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Wenn man mal ehrlich ist, wer will nicht von jedem gemocht werden?

Schultoiletten sind ekelig und ständig besetzt.

Jetzt muss ich mich auch noch davor stellen und darauf warten, dass irgendein Mädchen fertig mit… damit ist und hoffen, dass diese nicht irgendwelche unangenehmen Magen-Darm-Probleme hat…

Während Schüler an mir vorbeilaufen, komme ich mir wie auf dem Präsentierteller vor. ‚Die geht gleich aufs Klo!‘, das denkt man doch, wenn man Leute davor stehen sieht. Total blöde Assoziationsmöglichkeit.

Endlich kommt ein Mädchen heraus.

Sie sieht zumindest nicht krank aus.

Schnell gehe ich an ihr vorbei und tue was getan werden muss.

An den Wänden stehen seltsame Sätze und Initialen. „Ich war hier”. Wow, denke ich ironisch, im Ernst, das ist nichts Besonderes, hängt nun mal mit bestimmten biologischen Umständen zusammen.

Als ich vor dem Waschbecken Annika und zwei andere Mädchen sehe, seufze ich innerlich gequält auf.

Ich mag das nicht. Ich möchte sie jetzt nicht ansprechen müssen. ‚Darf ich mal ans Waschbecken?‘, oder so ähnlich. Ich meine, natürlich darf ich, aber wenn ich nur sagen würde, ‚ich muss da mal hin‘, hört sich das doch mega unfreundlich an! Und Annika ist sowieso immer so herablassend zu mir. Einen dummen Spruch muss ich jetzt nicht hören.

Aber ich bin weder höflich noch unfreundlich. Stattdessen tue ich das, was ich besonders gut kann.

Warten, bis es vorbei ist. Bis die Prinzessinnen weg sind.

Es dauert eine Weile, denn diese haben so einiges zu tun. Erst mal muss mit aufgerissenen und ernsten Blicken in den Spiegel gestarrt werden. Sehr beängstigend! Wahrscheinlich denken sie sich das auch, denn dann wird gelächelt.

Bestandsaufnahme bestanden? Nein, Annika runzelt unwillig ihre gezupfte Braue. Jetzt wird gepudert, getuscht und auf den Lippen gemalt. Zum Schluss noch einmal durch die Haare fahren. Ein letzter Blick in den Spiegel, äußerst zufrieden und dann…- ein Blick zu mir?! Mist! Der typische Annika-Blick: beide Augenbrauen hochgezogen, ungefähr bis zum Scheitel und die vollen Lippen nach unten verzogen.

Na toll!

Beim Händewaschen versuche ich nicht in den großen Spiegel zu gucken, doch gerade des Nichtversuchens wegen tue ich es.
Mein Spiegelbild ist nicht besonders, obwohl eigentlich schon. Besonders langweilig nämlich.

Ich schminke mich nicht und tue auch sonst nichts, was meinem Anblick in irgendeiner Art gut tun würde.

Doch habe ich dichtes schwarzes Haar, so wie mein Vater. Manchmal glänzen meine Haare bläulich im Licht, deswegen verirrt sich öfter mal ein Blick zu meiner öden Gestalt und wendet sich dann enttäuscht wieder ab.

Jetzt beuge ich mich doch etwas näher zum Spiegel. Meine Lippen. Meine Lippen mit ihren schönen Schwung. Sie sind das, was ich an mir mag. Die habe ich von meiner Mutter.

Ich trete wieder zurück und mustere meinen Körper noch einmal von oben bis unten.
Trotz des weiten Pullis den ich trage, sieht man meinen Busen mehr als deutlich. Am liebsten wäre ich flach wie ein Brett. Dann hätte ich keine Probleme beim Kleidungskauf und eine Sache weniger, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann.

Ich mag das nicht. Blicke auf mir, Blicke die mich mustern. Mich irgendwo einsortieren und schließlich abgestempelt in irgendeiner Schublade vergessen.

Zum Glück bin ich nicht dick, klar, einen kleinen Wohlfühlbauch habe ich, aber unter Klamotten sieht man den sehr wenig. Aber was man sieht, ist meine Hüfte! Ihretwegen muss ich mir immer eine Hosengröße größer kaufen, weil ich sonst den Knopf nicht zu bekomme.

Also, aber im Grunde bin ich nicht dick, wirklich nicht. Natürlich auch nicht dünn, obwohl Chana immer sagt, dass meine Beine so dünn wären. Na ja, vielleicht die Partie unter dem Knie und am Knöchel, ansonsten würde ich da eher ein anderes Adjektiv für gebrauchen.

Na dann bin ich eben normal. Okay, wenn ich mich mit anderen Vergleiche nicht, dazu habe ich an manchen Stellen einfach zu viel.

Ich drehe mich einmal halb um mich selbst und sehe dabei wie gebannt in den Spiegel.

Mist, mein Po sieht heute echt groß aus. Aber die weitgeschnittene Cordhose ist wahrscheinlich nicht ganz unschuldig daran.

Oh nein! Ich glaub ich bin unförmig…
Warum sehe ich nicht wie Annika oder so aus?
Nein, das will ich eigentlich gar nicht.
Trotzdem ärgert mich das Ganze irgendwie. Warum gibt es diesen Standard? Warum ist es immer so? Die beliebten Mädchen sind hübsch. Die beliebten Mädchen haben einen Freund. Oder gleich mehrere… Und die beliebten Mädchen… sind… na ja, eben beliebt.

Ich schaue noch mal in den Spiegel. Eigentlich kann ich ganz gut verstehen warum ich bislang noch keinen Freund hatte. Ich bin einfach nicht das, was sich Typen wünschen.
Vielleicht werde ich ja auch erst mit Zwanzig schön, das passiert manchmal!

Hoffe ich zumindest.
Ich bin ja erst sechzehn.
Und in drei Tagen habe ich Geburtstag.
Es klingelt.
Schnell verlasse ich die Toilette und laufe den Flur entlang. Als ich an der Männertoilette vorbeigehe, schlägt mir ein fieser Stank entgegen. Ich bin so froh dass ich ein Mädchen bin! Wenn auch ein unförmiges…
Auf meinem Sitzplatz angekommen, drehe ich mich nach links, zu Chana. Der Platz rechts von mir ist frei. Chana ist sehr reich. Ihr Vater ist der Chef irgend so einer Mechatronik Firma oder so und wenn wir weggehen muss immer ihr Bodyguard mit! In der Schule ist sie zum Glück meistens von ihm befreit.

Vor mir sitzt meine andere Freundin, Sarina. Sie ist sogar ein bisschen mit Annika befreundet! Aber nur weil die Mutter von Sarina einen modischen Kosmetik-Schnick-Schnack-Laden betreibt und natürlich mit den Preisen auch mal runtergeht, wenn Freundinnen von ihrer Tochter da sind. Der Laden ist nämlich sau teuer und ich selber habe nur einmal eine winzige Haarspange gekauft als ich nicht anders konnte, weil Sarina´s Mutter mir 30% versprochen hatte. Die Spange, die ich noch nie getragen habe weil sie rosa ist, hat mich zehn Euro gekostet!

Ich trage nämlich kein Rosa, das sieht mir zu sehr nach diesen heftigen mädchenhaften Mädchen aus.

Sarina findet Rosa und Pink toll, sie trägt es auch oft und es sieht gut aus, aber ich trage so etwas echt nur unter Zwang!

Bevor unser Lehrer hereinkommt, erzählt mir Chana was sie geträumt hat und was das bedeuten würde.

„Katzen bedeuten Glück! Zumindest wenn sie einen im Traum nicht angreifen…“, sie lacht und dabei fallen ihr ihre kurzen Haare ins Gesicht. Sie hat von Natur aus, wie fast alle Asiaten, schwarze Haare, lässt sie sich jedoch regelmäßig beim Friseur mit irgendwelchen bunten Strähnchen verschönern. Momentan trägt sie ihren Pony orange. Ich finde das süß. Aber an ihr sieht sowieso alles süß aus.

Der Lehrer erzählt uns jetzt etwas von der Romantik, er fragt nach einem Komponisten, einen berühmten Komponisten der Romantik. Ich melde mich.
„Wagner“, sage ich und höre, wie jemand von den hinteren Reihen das Wort >Streber< raunt.
„Richtig. Nenn mir eine seiner berühmten Opern und ich trage dir für diese Stunde eine Eins für die Mitarbeit ein“, der alte Lehrer richtet dabei gemächlich seine Brille. Okay, das habe ich doch letztens in der Mappe gelesen…

„Irgendwie,.... die Meistersinger von...“, fange ich an, stocke jedoch. Mist! Von wo? Lübeck? Lüneburg? Wolfsburg? Nürnberg? Ich weiß es nicht mehr…
„Äh, von...Nürnberg?“, versuche ich und es ist richtig. Der Alte nickt zufrieden und fährt dann mit dem Unterricht fort.

Sarina dreht sich halb nach hinten um und sieht mich fast vorwurfsvoll an. „Woher weißt du das denn?“, flüstert sie und dreht sich wieder nach vorne, ehe ich ihr antworten kann. Na ja, das hatte uns doch der Lehrer in der letzten Woche erzählt…

Hinter uns wird getuschelt, doch ich höre nicht hin. Sie reden bestimmt nicht über mich.
In der Pause setze ich mich zu den anderen aus der Klasse, in den Aufenthaltsraum. Annika ist auch dabei.

Annika hat schulterlanges braun-rotes Haar. Mit Strähnchen und so. Sie und ihre Freundinnen reden von irgendeiner Party vom Wochenende. Wir anderen aus der Klasse stehen blöd daneben und können nicht mitreden, deswegen versuche ich das Thema zu wechseln.
„Ah, hört sich ja toll an, diese Party!“ fange ich an. Die Mädchen starren mich an, ich bereue sofort was ich getan hab, beziehungsweise tue.
„Hat wer schon den Film >Die Verlorene Erinnerung< Im Kino geguckt?“, frage ich in die Runde und mir wird heiß, weil ich die Blicke der anderen, vor allem von Annika, auf mir spüre.

Bevor Jemand etwas sagen kann, ergreift Annika das Wort.
„Okay, ähm, Nein! Ich sehe mir keine Bilder an, wenn ich etwas in Echt erleben kann. Wie zum Beispiel auf einer Party. Ich weiß, Lyonne, das kannst du wahrscheinlich nicht nachvollziehen, aber so ist das. Sophie?“, fährt sie an ihre Freundin gewandt fort, „Wie war das noch mal mit David? Was hat er wörtlich zu Carla gesagt? Dass er sie hässlich findet?“, bei dem Wort >hässlich<, sieht Annika mir direkt in die Augen.

Nach einem typischen Annika-Blick, also das mit den Augenbrauen nach oben, Mundwinkel nach unten, geht sie mit ihrer Freundin davon.

Das ist mir jetzt unangenehm.
„Ich fand ihn echt spannend und die Handlungen sehr unvorhersehbar.“ sagt ein dickes Mädchen aus meiner Klasse und kurz darauf unterhalten sich mehrere darüber. Sarina legt mir den Arm um die Schulter.
„Also, ich glaube irgendwie nicht, dass Annika dich mag.“, ja, das glaube ich auch nicht.

Sarina versteht nicht warum und Chana verdreht nur die Augen.


Zu Hause lege ich mich für einen Moment aufs Bett.
Ich will auf keinen Fall so sein wie Annika, ich bin auch nicht neidisch.

Und ich möchte auch nicht beliebt sein und Jemand sein, den jeder kennt und den jeder mag und… okay, vielleicht schon. Wenn man mal ehrlich ist, wer will nicht von jedem gemocht werden?
Ich will dass man mich sieht, dass man mich respektiert, so wie ich bin. Egal wie ich mich aufführe, ob ich so aussehe wie jetzt oder sogar mit Schlafanzug in die Schule gehe. Egal was ich sage oder tue. Einfach meiner selbst wegen.

Dazu fällt mir ein Wort ein: Utopie! Das ist lächerlich und wird nie geschehen!
Aber Annika benimmt sich ja auch nicht sehr sozial. Ich verstehe gar nicht warum sie in der Schule so eine große Nummer ist.
Und warum ich meine Zeit damit verschwende darüber nachzudenken.
„Essen ist fertig, Lyonne kommst du?“, meine Mutter rettet mich damit aus meinen dummen Gedanken.

Am Küchentisch, in unserer kleinen, aber gemütlichen Küche, fragt mich meine Mutter wie immer (da kann ich mich wirklich drauf verlassen!) was es Neues gäbe.

Bevor ich antworte schnüffle ich kurz und erkenne, dass es heute Eintopf gibt. Sehr gut!
Ich setze mich und fülle mir meinen Teller mit der Suppe.
„Nichts Besonderes... Oder doch!“, korrigiere ich mich sofort.

Ich muss die Suppe rühren, damit sie abkühlt und ich sie essen kann.
„Ja?“, fragt Mami mich und isst den heißen Eintopf so, als wäre er lauwarm.
„Äh, wir fahren morgen ins Museum. Ich brauche noch deine Einverständnis und vier Euro.“

Heute trägt meine Mutter ihre braunen Haare hochgesteckt. Am liebsten mag ich es, wenn sie sie offen trägt nur mit einem Haarband um die Stirn.

„Ach was, blos 4 Euro kostet der Eintritt?“, fragt sie erstaunt und streicht eine lockige Strähne hinter ihr Ohr.
„Ja halt Klassenrabatt oder so. Wenn du mir den Zettel nicht unterschreibst darf ich nicht mitkommen.“, warne ich sie, denn sonst vergisst sie das!
„Ja ja“, wehrt sie meinen indirekten Angriff lässig ab.
Meine Mutter arbeitet als Journalisten im „Blatt der Woche”. Eine Zeitung die einmal die Woche erscheint. Eigentlich ist sie schon fast ein Buch mit 200 Seiten. Es geht um alles Mögliche und kostet nur 2 Euro. Meine Mutter schreibt über die Politik.
Ich weiß nicht wie viel sie verdient. Geld haben wir aber eigentlich immer genug. Gut, unsere Wohnung ist auch ziemlich klein (aber gemütlich!) und Schuldgeld muss auch keines gezahlt werden. Und außerdem bekommen ja noch Geld von meinem Vater, und der verdient glaube ich ganz gut, habe ich zumindest aus einigen Bemerkungen meiner Mutter, so heraushören können.

Allerdings redet meine Mutter nicht viel über ihren ehemaligen Mann. Trotzdem glaube ich nicht dass meine Eltern sich hassen. Denn wenn mein Vater einmal im Monat kommt um mich abzuholen, gehen sie zwar reserviert miteinander um, beschimpfen sich aber nicht! Und das ist doch was!

Sie haben sich vor vier Jahren getrennt, ich habe davon fast nichts mitbekommen, denn mein Vater ist eh immer nur am Wochenende bei uns gewesen. Damals lebten wir in der Hauptstadt, danach sind wir hierher gezogen.

Na ja, jedenfalls leiden wir jetzt keinen Hunger oder so. Klar, großartige Extras sind nicht drin, aber es ist okay.
Obwohl ich nichts gegen etwas mehr Taschengeld hätte. Im Ernst, 20 Euro im Monat sind echt rar. Nicht dass ich viel Geld ausgeben würde, aber hin und wieder ein Buch ist schon essentiell. Das Geld von Papa rühre ich nicht an. Das will ich mir für den Führerschein sparen. Ich habe schon über die Hälfte zusammen, kann also bald anfangen. Ja, ja, ja, ich könnte irgendwo jobben, das machen einige aus meiner Klasse auch. Aber wofür? So viel sind mir dann die Bücher, oder was auch immer, auch nicht wert. Dann lieber meine Mutter anbetteln oder mir die Sachen zum Geburtstag wünschen. Okay, das hört sich jetzt echt ziemlich erbärmlich an! Immerhin bin ich fast siebzehn!

Aber erst fast, also wird das schon noch okay sein.
Nach dem Essen gehe ich in mein Zimmer und mache Hausaufgaben.
Währenddessen schweifen meine Gedanken ab.

Vielleicht sollte ich mal zum Friseur gehen? Das könnte doch etwas bringen, dann würden die Jungs vielleicht nicht wegrennen wenn sie mich sehen. Ja, das ist jetzt übertrieben! Aber alle in der Klasse reden im Moment von Jungs und was sie nicht alles schon für Typen kennen gelernt haben... und ich kenne keinen einzigen...
Schnell verbanne ich diese trübsinnigen Gedanken aus meinem Kopf und beuge mich wieder über meine Hausaufgaben.

Am Abend nehme ich ein Bad und erinnere meine Mutter als sie hereinkommt um sich die Zähne zu putzen daran, dass ich noch die Bestätigung brauche.
„Das ist wichtig! „ sage ich. Genervt lächelt sie mir mit der Zahnbürste im Mund zu und verdreht dabei ihre Augen.
Später gucke ich noch etwas fern, lese mein Buch zu Ende und gehe um Elf ins Bett. Ich liebe es schlafen zu gehen. Ich liebe es wie sich das Gefühl der Müdigkeit anfühlt und das Gefühl, zu wissen, dass ich jetzt Schlafen kann und erst mal nicht ans Aufstehen denken muss.

Um Sechs weckt mich mein Wecker. Langsam stehe ich auf, ganz langsam, damit die Traumbilder sich nicht verflüchtigen.
Es passiert trotzdem.
Gähnend schlurfe ich hinüber zum Kleiderschrank um mich umzuziehen. Ich ziehe mein XXL T-Shirt aus und werfe es im hohen Bogen aufs Bett.

Alles klar! Heute werde ich mich auch schön machen. Entschlossen sehe ich mich im Schrank um, um kurz darauf ernüchtert wieder die Luft auszustoßen.
Nichts! Gar nichts! Ich finde nichts, was ich gut finde.

Also muss ich wohl die ganz normalen Sachen anziehen.

Auch egal, war sowieso eine dumme Idee. Ist doch egal wie ich aussehe.
Auf meinem Schreibtisch liegt die Bestätigung und ein Fünf Euro Schein. Gut, Mama hat doch noch daran gedacht.

Sie ist schon weg, sie muss immer schon um halb acht im Büro sein. Ich hab eine halbe Stunde mehr Zeit.
Bevor ich das Haus verlasse sehe ich mich noch mal im Spiegel an.
Es geht.
Ich trage meine Schirmmütze weil wir im Museum, nicht wie in unserer Schule, keine Kleiderordnung zu beachten haben.
Nach zehn Minuten bin ich bei meiner Schule, am Eingang stehen schon ein paar aus meiner Klasse, Sarina kommt auf mich zu.
„Hi!“, grüße ich und stelle mich zu ihr. Im selben Moment brummt etwas in ihrer Tasche.

„Na?“, meint Sarina und kramt ihr Telefon hervor. Ich gucke mich nach Chana um, doch sie ist noch nicht da.
Dem Lehrer geht es ähnlich. Ich sehe wie er enttäuscht registriert das noch nicht alle da sind, er setzt sich auf eine Bank und tut was wir tun: warten.

Wir warten noch zehn Minuten, dann gehen wir los. Chana ist nicht da. Vermutlich wollte sie sie sich nicht mit ihren Bodyguard outen, der zweifellos mitgekommen wäre.
Sarina geht neben mir, sie trägt einen kurzen weißen Rock. Ich dagegen trage meine einfache, normale, schwarze, langweilige Hose.
Und auch das Museum ist total langweilig! Was würde ich jetzt nur für irgendeine Ablenkung tun?! Warum versucht niemand etwas zu stehlen? Warum gehen die Alarmanlagen nicht an? Warum bricht kein Brand aus? Okay, etwas egoistisch so zu denken, oder sich so etwas zu wünschen.
Wir laufen an Büsten, Bildern und Glasvitrinen mit Relikten unserer Vorzeit vorbei. Die Jungs vor uns machen Witze über die Bilder, einige Mädchen schauen sich ernsthaft die Kunstwerke an und andere tippen wie wild auf ihr Telefon ein. Auf einem Bild ist unser König mit seiner Frau zu sehen. Sie sind da noch relativ jung, lächeln sich an und der König hält die Hand der Königin. Sie sehen glücklich aus.
Das Kleid der Königin ist umwerfend. Es ist golden mit roten Einarbeitungen. Ich würde auch gerne mal so ein wunderschönes Kleid anhaben. Mit der Schleppe und den Spitzeneinsätzen.
Und mit einem, nein, mit dem Traumprinzen nebendran, der meine Hand hält.
„Lyonne? Komm!“, drängelt Sarina und ich folge ihr.
Irgendwann können wir dann nach Hause gehen. Wir sollen als Hausaufgabe einen Aufsatz über das Museum schreiben. Und: tarammtaramm! Wir müssen heute nicht mehr in die Schule! Französisch und Politik fallen heute also aus! Das ist so cool!


Vor unserem Haus steht eine Limousine. Es ist die schwarze von meinem Vater. Er war doch diesen Monat schon da, was will er denn?

Ich laufe die Stufen zu unserem Haus hoch. Schon von draußen höre ich wie sie sich streiten. Warum das denn? Langsam öffne ich die Tür.
„Hallo, bin wieder da.“, Mama steht im Flur, Papa sitzt auf einem Stuhl. Er steht auf, als er mich sieht.
„Ah! Meine Kleine Süße! Komm her!“, er nimmt mich in den Arm. Ich vermute ganz stark, dass er manchmal vergisst, dass ich kein Kind mehr bin. Wenn ich ihn das manchmal erkläre, lacht er immer nur.

Wie immer sieht er umwerfend aus und trägt seinen Anzug.

Außerdem scheint er ins Fitnesscenter oder so zu gehen, er ist nämlich ziemlich durchtrainiert! Wenn wir manchmal schwimmen gehen, starren ihn immer alle Frauen nach. Das ist richtig peinlich!

Ich verstehe immer noch nicht warum sie sich getrennt haben. Mir haben sie so etwas Blödes von >einfach nicht mehr zusammenpassen< gesagt.

Ich an der Stelle meiner Mutter würde alles dafür tun, ihn schnell zurückzubekommen, bevor sich eine andere Frau an ihn vergreift.
„Was machst du denn hier?“, frage ich ihn, er schaut schnell zu seiner ehemaligen Frau, dann lächelt er mich an.
„Eine… Familienangelegenheit! Wir reden beim Essen darüber.“, plötzlich braust Mama auf.
„Ich meinte das eben ernst! Glaube nicht, dass die Sache erledigt ist!“, dann verlässt sie wütend den Flur.

Über was haben die sich gestritten? Das wüsste ich zu gern. Ein ungutes Gefühl macht sich in meiner Magengegend breit und das Lächeln von meinem Vater kommt mir plötzlich unecht vor.


Immer wenn wir mit Papas Bonzen-Auto fahren, fühle ich mich komisch. Alle Leute schauen uns nach. Kein Wunder, in einer kleinen Stadt fällt das echt auf!
Im Restaurant sitzen wir alle zusammen an einem Tisch, es ist ein verdammt teures Restaurant, aber mein Vater kann es sich leisten, er kann sich alles leisten.
Nachdem wir bestellt haben, fängt mein Vater das Gespräch mit seiner obligatorischen Frage an.

„Also, Lyonne, wie läuft es in deiner Schule? Wann bist du fertig?“, unser Essen ist noch nicht da, erst die Getränke. Mein Vater hat uns einen dunkelroten Rotwein bestellt. Ich nippe daran und notiere mir gedanklich, dass ich es das nächste Mal unbedingt vermeiden sollte meinem Vater die Auswahl meines Getränkes zu überlassen.

„Im nächsten Jahr. Ernsthaft, dass du dir das nicht merken kannst.... Tja, alles wie immer. Wir waren heute im Museum, aber da war es echt langweilig.“

Ich nehme einen Schluck von meinem Getränk. Irgendwas ist komisch. Normalerweise gehen wir, wenn mich mein Vater besucht, zu zweit irgendwohin. Warum also, ist Mama auch dabei?
„So? Museen sind doch interessant! Sie können einem so viel Wissen vermitteln.“, er hält kurz inne. Und dann: „Groß bist du geworden!“.

Ich lache. Der Satz darf natürlich nicht fehlen, niemals!
„Du bist immer noch zwei Köpfe größer als ich, so groß kann ich also gar nicht innerhalb drei Wochen geworden sein!“.
„Trotzdem, du bist größer geworden.“, Papa trinkt einen Schluck, ordnet seine Serviette unnötigerweise und sieht kurz zu Mama rüber. Sie schaut abwesend an uns vorbei.

„Du kommst doch mit allem zurecht?“, zwei Kellner kommen und bringen uns unser Essen. Ich habe mir ein Fischgericht bestellt. Es riecht sehr gut.

„Wie meinst du das? Ich habe gute Noten.“, meistens, füge ich gedanklich hinzu. Stirnrunzelnd nehme ich einen Bissen von dem Fisch, er ist sehr lecker. „Köstlich”, höre ich meinen Vater sagen, als er sein Gericht probiert.
„Es belästigt dich niemand? Und hast du genug Geld?“, abrupt stellt Mama ihr Glas ab und starrt ihn an. Ich bin auch verwirrt.
„Äh, nein… wie meinst du das? Ich... ich hab alles was ich brauche... Wieso fragst du so komisch?“, ich ziehe meinen Zopf straffer.
„Ich muss doch wissen wie es dir geht.“, Mama schaut ihn böse an und presst dabei ihre Lippen aufeinander, das tut sie nur wenn sie extrem gereizt ist.

„Mir geht es gut!“, sage ich nachdrücklich. Er nickt und lächelt entschuldigend.
Ich esse langsam weiter.
„Ich weiß nicht genau, wie ich anfangen soll… Lyonne, kennst du ...- Nein, was weißt du über unseren König?“, verwirrt streiche ich die Falten aus meiner Hose. Unwillkürlich denke ich an das Gemälde, das ich im Museum gesehen habe, auf dem das Königspaar abgebildet war.
„Ich dachte es geht hier um eine Familiensache.“, normalerweise ist mein Vater eher der direkte Typ, was also tut er hier?
„Ja, das hat etwas damit zu tun.“, ist der König jetzt mein Onkel oder was?

