrehen. Wieder diese Predigt. Das hatte sie schon tausendmal gehört.

Außerdem mochte sie es nicht wenn Wannik sie mit einer Naturkatastrophe verglich.

„Ich bin keine...“, fing sie an und fuchtelte mit den Händen dabei. „keine Katastrophe. Ich bin ganz normal!“

Ruckartig sprang Wannik auf und kam einen Schritt auf Estera zu.

Erschrocken von seiner plötzlichen Bewegung machte sie einen Schritt rückwärts, dabei stolperte sie gegen das Bett und plumpste auf die Matratze. Wannik folgte ihrer Bewegung, beugte sich zu ihr nach unten und legte beschwörend seine Hände auf ihre Schultern.

„Estera, du bist alles andere als Normal! Vergiss das nie! Du bist etwas Einzigartiges! Selbst in einer Welt voller phantastischer Daseinsformen und Wundern bist du etwas Besonderes! Du bist zwar ein Mensch, doch trägst du in dir eine Macht mit der du eine Welt vernichten kannst!“

Ein kalter Schauer fuhr ihr über den Rücken. Wannik war ihr so nah gekommen, dass sie jetzt jede Einzelheit seines Gesichts ohne Anstrengung erkennen konnte. Die kleinen Lachfalten und sogar die Poren in seiner Haut.

Augen... Mund... Nase...

War er nicht wie sie? Wieso betitelte er sie als etwas Besonderes? Sie war nicht einzigartiger als er.

Trotzdem verursachte ihr das Gesagte ein Unbehagen. Kein Mensch oder Wesen sollte solch eine Macht besitzen.

Sie glaubte nicht, dass sie diese Kraft, von der er sprach besaß.

Estera schaute zur Seite und unterbrach damit den Blickkontakt mit ihren Mentor.

„Und du? Bist du nicht noch viel mächtiger? Immerhin besiegst du mich in jedem Duell.“ Wannik nahm seine Hände von ihrer Schulter und verschränkte seine Arme vor der Brust.

„Estera, es geht grad um deine mangelnde Selbstbeherrschung, das hat nichts mit mir zu tun.“ Der weißhaarige seufzte noch mal so schwer dass Estera kurz überlegte ihm den Platz auf dem Krankenbett anzubieten.

„Ich weiß, aber du hast wieder mit der Naturgewalt angefangen und blablabla... ich weiß doch auch nicht was ich noch machen soll, ich gebe mir ja solche Mühe nicht auszuflippen. Aber wenn dann so ein blödes Blümchen daher kommt und mich angreift, dann... dann kann ich nicht anders.“ bekannte sie und schlug die Augen nieder.

 

 

Wannik sagte eine Weile nichts. Unsicher sah Estera schließlich wieder zu ihm hoch. Er sah sie nachdenklich an und seinem Minenspiel konnte sie nichts entnehmen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, wie es Estera schien, nahm er das Wort wieder an sich.

„Estera, komm mit.“ Dann drehte er sich um und ihr blieb nichts anderes übrig als ihm zu folgen.

Sie starrte auf den Rücken von Wannik. Unter dem grauen langen Oberteil erahnte man den schlanken, trainierten Körper des Jungen. Darunter trug er eine braune Lederhose und schwarze Halbstiefel. Um seine Hüfte lag ein brauner Ledergürtel. Daran hingen die Schwertscheide und ein kleiner Beutel und auf der anderen Seite war ein grünes Band geknotet. Estera hatte genauso eines an ihrem eigenen Gürtel. Es war ein Zeichen dafür, dass es sich bei den Trägern um Schülern in der Ausbildung handelte. Fertige Krieger trugen ein schwarzes und die Priester und Heiler ein weißes Band.

Dann gab es noch für die verschiedenen Stände verschiedene Farben. Der König trug zum Beispiel ein Band mit mehreren Farben, wie Gold, Silber und Violett. Das hatte sie in einem der Bücher gelernt die sie zur Strafe abschreiben musste.

Estera stellte Wannik keine Fragen sondern folgte ihm ergeben. Jeder Schritt verursachte ein leises Klacken ihrer Schuh-Sohlen.

Sie selber trug etwas Ähnliches wie Wannik. Ihr Oberteil war nur etwas länger, es reichte ihr bis zu den Knien und war an beiden Seiten eingeschnitten. Und im Gegensatz zu Wannik trug sie noch eine Weste darüber.