„Was denn?“, das ungute Gefühl von vorhin macht sich wieder in meinem Bauch breit.

„Sag mir, was du über den König weißt.“, wiederholt er seine Frage. Aus mir kommt nur ein geistloses „Was?“

„Lyonne, sag mir nicht, dass du nicht ab und zu in der Zeitung liest, für die deine Mutter schreibt.“, er lächelt mich schief an, doch ich schaff es nicht meine Mundwinkel nach oben zu ziehen.

„Doch, ich lese viel und natürlich auch das, was Mama schreibt…“, lüge ich und schiele zu meiner Mutter rüber. Sie grinst mich wissend an. Sie weiß, wie wenig ich mich für die Welt interessiere. Ich lese nie Zeitung auch nicht ihre. Immer nur meine Bücher.

„Äh, da ist halt der König, König Orek, und seine Frau…“, hilfesuchend schaue ich zu Mama rüber, doch diese sieht mich nur gespannt an.

Ich fühle mich plötzlich wie in einer Prüfung.

Die Gabel und das Messer ablegend hole ich Luft. Lyonne, streng dich an, was weißt du über den mächtigsten Mann im Land?

„Die haben zwei Söhne. Der eine heißt... Simon, und der andere Prinz heißt Fye.“, erwartungsvoll sehen mich meine Eltern an. Papa mit hochgezogenen Brauen.

Mist, mehr weiß ich nicht.

„Der Thronerbe, also unser zukünftige König heißt Kilian, nicht Simon. Lernt ihr so etwas nicht in der Schule?“.

Äh, ups?

Missbilligend sieht Papa zu Mama rüber. Sie zuckt die Schultern „Also ich zwinge sie nicht dazu, sich für Politik zu interessieren. Ich zwinge sie gar nicht.“, Mama betont das Wort und straft Papa mit fiesen Blicken.

Unwohl nehme ich wieder die Gabel in die Hand und esse ein paar Happen.

Nach kurzem Schweigen fängt mein Vater wieder an.
„Weißt du eigentlich was ich mache? Also was mein Job ist?“, kopfschüttelnd verneine ich das.

„Nicht genau, hast du nicht mal gesagt, dass du immer so viel Schreiben musst? Also ein gut bezahlter Bürojob?“, er lacht nur.
„Zum Teil. Ich bin Leibwächter“, kurz warte ich ab, ob er das gleich als Witz abtut, dem ist aber nicht so.

Ich glotze ihn an. Das hätte ich nie gedacht! Wen er wohl schützt? Vielleicht jemand prominenten!?
„Leibwächter?“, plötzlich steht Mama auf. Funkelt Papa an und sagt dann, dass sie zur Toilette müsste.
Verwirrt halte ich mit dem Essen inne. Es schmeckt jedoch zu gut, also esse ich weiter.
„Okay und wen bewachst du?“, oder wechseln Bodyguards nicht immer ihre Schutzpersonen? Entweder wenn sie sterben oder… nicht mehr berühmt sind? Boah, fühle ich mich grad dumm…

Ich gucke wieder zu meinem Vater hoch.

Jetzt ist er plötzlich ganz ernst und schaut mir fest in die Augen.

„Meinen besten Freund“,  nach einer kurzen Pause, in der ich überlege, ob ich weiß wer das ist (ich kenne jedoch keine Freunde von Papa), fährt er dann fort.

„Orek, den König. Ich bin sein erster Leibwächter.“, vor Schreck bleibt mein Mund offen und ich starre ihn nicht grade intelligent an.
„Ernsthaft den König?“, bringe ich schließlich hervor.
„Ja“, Papa nimmt einen Schluck von seinem Wein.

Meine Gedanken rasen.

War Mama deswegen so wütend? Deswegen hat Papa immer so wenig Zeit? Ist das gefährlich? Warum wusste ich das nicht, oder besser, warum hat mein Vater mir das verschwiegen? Wusste Mama das überhaupt? War das vielleicht sogar der Trennungsgrund? Und warum ist es jetzt so wichtig, dass er es mir so umständlich erzählt?
„Seit wann? Und warum erzählst du mir das grade heute?“, fass ich das Wirrwarr in meinem Kopf zusammen.

Mein Vater nimmt jetzt meine Hand. Oh oh, das ist gruselig! Was kommt jetzt?
„Schon lange, Lyonne, sei mir nicht böse, dass ich dir das erst heute erzähle“, bittend sieht er mich an.
„Ja, äh, ich meine, natürlich nicht. So was muss natürlich Top Secret sein.“, erleichtert atmet er auf, das muss ihm schwer auf der Seele gelegen haben.

Okay! Mein Vater ist ein Leibwächter! Kein Wunder dass er so durchtrainiert ist und so gut verdient.

Und dann den König, verdammt, den König!! Ich bin ganz schön stolz auf ihn. Yeah, der König ist der beste Freund von meinem Vater! Oha!
„Gut, meine Kleine. Lyonne Astaria von Gorett!“ Er spricht meinen peinlichen Doppelnamen aus.

Mit seinem Nachnamen.
„Papa? Ich hab doch den Nachnamen von Mama angenommen“, das war mir damals voll wichtig, weil ich so sauer auf Papa war. Damals dachte ich, er wäre es, der alleine an der Trennung Schuld war. Und als meine Mutter dann ihren Namen wieder in ihren Mädchennamen gewandelt hatte, wollte ich auch den Namen. Heute weiß ich, dass es ja immer zwei sind, die die „Schuld“ für so etwas tragen.

Oder?

Papa sieht mich erschrocken an.
„Stimmt! Das habe ich vergessen. In Ordnung, dass lass ich sofort ändern“, bekräftigend nickt er und schaut kurz auf seine Uhr.

„Äh, warum? Ich möchte vielleicht den Namen behalten? Du kannst nicht einfach meinen Namen ändern.“, ich werde ein bisschen sauer und stopfe deshalb gleich drei Bissen kurz hintereinander in mich hinein.

Das Essen ist echt so gut!

Jetzt kommt Mama wieder, sie nimmt ihr Glas und trinkt den Rest des Weines in einem Zug aus.

„Hast du es ihr jetzt erzählt?“, ich nicke und bemerke, dass mein Vater dabei den Kopf schüttelt.

Hä?
„Doch, ich weiß jetzt von seiner Arbeit.“, Mama schüttelt den Kopf. Die Auge zusammenkneifend sehe ich zu Papa rüber. Also war das mit dem Leibwächter nicht das Einzige?

„Also schön. Lyonne, hör mir zu. Du weißt, du bist meine einzige Tochter“, wieder sein intensiver Blick.

Ich würge einen weiteren Bissen herunter.

„Ja? Willst du mir jetzt enthüllen, ich habe noch einen Bruder, oder was?“, verblüfft sieht er mich an.

„Was? Nein! Wie kommst du darauf?“, er seufzt und runzelt die Stirn. Was wollte er denn sagen?

„Und was ist es dann, was du mir sagen willst? Na los, ich werd´s schon verkraften.“, es kränkt mich, wie er mich daraufhin ansieht. Irgendwie so zweifelnd.

„Sie hat Recht, Joshua, du hast genug Zeit vergeudet.“, meine Mutter weicht meinem Blick aus. Sie weiß also um was es geht.
„In Ordnung…“, er macht eine Pause, in der ich fast ausraste, weil ich endlich wissen will, was da jetzt ist. Aber dann fährt er ohne Umschweife fort.
„Lyonne, du bist verlobt! Ich habe Orek meine erste Tochter versprochen...“.

Mein Mund klappt auf und sofort sehe ich mich als Kurtisane auf etlichen Seidenkissen im Gemach des Königs sitzen. Verflucht! Wie kann mein Vater…
„Du bist mit seinem Sohn Fye verlobt.“

Langsam bewertet mein Gehirn die Worte meines Vaters. Also keine Zweitfrau.
„Moment! Ich bin mit Jemanden… mit… mit… Prinz Fye verlobt?“, fast lache ich, das ist zu absurd.

Das ist ja wohl ein beschissener Scherz!
„Das war damals sein Wunsch und ich hieß ihn gut. Du musst verstehen, dass er der ehrenwerteste Mann ist, den ich kenne. Und sein Sohn…“, „mit dem Prinzen verlobt?“, unterbreche ich Papa jetzt entsetzt.
„Ja, mit dem Jüngeren, Fye.“ Scheiße!
Das ist nicht wahr!!
Ich beiße mir auf die Lippen.
Einfach nicht drüber nachdenken.
Hilfesuchend sehe ich zu Mama.

„Es tut mir Leid Lyonne, da lässt sich wohl erstmal nichts machen. Ich hatte gehofft, dass es nicht dazu kommt. Ich kann nichts machen.“, entgeistert starre ich wieder meinen Vater an.

„Ich weiß, das ist erstmal ein Schock für dich, aber glaube mir Lyonne, Fye ist ein guter Junge, ihr könnt euch ja erstmal anfreunden, das wird schon. Und heiraten müsst ihr ja nicht sofort! Ihr könnt euch damit Zeit lassen! Mein Gott, ihr seid so jung! Ihr müsst euch damit Zeit lassen. Gewöhne dich erstmal an den Gedanken, wir gehen das ganz langsam an, meine Kleine. In ein paar Wochen, oder Monaten, das spielt keine Rolle, treffen wir uns alle mal und du wirst sehen, dass du damit großes Glück hast!“.

Glück? Glück? Was zum… Was redet der da für einen Haufen Mist!? Das ist nicht wahr, das ist alles nicht wahr!

Ich sage nichts, und so redet Papa weiter. Ich sehe wie meine Mutter den Mund aufmacht um etwas zu sagen, tut das dann aber doch nicht, sieht stattdessen zu mir herüber. Irgendwie verständnisvoll, entschuldigend, vielleicht. Aber ich kann mich nicht konzentrieren.
Alles klar! Ich werde meinem Vater einfach nicht glauben, denn wenn ich das tun würde, würde ich in Ohnmacht fallen. Garantiert!
„Du bist wirklich der Leibwächter des Königs?“, frage ich nun und ernte dafür einen irritierten Blick. Aber ich will unbedingt das Thema wechseln.
„Ja... Alles in Ordnung Lyonne?“ Ob mit mir alles in Ordnung ist? Er fragt mich das nachdem er mir erklärt hat, dass er mit dem mächtigsten Menschen des Landes total dicke ist und mich dessen Sohn versprochen hat? Ob mit mir alles in Ordnung ist?
„Ja klar! Warum denn nicht?“, meine ich ironisch und reiße meine Augen dabei weit auf, um nicht heulen zu müssen.
Beide schauen mich intensiv an.
„Was?“, frage ich zickig. Sie sollen mich nicht so angucken, als wenn sie darauf warten würden, dass ich anfange zu weinen.
„Willst du darüber reden?“, fragt mich meine Mutter.

„Nein!“, schimpfe ich und trinke mein Glas aus. Wütend sieht Mama Papa an.

„Wie hätte ich es denn sagen sollen?!“, verteidigt er sich gegen ihren anklagenden Blick. Sie sagt dazu irgendwas aber ich höre nicht zu.
Das einzige Gefühl das ich jetzt verspüre ist Wut, ich bin so verdammt wütend auf meine Eltern, auf beide. Wie können sie ihrer Tochter so etwas antun? Wieso werde ich nicht gefragt?
Ich versuche wieder sachlich zu werden.
„Seit wann steht das denn eigentlich fest?“, Papa dreht sich zu mir um.

„…Seit Achtzehn Jahren.“, also schon vor meiner Geburt!? Das ist echt zu viel!
„Wann könntest du dir denn vorstellen umzuziehen?“. Mein Vater ist um Normalität bemüht. Hieran ist aber nichts normal. Echt nichts!
„Gar nicht!“, ich werde immer wütender. „Papa, ich habe weder vor umziehen, noch meinen Namen wieder ändern zu lassen. Und ich will auch nicht irgend so einen ... Prinzen ...heiraten!“, mir fällt es schwer den Satz auszusprechen. Mama schaut mich besorgt an, und Papa fast schon ärgerlich. Ich rege mich weiter auf.
„Hast du etwa damit gerechnet dass ich das toll finde? Selbst wenn ich es nicht zum kotzen finden würde, würde ich aus Prinzip protestieren. Ich glaub einfach nicht, dass das wahr ist... Ich mach da jedenfalls nicht mit!“.

Ich stehe auf um meine Worte zu unterstreichen. Papa scheint unbeeindruckt.

Habe ich denn eine Wahl? Immerhin geht es hier um den König…

Meine Gedanken rasen, aber es bringt nichts.

Papa will, dass ich mich wieder setze, ich schüttle den Kopf. Ich versuche nicht zu weinen. Und dann setze ich mich doch wieder hin.

Widerwillig esse ich weiter. Ma fragt mich irgendwas, ich antworte nicht.

Papa sagt irgendwas zu ihr, ich hör nicht hin. Alles egal.

So etwas Schlimmes ist mir noch nie passiert. Nicht einmal die Scheidung war so schlimm, irgendwie hatten sie mir die als notwendige Sache verkauft, die für alle das Beste wäre. Und das habe ich dann irgendwie geglaubt, auch wenn ich eine Weile echt Sauer auf Papa war.

Tja, diese Methode funktioniert jetzt nicht mehr. Vielleicht bin ich schon zu alt dafür. Immerhin bin ich fast siebzehn.
Wie Kotze schmeckt der Fisch, ich kämpfe darum nicht zu würgen.

Ich höre nicht und denke an nichts.

Doch, eigentlich denke ich an etwas, nämlich an meinen Traum. Ich wollte immer eine super-coole Polizeibeamtin werden. Das kann ich jetzt auch über den Haufen werfen. Zwar hatte ich das nie ernsthaft in Betracht gezogen, aber jetzt ist es damit endgültig aus und vorbei. Und das macht mich traurig.
„Ich möchte später Polizistin werden“, sage ich. Papa und Mama drehen sich gleichzeitig zu mir um.
„Warum sagst du das jetzt, Lyonne? Das geht so nicht“, sagt mein Vater und ich kämpfe weiter mit den Tränen. Warum eigentlich nicht? Darf eine Prinzessin keinen Beruf ausüben? Muss ich dann Hausfrau sein? Und Kinder kriegen?

„Ich werde den nicht heiraten! Zwangsehen sind in unserem Land verboten! Können wir jetzt nach Hause?“, ich stehe auf und laufe zur Toilette weil mir schlecht ist. Zum Glück muss ich mich nicht übergeben. Vor dem Spiegel bleibe ich stehen.

Was ist passiert? Ich stelle mir diese Frage laut und lausche dem Klang meiner Stimme. Ich versuche mich zu beruhigen, aber ich beruhige mich nicht.
Nach einer Weile gehe ich wieder zurück zu meinen Eltern.
Papa drückt gerade einem Kellner ein paar Scheine in die Hand, es muss viel sein, denn der Kellner starrt ungläubig das Geld an.
Mit „der Rest ist Trinkgeld“ verabschiedet sich mein Vater. Der Kellner verbeugt sich vor ihm und sieht auf die Geldtasche in seiner Hand. Ich gehe an ihm vorbei.
Die Limousine von meinem Vater steht groß und protzig auf dem Parkplatz. Und der Fahrer lehnt lässig daran. Als er uns sieht richtet er sich auf und hält uns dann die Türen auf. Wütend lasse ich mich auf meinen Sitz fallen.

Das ist mit Abstand der schlimmste Tag meines Lebens!

Ich muss sowieso noch mit deinem Vater reden!

 Etwas war passiert.

Irgendwas ganz schlimmes. Eine Art Tragödie.

Aber was gleich noch?
Und jetzt fällt es mir wieder wie ein Guss kaltes Wasser ein!

Ich bin verlobt!

Die paar Sekunden vor dem Gedankenblitz hatten sich im Nachhinein so leicht angefühlt. Ich hatte für diese wenigen Augenblicke vergessen, dass mein Leben bereits bestimmt ist, eine vorgeschriebene Sache, etwas Unumkehrbares...
Sehr langsam stehe ich auf um mich anzuziehen. Dabei fällt mein Blick wieder in den Spiegel.
Wer will mich schon heiraten?

Andererseits, durch die Verlobung brauche ich mir keine Sorgen mehr machen, dass ich keinen Mann abbekomme.
Ach Mist! Das hab ich total vergessen! Wie sieht der überhaupt aus? Und viel wichtiger, wie alt ist er? Ich meine, er ist der jüngere von den beiden Prinzen…

Er ist aber nicht jünger als ich, oder? Oder?!
Meine Gedanken sausen in einem wilden Chaos umher.
Eigentlich hat der Prinz echt Pech, dass er mich heiraten muss, er hat Jemand besseren verdient.

Nein! Ich heirate ihn nicht!

Wer will mir das vorschreiben?

Niemand kann mir das vorschreiben!
Nach dem Frühstück gehe ich los, meine Mutter ist schon weg ich hab sie heute noch gar nicht gesehen.
Vor der Schule sehe ich Sarina auf mich zukommen.
„Na gibt’s was Neues?“, fragt sie mich.

Oh nein! Sie weiß es! Sie weiß von dem Verlobungsding!

„Wieso fragst du?“, meine Stimme klingt dabei fast schon lauernd! Sarina guckt mich auch sofort irritiert an.
„Wieso denn nicht?“, ja, okay, sie weiß es wohl nicht. Woher auch? Steht ja wohl nicht in der Zeitung.

Tut es doch nicht, oder?

„Sorry, ne bei mir gibt’s nichts Neues, und du?“, meine Worte werden jetzt mit einem extra netten Lächeln begleitet.
„Ja!“, platzt sie sofort heraus, „Ich hab gestern ein ganz tolles Geschenk für dich gekauft! Das ist perfekt!“ Ach ja, stimmt, meinen Geburtstag habe ich durch diesen Prinzenmist total vergessen. Dabei ist er doch schon morgen!
„Wirklich?“, frage ich neugierig.
„Ja! Sei gespannt!“ Schnell überlege ich, ob ich mich Sarina anvertrauen soll, immerhin ist sie meine Freundin!

„Hey, bei mir...Ich meine ... mein Vater besucht mich grade.“, Mist! Voll gekniffen!
„Ja? Äh, cool.“, Sarina wird von ihrem Mobiltelefon abgelenkt.

Wie nervig. Und dann klingelt es schon zum Stundenbeginn, also gehen wir wieder in die Schule. Auf dem Weg kommt Chana zu uns. Ihr Bodyguard läuft heute in kurzem Abstand hinter ihr her. Manchmal macht der das. Chana meint, dass ihr Vater manchmal Komplexe hat und ihr dann spontan den Mann auch während der Schulzeit an den Hals hängt. Mittlerweile habe ich mich an seine Anwesenheit gewöhnt, aber für sie muss das echt ätzend sein! Bin ich froh dass ich so was nicht durchmachen muss.

Na ja, dafür habe ich andere Probleme.

Vor der Klassenzimmertür warten wir, die Lehrerin scheint sich zu verspäten.
„Sagt mal…“, fange ich mit meiner Frage an, stocke dann aber.
„Hm?“, hakt Chana nach.
„Wie sieht dieser Prinz Fye eigentlich aus?“ Sarina wirkt etwas abgelenkt, jetzt winkt sie Annika zu. Annika lächelt zurück und zieht auffordernd ihre Braue in schwindelerregende Höhen.

„Bis später!“, meint Sarina zu Chana und mir und läuft zu Annika rüber. Wir schauen ihr kurz nach, wie sie sich umarmen, Küsschen geben, rote Lippen verziehen (Mundwinkel nach oben) und weiße, gerade Zähne zeigen.
„Was? Hm, schwierig, ist das nicht der Undercover-Prinz? Guck mal im Internet.“ Chana spielt ohne hinzugucken an ihren Haaren herum.

Moment!? Undercover-Prinz? Was soll das denn heißen? Als Chana mein fragendes Gesicht sieht, erklärt sie, was sie damit meint.

„Na weil doch der so Pressescheu ist! Ich stelle mir jedenfalls immer vor, dass er irgendwo in der Walachei ganz anonym lebt.“

Etwa in einem Dschungel? Oder einer Wüste? Vielleicht hat der eine stark ausgeprägte Sozialphobie. Und jetzt lebt er in seinem Zelt, ernährt sich von Insekten und wäscht sich blos mit Wüstensand…

Oh Scheiße! So kann ich nicht leben!


Sofort setze ich mich, nach der Schule vor den PC und tippe Prinz Fye in das Suchfeld.

Die Maschine sucht.

Ich klicke schnell auf die Bildersuche und schon sehe ich einige Fotos.

Es sind nicht viele und auf den meisten ist er nicht drauf. Eigentlich ist nur eines so gut, dass ich es erkennen kann. Das Foto ist jedoch zehn Jahre alt.
Wow! Ehrfürchtig starre ich auf das Foto, vor mir auf den Bildschirm. Wahrhaftig, er ist ein Prinz! Nur ein Prinz kann so aussehen!
Auf dem Bild muss er ungefähr sieben oder acht gewesen sein. Wenn der damals schon so süß aussah, wie erst jetzt?
Jetzt tut er mir irgendwie leid, der Arme! Er hätte was viel Besseres verdient, wegen seinen Vater muss er jetzt ´ne Hässliche heiraten. Also mich.

Himmel! Der lebt heute ganz bestimmt nicht in irgendeinem verrotteten Zelt und …. Der wird bestimmt bedient, den ganzen Tag! Von vielen, vielen hübschen Dienerinnen…

Er ist bestimmt arrogant und verwöhnt und…. Wir sollen heiraten?
Nein! Auf keinen Fall! Niemals!

Erstmal gucke ich weg, hole tief Luft, um dann einen weiteren Blick auf diesen Jungen zu werfen.

Auf dem Bild hat er lange dunkleHaare. Er steht neben seinem Vater und auf der anderen Seite steht sein Bruder.

Seine Augen sind dunkel und er lächelt auf dem Bild. Wie sein Lächeln heute wohl aussieht?

Ich denke noch einmal darüber nach. Das Bild ist jetzt Zehn Jahre alt, heute sieht er bestimmt richtig, richtig, richtig gut aus!

Schnell mache ich den Computer aus. Schlagartig verdüstert sich meine Stimmung.
Warum sehe ich eigentlich nicht etwas besser aus? Beide meine Elternteile sehen richtig attraktiv aus, warum nicht ich? Ich muss es doch vererbt bekommen haben?
Lediglich die dunklen Haare von Papa und der Lippenschwung von Mama scheinen mir eine sinnvolle Vererbung zu sein...

„Das ist vorzeigbar. Das Team hat ganze Arbeit geleistet!“, zufrieden seufzend nimmt meine Tante ihren Kaffeebecher und trinkt einen Schluck. Einen kleinen.

Mit das, bin ich gemeint.

Ich bin also vorzeigbar.

Jetzt, nach einer Reihe von Behandlungen meiner Haare, meiner Nägel und meiner Gesichtshaut. Davor war ich ein Problem, nach Aussage meiner Tante. Und jetzt bin ich vorzeigbar. Aha.

Ich werde am Arm über den Flur gezogen und im Vorbeigehen sehe ich mein Spiegelbild in einem Spiegel. „Oha!“, mache ich und bleibe stehen. Ärgerlich stoppt auch meine Tante. Sie ignorierend starre ich mich an. Das bin ich? Was haben die mit meinen Haaren gemacht? Die sehen so richtig gut aus! Und der Pony macht mich viel… cooler! Ich bin jetzt cool!

„Lyonne- Astaria, was ist denn jetzt? Anschauen kannst du dich später. Jetzt folge mir, damit wir das Foto machen können.“.

Ich bin nicht cool, ich bin verlobt.

Aber ich hab jetzt einen hübschen Pony und meine schwarzen Haare sind durch die Stufen richtig gelockt, zumindest an den Spitzen.

Sie gehen mir bis zur Hüfte, naja, sie gingen, jetzt sind sie deutlich kürzer. Plötzlich sehe ich ganz in Ordnung aus und auch mein Busen wirkt nicht mehr so fett wie sonst.
Meine Tante räuspert sich.
„Du kannst mich ruhig einfach Lyonne nennen. Bitte.“, antworte ich ihr schließlich doch und dann auch noch so höflich, ernte dafür jedoch erstmal einen schrägen Blick.

„Nein, das will ich nicht.“ Wie bitte?

Verärgert folge ich ihr in einen Raum, der schon für das Foto vorbereitet wurde.

Als meine Tante mich vorhin von der Schule abholte, erklärte sie mir nämlich, dass wir den Nachmittag gemeinsam verbringen würden. Ich habe mich ziemlich geärgert, vor allem weil meine Eltern es nicht für nötig befunden hatten, es mir rechtzeitig zu erzählen. Und am schlimmsten ist es, dass wir jetzt dieses blöde, dumme Foto machen müssen. Für den blöden, dummen Prinzen.

Als ich mit meiner Tante in den Raum komme, steht schon eine aus fünf Personen bestehende Foto-Crew bereit.

„Setz dich und lächle so schön wie möglich, bekommst du das hin?“, meine Tante deutet dabei auf den Hocker, der vor einer aufgestellten, goldig bemalten Wand steht. Ha ha! Ob ich das hinbekomme… „weiß nicht“, murmle ich verärgert. Sie nimmt allerdings keine Notiz davon.

Und vor allem, will ich das überhaupt?

Alle Anwesenden starren mich nun an, nervös hebe ich meine Mundwinkel soweit es geht. Tante zieht beide Brauen hoch. Also wieder ein bisschen weiter runter. Jetzt sieht Tante noch kritischer in mein Gesicht. Also versuche ich es noch mal etwas höher, oder eher bescheidenes Lächeln? Vielleicht gar keines?

Die Tante beendet meine Mundgymnastik mit einem verärgerten „Stopp!“.

„Was machst du da?“, fragt sie irritiert und kommt auf mich zu. Leise flüsternd meint sie: „Willst du mich ärgern indem du extra seltsame Grimassen ziehst?“, seufzend fährt sie fort „das ist nicht fair Lyonne-Astaria, ich möchte das hier auch so schnell wie möglich hinter mich bringen, also mach es uns beiden nicht so schwer.“, bittend sieht sie mich an.

Beschämt nicke ich. Aber ich habe das nicht extra gemacht! Anscheinend war ihre Frage eben, ob ich es schaffe nett zu lächeln, doch nicht ganz unsinnig…

Jetzt sehen wieder alle zu mir, der Fotograf steht hinter der Kamera. Er gibt jetzt verschiedene Anweisungen. Erst soll das Licht heller, dann fummelt jemand hinter mir an der Wand herum und dann blendet es plötzlich, dass nun nach weniger Licht gefragt wird. Dann ruft der Kamera-Mensch mir plötzlich „okay“ zu. Das ist dann also mein zweiter Versuch! Lyonne, mach dir selber Ehre indem du keine Grimasse verziehst sondern einfach nur LÄCHELST!

Ich atme tief ein und aus und denke an etwas Schönes… Katzen! Genau, ich denke an kleine Babykatzen und an einen großen Eisbecher und daran wie ich meiner Tante sage dass ich sie ziemlich ätzend finde und ich denke an heiße Schokolade, an kleine Häschen und…

„…- gut, wir haben ein, zwei passende Bilder!“, meine Tante wirkt nicht wirklich zufrieden, also schaue ich mir schnell selbst die Bilder auf der Kamera an. Meine Tante sagt dazu irgendwas wie, dass ich total neugierig sei oder so.

Der Kamera-Mensch ist nett zu mir und zeigt mir mehrere Bilder. Ich find die Bilder auch okay, jetzt mit der neuen Frisur sehe ich ganz anders aus! Und das Lächeln ist auch nett.

Obwohl es ziemlich gestellt aussieht. Aber… das ist es ja auch.
„Ich hol dich dann morgen wieder ab, dann gehen wir einkaufen. Deine Garderobe ist furchtbar“, ich fahre herum.
„Ganz bestimmt nicht!“,  meine ich empört zu ihr. Kurz schaue ich an mir herab. Das ist zufällig mein Lieblings-Pullover!

Genervt fragt sie nach dem Grund.

 „Ich habe morgen Geburtstag.“, augenverdrehend fragt sie: „Feierst du deinen Geburtstag etwa?“. Ich gestehe kleinlaut dass ich das nicht tue, ärgere mich aber, dass sie das so voraussetzt.
„Na also, du hast morgen also nichts vor.“, Augenbrauen hochziehend will sie sich wegdrehen.

 Aber… ich habe doch Geburtstag!

„Doch, ich feiere!“, lüge ich dann und ignoriere ihren Blick.

„Ich geh mit meinen Freundinnen weg.“, füge ich dann noch hinzu. Sie seufzt und sagt dann nichts mehr.
Ehrlich, wie kann mein Vater nur so eine spießige Schwester haben? Und sie redet immer so komisch mit mir!


Vor unserem Haus steht die Limo von Pa, er ist dann wohl bei uns. Ich gehe rein und höre schon von weiten wie Ma und Pa sich streiten, meine Tante kommt hinter mir auch rein. Oje das macht jetzt einen ganz schlechten Eindruck! Aber sie sagt nichts. Ich mach die Tür auf und sag ganz laut „Hallo”. Sofort hören Ma und Pa auf sich zu streiten, sie starren mich an. Ma stottert sogar.
„…Was...w.. wieso sind deine Haare so...“ Pa sagt:
„Das sieht gut aus, ganz reizend!“. Meine Haare sind immer noch offen, um meinem Handgelenk befindet sich mein Zopfgummi, ich mache mir schnell einen Zopf.
„Danke“, sagt meine Tante. Ma kommt etwas näher und betrachtet meine Haare.
„Hattest du schon immer Locken? Oder ist das ´ne Dauerwelle?“. Okay, das ist jetzt zu viel! Ich gehe ohne ein weiteres Wort in mein Zimmer.

Als ich aufwache weiß ich sofort, dass ich heute Geburtstag habe, mein zweiter Gedanke ist jedoch der, dass mein Leben verpfuscht ist!

Ich hab heute Geburtstag und mein Leben ist im Müll!
Irgendwann war ich unter der Dusche und danach sitze ich am Frühstückstisch. Ma sagt nichts. Die war auch schon mal gesprächiger, hat sie meinen Geburtstag vergessen? Das kann ich mir nicht vorstellen. Immerhin war sie es die mich vor 17 Jahren auf die Welt gebracht hat. Ich denke nicht dass eine Mutter das vergessen kann...
Ich muss wohl etwas komisch geguckt haben. Denn sie fragt mich was wäre.
„Nichts, mir geht’s gut“, sage ich immer noch verwirrt. Sie wird diesen Tag doch nicht echt vergessen haben!?
„Sicher? Du guckst so komisch. Sag mal, ist heute irgendwas Besonderes bei dir?“. Ich schlucke und sehe sie groß an.
„Äh... eigentlich.... ehm…“,  dann lacht sie.
„War nur ein Witz, natürlich weiß ich was heute ist!“, damit holt sie ein verpacktes Etwas hervor, kommt zu mir rüber und drückt mich ganz fest.
„Tut mir Leid“, sagt sie „aber ich liebe einfach deine lustigen Reaktionen!“

Ich lächle schief.
„Packst du´s jetzt aus?“, gespannt sieht sie zu mir rüber. Ich schüttle den Kopf. „Nein, lieber heute abend“, da habe ich dann Ruhe und keinen Schultag mehr vor mir.

Bevor Ma geht dreht sie sich noch einmal zu mir um.
„Lyonne, ich wünsche dir einen wunderschönen Tag, ich hab dich lieb! Und Lyonne... vergiss einfach alles andere, ja?“

Ich nicke automatisch. Aber wie könnte ich? Wie könnte ich es vergessen?
Gleich muss ich auch los, ich hab aber keine Lust!
Natürlich gehe ich trotzdem zur Schule... Ich hab noch nie geschwänzt. Bevor ich die Haustür verlasse sehe ich in den Spiegel. Vor Schreck bleibe ich wie angewurzelt stehen. Was soll ich denn Sarina und Chana sagen? Und den Anderen? Aber vielleicht sagt niemand etwas zu meiner neuen Frisur es könnte doch sein das es keiner bemerkt...

Die erste ist Sarina. Als sie mich sieht fängt sie an zu lachen. Und diese Reaktion will ich nicht haben.

„Was hast du denn mit deinen Haaren gemacht? Locken und Pony?!“
„Sieht das so schlimm aus?“, frage ich beleidigt.

Sie lachte immer noch.

Ich starre auf Sarina´s Pony.
„Nein, es ist nur so ungewohnt. Es.. es sieht gut aus, ehrlich!“

Ich bin enttäuscht. Ich meine, sie muss ja nicht sagen, dass sie es wunderschön findet, aber lachen... Also, irgendwo habe ich auch meinen Stolz.
Dann kramt sie in ihrer Tasche und holt ein Geschenk raus.
„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Alles Gute!“ Sie gibt mir eine blaue Schachtel mit roter Schleife.
„Danke, darf ich es zu Hause auspacken?“ Sie nickt und legt den Arm um mich.
„So, jetzt sind wir beide Siebzehn! Ein neues Jahr, indem du hoffentlich auch endlich mal einen Freund abkriegst!“, meint sie grinsend.

„Ja“, na klar, als ob ich das will…
Dann bemerkt es Chana.
„Hey…“, sie starrt mich ein paar Sekunden lang an.
„Man! Das sieht echt mega gut aus, warum hast du das nicht eher gemacht?“

Warum hab ich das nicht eher gemacht?
„Keine Ahnung, meine Tante hat mich zum ... Friseur geschleppt“, erkläre ich, obwohl keiner danach gefragt hat.

„So als Geschenk oder was?“, fragt Sarina verwirrt. Ich schüttle den Kopf.

„Ne… einfach so…“, lüge ich mehr oder weniger.

Chana kramt umständlich etwas aus ihrem Rucksack. Schüchtern lächelnd überreicht sie mir nun auch ein Geschenk.
„Alles, alles Gute! Und ein tolles neues schönes wunderbares neues Lebensjahr mit viel Sonne und viel Sternen und Glück und Keksen!“, lachend nehme ich das Päckchen. Puh! Ganz schön schwer! Sind da etwa Bücher drin?
„Vielen Dank! Ich freu mich! Ist es okay wenn ich es zu Hause auspacke?“, Chana nickt, sie kennt ja auch meine Marotte.
„Klaro Baro! Feierst du mit deiner Familie heute?“

Mit meiner Familie? Ma und Pa streiten sich die ganze Zeit und meine Tante ist blöd. Der Rest meiner Verwandten wohnt weit weg. - Nein Danke!
„Nee, ich mach gar nichts“, eigentlich sollte ich etwas mit Chana und Sarina unternehmen, dann wäre das, was ich gestern zu meiner Tante gesagt habe auch keine Lüge gewesen…
Wir drei gehen zu den anderen aus der Klasse. Annika redet plötzlich nicht mehr weiter als sie mich sieht. Sie guckt mich mit halb geöffneten Mund an.
„Oh“, Sagt sie schließlich. Ja, sehr geistreich! Aber auf einen fiesen Kommentar kann ich echt verzichten…
„Ich weiß!“, tönt sie plötzlich.

Was weiß sie? Oh nein, sie weiß es, sie weiß es!!
„Du hast auch von dem süßen Typen gehört der heute neu in unsere Klasse kommt und willst das er dich heiß findet, deswegen hast du dich verschönert!“, meint sie selbstüberzeugt. Oha! Was denkt sie denn blos von mir? Als ob ich jemals so etwas in Erwägung ziehen würde…
„Ich weiß nichts von einem Neuen“, ernsthaft, woher soll ich wissen das ein Neuer kommt?
„Gib es ruhig zu! Aber weißt du was? Das wird dir nichts bringen, denn er wird garantiert nicht einer wie dir reden“, Annika macht eine kurze Pause.

Ich schaue ärgerlich weg und will gehen. Alle aus unserer Klasse, die in der Nähe stehen hören gespannt mit. Wie unangenehm!

Doch dann fährt sie fort: „Männer wie er reden nicht mit Mädchen wie dir. Du hast einfach nicht den nötigen...Lifestyle“, dann lacht sie, ihre Busenfreundin neben mir grinst amüsiert mit.

Habe ich jemals etwas davon gesagt, dass ich irgendjemanden beeindrucken will?

Alles was ich getan habe um sie zu diesem Geschwafel zu provozieren, ist mein neuer Haarschnitt.

Ich Opfer…
Und überhaupt, denke ich sarkastisch weiter, wieso sollte ich einen Jungen beeindrucken wollen? Ich hab doch einen Verlobten! Aus Wut und Ärger darüber, höre ich einfach auf zu denken.
„Weißt du was, Annika…“, sage ich, ohne nachzudenken, Annika und die anderen Mädchen sehen mich gespannt an.
„…ich glaub nicht an deine Philosophie: je mehr Makeup desto schöner…“

Annika´s Braue verschwindet fast im Haaransatz. Aber sie beherrscht sich.
„Okay…“ Sie kommt auf mich zu, presst ihre Hand auf meine Brust und mich damit gegen die Wand und sagt:
„Sagen wir das mal so: Im Gegensatz zu dir, ist es mir nicht egal wie ich herumlaufe!“ Fassungslos starre ich auf ihre Hand. Dann geht sie und ich starre ihr nach.

Langsam aktivieren sich wieder meine Denkfunktionen.

Was ist da grad passiert? Warum habe ich das zu ihr gesagt?

Und warum hat sie mir auf meine Brust gefasst? Das kann sie doch nicht machen! Auch wenn sie kein Junge ist…

Chana sieht mich fassungslos an. Sarina meint, dass ich ganz schön gemein zu Annika war.

Ich, gemein zu Annika! Wer zum Henker bin ich? Was ist aus mir geworden?

Uh, ich komm damit einfach nicht klar! Ich fühle immer noch ihre Hand auf meiner Brust, wieso macht sie so etwas? Ich fühle mich jetzt dreckig und bin immer noch sauer auf Annika! Darf ich sie wegen Belästigung anzeigen? Aber wenn es stimmt und tatsächlich ich diejenige bin, die sie beleidigt hat, die gemein zu Annika war, dann müsste ich mich eigentlich entschuldigen… naja, vielleicht im nächsten Leben.

Ich sehe kurz vom Tisch hoch, Annika sieht aus dem Augenwinkel zu mir rüber und lästert wahrscheinlich grad mit Lea über mich. Ein paar, die hinter mir sitzen, meinen, dass ich total abgegangen wäre, was voll unnötig war. Ich schäme mich.

„Alles gut, Lyonne! Das habe ich… und auch sonst niemand…. zwar nicht von dir erwartet, aber richtig beleidigend war es nicht! Einfach nur die Wahrheit! Annika ist diejenige die sich mal reflektieren sollte!“, meint Chana und drückt meine Hand.

Ich liebe sie! Wirklich! Gleich geht es mir viel besser, weil ich jemanden habe, der auf meiner Seite steht! Oder sitzt… egal… Ich schaue nach vorne, wo Sarina sitzt. Doch sie tippt auf ihr Telefon ein.
„Ruhe jetzt mal!“, entnervt verschafft sich unser Lehrer Gehör. Man wie ätzend! Warum brüllt er denn so? Dann erst begreife ich warum es so laut ist, der Neue steht vor uns.
Ich sehe ihn mir an und denke mir, dass er wirklich nicht schlecht aussieht. Okay das ist jetzt echt untertrieben! Sogar wenn ich sage dass er besser aussieht als sämtliche

Männer die ich im Laufe meines Lebens gesehen habe, ist das untertrieben.

Genau so habe ich mir immer diesen Prinzen auf dem weißen Pferd vorgestellt!

Echt jetzt!
„Hi, ich bin Marvin Irazumi“, und seine Stimme ist noch besser als er aussieht!

Ich reiße mich zusammen und räuspere mich. Okay, heute ist definitiv nicht mein Tag!

Der Lehrer heißt ihn willkommen, und schickt ihn dann zu dem einzigen freien Platz im Klassenraum.
Ah! Das ist beinahe neben mir! Nur der Durchgang trennt uns von nun an!
Aber… ich bin ja verlobt. Ach verdammt! Warum denk ich da jetzt dran?

Dieser Mensch würde sowieso niemals mit mir reden!

Denn, welcher Typ will schon mit mir reden?
Auf der anderen Seite von ihm sitzt ein Junge, tja Pech für die anderen Mädchen! Ich bin das einzige Mädchen das neben ihm sitzt.
Marvin bleibt vor seinem Platz stehen und meldet sich. Warum meldete er sich, ich an seiner Stell würde einfach reinrufen wenn ich grade neu bin.
„Äh, ja, Marvin. Hast du noch eine Frage?“, Marvin lächelt charmant, mit etwas nach oben gezogener Augenbraue.
„Ja habe ich. Wer aus dieser Klasse ist Lyonne von Gorett?“

Was?! Wieso fragt der nach mir? Mein Herz fängt ganz schnell an zu schlagen.
„Von Gorett? Wir haben zwar eine Lyonne aber sie heißt anders…“

Ich stehe auf und mache mich peinlich.
„Äh, Herr Fischer? Mein Vater heißt von Gorett. Und ich auch mal, also demnächst dann wahrscheinlich wieder...“

Ahh! Was war, dass denn für eine Aktion? Kann ich keine Sätze mehr bilden? Wie PEINLICH!
„Aha. Ja dann, also das war und wird dann Lyonne von Gorett sein!“, meint mein Lehrer grinsend und die halbe Klasse lacht.

Kann der Tag noch schlimmer werden?

Marvin kommt auf mich zu und hält mir seine Hand hin.
„Alles Gute zum Geburtstag“, meint er leichthin und sieht mir in die Augen. Total erstaunt weiß ich gar nicht was ich sagen soll. Und kann ihm erstmal nur in seine Meerblauen Augen starren.
„Was…äh.. ja danke“, woher weiß er denn das? Wer ist der Typ?
Dann setzt er sich hin. Und lächelt mir zu. Ich vergehe fast und schaue schnell weg...
Das Mädchen das vor mir sitzt fragt, ob ich ihn kenne. Nein, natürlich nicht, woher denn? Aber dann sehe ich Annika, sie starrt mich an und ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.

Vielleicht wird der Tag gar nicht mal so schlimm…

Ich bilde mir das nicht ein, er schaut wirklich die ganze Zeit zu mir rüber! Das ist spätestens ab jetzt unheimlich!

Na ja, ich hab wirklich nichts gegen gut aussehende Männer, aber... er ist so auffällig… oder bilde ich mir das doch blos ein?

Nein, jetzt schon wieder! Und als sich unsere Blicke treffen sieht er noch nicht mal weg! Und mit seinen blauen Augen fixiert er mich, bis ich demonstrativ weggucke. Wundert er sich, warum ich nicht mit ihm reden will?

Ich frage ihn während der Stunde nämlich nicht, woher er das mit meinem Geburtstag weiß, es würden ja doch die anderen mithören und das wäre mir unangenehm.
Nach der Stunde bleibe ich auf meinem Platz sitzen, wir haben nämlich gleich noch eine Stunde in diesem Raum Unterricht. Viele gehen normalerweise raus um sich etwas zu essen zu kaufen oder so, aber natürlich nicht heute, heute blieben sie bei dem Neuen.

Chana verabschiedet sich mit den Worten, dass sie sich nur schnell drum kümmern würde, dass sie nicht verblute. Und mit einem genervten Augenverdrehen verlässt sie schnell den Klassenraum.

Na toll, jetzt sitz ich hier alleine…
Ein paar Jungs reden mit Marvin und dann kommen die Mädchen.

Ganz ehrlich, die benehmen sich echt peinlich. Die erste Frage die gleich mehrmals gestellt wird: „Bist du Single?”... Das geht gar nicht! Ich meine, so direkt zu fragen, ob er als potenzieller Freund in Frage kommt, denn nichts anderes ist es ja, ist doch erbärmlich…

Ich erfahre so nebenbei, dass er sehr wohl Single ist und in seiner Freizeit kaum Zeit für irgendwas hätte, weil er lernen müsse. Sein Vater hätte so ein Familienunternehmen das eigentlich sein Bruder weiterführe, aber wo er auch helfen muss und so weiter.

Ist das jetzt doch ein Streber oder was? Das passt so gar nicht zu seinem Äußeren und zu seiner sofortigen Popularität!

Oder aber, er sagte nur, dass er deswegen keine Zeit hat, weil er nicht ständig von den Mädchen bedrängt werden möchte, das kennt er wohl schon. Vielleicht gibt es ja so ein Selbsthilfeclub für Gutaussehende, und von da hat er ein paar Tipps.....
Wann fängt eigentlich die nächste Stunde an?

Als Chana wiederkommt, erzählt sie mir, wie eklig die Toiletten wiedermal aussehen würden und dass sie es total asozial fände, wenn einige Mädchen ihre „Bremsspuren“ nicht wegbürsten würden…

Ich tätschle ihr tröstend die Hand.

„Nur noch zwei Jahre, dann musst du dieses Gebäude, und die Toiletten, nie wieder betreten…“, will ich ihr Mut machen. Sie lacht.

„Außer wir werden Lehrer und fangen hier an zu unterrichten!“, einen Moment gucken wir uns nur an, aber dann lachen wir gleichzeitig los. Wer würde schon freiwillig Lehrer an dieser Schule werden?

Chana hält plötzlich inne und sieht irgendwas hinter mir an,

„Lyonne! Der Neue starrt rüber! Vielleicht hat er sich grade in mich oder dich verknallt!“, flüstert sie begeistert grinsend.

Ja… weil das auch so schnell geht…

„Es sehen doch wahrscheinlich grad einige hier zu uns, weil wir eben so laut gelacht haben…“, werfe ich ein. Chana sieht sich kurz um und nickt dann zustimmend.

„Schade….“, meint sie dann nur.

Unauffällig schiele ich nach links. Marvin ist immer noch der Mittelpunkt. Mir fällt auf, was für tolle Haare er hat. So einen dunklen Rotton habe ich noch nie gesehen.

Als Frau Lack herein kommt, begrüßt sie als erstes den Neuen, danach bittet sie um Ruhe.

Geschichte ist ja ganz interessant aber nicht so interessant, dass man ununterbrochen zuhören muss. Die Frau langweilt mich. Ich hab heute Geburtstag! Was interessiert mich da die Geschichte?

Oh Moment, sie spricht über den König! Sie sagt, dass er damals Verlobt war und trotzdem eine andere geheiratet hat. Tja, das kann der Prinz ruhig auch machen. Aber warum hat der König eine andere gewollt? Weil seine Verlobte hässlich war? Ich melde mich, denn das muss ich jetzt wissen! Das könnte mein Ausweg sein!
Frau Lack nimmt mich dran.

„Warum hat der König eine andere geheiratet?“, ich spüre einen neugierigen Blick auf mir, aber ich dreh mich gar nicht erst zur Seite um zu wissen dass er von Marvin ist.
„Der Vater seiner Verlobten hat sich mit unserem damaligen König gestritten, dann hat sein Sohn natürlich eine andere Frau geheiratet. Wer weiß wie seine damalige Verlobte heißt?“, ich sehe wie sich Marvin als einziger meldet.
„Sie heißt Meldea von Osakat“, Marvin sieht irgendwie amüsiert aus.
Die Lehrerin redet weiter und konfrontiert uns mit dem Leben des Königs. Sehr interessant, finde ich.
Nach der Stunde treffe ich mich draußen mit Chana. Der Rest unserer Klasse (auch Sarina) belagert Marvin.

Chana erzählt mir von einer Musikgruppe, die sie gestern entdeckt hat und wie cool die Songs von den wären.

Plötzlich kommt Sarina wieder zu uns.
„Kennst du den Neuen?“, fragt sie mich kurz.
„Ne, woher denn?“, antworte ich nur und trinke einen Schluck aus meiner Wasserflasche.
„Er wusste deinen Namen und deinen Geburtstag!“, ich fühle mich wie ein Verdächtiger, dessen Alibi gerade ins Wasser fällt. Dabei bin ich doch wirklich unschuldig!
„Frag ihn doch woher er das weiß! Würde mich ehrlich gesagt auch interessieren…“, irgendwie schmeckt das Wasser nicht so gut.

„Warum hast du das nicht in den letzten beiden Stunden getan? Lyonne, du hast neben ihm gesessen! Also ehrlich!... Aber er hat auch nicht wirklich darauf geantwortet….“, also hat sie oder jemand anderes ihn gefragt? Hey, was heißt hier auch? Ich habe sehr wohl wirklich darauf geantwortet!

„Was hat er denn gesagt?“, jetzt bin ich doch neugierig…

„Nur, dass er dich bis jetzt auch noch nie gesehen oder gesprochen hätte, sonst hätte er ja nicht fragen brauchen, wer Lyonne ist…“, ja aber, woher kennt der denn überhaupt meinen Namen? Irgendwie find ich das langsam unheimlich! Vielleicht frage ich doch mal nach…

„Kennt ihr euch über das Internet?“, reißt mich Sarina aus meinen Gedanken. Ich ziehe die Brauen hoch.

„Über das Internet? Quatsch! Aber ich werde ihn nachher fragen!“, genau, das ist hier kein Witz mehr, wenn selbst Sarina mir nicht glaubt!

„Vielleicht hat er auch nur auf unsere Geburtstagsliste geguckt, die hängt doch in der Klasse…?“, wirft Chana plötzlich ein.

Verdutzt sehen wir sie an.

Das wäre eine Möglichkeit! Sarina lacht.

„Aber er sieht echt richtig gut aus! Stimmt’s?“
„In der Tat!“, gebe ich ihr Recht.

Eine Weile sagen wir nichts, essen nur unser Pausenbrot. Dabei fangen sich meine Gedanken wieder an im Kreis zu drehen. Prinz, Verlobung, ätzend…
„Er ist Single“, meint Sarina plötzlich, und hä? Meint sie den Prinzen?
„Wer?“ fragt Chana.
„Marvin natürlich!“, Sarina sieht sich ihr Spiegelbild in ihrem Handydisplay an.

„Und weiter? Ich meine, ich bin auch Single und keiner macht da ´n Hulk drum!...“, Sagt Chana mit witzig verzogenem Mundwinkeln. Sarina verdreht aber nur die Augen, während ich lachen muss.
„Meint ihr der wäre was für mich?“, fragt Sarina wie nebenbei weiter. Hä? Irritiert mustere ich sie von oben bis unten. Meint sie das jetzt ernst? Woher soll ich das wissen? Was für eine blöde Frage.
„Keine Ahnung, bestimmt“, antworte ich deshalb nur. Sarina hat sich glaub ich erst letzte Woche von ihrem Freund getrennt, anscheinend war da schon länger nichts mehr sonst wäre sie doch wenigstens ein bisschen traurig. Oder?
„Er sieht total gut aus, aber warum kennt er dich?“, seufzt Sarina ungeduldig und sieht über den Hof Richtung Marvin. Äh, tut mir Leid und er kennt mich eigentlich nicht, nur halt meinen Namen…
„Ich weiß nicht…“, ich habe aufgegessen aber immer noch Appetit. Chana muss meinen Blick bemerkt haben und gibt mir ein großes Stück von ihrer Käsebrezel ab.
„Wir fragen ihn jetzt mal, okay?“, Sarina scheint wild entschlossen! Ich winke jedoch ab.
„Ne, lass mal!“
„Warum nicht?“, Sarina schaut endlich von ihrem Telefon hoch.
„Ich möchte ihn lieber nicht fragen…“, wenn ich zu ihm gehen würde, jetzt, wo alle um ihm herum stehen, dann stände ich absolut im Mittelpunkt und alle würden mithören.
„Ach man! Lyonne! In Wirklichkeit kennt ihr euch doch und wollt das nur geheim halten oder was?“, wirft Sarina mir plötzlich vor. Was? Woher sollte ich den denn kennen? Bei dem Gesicht hätte ich mich bestimmt erinnert!
„Ich kenne ihn wirklich nicht!“, beteure ich ihr. Sarina guckt mich beleidigt an.
„Ich kann dir das irgendwie nicht glauben!“, mit diesen Worten geht Sarina wieder zu den anderen. Na toll! Der Neue ist ein richtiges Arsch!
„Was geht bei der? Hat die auch ihre Tage?“, wundert sich Chana laut.
„Ich habe keine Ahnung…“, Chana isst ihr letztes Stück Brezel und holt dann noch einen Schokoriegel aus ihrer Tasche. Oh man! Ich will auch!