Manchmal vermisste sie ihre Lieblingsjeans oder einen gemütlichen Sweat-Pullover, aber meistens war sie so damit beschäftigt alles zu erlernen und sich nicht aufzuregen, dass sie abends todmüde ins Bett fiel und tagsüber auch keine Zeit zum Grübeln hatte.

Als sie draußen ankamen wehte ein Wind und Estera stieg der Duft irgendeiner Blume in die Nase. Vielleicht war es Flieder, vielleicht aber auch eine Blüte die es nur hier in Nemis gab.

Zielstrebig ging Wannik auf den nahen Wald zu. Was hatte er vor?

„Hey Wannik, wo gehen wir hin?“ fragte sie nun doch als sie es nicht länger aushielt. Ihr Mentor drehte sich kurz zu ihr um, ging dann aber wortlos weiter. Ein bisschen ärgerlich stapfte Estera ihm hinterher.

Der Weg den sie gingen führte sie durch eine Allee bis zu einem großen Tor aus Stein. Davor blieb Wannik stehen und legte seine Hand auf die rechte Säule des Tors.

„Was machst du da?“ Estera sah sich irritiert um. Es nervte sie zunehmend dass er sie so im Dunkeln tappen ließ.

Etwas glitzerte.

Sie sah sich den Wald durch das Tor genauer an. Dann wurde das Leuchten stärker und plötzlich glühte das gesamte Tor, bis es eine Lichtung frei gab.

„Was… was hat das zu bedeuten?“

Wannik nahm ihre Hand und zog sie mit sich durch das Tor.

„Das ist eines der Wandeltore. Damit habe ich eine Verbindung zu einem anderen Ort hergestellt. Ich will dir an diesem Ort etwas zeigen.“ Ohne Gegenwehr ließt sie sich durch das Tor ziehen.

Auf der anderen Seite traten sie auf eine weite Wiese. Irgendwo rechts von ihnen sah sie einen Wald, links türmten sich steinerne Klippen in die Höhe.

Und weit oben am Himmel flogen Vögel, Estera konnte sie nur als schwarze Punkte erkennen.

„Jetzt warten wir.“ Wannik hüllte sich in geheimnisvolles Schweigen. Genervt, aber auch fasszieniert von Allem blieb sie an Ort und Stelle stehen.

Die Vögel schienen etwas niederiger zu fliegen, denn die Punkte wurden zu Klecksen.

Sonst passierte nichts.

 

„Das ist ziemlich langweilig, ehrlich gesagt.“ Erklärte die Schülerin ihren Mentor, erhielt aber keine Antwort.

Wie lange standen sie hier jetzt schon? Eine Stunde? Oder sogar noch länger? Sie könnte in der Zeit wirklich was besseres anfangen, erst Recht da morgen die Prüfung beginnen würde. Grade wollte sie den weißhaarigen Jungen ihre Meinung zu diesem Ausflug sagen, als sie etwas wahrnahm.

Ein Gefühl von Bedrohung, als wenn kalte Grauen sich nach ihr strecken würden.

Was war das?

Misstrauisch schaute sie sich zum hundertstenmal auf der Lichtung um. Und da bemerkte sie etwas.

„Da hinten ist irgendwas“, hauchte sie aufgerägt, mit einer Spur von Angst. Wannik schien das längst bemerkt zu haben, denn er nickte nur. Estera spürte wie ihr deswegen der Ärger hinaufsteigen wollte, doch sie schluckte ihn mühevoll hinuntert. Genau wie die aufkommende Panik.

Denn von den steinernen Klippen kam irgendetwas auf sie zu. Etwas großes, doch es war zu weit entfernt, als dass sie sagen könnte was es genau war. Auf jeden Fall kein Mensch.

„Ist das ein Tier?“, sie hoffte dass man ihr die Angst nicht anmerken würde. Und während sie die Frage laut aussprach, verdrehte sie innerlich die Augen. Ist das ein Tier? Was sollte es den sonst sein?

Na ja, in dieser Welt gab es vielleicht auch Monster? Oder Dämonen, Vampire… letztendlich hatte sie keine Ahnung. Bisher war sie stets nur in der Eidschule gewesen.

Wütend auf sich selbst verschränkte sie die Arme vor der Brust und starrte mit zusammengezogenen Brauen in die Richtung aus der das unangenehme Gefühl kam.

„Das ist doch Quatsch….“, flüsterte sie sich zu. Ein Gefühl kam nicht aus einer bestimmten Richtung, es entstand in einem Drinnen in bestimmten Situationen. Also konnte sie sich einfach zusammenreißen und cool bleiben!

Nicht dass das eine ihrer herausragenden Stärken wäre…

Jetzt war das Tier so nah gekommen, dass sie Einzelheiten ausmachen konnte.

Irgendwie war es ganz schön groß für ein Tier, es hatte vielleicht die Größe von einem Rind, aber keine Hufen, der ganze Gang war irgendwie anders.

„Ein Bär?“, hoffnungsvoll sah sie zu ihrem Mitschüler hoch. Doch dieser sah weiter, mit zusammengekniffenen Augen, diesem Tier entgegen.

„Verdammt jetzt rede mit mir!“, entfuhr es ihr plötzlich ungehalten, mit einer Hand packte sie seinen Arm. Daraufhin wandte Wannik sich ihr zu.

„Das ist kein Tier. Das ist eine Manifestation von… oder sagen wir, es ist ein Tier. Ein sehr, sehr böses Tier.“

Skeptisch starrte Estera Wannik an und überlegte, was sie von seinen Worten halten sollte.

Nahm er sie auf den Arm?

Wannik löste seinen Arm von ihrer Hand und legte stattdessen seine Hand auf ihre Schulter um sie wieder in die andere Richtung zu drehen.

„Schau genau hin. Was fühlst du, wenn du in dich hinein horchst?“, Estera hätte am liebsten von ihrem unangenehmen, beklemmenden Gefühlen erzählt, die sie hatte seitdem sie hier auf das Näherkommen von dieser blöden Kreatur warteten.

Aber sie sagte davon nichts, er meinte wahrscheinlich etwas anderes, und nicht ihre Angst in dieser Situation.

Und eigentlich hatte sie gedacht, dass sie nicht mehr so schnell ängstlich werden würde, immerhin ging sie nun in einer fremden Welt, voller spektakulären Wesen auf eine Schule und konnte Elemente so beherrschen und manipulieren, dass sie damit Kämpfen konnte.

„Was spürst du jetzt?“, Estera gab sich einen Ruck.

„Ich… es ist ein bisschen gruselig.“, umschrieb sie ungelenk die Furcht, die sie spürte. Um von ihren Gefühlen abzulenken, fragte sie ob das Tier gefährlich ist.

„Ja, das ist mit Abstand das gefährlichste Geschöpf, was dir jemals begegnet ist.“, verblüfft und zutiefst verunsichert drehte Estera sich wieder zu Wannik um.

„Was? Wenn es so gefährlich ist, warum stehen wir dann noch hier?“, daraufhin nickte Wannik unpassender Weise.

„Was ist das für eine beschissene Antwort?“, konnte sie sich nicht zurückhalten zu fragen.

Langsam wurde sie wirklich sauer. Er erklärte überhaupt nichts, die ganze Zeit! Und ließ sie wie ein dummes Kind im Dunklen tappen. Und jetzt sagte er ihr nebenbei dass vor ihnen ein gemeingefährliches Wesen auf sie zukam!

Sie hatte nicht mal eine Waffe oder in irgendeiner Weise eine Vorbereitung auf so eine Situation. Was dachte er sich nur dabei?

Wütend stampfte sie auf den Boden auf. Und als wäre das ein Zeichen gewesen wurde das Tier plötzlich schneller.

Es rannte nun direkt auf sie zu.

Panisch schrie sie Wannik an, was sie jetzt tun sollte.

Dieser war immer noch genauso ruhig wie die ganze Zeit über.

„Schau heute nur zu. Denn später wirst du gegen solche Monster kämpfen müssen. Das ist unsere Aufgabe in dieser Welt.“ Daraufhin war das Tier fast bei ihnen angekommen und Wannik sprang nun auf darauf zu, ehe es sie ganz erreichen würde.

Das war auch gut so, denn Estera, die stärkste Schülerin der Eidschule, war starr vor Angst.

In ihrem Kopf drehten sich hundert Gedanken im Kreis, während ihr Mentor das Tier mit einer Windböe ein paar Meter zur Seite schleuderte.

Sie konnte das auch! Sie konnte auch kämpfen!

Sie hob ihre Arme, ihre Hände zitterten und ihr Herz schlug wie verrückt.