„Wenn du willst kannst du heute zu mir kommen. Meine Eltern haben bestimmt nichts dagegen... Und du hast ja heute Geburtstag!“ Oh, wie lieb von ihr!
„Danke, das bedeutet mir viel, aber... Im Moment hab ich ehrlich gesagt zuhause ein bisschen... Stress. Ich möchte das so schnell wie möglich klären“, falls man das überhaupt klären kann…
„Was? Du und deine Mutter? Ihr streitet euch doch nie!“ Tja, ich und meine Mutter nicht, aber mein Vater, meine Mutter und ich schon und das Streiten ist ja gar nicht das Problem, das Problem ist diese bescheuerte Verlobung!
„Mein Vater ist momentan bei uns, er hat mich... äh, er hat eine Entscheidung getroffen der meine Mutter und ich nicht zustimmen...“
„Ach, ich dachte deine Mutter hat das Sorgerecht?“
„Nein, also ja, also beide…“

Es war schon komisch aber jetzt weiß ich zumindest den Grund dafür warum er unbedingt auch das Sorgerecht haben musste, sonst wäre ja die Verlobung hinfällig geworden. Ha!
Die Pause ist zu Ende und wir gehen wieder rein. Wir haben jetzt Kurs-Unterricht und leider bin ich da alleine, weder Sarina noch Chana sind im selben Fach wie ich.
Mein Wahlfach ist Biologie, wir nehmen grade das Herz durch. Auf dem Weg nach oben begegne ich Marvin, er bleibt vor mir stehen. Einen Moment sehen wir uns nur an.
„Lyonne, zeig mir bitte den Biologie-Raum. Ich habe dort meine nächste Stunde“, irgendwie irritiert es mich wie er mit mir redet…

Ich seufze, na toll! Dann haben wir ja auch noch Biologie zusammen! Bockmist! Hätte er nicht im anderen Wahlfach sein können…
„Ich auch, komm doch einfach mit“, er folgt mir.

Oh! Das ist die Gelegenheit ihn zu fragen woher er meinen Namen kennt. Vorhin wollte ich nicht danach fragen, weil dann alle zugehört hätten... aber jetzt…

„Du, woher kennst du überhaupt meinen Namen?“, total aufgeregt warte ich auf seine Antwort.
„Von meinem Vater“, hä?
„Und woher weiß dein Vater das?“, frage ich ein bisschen angenervt nach.
„Von deinem Vater“, also sind das Freunde? Man! Warum muss ich mir seine Antworten erstmal zusammenreimen?
„Unsere Väter sind also befreundet? Ich frag meinen Vater mal nach einen Irazumi“, kündige ich an.
„Tu das“, erwidert er darauf nur.

Als wir so nebeneinander gehen, fällt mir auf, dass er ganz schön groß ist. Bestimmt einen ganzen Kopf größer als ich. Oder Anderthalb…

Wir kommen an die Bioraumtür, die anderen Kursteilnehmer stehen auch schon da und sehen neugierig zu uns rüber. Sofort gehe ich ein paar Meter weiter weg, die sollen blos nicht denken dass wir irgendwas miteinander zu tun haben. Marvin wird sofort von meinen Klassenkameraden umringt. Aber kurz blickt er noch zu mir rüber, mit einem komischen Blick.
Endlich kommt die Lehrerin und wir gehen in den Raum. Ich setze mich auf meinen Stuhl und halte die Luft an, denn neben mir ist der einzige freie Platz, verdammt! Ist heute jemand krank? Dann könnte dieser Marvin sich stattdessen dort hinsetzten. Zu spät, er setzt sich neben mich. Ich versuche ganz ruhig zu bleiben, ich weiß selbst nicht warum ich so durcheinander bin. Aber das ist vermutlich ganz normal, denn mir passiert das nicht so oft dass der tollste Junge überhaupt, sich neben mich setzt. Meine Reaktion ist völlig normal! Genau!
Ich kenne Pas Freunde nicht, deshalb hab ich auch keine Ahnung wer der Vater von Marvin sein könnte. Ich werde ihn aber nachher auf jeden Fall fragen!
Der Unterricht langweilt mich, was ist am Blutkreislauf nicht zu verstehen? Warum fragen die alle immer nach, es ist doch so einfach! Meine Güte, schon wieder die gleiche Frage, das gibt es doch nicht und noch immer erklärt der Lehrer ihnen das, bin ich die einzige die das versteht? Ich glaub´s einfach nicht!
Und schon wieder muss ich an die Verlobung denken. Warum hat mein Vater das noch mal gemacht? Ach, das hat er vergessen zu erwähnen! Dieser Mistkerl!
Wütend balle ich meine Hand zur Faust.

„Alles okay?“
„Was?“ Ich drehe mich extrem erschrocken zu Marvin um.
„Hast du irgendwelche versteckten Aggressionen die sich grad den Weg in die Außenwelt bahnen und von denen ich als dein nächster Sitzpartner wissen sollte?“, Marvin grinst mich neugierig an.

„Äh, ja…- ich meine Nein! Ich werde dich schon nicht schlagen oder explodieren wie eine apoptierende Zelle im menschlichen Körper.“, Marvin prustet los. Einige Mitschüler sehen zu uns rüber aber ich nur interessiert auf mein leeres Blatt Papier.
Jetzt starte ich einen Versuch der Lehrerin zu zuhören. Er scheitert. Es gibt schließlich viel wichtigere Dinge über die man, das heißt ich, nachdenken muss. Nervös drehe ich mich zu Marvin um, er schreibt mit. Oh! Das hab ich die ganze Stunde nicht gemacht! Ich muss mir die Mitschriften von irgendjemanden ausleihen! Heimlich schiele ich zu Marvin rüber.

Er schreibt ordentlich in gestochener Schrift, mit einem grünen Kugelschreiber. Aber jetzt schreibt der Stift plötzlich nicht mehr, er versucht es noch ein paar Mal und gibt es dann auf, hilflos schaut er sich um, dann blickt er mich an und lächelt.
„Mein Kuli geht nicht mehr, leih mir bitte einen.“ Oje, er hat doch nicht bemerkt dass ich ihn angestarrt habe?
„Äh, Moment“, sage ich und suche in meiner Stifttasche nach einem zweiten Kugelschreiber. Letztlich find ich keinen. Warte, was ist das Pinke da? Ich greife danach und halte einen überaus kitschigen rosa Stift mit Puschel in der Hand. Er sieht aus, wie von einem Kindergeburtstag einer Sechsjährigen. Meine Mutter hatte ihn mir mal mitgebracht. Es ist mir selber peinlich damit zu schreiben, aber naja: Stift ist Stift und solange er schreibt sollte es in Ordnung sein. Also überreiche ich dem Typ neben mir dieses Prachtstück.

„Den soll ich benutzen?“, irritiert und ein bisschen skeptisch starrt er das rosa Ding und dann mich an. Als ich nicht reagiere fängt er an den schwarzen Kugelschreiber in meiner Hand zu fixieren.
„Gib mir lieber den Stift, den du in der Hand hältst.“, er lächelt mich dabei gewinnend an.

Nur, dass das bei mir nicht klappt.

„Ne, den brauche ich selber“, ich fange an kleine Kreise auf mein Papier zu malen. Voll wichtig…
„Aber du schreibst doch gar nicht mit…“, wenn er das noch lauter sagt habe ich nicht nur die Chance dass mein Versäumnis alle meine Mitschüler mitbekommen, sondern auch noch die Lehrkraft, die davon sicherlich nicht sonderlich erfreut sein würde.

Ich beuge mich ein bisschen zu ihm rüber.
„Ja… aber ich muss ja so tun als ob…“, flüstere ich ihm verschwörerisch zu.

Jetzt beugt er sich auch ein Stück zu mir und flüstert ebenfalls.

„Sehr gut und das kannst du ebenso gut mit dem süßen Stift tun.“ Mit dem süßen Stift?!? Räuspernd weiche ich wieder in mein Terrain zurück.
„Mir ist der rosa Stift auch ein bisschen peinlich…“ gebe ich schließlich zu. Jetzt mustert er mich schief.

„Ach so. Dann solltest du wohl diesen Stift nicht mehr mit dir herumtragen. Oder?“, er sieht mich schräg an und seufzt, als ich weggucke.

Soll er sich doch von jemand anders einen Kugelschreiber leihen!

„Und ich habe keine Chance?“, dabei deutet er wieder auf den schwarzen Schreiber.
„Nein“, erwidere ich und frage mich dabei wieso. Wieso gebe ich ihm nicht einfach diesen verdammten Stift? Er hat doch Recht, ich brauche ihn nicht.
Marvin dreht sich jetzt nach hinten und fragt das Mädchen das da sitzt, sie gibt ihm total froh einen Stift.


Chana und ich setzen uns in der Pause nebeneinander auf eine der Bänke auf dem Schulhof..
„Ich habe nachgedacht.“, fängt sie vielversprechend an.

„Oha! Endlich!“, werfe ich ein und verdrehe dabei die Augen. Sie haut mich lachend. Dann fährt sie fort.

„Ich meine, letztens habe ich so gedacht: Boah, voll ätzend, dass ich noch nicht Volljährig bin und dass ich immer meine Eltern fragen muss und sowas. Aber eigentlich ist es doch voll schön, oder?“

„Was genau?“, ich esse die Kekse die ich mir im Süßigkeiten-Automaten gekauft habe.
„Das Leben! Wir haben alles noch vor uns und alle Türen stehen uns offen, wir haben unbegrenzte Möglichkeiten! Wir können alles tun was wir wollen! Ich meine ich muss mich auch noch um nichts Wichtiges kümmern… so was wie Versicherungen und Geldverdienen und so… Ich kann voll chillen… außer wenn wir für die Klausuren lernen müssen, meine Eltern mich dazu verdonnern zu komischen Firmenessen zu gehen, Mr. Bodyguard mich zur Schule begleitet oder mich gewisse Klassenkameraden nerven…“, Chana lacht, stößt mich mit dem Ellenbogen an und deutet Unauffällig in Richtung Annika rüber.
Ich bin wie erstarrt. Ich kann das jedenfalls nicht. Nicht mehr.

Mir ist zum Heulen zu mute, also mein Leben ist bestimmt nicht schön!

„Findest du nicht?“, fragt Chana. Dabei streicht sie sich ihren bunten Pony aus den Augen. Und ich beherrsche mich und fange nicht an zu weinen.
„Ja doch, schon. Lass uns die letzten Jahre unserer Unmündigkeit in vollen Zügen genießen!“, als ich das sage prustet Chana los und schüttelt sich. Das sieht so blöd aus, dass ich auch lachen muss.

Eigentlich sollte ich ihr von meinem kleinen Problem erzählen.

Aber nicht jetzt, nicht hier.

 

In der Sportumkleidekabine versuche ich so weit weg von Annika zu sein wie nur möglich. Chana zieht sich neben mir um. Genau wie ich trägt sie eine knielange, nicht zu enge Hose und darüber ein langes T-Shirt. Annika zieht eine ziemlich kurze Hose an und ein ziemlich kurzes Top darüber, wie immer. Als es kurz klopft und sich die Tür öffnet steckt unsere Lehrerin ihren Kopf herein.

„Beeilung Mädchen! Und vergesst nicht eure Haare!“, mahnt sie uns, wie immer.

Wir müssen uns immer einen Zopf binden wenn wir Sport haben, aber ich trage ja sowieso immer einen Zopf. Chana flechtet oft ihre kurzen schwarzen Haare obwohl das bei ihrer Länge gar nicht nötig wäre und Sarina macht sich immer einen Pferdeschwanz. Annika macht sich dann immer zwei französische Zöpfe.

„Fertig? Kommt ihr?“, Sarina ist schon fertig und wartet vor der Tür auf mich und Chana.
„Was machen wir heute? Wieder Bodenturnen?“ Fragt Chana abwertend und verzieht ihren Mund dabei.
„Keine Ahnung“, antworte ich. Und es ist mir auch reichlich egal. Denn es gibt nichts, was mich im Sportunterricht motivieren würde. Nicht Bodenturnen (richtig ätzend), nicht Volleyball (richtig richtig ätzend) und auch nicht Tanzen (am ätzendsten).
„Handball“, meint Sarina und schaut sich in der Halle suchend um.
„Ich hasse Handball! Die Jungs spielen immer so brutal und letztens hab ich doch einen Ball abbekommen!“, mault Chana und setzt sich demonstrativ auf die Bank. Ich erinnere mich noch gut daran. Seit da muss Chana um jede einzelne Sportstunde mit ihrem Vater kämpfen. Nicht dass sie gerne Sport macht, sie will nur nicht dass die anderen Mädchen sie noch schräger angucken. Denn ihr Vater fand das überhaupt nicht witzig, dass seine Prinzessin in der Schule verletzt wurde. Ich glaube, am liebsten würde er sie gar nicht unbeaufsichtigt und nur mit Schutzhelm vor die Tür lassen…
Also mein Vater könnte mir ruhig den Sportunterricht verbieten. Ich hätte da glaub ich nichts gegen.
„Tja, man muss halt auch aufpassen!“ Chana wirft Sarina einen verärgerten Blick zu.
„Ich hab aufgepasst! Was denkst du denn? Und wenigstens spiele ich richtig mit!“, faucht Chana zurück.
„Zumindest bekomme ich keine Bälle ab!“, sauer verzieht sich Sarina. Hä? Was ist denn mit denen los?

Tatsächlich steht heute Handball auf dem Programm. Unsere Sportlehrerin teilt uns in zwei Gruppen ein. Schön, so bleibt es mir wenigstens erspart als Letzte auf der Bank sitzen zu müssen.
Ich bin in Marvin´s Gruppe.

Aber egal.

Ehrlich gesagt erinnere ich mich kaum noch an die Regeln von Handball. Aber fragen will ich auch nicht. Chana sitzt auf der Bank und Sarina ist in der anderen Gruppe, sodass ich nicht mal meine Freunde fragen kann.
„Okay, wer geht ins Tor?“, fragt Max überaus motiviert und starrt in die Runde. Ich schaue mir meine Mitschüler an. Ein paar Jungs sind auch guter Dinge. Aber die meisten Mädchen sind, vorsichtig ausgedrückt, eher gleichmütig. Vor allem Marie, sie ist etwas dicker und tatsächlich noch unsportlicher als ich, scheint mit ihrer Laune im Leichenkeller zu sein.

Keiner meldet sich, alle wollen im Feld spielen (oder eben gleich gar nicht). Das ist der perfekte Ausweg für mich, da ich die Regeln nicht mehr parat habe, denke ich, und außerdem muss ich mich so am wenigsten Bewegen!

„Ich kann das machen“, werfe ich ein. Max sieht stirnrunzelnd zu mir. Dann kneift er die Augen zusammen.
„Du bist nicht wirklich groß… aber wenn kein anderer will“, sagt er notgedrungen, sieht dabei aber eher unglücklich aus.

Als sich mein Team auf dem Platz verteilt höre ich noch, wie Max den anderen zuruft, dass sie niemanden an unser Tor lassen sollen, weil wir sonst verloren sind.
Wow… Danke…

Aber da es die letzten Stunden für heute sind, bin ich einigermaßen motiviert.

Die Lehrerin pfeift als wir fertig sind. Der Ball wird zuerst zum anderen Tor gespielt und ich hab erstmal eine Pause. Cool, so wie geplant.

Ich sehe wie Marvin mit den Ball ins Tor trifft. Großes Gejubel und Gekreische von den Mädchen. Die Jungs klopfen ihm auf die Schulter und springen ein paar Mal hoch. Respekt, ehrlich… dass man sich über so etwas im Sportunterricht freuen kann.
Dann wird der Ball in meine Richtung gespielt, ich fange ihn als jemand versucht ihn ins Tor zu treffen.
„Gut!“ ruft mir der übermotivierte Max zu.

Aha! Dann bin ich mit meinen 1,68 wohl doch geeignet? Eigentlich bin ich auch ziemlich beeindruckt von meinem versteckten Talent, einen Ball zu fangen. Also allein dafür müsste ich mich in diesem Halbjahr notenmäßig verbessern! Chana ruft mir von der Bank irgendwas zu, was ich nicht verstehe und hält den Daumen hoch. Ich winke ihr kurz zu.

Den nächsten und übernächsten Ball halte ich überraschenderweise auch, und unser Team hat schon zwei Tore geworfen!

Das andere Team versucht nun wieder ein Tor zu machen. Sie sind etwas wütend weil sie noch keinen einzigen Punkt gemacht haben, Fabian läuft mit einem unangemessen ärgerlichen Gesicht auf mich zu und wirft, wie es scheint, den Ball mit all seiner Kraft.

Und hier endet meine kurze sportliche Glückssträhne.
Der Ball trifft mich an meinem Kopf und ich sehe nur noch schwarz. Rückwärts fallend pralle ich mit dem Kopf auf den Boden auf und verliere die Besinnung.


Es ist kalt.
Mein Kopf brummt unangenehm. Ich bewege ihn dann mal lieber nicht.

Ich lass die Augen geschlossen, höre nur mein Herz schlagen, es ist so laut.

Meine Ohren rauschen.

Es ist kalt, nur mein Gesicht ist warm.

Jetzt höre ich dumpfe Geräusche im Hintergrund und öffne meine Augen ein klein wenig.

Die Geräusche werden lauter und schließlich mache ich meine Augen weiter auf.

Die Welt vor mir ist verschwommen und schlecht zu erkennen. Aber ich identifiziere ein Gesicht, es ist nur wenige Zentimeter von meinem entfernt.

Was hat das zu bedeuten?

Diese Person hält mein Gesicht in ihren Händen, daher kommt also die Wärme auf meinen Wangen.

Endlich sehe ich deutlicher, das Gesicht vor mir ist überraschenderweise männlich. Und jetzt kann ich auch verstehen was dieses mir sagt.
„Kannst du mich hören? Lyonne?“

Diese Stimme hört sich toll an, sie soll weiter sprechen! Irgendwie benebelt versuche ich zu identifizieren wer der Mensch da vor mir ist, der mir hier so unheimlich nahe kommt.

Aber jetzt ändert sich das Bild. Es ist jetzt ganz klar Frau Urtinger, unsere Sportlehrerin, die sich nun in mein Blickfeld schiebt. Und ehe ich mich versehe klatscht sie mir, gar nicht mal so sanft, auf meine Wangen.

„Lyonne, bleib wach, sag etwas, wenn du mich hören kannst.“, ich reiße mich zusammen und nicke erst mal, nicht zuletzt um eine weitere Ohrfeige zu vermeiden. Was nicht unbedingt meine beste Idee heute ist. Das tut nämlich echt weh!

„Mir geht’s gut!“, sage ich und meine damit eher so etwas wie: keine Angst ich lebe noch.

Frau Urtinger sagt etwas zu meinen umstehenden Klassenkameraden. Jetzt kommen Max und Jonas auf mich zu. Moment, was hatte die Urtinger gesagt? Mich auf eine Bank tragen? – Hey! Aber doch nicht von denen!, denke ich empört und richte mich vor Schreck ein Stück auf, so, dass ich auf meine Ellenbogen gestützt dasitze und mir die Szene vor mir genauer angucken kann.

Aber wow, mein Kopf scheint wirklich nicht in Ordnung. Er gaukelt mir vor, dass ein schöner junger Mann die beiden Schwachmaten aus meiner Klasse zur Seite schiebt, als diese mir immer näher kommen und sich selbst zu mir hinunter beugt, nur um mich zu fragen, ob es in Ordnung wäre, wenn er mich zur Bank tragen würde. Ich weiß nicht was ich sage, vielleicht nicke ich ja sogar, auf jeden Fall führt er seine Idee aus und trägt mich auf die Bank zum Rand der Sporthalle.

Wie eine Prinzessin.

Der Traum ist zu Ende als Frau Urtinger mir ein eiskaltes Kühl- oder besser Eispad an die Stirn hält, welches ihr grad irgendjemand gebracht hatte. Zu meinem Schwindelgefühl kommt sofort ein akuter Hirnfrost hinzu der sich vielleicht zu einem ekligen Kopfschmerz entwickeln würde.

Muss das sein?

Und schon fängt es hinter meiner Stirn an zu ziehen. Richtig fies. Und wird schlimmer.

Wirklich?

„Lyonne! Oh Mann! Ich hab´ mich so erschrocken! Meine Güte ich sag ja Sport ist großer Mist! Oha! Ich hoffe du hast jetzt keine Hirnblutung und…-“, unsere Lehrerin unterbricht die plappernde Chana, glücklicherweise, und schüttelt strafend den Kopf.

„Quatsch! Keine Bange Lyonne, wenn dem so wäre, würdest du jetzt bestimmt nicht hier so sitzen können…“, alle aus meiner Klasse stehen mehr oder weniger um uns herum und gaffen. Chana sitzt neben mir und tätschelt meinen Arm.

„…ich möchte, dass du, bis dich deine Mutter abholen kann, im Krankenzimmer wartest. Chana und noch jemand sollen dich hinbringen!“, ich nicke und suche visuell nach Sarina. Bevor ich sie jedoch finde steht der Typ von eben vor mir.

„Ich werde mitgehen“, sagt er und endlich erinnere ich mich daran, dass es ja der Neue aus der Klasse ist. Wie war noch mal sein Name? „Marvin? In Ordnung, ist vielleicht auch besser wenn du sie im Notfall stützen kannst. Alles klar…“, unsere Lehrerin klatscht zweimal laut in die Hände und dreht sich zu meinen Mitschülern um, „…der Rest von euch begibt sich dann mal wieder in eure Teams zurück. Ersetzt Lyonne und Marvin und weiter geht’s, ich muss schließlich noch ein paar Noten festlegen…“, die Meute stöhnt und begibt sich zwangsweise zurück auf das Spielfeld. Sarina klopft mir schnell noch mal auf die Schulter und lächelt Chana zu. Hm… nein, Chana ist auf der anderen Seite. Ich drehe mich nach links. Da steht immer noch Marvin. Aber er sieht zu mir. Oh!

„Wenn dir sehr schwindelig ist, dann sag es, ich trage dich dann einfach in das Schulkrankenzimmer“, bemerkt der dunkelhaarige neben mir und reicht mir die Hand um mir hoch zu helfen.

„Danke, geht schon…“, nuschle ich unbeholfen und sehe zu Chana, die neben mir mit sorgenvollem Gesicht auf und ab hüpft.

Irgendwie war der Boden vorhin noch stabiler und hat vor Allem nicht so geschwankt… ich halte mich für einen Moment mit beiden Händen an meine Mitschüler fest und versuche mein Gleichgewicht zu halten. Wie hieß das noch mal auf Schlau? Vestibulärer Apparat? Das war irgendwo im Ohr, wenn ich das richtig in Erinnerung habe…

„Alles gut…“, versichere ich schnell bevor einer von beiden etwas sagen kann. Chana legt einen Arm um mich und gemeinsam laufen wir aus der Turnhalle. Wir müssen erst ein Stück über den Schulhof laufen und dann ins Hauptgebäude der Schule, in dem sich unser Krankenzimmer befand.

Draußen ist es ganz schön kalt mit den Sportsachen und keiner von uns hat daran gedacht eine Jacke mitzunehmen.

„Geht´s?“, fragt Chana aufs Höchste besorgt, sie macht auf mich den Eindruck, als würde sie jeden Moment damit rechnen, dass ich umkippen würde.

Aber ich glaube das ist eher unwahrscheinlich. Zumindest hoffe ich das.

Wir kommen ohne Zwischenfälle an und ich setze mich ungefragt auf das bereitgestellte Bett. Chana setzt sich neben mich. Ich sehe zu Marvin rüber. Der betrachtet eingehend den kleinen Raum.

„Wo ist die Krankenschwester?“, fragt er und sieht sich weiter um. Als er den Kühlschrank gefunden hat macht er ihn auf und holt ein neues Kühlkissen heraus. „Hier, nimm das“, wir tauschen die kalten Pads aus.

Chana plappert neben mir irgendwas, aber ich kann irgendwie nicht zuhören.

Wir müssen nicht lange warten, unsere schuleigene Krankenschwester kommt nach wenigen Augenblicken herein. Sie untersucht mich erst und stellt uns Fragen nach dem Unfallhergang.

„Lyonne, du musst unbedingt zu einem Arzt um eine Gehirnerschütterung auszuschließen. Ich werde deine Eltern anrufen. Weißt du ob deine Mutter oder dein Vater jetzt Zeit haben?“, wegen der Neuigkeiten, dass ich eventuell eine Gehirnerschütterung haben könnte, sinkt mein noch vorhandenes Wohlbefinden in einen tiefen Keller. Ernsthaft? Gehirnerschütterung? Ich find nicht, dass es doll genug dafür weh tut. Aber sie sagte ja auch nur etwas von ausschließen…

„Die haben jetzt beide keine Zeit. Ich werde am Nachmittag einfach mit meiner Mutter hinfahren.“, stelle ich deshalb klar, weil es doch total unnötig ist sie jetzt von der Arbeit zu holen, wo es mir doch eigentlich gut geht.

Zu meiner höchsten Verwunderung ergreift Marvin das Wort.

„Das ist keine gute Idee. Du solltest sofort zum Arzt gehen. Deine Eltern werden sicherlich von ihrer Arbeitsstelle abkömmlich sein, wenn es ihrer Tochter so schlecht geht.“, ich verdrehe genervt die Augen. Allein schon wie er das sagt!

„So schlecht geht es mir ja gar nicht!“, behaupte ich, es klingt leider nicht so selbstbewusst wie ich geplant hatte.