„Ich sollte kämpfen!“ hauchte sie und plötzlich wurde ihr unglaublich kalt, obwohl die Sonne schien und sie vor Panik anfing wie verrückt zu schwitzen.

Währenddessen hatte Wannik ein Schwert aus Feuer geformt und hieb auf die Kreatur ein. Es dauerte nicht lange bis der muskulöse, schwarzbepelzte Körper leblos am Boden lag.

Als sich Wannik von dessen tatsächlichen Tot überzeugt hatte, drehte er sich zu seinem Schützling um.

„Du kannst kommen, es ist tot.“, nickend blieb Estera wo sie war. Sie hatte immer noch das schaurige Grunzen im Ohr was dieses Monster kurz vor seinem Ableben von sich gegeben hatte.

Und dieser Gestank war schrecklich. Ihr Magen drehte sich um und sie war kurz davor sich zu übergeben.

Genauso schlimm war der Anblick von diesem schrecklichen Tier. Niemals hatte sie etwas hässlicheres gesehen.

Sie würde garantiert keinen einzigen Schritt näher an dieses Scheusal kommen. Ob es nun tot war oder nicht.

„Estera?“

Langsam schüttelte sie ihren Kopf. Der Kampf war unglaublich schnell verlaufen. Wannik hat jede Aktion präzise ausgeführt, sodass ihr wohl die gesamte Zeit über tatsächlich keine wirkliche Gefahr gegolten hatte.

Unerwartet berührte sie jemand an der Schulter. Erschrocken fuhr sie auf.

Wannik, natürlich, hier waren ja auch nur sie beide. Als er anfing sie aufmerksam anzusehen drehe sie sich weg.

„Können wir wieder zurück?“, mit beiden Armen umschlang sie ihren Oberkörper.

Und als sie die Lichtung verließen nagte die Scham an ihr.

Sie war starr vor Angst gewesen, sie brauchte zwar nicht kämpfen, aber wenn sie es hätte tun sollen, dann hätte sie jämmerlich versagt.

Wie hatte sie nur die letzten Monate so arrogant sein können, nur weil sie besondere Fähigkeiten hatte und irgendwie stärker war als die anderen, machte sie das noch lange nicht zu einer besseren Kriegerin.

Oder zu einem besseren Menschen.

Am steinernen Tor machte Wannik wieder irgendwas und sie konnten wieder zurück zur Eidschule gelangen.

Den Weg durch den Wald bis zum Schulgebäude verbrachten sie schweigend. Nur hin und wieder spürte Estere seine Blicke auf ihr.

„Was fühlst du?“

So eine blöde Frag! Innerlich fluchte sie darüber. Denn die wahre Antwort darauf würde Worte wie: Scham, Angst und Furcht beinhalten.

Beschissen fühlte sie sich!

„Es geht.“, wich sie aber auf, um jeder weiteren Konversation aus dem Weg zu gehen. Sie wollte jetzt ganz bestimmt nicht über ihre Gefühle reden und sich noch schlechter fühlen. Und noch weniger wollte sie, dass Wannik enttäuscht von ihr war.

Er war ihr Tutor, er hatte sich immer wieder so viel Zeit genommen um ihr alles beizubringen, trainierte mit ihr und zeigte ihr wie sie meditieren konnte.

Und jetzt, bei der ersten Gelegenheit etwas zu tun, oder zumindest einfach mutig zuzuschauen wie er ein Monster besiegte, versagte sie wie ein kleines Kind.

Wieder kroch dieser Geruch, nach verbranntem Fleisch, Moder und gammligen Früchten in ihre Nase und beschworen das grauenhafte Bild dieser Kreatur in ihr herauf.

Und dagegen sollte sie auch mal kämpfen?

Schwindelig griff sie nach dem Treppengeländer, als sie auf den Seiteneingang zustiegen.

„Estera, es ist nicht schlimm, wenn du Angst hattest. Das senden diese Wesen auf…“, sie wollte nicht darüber reden, also ging sie einfach etwas schneller die Treppen herauf.

Aber Wannik hielt sie auf, indem er sie am Arm festhielt. Mit zwei Schritten stand er auf ihre Stufe und drehte sie an der Schulter zu sich herum.

„Hör mir zu, du hast nichts falsch gemacht. Und ich pass auf, dass dir nichts passiert. Vertrau mir!“

Darum ging es doch gar nicht!