Entschieden schüttelt die Erwachsene den Kopf.

„Ich muss deinen Eltern Bescheid geben und ihnen dazu raten. Das ist meine Pflicht und du solltest nicht so leichtfertig mit einer Kopfverletzung sein.“

„Das find ich aber auch!“, pflichtet Chana ihr bei. Toll, nachdem also nicht nur die Schulkrankenschwester und ein Junge den ich heute das erste Mal gesehen habe mich nerven, ist nun auch meine beste Freundin gegen mich.

Na ja, ich weiß ja, dass sie es nur gut meinen und wahrscheinlich haben sie sogar recht.

Aber ich habe ganz bestimmt keine Erschütterung im Hirn…

Bevor ich, oder jemand anders etwas sagen kann, nimmt Marvin das Wort an sich.

„Ich werde sie zum Arzt und anschließend nach Hause bringen.“

Entgeistert starre ich ihn an. Kurz treffen sich unsere Blicke. Er ganz ruhig ich ganz erstaunt… ich schaue zu Chana, die ungefähr so guckt wie ich mich fühle. Eine wahre Freundin! Genau, sie ist meine Freundin, warum kann sie mich nicht zum Krankenhaus begleiten? Warum schlägt er das überhaupt vor? Ich meine, wie dreist kann man sein? Das war ja noch nicht mal eine Frage die er stellte, er hat gesagt „ich werde sie zum Arzt bringen“.

Ich werde! Hallo? Ich werde dem gleich mal was erzählen!

Gerade will ich das tun, als die Frau schon eifrig nickt.

„Sehr gut! Dann holst du deine Sachen“, dabei guckt sie Marvin an, „und du bringst Lyonnes Tasche her“, damit meint sie Chana. Sie nickt und beide gehen davon.

Alles klar, das ist jetzt meine Gelegenheit, dem ganzen hier ein Ende zu machen. Also echt! Meine Mutter musste mich wegen so etwas noch nie von der Schule abholen! Und ich bin ja auch nicht todkrank! Es hat mich hier niemand ins Krankenhaus zu fahren! Ich meine, ins Krankenhaus? Ich musste noch nie in ein Krankenhaus!

„Also, eigentlich…“, fange ich meine Erklärung an, werde doch von dem Händewedeln der Krankenschwester abgehalten. Sie hat das Telefon am Ohr und hört konzentriert hinein.

„Schönen Guten Tag, hier Frau Semmler! Es geht um Folgendes: Ihre Tochter hatte im Sportunterricht einen kleinen Unfall…“, während sie telefoniert kann ich nur ärgerlich dasitzen. Wobei, ich könnte mich auch hinlegen, vielleicht werden dann die Kopfschmerzen besser…

Telefoniert sie mit meinem Vater oder mit meiner Mutter?

Aha, sie hat Herr Gorett gesagt… Hoffentlich rastet mein Vater nicht aus, weil ich verletzt worden bin… Aber, denke ich grinsend, er wird mich auf keinen Fall mit irgendeinem Jungen mitfahren lassen!

Immer noch grinsend schaue ich zur Zimmerdecke hoch.

Bis ich die Worte„… also geben sie dazu ihr Einverständnis…“ höre und entsetzt die Augen öffne.

Wie bitte?! Wer gibt hier was?

Ich mache den Mund auf um etwas zu sagen, um alles aufzuhalten. Doch jetzt wird die Tür aufgerissen, Chana platzt herein und ich sehe aus den Augenwinkeln wie Frau Semmler auflegt.

Immer noch mit offenem Mund nehme ich meine Tasche von Chana entgegen und beobachte wie dieser Marvin auch herein kommt. Er hat wieder seine Alltagskleidung an.

Frau Semmler bittet Marvin mit sich hinaus zugehen, damit ich mich anziehen kann.

Chana reicht mir meine Sachen und ich bin immer noch ganz durcheinander.

„Hörst du mir überhaupt zu?“, verblüfft sehe ich zu Chana. Hatte sie etwas gesagt?

Ich schüttle den Kopf, „nein, tut mir Leid“. Sie verdreht die Augen, lächelt mich aber an.

„Heißt das, dass ich jetzt mit diesem Marvin ins Krankenhaus fahren muss?“, frage ich Chana im Flüsterton.

Chana grinst bis über beide Ohren.

„Das ist voll gut!“, meint sie, ebenfalls flüsternd. „Wie in einem koreanischem Drama! Wirklich! Du hast gute Chancen dich demnächst, nach anfänglichem Streit mit ihm zu verloben! Oder dein Zukünftiger ist einer von den Ärzten die dich behandeln werden! Oder….-„. Bevor sie weiter fantasiert und dabei immer lauter wird gebe ich ihr einen Klaps gegen den Arm und schnalze, so wie meine Lieblingsoma immer, wenn sie etwas total abwegig und stupide findet.

„Jetzt hör mal auf, ich meine das ernst! Und mal abgesehen davon, dass die Ärzte alle mindestens zehn Jahre älter sind als ich…. Du solltest weniger von diesen Serien gucken und auch keine Bücher mehr lesen…“, ich überlege kurz, „generell solltest du jegliche Art des Medienkonsums weglassen. Das wäre sowieso besser und du hättest mehr Zeit zum Lernen.“, ich nicke bekräftigend und versuche mir meine Jacke zuzumachen.

„Du meine Güte! Du hörst dich fast so an wie meine Mutter! Ich glaube dein Kopf hat echt ganz schön was abbekommen!“, sie schüttelt den Kopf und macht den Reisverschluss meiner Jacke zu, da ich es heute irgendwie nicht schaffe.

„Apropos Bücher, meine lege ich erst beiseite, wenn du mir als glänzendes Vorbild voran gehst.“

Erschrocken starre ich sie an.

„Das geht jetzt aber zu weit!“, wir grinsen uns an.

 

Also sitze ich jetzt mit meinem Mitschüler in einem Taxi, auf dem Weg zum Krankenhaus.

Soll ich vielleicht jetzt doch noch mal meinen Vater anrufen und fragen, wieso er bitteschön nichts dagegen hat?

Oder Ma? Aber wenn ich jetzt mit ihr telefoniere, hört Marvin alles mit.

Ich werfe einen Seitenblick zu ihm, er sitzt mit verschränkten Armen neben mir am linken Fenster.

Ich fasse einfach nicht, wie er so eine Haarfarbe haben kann. So ein dunkelrot hat doch keiner! Und da seine Augenbrauen dieselbe Farbe haben färbt er sie sich wohl nicht. Außer er würde sich auch seine Brauen färben… als Mann wohl eher nicht… schätze ich.

Als er zu mir herübersieht sehe ich nicht wie gewöhnlich schnell weg. Nein, ich halte seinem Blick stand.

Ganze zwei Sekunden.

Um mein Gesicht zu wahren, sage ich ihm, dass ich das mit dem Krankenhaus eher übertrieben finde.

„Hast du schlechte Erfahrungen im Krankenhaus gemacht?“, fragt er mich geradeheraus, während er mich mehr als zwei Sekunden lang anschaut, während ich irgendwo anders hinsehe.

„Nein“, ich räuspere mich. „Ich habe keine schlechten Erfahrungen gemacht. Ich komme mir nur sehr blöd vor, wegen so einer Kleinigkeit ins Krankenhaus zu fahren…“, jetzt schaue ich wieder zu Marvin, der zieht ungläubig seine Brauen hoch.

„Oh, eine Kopfverletzung ist eine Kleinigkeit? Das ist ja komisch, dass zum Beispiel eine Hirnblutung, die offensichtlich auch zu den Kopfverletzungen gehört, tatsächlich zum Tod führen kann. Hm, du hast Recht, Kopfverletzungen sind eine echte Kleinigkeit…“, empört höre ich diesem Jungen zu, wie er mich lächerlich macht. Zu allem Überfluss sehe ich wie der Taxifahrer zu grinsen beginnt.

„Es ist ja nicht so, dass ich eine Hirnblutung habe…“, beharre ich, aber Marvin schaut jetzt aus dem Fenster.

„Das kann man allerdings nur hoffen“.

 

Und ich habe keine Hirnblutung. Wenn auch eine leichte Gehirnerschütterung.

Wieder im Taxi lässt Marvin es sich nicht nehmen mich nach Hause zu begleiten. Vorhin, nachdem wir wieder aus dem Krankenhaus gegangen waren und Marvin der Ärztin versprechen hat müssen (die nebenbei bemerkt geglaubt hatte, dass Marvin und ich ein Paar wären. Voll peinlich!), dass er zu Hause bei mir bleiben würde, solange bis meine Mutter oder mein Vater da wären um nach mir zu sehen, rief ich doch meine Mutter an um ihr die Situation zu schildern. Sie wusste schon von Pa Bescheid und war sehr erleichtert, dass es mir soweit gut geht. Und als ich von Marvin anfing bestätigte sie tatsächlich die Geschichte mit dem guten Freund von Pa und dass Marvin sein Sohn sei. Und dann meinte sie noch, dass ich mir keine Gedanken machen müsse, weil Marvin ein anständiger Junge wäre.

Zweifelnd schaue ich zu ihm rüber. Was soll das schon heißen? Anständig? Er ist immer noch ein Junge…

Als wir da sind bezahlt Marvin wieder das Taxi. Die zwei Fahrten waren ganz schön teuer.

„Mein Vater gibt dir das auf jeden Fall zurück. Danke, dass du es mir ausgelegt hast.“, einen Moment hält er inne und sieht mich an, dann nimmt er unsere beiden Taschen und geht an mir vorbei zu unserer Haustür. Ich folge ihm. Als ich da bin reicht er mir meine Tasche, doch als ich sie nehmen will lässt er nicht los.

„Nimm einfach den Schlüssel heraus.“, also so schwer ist meine Tasche jetzt auch nicht.

Oder ist es nett von ihm?

Während ich mich darüber nicht entscheiden kann, wühle ich meinen Schlüssel heraus und öffne die Haustür.

Ich gehe rein und will die Tür hinter mir zu machen, aber Marvin hält sie auf.
„Du musst jetzt wirklich nicht mit reinkommen. Mein Vater kommt gleicht.“

„Ja, und bis dahin bleibe ich. Ich muss sowieso noch mit ihm reden.“
„Was willst du denn mit meinem Vater bereden? Kannst du das nicht am Telefon machen? Weißt du, er wohnt eigentlich auch gar nicht hier…“, immer noch halte ich die Tür so weit wie es geht zu. Und ich dachte unsere Väter wären miteinander befreundet, nicht Marvin mit meinem Vater…

„Ich weiß, aber da er heute vorbeikommt, da kann ich mir doch das Telefonat sparen, wenn ich doch schon mal hier bin.“, er lächelt mich an und drückt die Tür ein bisschen weiter auf.

Und ohne größere Bemühungen öffnet er jetzt die Türe ganz und spaziert in die Wohnung.

Halloho!? Hausfriedensbruch?!
„Moment... was wird das?“, frage ich, denn ich komme mit dem Gedanken nicht klar dass er hier, in unserer Wohnung ist. „Du kannst hier nicht einfach rein kommen! Geh wieder raus! Außerdem ist das Hausfriedensbruch!“, ich schaue ihn sehr böse an.
„Hausfriedensbruch? Nicht wirklich, die Tür war ja offen…“, er grinst mich an und sieht sich um.

Und das soll er nicht! Denn hier hängen überall Fotos.

„Lyonne, du solltest dich jetzt besser hinlegen, wirklich.“, er sieht mir dabei in die Augen. Er hat sehr schöne blaue Augen. Und plötzlich wird mir ganz warm.

Im Gesicht.

Hoffentlich werde ich nicht rot.

Bestimmt werde ich rot.

Mist.

Um dies zu vertuschen drehe ich mich um. Auch wenn ich weiß, dass man seinem Feind nie den Rücken zudrehen sollte.

„Ich werde mich jetzt nicht hinlegen, nicht wenn währenddessen ein Fremder im Haus ist…“, demonstrativ verschränke ich meine Arme vor der Brust.

Er hebt seine rechte Augenbraue.

„Ja und ich werde hier warten, bis mein Vater da ist.“, entschlossen setze ich mich auf den Hocker neben dem Schuhschrank. Ein bisschen auch deswegen, weil ich echt doll Kopfschmerzen habe.

„Lass doch den Unsinn, du hast eine Gehirnerschütterung und…-“, ich unterbreche ihn besserwisserisch „eine leichte Gehirnerschütterung!“, Marvin verdreht die Augen grinst aber mit dem halben Mund.

„Okay, also hast du eine leichte Gehirnerschütterung… bleibt sich gleich. Und da ich dafür Sorge tragen muss, dass es dir gut geht, solltest du dich jetzt hinlegen. Ihr habt doch sicher ein Wohnzimmer und ein Sofa?“.

Dazu sage ich nichts.

Nach einer Pause redet er weiter. „Wenn du dich nicht selbst hinlegst, werde ich das eben für dich übernehmen, ob du willst oder nicht.“, ungläubig sehe ich zu ihm rüber.

„Bedrohst du mich gerade?“

„Nein, ich zeige dir lediglich auf, welche Möglichkeiten dir offen stehen.“

Echt jetzt? Welche Möglichkeiten dir offen stehen? Aus welchem Jahrhundert kommt der Junge? Ich meine, wer redet denn so?

Als er einen Schritt auf mich zu macht, stehe ich erschrocken auf.

Was hat der denn jetzt vor?

Ohne etwas zu sagen gehe ich tatsächlich ins Wohnzimmer und setze mich in die Couch. Damit muss er sich zufrieden geben.

Nach einer Weile kommt er auch ins Wohnzimmer um mir ein Kühlkissen zu bringen.

Na toll, jetzt wühlt er sich durch die ganze Wohnung und ich kann ihn nicht aufhalten.

Fest entschlossen nicht einzuschlafen halte ich mir das kalte Kissen gegen den Kopf und schließe die Augen.

 

Aufgeweckt von Pa´s Stimme öffne ich die Augen. Er kniet vor mir und sieht mich total besorgt an.

„Mir geht’s gut.“, werfe ich also in den Raum um ihn präventiv zu beruhigen.

„Zeig mal deine Beule, hast du starke Schmerzen?“

Ich zeig ihm die kleine Beule.

„War das wirklich ein Unfall?“, fragt er. Typisch, einfach nur typisch für ihn.
„Ja, im Sportunterricht.“, ich setze mich ein bisschen aufrechter hin. Jetzt pocht es nur noch leicht an der getroffenen Stelle.
„Und das war auch keine Absicht von jemanden?“, ich stöhne genervt und verdrehe die Augen. „Nein, wieso auch?“ Er schaut mich immer noch über die Maßen besorgt an.

„Alles Gute zum Geburtstag!“, wünscht er und klopft mir dabei auf die Schulter.

Echt total toller Geburtstag… Und wollten Chana und ich uns heute nicht vielleicht noch sehen? Na das kann ich ja mal total vergessen…

Pa sagt, dass die Geschenke die er für mich hätte, nicht hier wären, sondern er geplant hatte, dass wir dorthin fahren würden. Aber da es mir so schlecht geht (also echt, ich bin nicht todkrank, was denken alle?) würden wir das morgen nachholen, wenn es mir besser gehen würde.

Echt schön.

Bis zum Abend bleibe ich auf meiner Couch und grummle vor mich hin. Mein Vater und Marvin sitzen währenddessen in der Küche und reden. Das ist so ätzend. Im Ernst, worüber reden die bitte so lange?

Zwischendurch schlafe ich ein und zwischendurch guckt Pa nach mir. Alles gut, ich lebe noch.
Bevor Marvin geht, verabschiedet er sich auch von mir und wünscht mir gute Besserung.

Ich kann mich noch nicht entscheiden, wie ich Marvin finden soll.

Danach setzt sich Pa zu mir ins Wohnzimmer. Eine eher gezwungene Konversation findet statt, bei der ich das Gefühl habe ausgefragt zu werden. Und als er fragt, was ich von Marvin halte beende ich dieses peinliche Gespräch.

Und ich habe Glück, in dem Moment höre ich wie Ma die Tür aufschließt.
„Hallo?“
„Bist du wieder da?“, frage ich meine Mutter. Eigentlich eine unnötige Frage…
„Ja!“, ruft sie und kommt mit ihrer großen Tasche zu uns in die Stube.

Sie nickt Pa zu und umarmt mich, es fühlt sich komisch an, ganz anders als sonst. Sie sieht irgendwie verändert aus.
„Alles Gute zum Geburtstag.“, Ma geht kurz Richtung Küche, dann kommt sie wieder und reicht mir ein Geschenk.

Ich packe es aus. Ma macht Geschenke für meinen Geburtstag immer selbst, sie will dass es etwas ganz Persönliches ist.
Es ist ein Fotoalbum. Vorne steht drauf „Lyonne Astaria ”. Auf der ersten Seite sehe ich mich mit Chana, Sarina und Ma. Das war an meinen Vierzehnten Geburtstag. Wir waren zusammen Eislaufen und haben danach Eis gegessen. Es war der letzte Geburtstag den ich gefeiert habe. Auf den nächsten Seiten sehe ich Baby Bilder von mir. Kleine Texte und die Daten stehen daneben, es gibt auch ein paar Fotos von Pa und Ma, auch von meinen anderen Verwandten.
„Danke, es ist echt schön.“, ein bisschen traurig schaue ich mir noch mal das Titelbild an.

Ich umarme Ma.

 

Am nächsten Tag fahre ich statt zur Schule mit meinem Vater durch die ganze Stadt. Mir wird ein bisschen schlecht von seinem Fahrstil.
Irgendwann halten wir vor einem großen Gebäude.
„Komm Lyonne.“ Gemeinsam gehen wir zu einem Hintereingang.

Pa klingelt.

Und nachdem er seinen Namen nennt öffnet sich die Tür und eine Frau kommt auf uns zu.
„Einen guten Tag Herr von Gorett! Und Ihnen wünsche ich nachträglich alles Gute zu ihrem Geburtstag, Fräulein Lyonne Astaria von Gorett.“, was um Himmels Willen...
„Folgen sie mir bitte.“ Das tun wir.
„Pa?“, flüstre ich an ihn gewandt. Er grinst mich an.
„Was soll das? Wo sind wir?“, Pa schüttelt nur den Kopf. Ja ich weiß, er hatte von einer Überraschung gesprochen, aber das alles hier ist so seltsam.
In einem Raum, der nur mit zwei bequemen Sesseln und einem Abstelltisch ausgestattet ist bleiben wir stehen. Außer uns stehen noch weitere vier Personen im Raum. Alle schwarz-weiß angezogen und mit sorgfältig zurechtgemachten Haaren. Sie sehen aus wie Diener. Echt jetzt!

Pa gibt denen ein Zeichen und zwei von ihnen setzen sich in Bewegung. Sie bringen... ein Kleid herein!
Wenn das hier so ´ne Art Bestechung sein soll nehme ich die gerne an! Das Kleid hat nämlich Reifröcke! Richtige Reifröcke! Es ist Rosa und weiß und scheint ganz aus Seide, Spitze und Tüll zu bestehen. Es ist einfach ein totales Mädchenkleid! Ein richtiges Mädchenkleid!

Plötzlich halte ich inne, es sieht nämlich fast wie ein Hochzeitskleid aus...
„Gefällt dir das Kleid nicht?“, fragt mein Vater als er das bemerkt.
„Doch, aber wo soll ich es denn tragen?“ Ich wage es nicht es zu berühren. Nicht dass ich es kaputt mache…
„Mach dir keine Sorgen, am Hofe gibt es hundert Veranstaltungen wo du es tragen könntest!“

Zu dem Kleid gibt es Schuhe und eine Tasche.

Die Leute stellen sich wieder ein Stück weiter weg von uns, so fühle ich mich nicht ganz so beobachtet.
„Ich habe noch etwas Kleines für dich!“, sagt Pa und überreicht mir ein kleinen Karton.
Ich fange an das Geschenk auszupacken.
Ein super modernes Telefon, mit allem Drum und Dran. Wow, das ist absolut das neueste der neuen die es gibt (glaube ich zumindest, so gut kenne ich mich nun auch nicht aus). Cool! Jetzt kann ich mein Steinzeit Handy wohl wegtun!
„Das ist super Pa! Danke!“, ich umarme ihn.
„ Kein Problem. Meine Nummer und die von deiner Mutter sind schon gespeichert.“ Natürlich! Ich schmunzle ein bisschen.

Einige Augenblicke sagen wir nichts. Und ich starre in der Zeit das Prinzessinnenkleid an. Wie es wohl sein wird es zu tragen?

„Lyonne, könntest du mir vielleicht ein bisschen entgegen kommen. Du weißt schon, die Sache mit dem Prinzen….“, er zögert und sieht mich abwartend an.

Ich setze mich erstmal neben ihn auf die Couch.

Die Sache mit dem Prinzen? Er meint meine Verlobung?

„Bei was denn?“, frage ich und schalte mein neues Telefon ein.
„Du könntest an zwei Tagen in der Woche mit deiner Tante verschiedene… Dinge üben und ein bisschen trainieren.“, hä? Dinge üben und trainieren? Werde ich jetzt zur Geheimagentin? Hm, gar nicht mal weit von der Polizistin entfernt.
„Trainieren? Was soll ich denn trainieren?“, wahrscheinlich Bodybuilding! Finden die mich etwa dick? Unförmig ja, aber dick?
„Nur ein bisschen, für deine Gesundheit…“, ein bisschen hört sich vernünftig an.

Das Telefon ist super und ich probiere grad die Spiele aus, die schon drauf gespeichert sind.
„Meinetwegen“. Drauf geschissen, solange ich die Sachen hier behalten darf… Und so schlimm kann das ja nicht werden.

Er macht ein zufriedenes Gesicht. Ich auch.
„Lass uns jetzt dein nächstes Geschenk besuchen.“ Was?
„Jetzt übertreibst du es aber, Pa! Ich werde noch nicht mal Achtzehn, außerdem kann man ein Geschenk nicht besuchen.“
„Doch, dieses schon, komm mit.“

Also bekomme ich jetzt noch meinen ganz persönlichen Butler oder was?
Nach einer unangenehmen Fahrt parken wir wieder vor einem großen Gebäude.

Drinnen erwartet uns schon ein Mann im Anzug. Mir fällt auf dass es nach Zitrone riecht.
„Einen wunderschönen guten Tag. Wie geht es ihnen? Und sie müssen die Tochter des Herrn von Gorett sein! Welche Ähnlichkeit! Schön sie endlich kennen zu lernen! Nennen sie mich John, in Ordnung?“ Okay, was läuft denn hier ab? Ich werde gesiezt soll ihn aber duzen, alles klar...
„Freut mich ebenfalls sie kennen zu lernen.“, erwidere ich brav.
Wir gehen in einen anderen Raum, der Geruch ändert sich. Er riecht nicht mehr nach Zitrone sondern nach Tier. Dieser John gibt mir plötzlich zwei Kuverts, auf dem einen steht „Jupiter” und auf dem anderen „Karat”. Jupiter? Das ist doch ein Planet, moment! Ein Planet? Papa will mir einen Planeten schenken?! Jetzt übertreibt er es aber!
„Möchten sie sich setzen?“ fragt er uns, Pa schüttelt den Kopf. Ein Mann kommt von einer anderen Tür in den Raum, er trägt jeweils eine Transportbox für Tiere in je einer Hand.
„Lyonne, ich hoffe du magst sie.“

Aus den Boxen kommen zwei Tiere heraus, sie sind winzig und bestehen praktisch nur aus plüschigem Fell.

Oh man! Oh mannomann!

„Das hier...“, dieser John deutet auf das eine flauschige Etwas. „...Ist Jupiter, eine Main Coon. Und der andere hier, ist sein Stiefbruder Karat. Karat ist ein siebirischer Husky. Beide kennen sich schon ihr kurzes Leben lang.“

Ich verstehe grade nicht worum es geht. Jedenfalls nicht um Planeten.
„Streichle sie ruhig mal!“, schlägt Pa mir vor. Aber irgendwie habe ich Angst dass ich sie kaputt mache.

„Ne, ich möchte nicht.“ Obwohl, vielleicht wollen sie ja gestreichelt werden?
„Lyonne, jetzt mach doch mal.“ Mein Widerstand ist gebrochen.
Ich seufze und knie mich vor Jupiter, dem Babykätzchen hin. Vorsichtig tapst es auf mich zu, es sieht total süß aus. Seine rechte Pfote berührt vorsichtig mein Knie, dann guckt er wieder mich an, wahrscheinlich um sich zu vergewissern dass das auch keine Falle oder so etwas in der Art ist. Langsam strecke ich meine Hand nach seinem Kopf aus, er schnüffelt ein bisschen, dann kommt er mir mit dem Köpfchen entgegen. Er hat ganz weiches Fell! Karat kommt jetzt auch zu mir, er kuschelt sich an seinen Freund, dann an mich. - Sie sind ja so süß!! Ich sterbe!
„Darf ich sie mitnehmen?“, frage ich verzückt von dieser Anmut.
Pa lächelt.
„Jetzt noch nicht. Erst wenn wir umgezogen sind...“ Ach ja, der Umzug... Blos nicht dran denken.
Wir fahren später wieder nach Hause.

Ich bedanke mich noch mal bei Pa mit einer Umarmung

 

Die nächste Woche bleibe ich zuhause, zur Sicherheit. Telefoniere aber mit Chana und sie hält mich auf den Laufenden. So erfahre ich auch, dass der Neue ziemlich gut ankommt, also so wie bereits am ersten Tag, und wohl nicht nur bei den Schülern sondern auch bei den Lehrkräften. Also wohl doch ein Streber.

Irgendwie.

Chana und ich verabreden uns für Sonntag.

Vielleicht ist Marvin doch ganz nett

„Erzähl jetzt noch mal bitte! Er ist mit dir zum Krankenhaus gefahren und danach zu dir nach Hause und ist bei dir geblieben bis dein Vater kam?“, fasst Chana nochmal unsere Telefongespräche zusammen.
„Genau“, ich trinke einen Schluck von der Limonade.

„Und da ist wirklich sonst gar nichts passiert?!“, ungläubig schiebt sie sich einen Keks in den Mund und krümelt dabei total. Ich muss lächeln, sie ist so süß. Wäre ich ein Mann hätte ich mich bestimmt in sie verliebt.

Ich nehme mir auch einen Keks. Es sind die besonders leckeren, die mit der flüssigen Schokoladenfüllung.

Um vom Thema abzulenken erzähle ich ihr von den Geschenken meiner Eltern und zeige ihr mein neues Handy. Sie ist ganz begeistert, versteht aber nicht wieso ich die Tiere nicht mit nachhause nehmen durfte.

„Total bescheuert, warum zeigt er sie dir dann?“, wir essen beide noch einen Keks, bevor wir weiterreden.
„Ich hab eure Geschenke dabei, soll ich sie auspacken?“

„Ja! Los los! Ich weiß sowieso nicht aus welchem Grund du sie noch nicht ausgepackt hast“, also hole ich sie aus meiner Tasche und lege sie vor uns auf den Boden.
„Ich packe zuerst das von Sarina aus.“, kündige ich ein bisschen aufgeregt an.

Als ich fertig bin starren Chana und ich auf das Geschenk.
„Okay“, sage ich und nehme den silbernen Haarreif in die Hand. Eine Kette und ein Paar Ohrringe liegen noch in ihrem Kästchen, starren mich an und sagen „wir sind enorm teuer gewesen und passen kein bisschen zu dir!“
„Cool.“ ist das einzige was ich sagen kann. Und es kling eher nach einer Frage.

Chana wiederholt mich.
„Cool.“
Ich meine, dass ist ein wirklich schönes Geschenk. Nur weiß ich keinen Anlasse wozu ich es tragen könnte...
Dann packe ich Chana´s Geschenk aus. Auch sie hat etwas mehr Geld für das Geschenk ausgegeben, das ist mir ein bisschen peinlich, auch wenn ich weiß dass sie davon genug hat. Schließlich ist ihr Vater Gründer irgendeiner tollen Firma.
„Du hast mir eine Mangareihe gekauft? Eine ganze Reihe? Chana!“, ich stupse sie an.

„Wieso nicht? Dann kannst du sie wenigstens von vorne bis nach hinten durchlesen, ohne monatelang auf den nächsten Band warten zu müssen und währenddessen durchzudrehen.“, irgendwie klingt sie ein bisschen verbittert. Doch jetzt grinst sie wieder.
„Dankeschön! Und hast du die Reihe auch?“ Sie schüttelt den Kopf.
„Eigentlich wollte ich sie mir kaufen, aber irgendwie passen sie besser zu dir.“ Ich freu mich riesig.
„Danke.“ Ich umarme Chana. Dann klopft es.

„Jaa?“ Chana´s Mutter kommt herein.
„Ich wollte nur deinen Gast begrüßen. Hallo Lyonne, wie geht es dir?“ Die schwarzhaarige junge Mutter von Chana ist immer besonders freundlich zu mir, weil Chana wegen der leichten Paranoia ihres Vaters (deshalb auch der gelegentliche Bodyguard) kaum Freunde hat.
„Danke, sehr gut.“, ich schlucke schnell den Rest Keks hinunter und hoffe, während ich sie anlächle, dass ich keinen Krümel zwischen den Zähnen habe.
„Sie hatte am Donnerstag Geburtstag.“, sagt Chana zu ihrer Mutter.
„Was? Das wusste ich nicht, sonst hätte ich etwas vorbereitet. Herzlichen Glückwunsch nachträglich! Wie alt bist du jetzt?“
„Danke, ich bin Siebzehn geworden.“ Sie lächelt noch einmal und verlässt dann das Zimmer.


Wir haben uns dazu entschieden die Bände, die Chana mir gekauft hat, gemeinsam zu lesen und immer wenn ein besonders schönes Bild zu sehen ist quietscht Chana.

„Ahhh, das sieht ja so wunderschön aus! Oh, so schön!! Guck! Guck hin!“ Wir sind erst am Anfang des zweiten Bandes, da hören wir die Türklingel. Ich schaue auf die Uhr und stelle fest das es bereits Sechs ist. Pa wollte mich ja um Sechs abholen... Muss er so pünktlich sein?
„Holt dich deine Mutti schon ab?“, Chana greift in die Schüssel mit den Keksen. Doch sie greift ins Leere.
„Ne, mein Paps. Er ist doch im Moment bei uns.“ Wir packen schnell meine Sachen ein und gehen hinunter. Neugierig betrachtet Chana meinen Vater, sie sieht ihn zum ersten Mal.
„Der sieht ja richtig gut aus, das wusste ich nicht.“, flüstert sie mir zu. Pa kommt auf mich zu. Und er sieht schon wieder besorgt aus…
„Wie geht’s dir? War alles ohne Zwischenfälle? Hallo, du musst Chana sein, freut mich.“ Er streckt meiner Freundin die Hand entgegen. Mal ehrlich, ob alles ohne Zwischenfälle war? Äh, hallo? Ich habe eine Freundin besucht und war nicht auf einer Geheimkonferenz oder sowas…
„Freut mich auch.“ Sie schütteln sich die Hände. Dann kommt die Mutter von Chana.
„Guten Abend, sie müssen der Vater von Lyonne sein“, während sich unsere Eltern bekannt machen zeigt Chana mir noch schnell ihre neuen Stiefeletten. Sie sind weiß mit beigen Kunstleder Anteilen. „Echt total schön!“, versichere ich ihr und streiche bewundernd über das weiche Material.
„Freut mich sehr sie kennen zu lernen, ich bin Gorett.“ Sie schütteln sich ebenfalls die Hände. Mein Vater lässt häufig das „von” im Namen weg. Entweder er ist vergesslich oder es dauert ihn zu lange mit dem „von“. Das eine hoffe ich nicht und das andere glaube ich nicht...
„Mein Name ist Lee So-Young. Ich freue mich immer wenn ihre Tochter uns besucht, sie ist eine gute Freundin von Chana. Ich wünsche ihnen noch einen schönen Abend.“ Blablabla, bleiben wir jetzt doch noch länger oder fahren wir jetzt?
„Den wünsche ich ihnen auch. Aber sagen sie, ist ihr Mann etwa Lee Hyun-Shik?“ Als nächstes holt Chana aus einem Schubfach ein paar Bonbons und gibt sie mir. Auf Chana ist Verlass, sie weiß genau was ich brauche!
„Ja genau! Und kennen sie ihn persönlich oder nur vom Hören?“ Mein Vater lacht.
„Nein, er ist ein guter alter Freund von mir, grüßen sie ihn bitte von mir. Wir müssen uns unbedingt wieder mal Treffen! Vielen Dank!“ Damit gehen wir dann. Zum Abschied umarme ich Chana noch mal.
„Bis morgen.“
„Ja, bis morgen.“

Und das war´s dann mit dem Wochenende. Ich schaue während der Heimfahrt aus dem Fenster.

Witzig das sich unsere Väter kennen.
Boah! Nichts gegen Pa, aber sein Fahrstil ist unter aller Kanone, mir wird jedes Mal, aber auch wirklich jedes Mal schlecht, wenn er fährt. Außerdem fährt er zu schnell, da kriege ich es mit der Angst zu tun!

Die nächste Woche startet mit viel Regen. Und blöderweise habe ich auch noch meinen Regenschirm vergessen!

Ich laufe die letzten Meter bis zum Eingang der Schule, aber es ist vergeblich. Ich bin total nass geworden. Im Klassenraum hänge ich meine Jacke über den Stuhl und stell meine Tasche ab, danach gehe ich zur Toilette um zu retten was zu retten ist.

Mein Spiegelbild lässt mich für einen Moment erschrecken. Ich sehe aus, als sei ich grad mit dem Kopf komplett untergetaucht. Wenn ich jetzt wenigstens ein richtiges Handtuch hätte…

Ich versuche es also erstmal mit den Papierhandtüchern. Die fusseln aber als ich damit über meine Klamotten und Haare gehe.

Mist.

Ein paar Mädchen kommen herein und ziehen sich ihren Lippenstift nach. Kurz sehen sie zu mir rüber. Ich glaube sie sind aus der zwölften Klasse. Die eine schaut mich mitleidig an, die andere grinst.

Na toll.

Seufzend mache ich mir einfach einen Zopf und laufe dann wieder in den Klassenraum.

Ich schaue mich um. Warum bin ich die einzige die keinen Schirm dabei hat? Alle anderen triefen jedenfalls nicht so wie ich…

„Was hast du denn gemacht?“, höre ich Sarina mich tadeln.

„Das war so nicht geplant!“, versichere ich ihr überflüssigerweise. Sie ist kein bisschen nass geworden. Nicht mal die Hosenbeine.

Auf meinen Tisch setzend fragt sie mich ob ich am Donnerstag Zeit hätte. Wir könnten uns im Café treffen.

„Ich denke schon.“, irgendwie enttäuscht suche ich mein Stifte Mäppchen aus meiner Tasche heraus.

Sie hatte mir am Wochenende zwar eine SMS geschrieben und gefragt wie es mir ginge, aber jetzt wo wir uns persönlich sehen. So ‚face to face‘… Da hätte sie schon noch mal nachfragen können. Immerhin hatte ich eine Gehirnerschütterung! Ich meine, so eine Kopfverletzung ist nicht ohne!

„Lyoooonne!“, tönt es plötzlich neben mir. Chana strahlt mich euphorisch an und legt vor mir auf den Tisch ein Kaugummi.

Cool.

Ich stecke es mir sofort in den Mund

„Und wie geht’s?“, ich grinse, denn gute Laune ist ansteckend.

„Gut!“, aus dem Augenwinkel nehme ich war, dass Sarina schon wieder weg ist. Ich stehe auf um noch mal zu ihr zu gehen, aber dann wird meine Aufmerksamkeit von Marvin auf sich gezogen. Er betritt den Raum, ganz lässig mit seiner Tasche in der einen Hand, in der anderen den Schirm.

Oh man! Hat denn wirklich jeder an einen Schirm gedacht außer mir?

Marvin wird sofort von den anderen begrüßt. So als wäre er nicht erst anderthalb Wochen da…

Plötzlich kreuzen sich unsere Blicke und schnell sehe ich weg.

Ein Räuspern und dann „äh… Lyonne?“, ich hebe den Blick, Fabian steht vor mir und weicht meinem Blick aus. Was will der denn?

„Ich wollte mich nur kurz entschuldigen… das mit dem Ball war keine Absicht.“, schnell haspelt er die Worte vor sich hin und verkrümelt sich dann wieder zu den andern Jungs.

Okay… merkwürdig!

„Das hätte ich nicht gedacht!“, flüstert mir Chana ernsthaft verblüfft zu. Und ich erst recht nicht!

 

In der Pause sitzen wir endlich wieder mal zu dritt auf einer Bank und essen unser Pausenbrot.

Nachdem ich mich ganz doll bei Sarina für das Geschenk bedankt habe erzählt sie von ihrer Hip-Hop Gruppe während Chana behauptet, dass sie gar nicht genügend Muskeln zum Tanzen hätte.

Ich erzähle Sarina nichts weiter von Marvin und meinem Geburtstag. Und auch Chana erzähle ich nichts von der Sache. Diese Sache die sich mein Vater und sein Kumpel überlegt hatten und die mich ganz verrückt macht.

„Lyonne, kommst du mit zum Automaten?“, ich stehe schnell auf und nicke. Sarina seufzt tief.

„Ernsthaft? Ihr geht euch schon wieder was Süßes kaufen? Wisst ihr eigentlich wie ungesund das ist? Außerdem wird man davon auch nicht dünner…“, ich unterdrücke es genervt zu sein und grinse sie stattdessen an.

„Wir sind aber auch nicht auf Diät!“.

Ein kalter Wind weht mir meinen Pferdeschwanz ins Gesicht. Ich streiche ihn zurück und bin froh als wir endlich im Schulgebäude sind.

Vor dem Automaten müssen wir nur warten bis eine Neuntklässlerin fertig ist. Sie kauft sich Gummibären. Total Geschmacklos!

Chana kauft sich ihre Lieblings Schokoriegel mit weißer Schokolade und Karamell Füllung und ich eine kleine Packung Schokoladenkekse.

Chana deutet auf eine Bank. „Lass uns die hier essen, bei Sarina müssen wir uns dämliche Kommentare anhören.“, wir setzen uns auf eine der Bänke, an denen schon zwei Schüler sitzen, da sonst nichts mehr frei ist.

Wir fangen an zu essen, und es schmeckt echt lecker!, als Chana plötzlich erschrocken auffährt.

„Lyonne! Scheiße! Sorry, ich meine, bin ich blöd! Ich habe dir vergessen zu sagen dass die Klausur in Geschichte von nächster Woche auf diesen Donnerstag verlegt wurde!“, Chana sieht mich mit aufgerissenen Augen und offenem Mund an. Ich sehe dass sie den letzten Bissen noch nicht herunter geschluckt hat.

„Warum? Warum habt ihr das gemacht? Ich meine, nach hinten verschieben? Ja klar, gerne, immer doch! Aber nach vorne? Wer kam auf die Idee?“, langsam erinnere ich mich was in dieser Klausur alles drankommen sollte. Es waren auf jeden Fall sehr viele Jahreszahlen. Das hatte der Lehrer extra betont. So ein großer Mist! Zahlen auswendig lernen ist nicht meine Stärke!

„Es tut mir so leid, dass ich das noch nicht früher gesagt habe! Oh man!... Aber ich habe auch noch nicht angefangen, es ist also noch zu schaffen!“, sie versucht mich zu ermutigen. Jedoch kenne ich Chana, sie ist eine kleine Eule die auf den letzten Drücker und gerne in der Nacht lernt. Ich dagegen mache mir zumindest gerne rechtzeitig meine Lernzettel fertig, das gibt mir Sicherheit. Auch wenn ich vielleicht dann auch erst einen oder zwei Tage vorher anfange ernsthaft zu lernen.

„Schon gut, ich setz mich einfach heute dran, das wird schon. Ich habe ja dann noch drei Tage!“

„Und drei Nächte!“, grinsend steckt sie sich den letzten Bissen von ihrem Riegel in den Mund.

 

Während ich die Fragen so gut wie möglich beantworte, versuche ich unsere Lehrerin zu ignorieren, die die blöde Angewohnheit hat wie ein Geier um uns zu kreisen, während wir bei ihr einen Test schreiben.

Ich schiele, wie ich hoffe unauffällig, zu Chana hinüber. Meine Freundin schreibt mit fokussierten Blick auf das Blatt und kaut dabei auf ihrer Lippe herum.

Konzentriere dich Lyonne! Bleib bei den Aufgaben!

Oh man! Wieso werden so viele Jahreszahlen abgefragt?

Ein paar weiß ich, doch bei einigen bringt auch langes Nachdenken nichts. Ich rate und schreibe irgendeine Zahl hin. Vielleicht habe ich ja Glück…

 

„Das war doch ganz einfach!“, unsere Klassenbeste nimmt einen großen Schluck aus ihrer Wasserflasche und freut sich.

Chana und ich gucken uns nur an. Also einfach fand ich den Test nicht gerade.

Jetzt kommt Sarina seufzend zu uns.

„Wie war´s?“, fragt Chana sie. Sarina schüttelt nur den Kopf. Sie nimmt sich ein Kaugummi aus ihrer Packung und gibt uns auch jeweils eins.

Kirschgeschmack. Ein bisschen sehr süß.

„Was haben wir jetzt?“, wir gehen den Flur entlang, Richtung Toiletten. Chana deutet nach oben zum ersten Stockwerk.

„Für mich und Sarina Chemie.“ Ach ja, als nächstes haben ich Wahlfach Bio.

Leider bin ich in der Bioklasse ohne Chana und ohne Sarina gelandet. Aber es gibt auch was Gutes, immerhin ist Annika nicht in meiner Klasse!

Wir winken uns noch zu ehe wir uns an der Treppe trennen.

Vor mir sehe ich Marvin am Geländer stehen. Er hört augenscheinlich Lukas und Philip zu, die ihm etwas erzählen. Dann lacht er kurz. Schweigend gehe ich an ihnen vorbei und warte neben der Tür an der Wand auf unsere Lehrkraft. Ich starre auf die Wand mir gegenüber, weil irgendwie alle Mädchen mit denen ich sonst zusammen bin in einem engen Kreis stehen und über irgendwas reden. Ich habe keine Lust mich dazu zustellen und mich einzumischen.

Oder soll ich rüber gehen? Nicht dass ich so wie eine Außenseiterin aussehe… wie ich hier so alleine an der Wand gelehnt stehe…

Ich schaue zu meiner Tasche runter, die zu meinen Füßen liegt. Soll ich oder soll ich nicht? Aber Herr Thiel müsste eh jeden Moment kommen…

„Ich hoffe dir geht es wieder gut?“, erschreckt zucke ich zusammen und sehe dann schnell hoch.

Oh! Marvin! Schnell antworte ich.

„Ja! Ich meine, ich hatte ja auch eine Woche dafür Zeit… also um die Erschütterung, die leichte…“, innerlich panisch, überlege ich gehetzt wie ich diesen idiotischen Anfang zu einem halbwegs anständigen Satz weiterführen könnte. „…zur Ruhe kommen zu lassen.“, haspelnd und aus Verlegenheit immer leiser werdend beendete ich diesen demütigenden Satz. Verdammt, was redete ich da für wirres Zeug? Ich beiß mir kurz auf die Lippe, lass es dann aber, sonst komm ich wahrscheinlich noch dämlicher rüber…

„Das freut mich wirklich.“, breit grinsend strahlt mich Marvin an. In seinen Augen blitzt es auf. Wahrscheinlich kann er sich nur mit Mühe und Not das Lachen verkneifen. Und ehrlich gesagt verüble ich ihm das auch nicht. War ja echt keine linguistische Glanzleistung von mir…

Zum Glück hat währenddessen Herr Thiel aufgeschlossen und so flüchte ich schnell in den Biologieraum.

An meinem Platz atme ich tief durch und hole meine Sachen heraus. Neben mir setzt sich Marvin hin. Ach ja, wir sitzen hier ja nebeneinander.

Ich konzentriere mich auf den Unterricht. Es geht um weiter um das Herz. Und jetzt um die verschiedenen Herzphasen.

Unser Lehrer fängt an zu erklären.

„Die Systole ist die Kontraktions- bzw. Austreibungsphase“, oha, ich habe den neuen Stoff noch gar nicht nachgearbeitet!

„Und die Diastole ist die Erschlaffungs- und Füllphase. Was im Herzen füllt sich zuerst, wie läuft das ganze ab? Das waren eure Hausaufgaben. Will uns das Jemand an der Tafel mal erklären?“

Unser Lehrer wird ja wohl kaum mich dran nehmen, oder? Ich meine ich war krank. Mehr oder weniger. Allerdings hatte ich ja seit Montag eigentlich Zeit um den Stoff nachzuarbeiten, wenn da nicht diese Geschichtsklausur gewesen wäre…

Doch nicht ich sondern Annalisa wird dran genommen. Zögernd nimmt sie ihren Block und geht langsam nach vorne. Vor der Tafel bleibt sie stehen und nimmt sich ein Stück Kreide. Damit malt sie ein schräges Oval mit einer spitzen unteren und einer runderen oberen Seite. Sie dreht sich um und starrt auf ihren Block.

„Also das ist das Herz… und… mm…“, innehaltend starrt sie weiter ihren Block an.

„Schon mal kein schlechter Anfang.“ Unsere Lehrkraft wartet geduldig darauf, wie es wohl weiter gehen würde.

Annalisa malt ein Kreuz in das asymmetrische Oval und teilt es damit in vier Teile auf.

„Das untere sind die Kammern und das obere die Vorhöfe.“, dann folgt wieder eine längere Pause, in der meine Klassenkameradin abwechselnd auf ihren Block und auf ihre Skizze schaut. Dass sie so ruhig bleiben kann! Wenn ich da jetzt stehen würde, so fast ohne Plan! Ich wäre längst erstarrt oder weggelaufen!

„Sehr nett, dass sie alles aus ihren Hausaufgaben abschreiben darf. Ich frage mich nur was daran so schwierig sein mag.“, ein bisschen erschrocken zucke ich erst zusammen bevor ich rüber zu Marvin schaue. Statt nach vorne zu gucken sieht er mich abwartend an. War das eine ernst gemeinte Frage von ihm?

Im selben Flüsterton antwortete ich.

„Hausaufgaben im Heft stehen zu haben, ist was anderes als sie gemacht und sogar verstanden zu haben.“, kläre ich ihn also auf. Einen Moment, irgendwie irritiert, starrt er mich an, dann nickt er.

Hat er denn nie abgeschrieben? War er wirklich so ein Vorzeigeschüler? Und selbst wenn, er muss doch in den vergangenen Schuljahren Klassenkameraden gehabt haben, die auch mal abgeschrieben haben.

Oder er war vielleicht auf einer Elite-Schule. Und deswegen ist er auch so gut in der Schule. Chana meinte auf jeden Fall, dass er gut wäre, in der vergangenen Woche in der ich nicht da war hatten das wohl alle bemerkt. Ich denke an die letzten drei Tage. Naja, so sehr habe ich nicht darauf geachtet. Allerdings wusste er eigentlich jedes Mal die Antwort, wenn ihn ein Lehrer dran genommen hatte.

Schließlich bringt Annalisa es halbwegs fertig die Phasen zu erklären. Unser Lehrer unterbricht sie ab und zu um sie zu ergänzen. Danach ermahnt er uns alle noch mal uns das Herz auch ja anzugucken, weil es auf jeden Fall ein Hauptthema in der nächsten Klausur sein würde.

 

Im Sportunterricht habe ich tatsächlich ein bisschen Herzklopfen. Aber ich würde mich heute bestimmt nicht noch mal verletzen…

Glücklicherweise sind wir mit Handball fertig.

Wir spielen Volleyball, das kommt bei den meisten Mädchen gut an. Ich verstehe nicht wieso. Für mich ist es fast genauso schlimm wie Handball. Ich mag einfach keine Ballsportarten.

Mit Tischtennis könnte ich mich vielleicht noch anfreunden, das wäre aber auch die Ausnahme.

Ich halte mich beim Spielen im Hintergrund, wenn mal ein Ball auf mich zufliegt, versuche ich unauffällig auszuweichen. Ein paar schauen mich deswegen extrem genervt an. Am liebsten würde ich mich auf die Bank setzen…

Kurz schiele ich zu den Jungs rüber. Sie wirken im Gegensatz zu den meisten Mädchen relativ unmotiviert. Es muss wirklich daran liegen, dass Volleyball doch eher mit Volleyballspielerinnen assoziiert wird, oder?

Außer natürlich Sportfanatiker wie Fabian, der gibt wie immer sein Bestes. Apropos, ich kann immer noch nicht glauben, dass er sich heute Morgen bei mir entschuldigt hat! Warum hat er das blos gemacht? Ich hätte das nie in Erwägung gezogen.

 

Nach dem Sportunterricht warte ich draußen vor der Halle auf Sarina.

„Hey, wartest du auf mich?“, Chana grinst mich gutgelaunt an.

„Äh, ne ja, auf Sarina. Wir wollten noch irgendwo hingehen… Wolltest du nicht mitkommen? Etwa wegen deinem Babysitter?“, ich grinse sie halb witzig und halb mitfühlend an. Es ist aber auch doof für sie. Immer muss dieser Bodyguard mit. Ihr Vater ist echt übertrieben fürsorglich…

Chana zieht die Brauen hoch.

„Oh… Nein, das hatte sie wohl vergessen zu erwähnen…“, wie kann Sarina Chana vergessen zu fragen?

Chana winkt ab.

„Ich habe eh schon was vor. Viel Spaß euch!“, ich winke noch zum Abschied.

Nachdenklich schaue ich zum Himmel hoch und betrachte die vorbeiziehenden Wolken. Heute scheint es da oben ganz schön windig zu sein.

Sarina meinte, dass einige aus der Klasse mitkommen würden. Ich frag mich wer alles. Ich habe keine Ahnung, bisher habe ich mich meistens bei Gruppentreffen oder so was Ähnliches eher rausgehalten. Aber vielleicht war das ja auch dumm.

Vielleicht bin ich nicht sozial, also asozial…

Äh nein, asozial bedeutet ja, dass man nicht fähig ist in einer Gesellschaft zu leben aber das, würde ich mal behaupten, bin ich sehr wohl!

Ich hoffe wir gehen in kein teures Café, ich habe nur 10 Euro dabei und nicht vor alles auszugeben. Jedenfalls nicht für überteuerte Getränke. Für zehn Euro könnte ich mir, wenn ich so überlege, ein neues Taschenbuch kaufen… ob ich Sarina absagen soll und stattdessen in einen Buchladen gehen.

Ich hole tief Luft. Dabei steigt mir ein angenehmer, frischer Duft in die Nase und ich drehe mich sogleich um mich, um herauszubekommen wo der wohl herkommt.

Vor mir steht Marvin, groß, gutaussehend, lächelnd. Aber wieso sieht er mich dabei an? Wieso steht er vor mir?

„Drehst du Pirouetten?“, fragt er unverblümt. Und ich nicke erst, bevor ich den Kopf schüttle.

„Nein ich wollte nur…-“, … wissen was hier so gut riecht und tja, das bist wohl du… ich glaub, das sag ich besser nicht.

Marvin sieht mich weiter an, also gucke ich weg, zur Tür. Jetzt kommen die meisten der anderen auch heraus. Erleichtert tue ich so, als ob ich aufmerksam darauf achten würde, wann Sarina hinauskommt.

… Aber das tue ich ja auch.

Als Sarina dann kommt, laufe ich ihr einfach entgegen.

Strahlend kommt sie auf mich zu. Allerdings schielt sie wohl neuerdings. Denn sie sieht mich nicht an.