„Ich weiß.“ Sagte sie deshalb und kurz schaute sie ihm in die Augen, aber nur kurz, denn sie wusste, dass er in ihren lesen konnte wie in einem Buch. Und das durfte er jetzt nicht, weil das nur dazu geführt hätte, dass er nachfragte und sie wollte, nein sie musste jetzt wirklich alleine sein.

Alleine mit sich und ein paar Selbstvorwürfen.

Ein Mitschüler rettete sie aus dieser Misere.

„Wannik, der Direktor sucht nach dir.“ Mit einem weiteren Blick auf sie verabschiedete er sich schließlich und verschwand schnellen Schrittes im Gebäude.

Tief atmete Estera aus und setzte sich auf die Treppenstufe, auf der sie grade noch gestanden hatte.

Sie atmete ein und aus und versuchte irgendwie diesen Geruch loszuwerden und vor allem dieses Gefühl.

Das Gefühl von Machtlosigkeit, Schutzlosigkeit und Panik. Noch nie hatte sie sich so hilflos gefühlt.

Aber die Gefahr war doch vorbei! Eigentlich gab es nie eine richtige Gefahr, Wannik war doch die ganze Zeit bei ihr.

Was nützten ihr alle Mächte der Welt, wenn sie sie nicht im richtigen Moment einsetzen konnte?

Hektisch versuchte sie sich zu beruhigen.

Die Hände auf ihr Gesicht gepresst unterdrückte sie den Drang zu weinen oder zu schreien.

Warum nur, hatte sie ihre Gefühle so überhaupt nicht unter Kontrolle? Was war das, was stimmte nicht mir ihr?

Als sie das Gefühl hatte sich wenigstens etwas beruhigt zu haben nahm sie die Hände weg und atmete tief aus.

Eine graue Wolke verließ ihren Mund und vermischte sich mit der Abendluft.

Wie hypnotisiert starrte sie den Schlieren, die sich schnell ganz verloren, nach.

Schon wieder!

Was war das?

Taumelnd sprang sie auf und rannte die restlichen Treppenstufen hinauf. Plötzliche Kopfschmerzen ließen sie etwas langsamer weiterlaufen.

Die Fluren waren ziemlich leer. Auf den Weg in den Bereich in welchem die Schüler untergebracht waren traf sie nur vereinzelt Mitschüler.

Als sie die letzte Treppe hinaufging begegnete sie dem Elben Raban. Trotz allem freute sie sich darüber und grüßte ihn. Schnell fuhr sie sich durch die Haare, die wie immer geflochten waren um möglichst wenig Knötchen zu bilden. Dabei merkte sie, das wahrscheinlich nicht mehr viel von ihrer Frisur übrig war, hoffte aber dennoch ein halbwegs nettes Bild abzugeben, immerhin stand Raben neben ihr!

„Estera, warst du auch noch trainieren?“ Sie nickte und gemeinsam setzten sie ihren Weg fort.

„Ja… mit Wannik.“

„Dein Tutor… Estera, nach der Prüfung, lass uns auch wieder mal trainieren.“, lächelnd nickte sie.

Nach der Prüfung… das hatte sie ganz vergessen. Morgen würde die Prüfung beginnen und über drei Tage laufen.

Tief seufzend fuhr sie sich mit der Hand über das Gesicht.

Blut.

Ihre Hand war voller Blut. Alarmiert blieb sie stehen und starrte diese an. Wo kam das Blut her? Schnell strich sie sich mit der anderen über die Oberlippe.

„Oh, deine Nase blutet!“ Genervt versuchte sie mit ihren Händen irgendwie den Blutfluss auzufhalten, damit er nicht ihre Kleidung besudelte.

Raban hielt ihr plötzlich ein Taschentuch vor die Nase. Kurz registrierte sie noch, dass es ein hübsches Tuch war, hellblau und schön bestickt.

Sofort drückte sie es sich vor die Nase.

„Komm mit, wir gehen zur Krankenstation.“, ohne auf ihre Antwort zu warten nahm er ihren Arm und lief mit ihr die Treppe wieder hinunter.

„Es geht schon… Meine Nase blutet blos!“, versuchte sie ihn zu beruhigen und ärgerte sich maßlos über diese Situation.

Warum musste ihre Nase ausgerechnet jetzt anfangen zu bluten? Vor Raban?