„Oh! Marvin, da bist du ja! Voll cool dass du auch mitkommst, wir wollen jetzt los...“, dann sieht sie mich an „Komm Lyonne!“

Okay…

Ein weiterer Schreck trifft mich, als wir gemeinsam bis zum Schultor gehen und sich uns dann nebst zwei Mitschülern und zwei Zwölftklässlern auch noch Annika anschließt. Sie streift mich nur kurz mit einem flüchtigen Blick.

Das ist jetzt unerwartet. Und eigentlich habe ich schon keine Lust mehr. Vor allem, weil Sarina die ganze Zeit bei Annika ist. Während ich ganz allein hinterhertrotte. Ob es Jemand bemerken würde, wenn ich einfach umkehre. Oder in einen der Läden gehe, an denen wir vorbeigehen und nachdem die anderen weiter gegangen sind, einfach verschwinde?

„Hey, wie heißt du eigentlich? Gehst du auch auf unsere Schule?“, perplex drehe ich meinen Kopf nach links. Der Junge geht in die Zwölfte. Ich habe ihn schon ein paar Mal in der Schule gesehen.

Er mich anscheinend noch nicht. Aber ich bin ja auch ziemlich unscheinbar…

„Ich bin mit Sarina und Annika in der 11a.“

„Wirklich? Bist du neu? Denn ich habe dich noch nie gesehen! Ehrlich!“, er grinst. Er hat schöne gerade Zähne. Bestimmt hatte er früher mal eine Zahnspange.

„Nein, ich bin nicht neu.“

Wir gehen weiter. Jetzt bin ich zumindest nicht mehr allein das Schlusslicht. Plötzlich streckt er seine Hand zu mir aus.

„Also ich bin der Nils und du bist?“, unsicher nehme ich kurz seine Hand.

„Lyonne.“

„Wow, voll der außergewöhnliche Name.“ Ich weiß nicht was ich dazu sagen soll, also „hmse“ ich nur.

Aber dann sind wir schon an der auserwählten Lokalität angekommen und ich laufe, diesmal nicht als Letzte, sondern als Vorletzte, hinter den anderen in die Café-Bar. Wir setzen uns an einen freien Tisch wo wir alle acht Platz haben. Annika und Sarina sitzen von mir aus an der gegenüberliegenden Stirnseite. Schade, dass Sarina sich nicht neben mich gesetzt hat. Irgendwie fühle ich mich zwischen den ganzen Typen gar nicht so wohl. Marvin sitzt über Eck neben mir und unterhält sich mit Tom und Simon aus unserer Klasse über Sport. Und auf meiner anderen Seite sitzt Nils.

Als die Kellnerin kommt, weiß ich noch gar nicht, was ich nehmen soll. Annika und Sarina bestellen sich einen Cocktail und die anderen Softgetränke. Als letzte bestelle ich, ich entscheide mich spontan für eine Apfelschorle. Damit kann man nichts falsch machen, oder?

Irgendwie kann ich bei den Gesprächen nicht mitreden. Denn es geht um Sport (da bin ich Analphabetiker) oder aus der anderen Ecke um Mode und Make-up. Wieso überhaupt, sollten wir uns nicht alle gemeinsam unterhalten, da wir uns ja extra getroffen haben?

Ein paar Mal versucht Sarina mich ins Gespräch zu involvieren. Aber ich kenne mich echt nicht mit Trends, Fashion und der neuesten Mode aus. Oh man! Ich weiß gar nicht wann ich das letzte Mal in so einer Zeitschrift geblättert habe! Stattdessen lese ich nur meine Fantasy-Romane… Das darf ich hier keinem erzählen, sonst bin ich der Freak…

„Machst du auch Sport?“, fragt mich plötzlich Marvin von der Seite. Erschreckt fahre ich von meinen Gedanken auf.

„Nein, gar nicht.“, na toll, jetzt bin ich die faule Sofahockerin. Hätte ich nicht sowas wie „manchmal“ sagen können?

Kurze Zeit entsteht tatsächlich sowas wie ein Gruppengespräch. Annika erzählt von einem neuen Hollywood Film der sooo gut sein soll und ob man da nicht mal hingehen sollte.

Aber dann erzählt Simon, wie er mal im Kino mit einem Mädchen saß und sie rausgeworfen wurden, weil sie so leidenschaftlich miteinander geknutscht hätten. Gleich darauf eröffnet uns Tom eine ähnliche Geschichte, aber in einem Auto und dann fängt Annika an über ihren ersten Freund zu erzählen.

„Oh Gott, das ist jetzt schon vier Jahre her! Wir sind damals im Haus seiner Eltern gewesen und haben uns heimlich einen „erwachsenen“ Film angeguckt dabei Popcorn gegessen und zum ersten Mal geknutscht! Wenn ich heute daran denke…“, sagt Annika und affektiert zu lachen an. Sarina und die anderen stimmen mit ein. Ich ziehe mechanisch meine Mundwinkel nach oben.

VOR VIER JAHREN? Hallo? Annika ist jetzt siebzehn, hatte sie ihren ersten Freund wirklich schon mit dreizehn? Ist das normal schon mit dreizehn Jahren mit seinem Freund zu knutschen und vielleicht noch mehr…?

Versonnen schiele ich nach links durch das Fenster nach draußen. Ich könnte einfach nach Hause gehen und mein Buch weiterlesen. Oder mit Chana telefonieren. Oder in die Buchhandlung gehen, oder zuhause Hausaufgaben machen und lernen… es gäbe einfach so viele Möglichkeiten meine Zeit sinnvoller zu verbringen.

Aber was sage ich, warum ich gehe? Ich habe noch ein Termin? Oder… ich tu so als ob ich eine SMS bekommen hätte, in der mich meine Mutter auffordert nach Hause zu kommen, weil wir Besuch von meiner Tante aus Indonesien haben. Hm, ich könnte auch einfach sagen „Hey, also ich geh dann mal, tschüss!“.

Wenn wenigstens Sarina neben mir sitzen würde, dann könnte ich ihr einfach sagen, dass ich jetzt gehe und müsste nicht über den ganzen Tisch schreien.

Sicherlich nerve ich die anderen schon, schließlich bin ich die einzige, die nicht dazu passt und auch nichts beizutragen hat. Wahrscheinlich sind alle froh wenn ich weg bin. Na ja, außer Sarina, aber ich kann ihr das später erklären.

Also gut! Bevor der andere Zwölftklässler näher auf seinen ersten Zungenkuss eingeht, was ich nebenbei echt und wirklich NICHT wissen will, stehe ich auf und bin mir so die Aufmerksamkeit von allen sicher.

„Ich geh schonmal. Ich hab noch was vergessen, ich…“, während ich immer leiser werde, weil ich vergessen habe was für eine Ausrede ich nehmen wollte unterbricht Annika meine Erklärungsversuche.

„Ist okay, tschüss Lyonne!“, ein heftig künstliches Lächeln begleitet ihre Worte und Sarina grinst mich entschuldigend an und winkt mir zum Abschied zu.

„Ja, dann tschüss alle, bis dann!“, ich schnappe mir schnell meine Jacke und den Rucksack und verschwinde Richtung Tresen um meine Schorle zu bezahlen.

Als ich mich umdrehe geht das Gespräch anstandslos weiter.

Als endlich der Kellner zu mir kommt, krame ich mein Portemonnaie heraus und suche passendes Münzgeld heraus. Wie viel Trinkgeld muss ich denn jetzt geben? Oh man, ich hasse es echt im Lokal zu bezahlen, weil ich diese Trinkgeldgeschichte einfach nicht raffe. Zehn Prozent oder was? Wie viel sind das bei 2,80€?

Plötzlich wird dem Kellner von hinter mir ein fünf Euroschein und Kleingeld gereicht.

„Zwei Mal Apfelschorle, das stimmt dann so!“, die Kellnerin bedankt sich und wünscht uns einen schönen Tag.

Ich drehe mich zu Marvin um.

„Lass uns zusammen gehen. Ich will auch nach Hause.“, sagt er und schiebt mich Richtung Ausgang.

Draußen bleiben wir stehen, weil ich immer noch meine Jacke, den Rucksack und die Geldbörse in den Händen halte.

„Hier“, sage ich und will ihm das Geld für mein Getränk geben. Aber er schüttelt den Kopf.

„Nein, das musst du mir nicht wiedergeben.“

„Warum nicht? Hier nimm das!“, ich strecke meine Hand aus, doch er verschränkt seine Hände hinter seinem Rücken.

„Sieh es als Gefallen an, den du mir später Mal zurückzahlen kannst.“, er steckt seine Hände in die Taschen und dreht sich in Richtung Straße.

„Warum? Nimm das doch jetzt einfach!“, ich verstehe nicht warum er unbedingt für mich zahlen will. Ich meine, wir sind doch noch nicht mal befreundet, das irritiert mich total!

„Jetzt komm schon, Lyonne, lass uns gehen!“, und weil er mich dabei richtig herzlich anlacht, ziehe ich meine Jacke an und werfe mir den Rucksack über die Schulter.

Na gut, dann zahle ich es ihm ein andermal zurück.

 


Ein neuer Tag, ein neues Glück.
In meinem Fall vielleicht nicht ganz... Eher: Ein neuer Tag ein neues Unglück. Ich seufze. Ich darf nicht zu negativ sein!

Also schaue ich aus dem Fenster.
Die Sonne ist schon aufgegangen. Aber da heute Samstag ist, könnte ich theoretisch noch liegen bleiben.

Hm, Aber jetzt bin ich schon mal wach, also stehe ich auch auf.

Langsam gehe ich hinunter Richtung Küche. Es ist erst März, doch weil Ma immer schön heizt friere ich auch nicht in meinem Nachthemd. Ich setze Wasser auf und mache mir einen Pfefferminztee.

Ich will mich grad hinsetzen, als ich komischerweise eine Männerstimme höre.

Ist Papa schon so früh da? Ich schaue auf die Uhr, es ist erst acht Uhr!
Als ich die Tür des Wohnzimmers aufmache um nachzusehen, lässt mich der Anblick für ein paar Sekunden bewegungslos stehen bleiben.
Ich hab nur ein langes T-Shirt an, darunter trage ich lediglich eine Panty, sonst absolut nichts!! Meine Haare sind ebenfalls ungekämmt und durcheinander!
Und noch mal: das T-Shirt geht mir nur grade so über meinen Po, man sieht also mehr von meinen Beinen als bei einem normalen Minirock! Es ist so peinlich, so etwas peinliches ist mir noch nie passiert!
Warum!? Warum sitzt Marvin um halb acht morgens, an einem Samstag, in unserem Wohnzimmer! IN UNSEREM WOHNZIMMER! MARVIN! WARUM?
Was zum Henker macht er hier?

Während ich hier wie erstarrt stehe, mit meiner Tasse in der Hand und mir wünsche sie hätten mich nicht gesehen, sitzen Ma und Pa auf der Couch und Marvin steht am Fenster mit verschränkten Armen.

Aber sie sehen mich. Pa zieht seine Augenbrauen fast bis zu seinem Haaransatz hoch und Ma scheint sich das Grinsen zu verkneifen (voll fies!).

Tja und Marvin sieht einfach nur verblüfft aus, einfach überrascht.

Damit ich meinen Schlafanzug nicht noch länger präsentieren muss, sage ich noch schnell „Oh“ und gehe wieder aus dem Wohnzimmer und laufe in mein Zimmer.

Dorf angekommen schließe ich die Tür, schmeiße mich aufs Bett und quietsche verzweifelt in mein Kissen.

Warum haben meine Eltern mir das nicht gesagt, dass wir heute Morgen schon Besuch bekommen!? Und zwar von Marvin!? Das fände ich schon irgendwie relevant!

Meine Güte, ein Samstag hat bei mir noch nie so übel peinlich angefangen!
Weil ich Hunger hab gehe ich kurz danach in die Küche zurück, natürlich ziehe ich mich davor an.
Und als ich am Esstisch sitze und frühstücke, scheint die Sonne genau auf mich. Es ist richtig gemütlich.

Aus dem Wohnzimmer höre immer noch die Stimmen meiner Eltern und von Marvin.
Aber was macht er hier? So früh? Bei meinen Eltern? Es ist zum Verrückt werden, ganz ehrlich, das ist doch das aller Letzte, wenn man gleich am Morgen einen Fremden in der Stube sieht.

Und noch mal: Was macht der hier?

Kopfschüttelnd esse ich weiter.
Ma kommt in die Küche.
„Guten Morgen.“ Sie wünscht mir einen guten Morgen, wie soll ich denn das verstehen? Wie soll mein Morgen denn jetzt noch gut werden?
Ma grinst und strahlt. Sie scheint total gut drauf zu sein.
„Ja genau... Was macht Marvin hier?“ Sie schaut mich verwirrt an.
„Marvin? - Ach so! Marvin!“ Ja, genau! Irgendwas ist hier echt komisch!
„Ja, er wollte was mit deinem Vater besprechen!“, ich warte kurz, aber da kommt nichts mehr. Ich räuspere mich.
„Genau, deswegen treffen sie sich auch bei uns und nicht bei Pa im Hotel oder so.“ Ertappt! Ma schaut nervös Richtung Herd, als wenn da irgendwas Interessantes wäre...
„Mit uns, er wollt was mit uns besprechen.“
„Um acht Uhr morgens? Mit euch beiden? Was wollte er denn?“ Sie verdreht genervt die Augen.
„Das ist doch egal! So, ich muss jetzt los zur Arbeit. Um Eins bin ich wieder da.“ Schön vom Thema ablenken...
„Bis nachher.“ Sie geht schnell raus, vermutlich damit sie nicht noch mehr Fragen von mir ausgesetzt ist.

Dann kommen Marvin und Pa in die Küche. Na ganz toll!
Ich tue einfach so als ob ich das nicht bemerkt habe.
„Morgen Schatz.“ Ich schaue kurz zu Pa rüber, trinke dann noch einen Schluck Tee.
„Guten Morgen.“, sagt auch Marvin. Ich schaue nervös zu ihm rüber.
„Ja, morgen.“ Sage ich zu beiden.
„Lyonne, hast du gut geschlafen?“, mein Vater nimmt sich einen Apfel und fängt an ihn zu essen.
„Ja, und du?“, frage ich zurück und versuche Marvin zu ignorieren. Aber Marvin schaut mich die ganze Zeit an, ich werde immer nervöser.
„Sehr gut! Kleines, wir haben uns überlegt, dass wir heute etwas unternehmen wollen.“, meint Pa plötzlich.
„Was denn?“ Frage ich. Und was heißt hier wir? Und was bitte unternehmen?
„Einen Ausflug, in den Freizeitpark.“ Ich schaue von meinem Tee auf.
„Freizeitpark? Wirklich? Ich bin dabei! Fahren wir dann um eins, wenn Ma wieder kommt?“ Mein Vater lächelt siegessicher.
„Genau! Du, deine Mutter, Ich und Marvin.“, fast verschlucke ich mich an meinem letzten Schluck.

„Ach...so...Warum?“, es musste ja ein Haken dran sein, aber warum kommt Marvin mit?
„Ich muss ja nicht mitkommen.“, meint dieser auf einmal, als wenn er meine Gedanken lesen könnte.
„Echt?“ Frage ich zu schnell und zu fröhlich. Pa schaut mich strafend an. Marvin lacht ein bisschen. Das war auch wirklich nicht besonders nett von mir... Ich seufze und versuche es wieder gut zu machen.
„Warum denn nicht? Komm doch mit.“ Ich klinge überhaupt nicht überzeugend, außerdem hört sich das im Zusammenhang einfach nur doof-dämlich an.

Mein Vater beendete das Thema.
„Also, wir fahren um halb zwei los. Ich gehe noch mal eben ins Hotel.“ Er verschwindet und ich frage mich was ich jetzt machen soll.

Moment, bleibt Marvin etwa die ganze Zeit bis ein Uhr hier? Nicht im Ernst...
Ich mache den Kühlschrank auf, Ma hat Erdbeeren gekauft. Lecker!
Ich hole die Schachtel aus dem Kühlschrank. Marvin sitzt immer noch lässig auf den Stuhl und beobachtet mich.
„Willst du auch Erdbeeren?“
„Wenn es dir nichts ausmacht.“ Natürlich macht es mir was aus. Ich meine, es macht mir auch was aus das du heute da bist, und dass ich verlobt bin, das alles macht mir was aus und trotzdem ist es so wie es ist. Niemand fragt mich wenn es um was richtig wichtiges geht! Wütend hole ich zwei Schüsseln und zwei Bretter aus dem Schrank. Dann hole ich die Messer, Gabeln und die Abfallschüssel.
„Wie gesagt, nur wenn es dir nichts ausmacht...“, Marvin schaut mich irritiert an.
„Nein es macht mir nichts aus!!!“ Sage ich laut. Das alles kotzt mich so an! Soll er doch alle Erdbeeren essen, ist mir egal, das ist mal das unwichtigste auf der Welt!! Wer will schon Erdbeeren? Erdbeeren sind egal!
Eine Verlobung nicht.
Er nimmt sich eine Erdbeere und schneidet sie umständlich einmal auf. Dann noch mal. Hallo! Wer schneidet seine Erdbeere in vier Stücke? In vier! Geviertelt! Das darf doch nicht wahr sein.
Ich hole vom Kühlschrank die Schlagsahne. Die fülle ich in die Schüssel und schlage sie mit dem Gerät steif.
Er viertelt grad seine dritte Erdbeere, ich kann das nicht mit angucken!
„Was machst du da?“ Er schaut mich fast ängstlich mit hochgezogenen Brauen an.
„Ich schneide die Erdbeere.“
„Ja, aber wie machst du das?“ Unsicher fixierte er die arme Beere. Ich komme seiner Antwort jedoch zuvor.
„Man darf sie nicht so wie einen Apfel schneiden! So macht man das normalerweise.“ Ich nehme eine der Erdbeeren, rupfe das Grüne raus und schneide sie einmal in die Hälfte, dann gebe ich sie ihm.
„Aber, normalerweise schneide ich sie nie auf. Das geht viel schneller.“ Ich nehme eine weitere Beere und rupfe einfach nur das Grüne raus.
Er nimmt meine Erdbeere in den Mund und kaut sie.
„Okay, wie du willst.“ Ich komme mir schon ein bisschen blöd vor, aber ich bin einfach so sauer auf Pa. Ich meine, cool Freizeit Park. Aber dann muss er das alles zerstören, indem er diesen Kerl mitnimmt der nicht mal Erdbeeren schneiden kann?
„Hier, die Schlagsahne.“ Ich mache meine Beeren fertig und löffle die Schlagsahne drauf. Dann esse ich es. Ich ärgere mich immer noch total.
„Lyonne?“
„Was?“ Frage ich ihn genervt.
„Alles okay?“ Alles okay? Okay, das war´s! Ich hab kein Bock mehr!
„Ja! Natürlich ist alles okay! Was soll denn nicht okay sein? Warum fragst du? Was willst du hier überhaupt? So früh morgens an einem Samstag!!??“ Ich stehe auf und gehe wieder in mein Zimmer. Ah, ich halt das hier nicht mehr aus, ich muss hier raus. Schnell ziehe ich mir Schuhe und eine Jacke an und gehe wieder runter. Dann verlasse ich das Haus. Draußen atmete ich erstmal tief durch. Dann will ich losgehen.
„Wo willst du hin?“ Oh!
„Warum verfolgst du mich, Marvin?“ Der Wind lässt mir meine Haare vor die Augen fliegen. Mit meiner Hand halte ich sie mir aus dem Gesicht.
„Normalerweise lässt man einen Gast nicht einfach so alleine in seinem Haus...“ Na und? Das is mir doch egal.
„Du bist ja nicht mein Gast.“ Er fasst sich mit der Hand an die Stirn, ich sehe dass er lacht. Also ich finde das nicht lustig.
„Also gut, wo gehst du denn hin?“ Warum will er das wissen? Der ist doch nicht mein Bodyguard!
„Ich muss noch was Einkaufen.“ Ich drehe mich um und gehe. Er folgt mir.
„Willst du jetzt mitkommen?“, frage ich ungläubig. Ich will doch allein sein!
„Ja, ich werde dich begleiten.“ Ich glaub´s nicht!
„Warum das denn?“ Er zuckt nur die Schultern.
„Ach, mach doch was du willst.“ Ich könnte heulen. Ich will eigentlich nur alleine sein. Aber wo gehe ich jetzt eigentlich hin? Es ist halb neun an einem Samstag. Ich hab noch nicht mal Geld dabei.

Jetzt mach ich mich peinlich.
„Weißt du was? Ich kann das genauso gut am Montag erledigen.“ Ich gehe wieder rein und hoch in mein Zimmer. Und auf der Couch schlafe ich noch mal ein.

„Liebling? Bist du fertig? Wir wollen gleich los. Schatz?“ Ich blinzle. Es ist hell und jemand ruft mich. Ich liege auf meiner Couch.
Verwirrt streiche ich mir meine Haare aus dem Gesicht.
„Lyonne?“ Fragt Pa.
„Ja?“ Pa kommt rein.
„Hast du geschlafen?“ Fragt er etwas irritiert.
„Ja.“ Antworte ich knapp.
„... Bist du soweit? Ma ist grad gekommen, wir können sofort los. Du weißt doch noch wohin?“
„Ja.....klar“ Ich lache ein bisschen.
„So was vergesse ich nicht.“, fahre ich fort.
Auch die Verlobung habe ich nicht vergessen. Kann man die nicht auflösen?
„Pa?“
„Hm?“
„Kann man die Verlobung nicht aufheben?“ Er schaut mir ernst ins Gesicht.
„Das wäre eine schreckliche Beleidigung. Außerdem... ich dachte früher immer du würdest dich freuen. Welches Mädchen will schon keine Prinzessin sein?“
„Ich“, wenn es bedeutet dass man Jemanden heiraten muss, den man dann noch nicht mal kennt!
Ich fange an meine Tasche zu packen, Pa verlässt mein Zimmer.
Er ist doch der Leibwächter vom König, warum kümmert er sich dann nicht um ihn? Warum passt er nicht auf ihn auf? Oder hat er grad Urlaub?
Ich mache mir einen hohen Zopf und ziehe mir eine Dreiviertel Hose an. Und beeile mich, die andern warten bestimmt schon auf mich. Aber unten ist noch niemand. Ich gehe ins Wohnzimmer, da stehen sie alle und warten.
„Da bist du ja.“ Sagt Pa.

Wir setzen uns in die Limousine. Pa und Ma sitzen hinter dem Fahrer, hinter ihnen sitzen Marvin und ich. Lieber würde ich jetzt neben Ma oder Pa sitzen. Aber irgendwie verstehen Pa und Ma sich plötzlich wieder richtig gut. Ob Pa sie auch bestochen hat?
„Was ist eigentlich dieser Freizeit Park?“ Fragt Marvin. Er schaut dabei ganz ernst Ich starre ihn an.
„Du kennst den Freizeit Park nicht?“ Frage ich fassungslos.
„Ja, ich hab keine Ahnung.“ Ich ziehe die Brauen hoch.
„Du fährst hier mit, weißt aber nicht wohin?“
„Ja, dein Vater wollte gerne dass ich mitkomme.“ Na toll!
„Und warum?“
„Ich weiß nicht warum er mir nicht gesagt hat was der Freizeit Park ist.“
„Nein, ich meine warum will er das du mitkommst?“ Er seufzt.
„Na ja, er will halt etwas Zeit mit seiner Frau verbringen... Und damit du nicht allein bist...“

Ja klar! Deswegen...
„Natürlich, deswegen hat er dich eingeladen. Und warum dann nicht meine Freundin? Stattdessen jemanden den ich überhaupt nicht kenne?“ Ich glaub das war jetzt ein bisschen fies.
„Ich war grade sowieso da. Außerdem, du kannst mich ja kennen lernen.“ Ich schaue ganz schnell aus dem Fenster, denn wenn er mir direkt in die Augen sieht, so wie jetzt, weiß ich immer nicht wo ich hin gucken soll.
„Also sagst du mir jetzt was das ist oder nicht?“ Eine Trennwand trennt uns von meinen Eltern. Sie reden miteinander, aber ich verstehe kein Wort.
„Hey?“ Er legt seine Hand auf meine Schulter. Ich starre sie entsetzt an. Er soll sofort die Hand wegnehmen!
„Der Freizeitpark... er besteht aus Achterbahnen, Wasserbahnen, Riesenräder und so weiter. Karussel, Looping...“ Ich weiß nicht wo ich hin schauen soll... Dann nimmt er seine Hand von mir, aber nicht seinen Blick.
„Was guckst du immer so?“ Frage ich ihn abrupt. Er schaut mich erstaunt an.
„Wie gucke ich denn?“ Tu jetzt blos nicht so!
„Du guckst mich immer so komisch an, guck einfach woanders hin.“ Er schaut tatsächlich aus dem Fenster. Ich sehe wie sich sein Mund zu einem Lächeln verzieht.