Und dieser Geruch nach Blut machte sie verrückt. Wieder kamen die Bilder von dem schwarzen Monster in ihren Gedanken hervor.

Und ihr wurde übel. Und sie glaubte nicht, dass sie es dieses Mal würde zurückhalten können.

Als sie die Krankenstation betreten hatte riss sie sich los um schnell in die angrenzende Toilette zu laufen um sie zu übergeben.

Als sie fertig war blieb sie einfach sitzen und lehnte sich gegen die Wand.

Verschwommen nahm sie war, dass Raban mit einer weiteren Person neben ihr hockte und irgendwas sagte.

Sie konzentrierte sich etwas mehr und nun konnte sie Jutelin, den Heiler, erkennen. Innerlich verdrehte sie ihre Augen.

Auch das noch.

Plötzlich erschien ein dampfender Becher vor ihren Augen. Jutelin reichte ihn ihr. Mit zitternden Händen nahm sie ihn entgegen und versuchte etwas zu trinken.

Als sie einatmen wollte tat sie das dummerweise mit der Nase und ein Schwall Blut landete so in ihren Rachen, was sie erneut zum Würgen brachte.

So widerlich! Dachte sie und versuchte alles um sich nicht erneut übergeben zu müssen.

Eine unheimliche Last legte sich auf ihren Brustkorb, so dass es ihr schwer fiel zu atmen. Mit beiden Händen griff sie sich an ihr Herz und ließ dabei die Tasse fallen.

Aber das war egal. Wichtiger war, dass sie wieder Luft bekam.

Erstickt rang sie nach Luft.

Und dann war da wieder dieser Moment. Ihr Herz hörte mit einem stolpernden, erstmal letzten Schlag, auf zu schlagen und ließ sie damit alleine in einer merkwürdigen Zeitlosigkeit zurück.

Bin ich jetzt tot? Fragte sie sich ernsthaft und presste ihre Augen fest zusammen.

Das wollte sie aber nicht! Sie wollte leben!

Augen aufreißend, versuchte sie wieder ihre Umgebung wahrzunehmen und diesem Meer aus Schwärze zu entkommen.

Da war jemand über ihr. Ein Gesicht befand sich, mit einem flehendem Ausdruck, direkt vor ihrem.

Das war Wannik, seine weißen Haare und seine Augen waren unverkennbar. Er sagte etwas, aber sie konnte nichts hören.

Also versuchte sie besser hinzuhören.

„Estera! Atme!“, endlich konnte sie seine Worte verstehen.

Stimmt, sie sollte Atmen! Um zu leben musste man atmen!

Sie öffnete den Mund, versuchte einzuatmen, tat wirklch ihr bestes, scheiterte jedoch.

Und ihr Herz tat so schrecklich weh, dass sie weinen musste. Und da wurde ihr klar, es schlug immer noch nicht.

Und ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, spürte sie plötzlich Wanniks Hände, die ihr Gesicht umfassten und seine Lippen auf ihren.

Tief schauten seine indigo Augen in ihre Seele und schienen ihr erklären zu wollen, wie das noch mal ging, mit dem Atmen. Zeitgleich strömte ein Hauch Luft von von Wanniks Lungen durch ihre geöffneten Lippen und versorgten ihren Blutkreislauf wieder mit Sauerstoff.

Zeitgleich mit dem ersten, assistierten, Atemzug trat ihr Herzschlag mit einem unangenehmen Poltern wieder seinen Dienst an.

Ungläubig horchte sie unglaublich dankbar ihrem eigenem Herzschlag nach. Jede Muskelkontraktion vom wichtigsten aller Muskeln bereitete ihr eine unheimliche Freude.

Sie lebte!

Ein letztes Mal spendete Wannik ihr einen Atemzug Sauerstoff, dann entfernte er sich ein paar Zentimeter von ihr, beobachtete ihr Gesicht ganz genau.

„Herr im Himmel, sie atmet wieder!“, hörte sie Jutelin erleichtert ausstoßen.

Zögerlich rückte Wannik nun etwas weiter zurück. Dabei bemerkte sie, dass sie auf dem Boden lag, während er neben ihr kniete.

Mit dem Kopf drehe sie sich zur Seite und sah nun Jutelin, ebenfalls neben sich knieen. Und noch jemand saß da, etwas weiter entfernt und ziemlich erschrocken, Raban.

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.06.2019

Alle Rechte vorbehalten

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