„Wollen wir uns aufteilen?“ Fragt Ma.
„Ja okay.“ Sage ich.
„Gut, dann geht ihr beide zusammen und wir. Dabei zeigte sie erst auf Marvin und mich und dann auf Pa und sich. Ich bin nahe am Aufgeben.
„Wollen wir das nicht so aufteilen das ich mit Ma gehe und Pa und Marvin zusammen gehen?“
„Aber, wir Erwachsenen gehen sowieso auf andere Attraktionen als ihr, das ist doch so viel passender, wenn ihr zwei zusammen geht.“ Das ist jetzt zweideutig. Moment mal! Das hört sich alles ein bisschen danach an, als ob meine Eltern mich verkuppeln wollen!!
„Meinetwegen.“ Höre ich mich sagen. Jetzt muss ich den halben Tag mit ihm verbringen!
„Wann treffen wir uns wieder?“ Fragt Ma.
„Wie wäre es um Vier? Dann können wir was essen.“ Schlägt Pa vor.
„In Ordnung. Viel Spaß Lyonne, und Marvin.“ Dann gehen meine Eltern davon. Sie sehen fast wie frisch verliebt aus. Dabei wollten sie sich mal fast scheiden lassen. Pa hat sie vermutlich bestochen, ich bin mir fast sicher.
„Wollen wir dann?“ Fragt mich Marvin. Ich drehe mich zu ihm um. Er hat auch eine kurze Hose an, da drüber ein T- Shirt und eine Sweatjacke.
„Ja. Also, du kennst dich hier nicht aus, dann müssen wir wohl auf meinen Orientierungssinn vertrauen. Aber der ist nicht besonders gut.“ Ich will zur ersten Wasserbahn gehen. Wasserbahnen finde ich am tollsten!
„Und wohin gehen wir als erstes?“ Fragt er. Ich bleib stehen und drehe mich einmal im Kreis.
„Warte, hier irgendwo müssen diese Karten vom Park sein, mit denen kann man sich eigentlich nicht verlaufen...“ Marvin hält mir plötzlich eine dieser Karten vor´s Gesicht.
„Woher hast du die?“
„Am Eingang gab´s die.“ Oh.
„Okay. Also... wir sind hier... da wollen wir hin. Also müssen wir da lang.“ Er packt die Karte wieder weg und wir gehen los. Es wäre viel schöner wenn ich mit Chana hier wäre. Ich muss sie unbedingt anrufen und von meiner Verlobung erzählen. Ich hab mir überlegt das ich es ihr erzähle, ich muss es ihr erzählen. Irgendjemanden muss ich es erzählen. Sonst werde ich noch verrückt...
Als wir ankommen, stelle ich fest, dass wir nicht lange warten werden. Vor uns stehen lediglich 15 Leute an. Ich bin von früher wirkliche Massen gewohnt!
„Müssen wir so lange warten?“ Fragt mich Marvin mit hochgezogenen Brauen.
„Das is nicht lang, eigentlich ist die Reihe immer viel länger! Wir haben sogar Glück!“, meine ich und wir stellen uns an.
Vor uns steht ein Paar, es küsst sich die ganze Zeit. Das nervt, aber richtig. Ich seh mir die Fotos am Stand an, die von den Personen gemacht wurden, die gerade auf der Wasserbahn fahren. Sie sehen ganz lustig aus
Und die beiden vor uns küssen sich immer noch, Marvin schaut auch nicht hin.
Oh, er guckt zu mir! Was soll ich denn jetzt machen? Ich gucke wieder zu den Fotos.
Vor uns stehen nur noch wenige Leute, wir sind also gleich dran.
„Hey, willst du sehr nass werden oder möglichst trocken bleiben?“ Frage ich Marvin. Er runzelt die Stirn.
„Ich würde lieber trocken bleiben. Wieso?“
„Dann muss sich der leichtere nach vorne setzen.“ Er guckt mich lächelnd an.
„Dann also ich?“ Ich schaue ihn mit offenem Mund an. Wie bitte?
„Meinetwegen, setz du dich nach vorne, dann wirst du nass, nicht ich.“ Der is´ ja eingebildet.
Oder war das nur ein Scherz von ihm?
Wir sind dran, und er setzt sich nach hinten. Ich drehe mich kurz zu denen um, die noch in der Reihe stehen.
Nein!
Ich erkenne zwei Mädchen aus meiner Klasse!
Sie dürfen mich auf keinen Fall erkennen, vor allem dürfen sie nicht mitbekommen das Marvin und ich zusammen hier sind! Das wäre fast das Ende.
Das Ende wäre wenn jemand herausfinden würde, dass ich verlobt bin...
Ich schreie auf, als unser Gefährt einen kleinen Huckel herunterfährt. Ich hab gar nicht bemerkt das es schon losgegangen war, der erste Mini-Wasserfall auf dem wir fahren hat mich echt erschreckt.
„Na das kann ja was werden, wenn du jetzt schon so schreist, was dann bei dem da?“ Fragt er mich und zeigt dabei auf den zig Meter hohen Berg, den wir am Ende herabsausen werden.
„Ich war nur in Gedanken!“ Menno, das ist doch wieder peinlich! Ich bin wirklich sauer auf Ma und Pa, warum muss ich mit ihm hier zusammen fahren? Das ist nicht das was ich mir vorgestellt habe, ich wollte mit meinen Eltern den Tag verbringen!
„Achtung!“ Ruft mir Marvin zu. Wir sind schon fast ganz oben. Ich bekomme plötzlich wie immer riesige Angst, mein Magen krampft sich zusammen und ich wünschte ich wäre nicht hier mitgefahren. Ich kann das Boot vor uns sehen und hören. Sie kommen grade unten an und schreien. Ich werde auch gleich schreien. Oh nein, gleich fahren wir hinunter. Wir sind jetzt ganz oben...
„Ahhh!“ Als wir unten ankommen spritzt das Wasser zu uns auf und ich muss mich fest halten um nicht nach vorne zu fallen. Es gibt einen lauten Klatscher und wir sind nass. Marvin beugt sich zu mir nach vorne.
„Von wegen wir werden nicht nass wenn du vorne sitzt.“
„Tja.“, meine ich tropfend.
Wir steigen aus und gehen zu den Bildern, ich hab dieses Mal gar nicht drauf geachtet. Oh nein! Es war kurz nach der Stelle als ich mich erschrocken habe. Auf dem Bild schaue ich dementsprechend.
Marvin findet das lustig, er grinst.
„Kann man die Bilder kaufen?“ Fragt er mich.
„Du wirst dieses Bild aber nicht kaufen, das sieht doch blöd aus!“
„War ja klar dass du das wieder blöd findest, du bist sowieso ein Pessimist.“ Was? Ich bin doch kein Pessimist! Der Kerl kennt mich doch gar nicht!
„Woher willst du das denn wissen?“
„Na ja, seit ich dich kenne wirkst du niedergeschlagen und verhältst dich mir gegenüber ablehnend und sogar aggressiv. Das fing schon mit dem Pinken Stift an. Erinnerst du dich?“ Als er das sagt muss ich lachen.
„Und das hast du immer noch nicht verarbeitet? So schlimm?“ Er nickt ernsthaft.
„Das hat mir weh getan, hier!“ Dabei klopft er sich mit der Hand auf seine Brust.
Obwohl ich weiß dass er nur Spaß macht, fühle ich mich plötzlich ein bisschen schuldig.
„Dann darf das nicht noch einmal vorkommen! Ab heute werde ich immer einen ganz normalen, nicht-pinken-Stift dabei haben, damit ich ihn dir ausleihen kann, falls du ihn brauchst!“
Marvin lacht.
„Das ist das Mindeste!“, meint er und legt seine Hand auf meine Schulter.
Was mache ich jetzt?
Was mache ich jetzt?
Was mache ich jetzt?
Aber bevor ich ernstlich in Verlegenheit gerate nimmt er sie wieder weg.
„Also gut, wollen wir mal sehen was wir hier noch so machen können.“ Er sieht fragend zu mir rüber.
„Ja. Lass uns... da weiter gehen.“, ich zeige nach links und wir gehen auf dem Weg weiter.

Wir waren nicht auf vielen Bahnen. Nach der Looping-Bahn meinte Marvin dass er durst hätte und ob wir nicht schonmal zum Treffpunkt gehen um etwas zu trinken. Aber ich glaube er hat nicht eine so gute Konstitution wie ich in Bezug auf Looping-Bahnen.
Ich denke ihm war schlecht und er wollte sich irgendwo hinsetzen.
Natürlich habe ich nichts dergleichen geäußert, und durst hatte ich eigentlich auch.
Ich winke meinen Eltern zu, als ich sie sehe.
„Hattet ihr viel Spaß?“ Wenn ich so darüber nachdenke, hatte ich wider erwarten wirklich Spaß.
Hätte ich nicht gedacht.
„Ja, und ihr?“ Sie lächeln sich romantisch an. Was ist das denn?
„Ja, wir auch.“ Okay...
Meine Eltern setzen sich zu uns.
„Ja, was wollen wir jetzt essen?“ Meine Mutter schaut jeden von uns einen Augenblick lang an.
„Ich möchte einen Kaffee.“ Sagt mein Vater.
„Ich möchte ein Schockoladeneis.“ Antwortet meine Mutter auf ihre eigene Frage.
„Ich möchte einen Cappuccino.“ Sagt Marvin.
Eis ist lecker.
„Ich möchte auch Eis.“ Ma und Pa stehen wie abgesprochen auf.
„Wir holen euch alles, was willst du denn für ein Eis?“
„Ich möchte einen Eisbecher mit Vanille, Mango und Stracciatellaeis mit Schokosauce“ Pa zieht seine Augenbraue hoch.
„Krieg ich das auch noch schriftlich?“ Na komm, so schwer ist das doch nicht.
„Ich hab´s mir gemerkt, lasst uns gehen bevor ich es wieder vergesse.“ Sagt Marvin und geht mit Ma und Pa zum Verkauf. Ma kennt das ja schon, aber Pa und Marvin fragen sich jetzt bestimmt warum ich noch nicht fett bin...
Ich stütze meinen Kopf auf meine Hände und meine Ellenbogen auf den Tisch. Vielleicht ist Marvin ja doch ganz nett. Heute war er es zumindest.
Sie kommen zurück, ein Kaffe, ein Schokoeis, ein Capuccino und mein Eis. Es ist groß. Es ist ziemlich groß. Ich glaube da schaffe ich gar nicht.
„Bitte.“ Sagt Marvin und stellt mir den riesigen Eisbecher auf den Tisch. Ich bin buff.
„Wow.“ Sage ich.
„Was denn, haben wir was vergessen?“ Ich schaue in das fröhliche Gesicht meiner Mutter.
„Nein, aber... Das schaff ich doch niemals. Ich meine, das ist echt ein bisschen zu viel.“ Marvin nickt zur Bestätigung.
Na toll.
„Wer hat dich denn gefragt?“ Er soll sich nicht über mich lustig machen.
Das Eis schmeckt verdammt lecker, aber ich schaff nicht alles.
„Pa? Hilfst du mir mit dem Eis?“ Er schüttelt den Kopf.
„Ich mag kein Eis.“
„Was? Du magst kein Eis?“ Entsetzt drehe ich mich zu Ma um.
„Wieso mag er kein Eis? Hilfst du mir?“ Sie schüttelt auch den Kopf.
„Ich hab schon mein Eis gehabt, mehr mag ich nicht.“ Ich stochere deprimiert in meinem Eis, jetzt habe ich schon so ein Großes Eis und schaff es nicht.
Das ist traurig.
„Soll ich dir helfen?“ Ich blicke zu Marvin auf.
„Wenn du willst.“ Ich schiebe ihm das Glas hin. Er starrt unschlüssig auf das Eis.
Dann nimmt er mir den Löffel aus der Hand und fängt an das Eis aufzuessen.

Wir sitzen in der gleichen Sitzordnung wie auf dem Hinweg im Auto. Und obwohl es erst Sechs Uhr ist bin ich schon müde.
Müde lehne ich meinen Kopf gegen die Kopflehne. Aber das macht mich noch müder und mir fallen die Augen zu. Ich weiß auch nicht, aber im Auto schlafe ich immer besonders schnell ein.
„Kleine, aufwachen.“ Schon wieder werde ich von Pa geweckt.
„Ja ja.“ Ich schlag die Augen auf und Pa hilft mir aus dem Wagen. Ich gehe ins Wohnzimmer und setze mich auf das Sofa, am liebsten würde ich mich mich jetzt schon hinlegen, aber um viertel nach sieben ist es noch etwas früh...
Marvin kommt ins Wohnzimmer, er reicht mir die Hand.
„Bis Montag.“ Warum gibt er mir die Hand? Ich meine, wir sind noch nicht in dem Alter in dem man das tut.
Oder?
Danach verabschiedet er sich auch noch von meinen Eltern. Oh nein, Ma sagt das er doch gern mal wieder kommen soll, das es ja so schön mit ihm gewesen war. Dabei war ich doch die ganze Zeit mit ihm zusammen.
Ein letzter Blick von ihm und er verlässt das Haus.
„Ich muss dann auch mal gehen. Also ich hol dich dann morgen ab. Bis morgen.“ Hä wieso morgen. Er küsst Ma auf die Wange und schickt mir einen Luftkuss zu, ich lächel ihm zu, dann ist auch er weg. Alles scheint jetzt wieder normal zu sein.
„War er nicht süß?“ Fragte meinen Ma.
Wen meint sie?
„Wen meinst du denn?“ Sie schaute mich mit strahlenden Augen an.
„Beide!“ Damit geht sie hoch in ihr Zimmer.
Irgendwie fühle ich mich überflüssig, darum geh ich auch hoch, und nehme ein heißes Bad. Aber danach ist es immer noch nicht viel später.
Es ist jetzt Acht, aber jetzt kann ich doch noch nicht schlafen... trotzdem lege ich mich (eigentlich nur kurz) aufs Bett und schlafe prompt ein.

Ich blicke in seine blauen Augen. Sie sind so blau wie das Meer und ich verliere mich in ihnen. Er kommt etwas näher zu mir. Dann noch näher und schließlich so nahe, dass wir uns mit den Gesichtern fast berühren.
Dann küsst er mich.

Ich schrecke aus meinem Bett hoch. Was war das denn? So was hab ich ja noch nie geträumt, das war echt ein komischer Traum! Vor Schreck stehe ich auf. Ich habe grad von Marvin geträumt! Das darf nicht zum Standard werden. Und erst recht nicht so etwas!
In Wirklichkeit würde er mich niemals küssen! Und ich würde es natürlich auch nicht wollen!
Auf keinen Fall!
Niemals!

Der Traum kommt bestimmt von dem was Chana die ganze Zeit redet….
Pa meinte er holt mich heute ab, aber ich weiß gar nicht wohin wir fahren. Heute ist doch Sonntag. Was wollen wir denn heute machen?
Aber ich habe heute von Marvin geträumt! Und dann noch so ein Traum, so was darf ich doch nicht träumen!...
Um Neun kommt dann Pa.
„Wo wollen wir eigentlich hin?“, frage ich und denke daran dass mein schöner Sonntag missbraucht wird. Ich wollte doch eigentlich so richtig schön entspannen, vielleicht ein Buch lesen oder ein paar Filme gucken...
„Verschiedenes.“ Er schaut sich abwesend nach Ma um.
„Sie ist im Bad. Also, wollen wir dann?“ Er nickt und dreht sich ein letztes Mal nach seiner Frau um.

Kannst du dich bitte ausziehen? Ich komme gleich wieder!

Zum Glück fährt Pa nicht wieder, sonst wäre ich jetzt wieder kurz davor, mich verängstigt in den bequemen Ledersitz zu pressen um die aufkommende Übelkeit zu unterdrücken. Sein Fahrstil ist echt das Allerletzte!
Unser Chauffeur dagegen lässt mich fast vergessen, dass ich in einem fahrenden Auto sitze.
„Wo fahren wir denn jetzt hin?“ Frage ich meinen Vater, dieser muss eine Weile überlegen ehe er antwortet.
„Wir fahren zu meiner Schwester, also zu deiner Tante. Sie wollte mit dir einkaufen gehen. „
„Am Sonntag?“ Er nickt nur.
Seit wann haben denn bitte die Geschäfte am Sonntag auf?
Seufzend drehe ich mich zum Fenster.
Felder.
Inzwischen blüht schon der Raps, aber er steht noch nicht in voller Blüte. Also ein grün-gelber Teppich, der über unsere Hügel gelegt wurde.
„Pa?“ frage ich. „Warum bist du eigentlich nicht beim König? Ich meine, du bist doch sein Leibwächter, du musst ihn doch beschützen.“
„Na ja, ich bin ja nicht der einzige. Du kannst dir sicherlich vorstellen dass eine Persönlichkeit wie der König, über einen entsprechenden Personenschutz verfügt. Außerdem habe ich mir einen kurzen Urlaub genommen, deinetwegen.“ Er schaut kurz zu mir rüber.
„Aber im Grunde bin ich immer im Dienst. Es ist für mich jedoch kein normaler Job. Kein Beruf in dem Sinne. Es ist für mich meine Lebensaufgabe; auf meinen besten Freund aufzupassen!“, dann lacht er kurz und fügt noch hinzu, dass er das ja sowieso schon immer getan hatte.
Ich frage mich ernstlich wie eng mein Vater mit dem König befreundet ist.
Nach einer halben Stunde oder so halten wir vor einer Villa.
„Das ist ihre Ferienwohnung.“ Ihre „Ferienwohnung” sieht für mich eher wie ein kleiner Palast aus.
Das Grundstück wird von einer undurchlässigen Mauer umgeben. Vorne am Tor klingeln wir.
„Ja bitte?“, fragt uns eine männliche Stimme.
„Ich bin´s Gorett, ich will zu meiner Schwester.“ Sofort wird die Tür aufgemacht und wir kommen auf das Grundstück.
Wir müssen eine lange Einfahrt entlang fahren, bis wir auf den Parkplatz kommen. Das Grundstück ist mit Blumenbeeten und Zierbüschen bestückt. Alles sieht überaus gepflegt aus.
Die Haustür ist bereits geöffnet und eine Frau kommt heraus. Beim näheren betrachten erkenne ich meine Tante. Letztes Mal hatte sie keine offenen Haare, aber sie sehen auch heute wieder perfekt aus.
Sie kommt auf mich zu.
„Lyonne Astaria!“ Sie gibt mir rechts und links einen Kuss und umarmt mich dabei. Dann wendet sie sich Pa zu.
„Bruderherz! Wie geht es dir? Willst du mit reinkommen?“ Ihr „Bruderherz” schüttelt den Kopf.
„Nein, ich hab noch was zu erledigen. Bis nachher.“ Er geht und lässt mich alleine.
„Komm rein, möchtest du etwas trinken?“ Ich schüttel den Kopf, sie hat es genau gesehen trotzdem starrt sie mich weiterhin fragend an.
„Nein.“, sage ich also zu meiner, anscheinend beschränkten, Tante.
„Was nein?“ Hä? Sie hat mich doch gerade eben gefragt?!
„Ich möchte nichts trinken!“ Sie lächelt zufrieden und geht mir voran in das Wohnzimmer, oder Gästezimmer.
Ärgerlich folge ich ihr.
„Wir werden jetzt erstmal eine Probe machen, komm bitte mit nach oben.“
„Was denn für eine Probe? Für was denn?“ Sie schaute mich stumm an, ich kann ihren Blick nicht genau deuten. Aber er ist irgendwie abwertend.
Ich folge ihr also nach oben. Und obwohl es einen Fahrstuhl gibt nehmen wir die Treppen. Wir laufen den Flur entlang und betreten ein eher kleineres Zimmer (wenn ich „eher klein” sage, dann meine ich damit immer noch groß, aber eben im Vergleich zu den anderen riesigen Zimmern „eher kleiner”).
„Kannst du dich bitte ausziehen? Ich komme gleich wieder.“ Sagt sie und geht.
Was denkt denn meine Tante? Wofür zum Henker soll ich mich denn jetzt bitte schön ausziehen? Will sie Aktbilder von mir machen um diese dem Prinzen zu überreichen? „Und das ist sie, mein Prinz, ist sie ihnen wohl gefällig oder müssen wir da noch das ein oder andere ändern?”, sowas in der Art würde doch gut zu dieser seltsamen Frau passen, die plötzlich meine Tante sein soll.
Wütend setze ich mich auf eine dunkelblaue Couch.
Hallo!! Ich bin ein eigenständiger Mensch, ich bin jemand mit dem man reden kann, mit dem man reden muss, wenn es um die Planung seiner Zukunft geht.
Es gefällt mir einfach nicht dass ich hier nicht gefragt werde! Ich bin doch keine Puppe!
Nach zehn Minuten kommt diese Frau zurück in den Raum. Sie runzelt ihre gepuderte Stirn und streicht ihren beigen Rock mit den schwarzen Spitzenrändern glatt.
„Warum bist du noch nicht fertig?“ Fragt sie mich schließlich, nachdem sie mich von oben nach unten gemustert hat.
„Ich weiß gar nicht um was es hier geht, vielleicht erklärst du mir das erst mal alles?“ Meine Tante fährt sich mit ihren rosa lackierten Fingernägeln über die Haare. Dann sieht sie zu mir, setzt sich neben mich auf die Couch und lächelt mich an. Es wirkt auf mich irgendwie künstlich.
„Es gibt hier bei uns am Hof eine Vielzahl von Traditionen die eingehalten werden müssen. Dazu gehört auch die Kleiderauswahl. In ein paar Wochen findet der Ball der Königin statt. Jedes Jahr arrangiert sie diesen Ball. Er ist Teil vieler Traditionen, deshalb musst du auch dieses Kleid anziehen.“ Sie holt ein rosa weißes Kleid hervor mit sehr viel Stoff und Tüll und einer Corsage.
„Wir müssen überprüfen ob auch alles passt und ob es gut aussieht. Hier, zieh zuerst das an, danach musst du den Rock anziehen.“, sagt sie und will es mir überreichen.
Ich erstarre.
„Nein.“ Sage ich nur.
„Wie bitte? Weißt du nicht wie du es anziehen musst?“ Das Anziehen an sich ist auch nicht das Problem, das, was ich zu dem Kleid anziehen soll, das ist es. Ich zieh´s nicht an, das kann man nicht von mir verlangen.
„Ich zieh das nicht an! Man sieht doch eh nicht was ich drunter an habe. Ich zieh das nicht an!“ Ich weiche ein paar Schritte zurück.
„Warum nicht? Das haben doch alle an.“ Alle?
„Alle Frauen die da sind tragen das drunter.“ Fügt sie hinzu. Ich werde das aber nicht tragen, nicht so was!
Ich sage nichts zu ihr, ich schweige nur.
„Dann ziehe es bitte wenigstens jetzt zur Anprobe an.“
„Das werde ich nicht anziehen!“ Schrei ich sie an. Sie reißt entsetzt die Augen auf.
„Also wirklich! Schrei nicht so. So etwas tut keine Adlige.“ ich bin keine adlige und Ich werde keine Reizwäsche anziehen, das mache ich einfach nicht!
„Bitte, trage die Corsage und die Strapsen bitte wenigstens jetzt zur Anprobe an, tu es für... für mich, bitte!“ So nett war sie noch nie zu mir. Aber ich zieh das nicht an. Erst recht nicht für sie.
„Nein, ich zieh das nicht an, das mach ich nicht!“ Sie seufzt und starrt vor sich hin, dann blickt sie mir wieder ins Gesicht.
„Okay, stell eine Bedingung und die werde ich dir erfüllen, wenn es in meiner Macht steht. Dafür machst du ohne zu Murren die Anprobe mit. Ja?“ Wieder Bestechung. Wer Geld hat will sich wohl alles damit kaufen.
„Okay.“ sage ich. Mein leidenschaftlicher Widerstand löst sich plötzlich in Luft auf. Eigentlich ist es ja ziemlich egal ob ich das Zeug jetzt anziehe, ich muss es ja dann nicht zu diesem komischen Ball tragen. ‚Hat sie zumindest eben grad gesagt…
Und wenn sie mir eine Bedingung erfüllt...
Meine Tante atmet auf.
„Ich will nach dieser Anprobe nach Hause.“ Sie zieht die Augenbrauen hoch.
„In Ordnung.“
„Und heute den ganzen Tag nichts mehr von dieser ganzen Sache hören.“ Sie seufzt.
„Meinetwegen. Also dann zieh dich bitte um.“ Sie reicht mir die Kleidungsstücke und ich verschwinde hinter die Trennwand. Skeptisch betrachte ich das Zeug genauer. Na gut, dann werde ich mir das nur so zum Spaß jetzt anziehen.
Nur heute.

Verzweifelt starre ich die Teile an. Man! Ich werde mich darin bestimmt total billig fühlen!
Ich ziehe mir meine Hose aus, dann meinen Pulli. Langsam entledige ich mir den Rest.
„Bist du fertig?“ Fragt meine Tante.
„Nein, noch nicht.“ Was glaubt die wie schnell ich bin?
„Soll ich dir helfen?“
„Nein!“ Ruf ich bevor sie um die Trennwand kommt.
Zögernd fange ich an mir die Kleidungsstücke anzuziehen. Neben der Korsage, als ungeliebtes Stück, kommt noch das paar Strapsen hinzu! Ich meine, mal ehrlich: Strapsen?! Was soll das, wofür? Das Kleid geht doch bis zum Boden!?
„Bist du jetzt fertig?“
„Nein, gleich.“ Rufe ich gestresst zurück.

Über die Unterwäsche ziehe ich den Unterrock mit den Reifen. Was einige Zeit in Anspruch nimmt…
Als ich fertig bin und mich im Spiegel anschaue, fühle ich mich so wie in einem Film aus der Barock Zeit.
„Okay, ich bin fertig.“ Ich gehe zu meiner Tante. Sie betrachtet mich. Und kommt schließlich auf mich zu.
„Dreh dich mal bitte.“ Ich drehe mich. Dann merk ich das sie irgendwas an meinem Rücken macht und schließlich zieht sie meine Korsage enger. Ich schnappe nach Luft.
„Geht´s noch? Willst du mich umbringen?“ Frage ich sie nach Luft ringend.
Das war´s also! „Erstickungstod durch Korsett“ wird dann fett auf meinem Grabstein stehen. Und daneben das Bild eines Korsetts.
„Ich versuche nur dich etwas schlanker aussehen zu lassen.“ Schlanker? Ich werde bestimmt nicht für den Prinzen schlanker aussehen wollen oder eine Diät machen!
„Ich bin schlank genug!“, meine ich empört. Statt zu antworten zieht sie noch stärker. Wütend drehe ich mich zu ihr um.
„Ich kriege keine Luft mehr!“ Ich fasse mir an die Taille. Wow! Nichts ist mehr von meinem Wohlfühlbauch zu spüren!

„Müsste ich so den ganzen Tag herum laufen? Da würde ich ja ersticken!“
„Jetzt musst du noch das Kleid anziehen. Hier, ich helfe dir.“ Sie gibt mir das Überkleid oder wie man es sonst nennt und hilft mir dann es anzuziehen. Ich glaube nicht dass ich hier ohne Korsage rein gepasst hätte.
Das Kleid hat einen weiten Ausschnitt, dadurch kann man ein Stück der Korsage sehen. Das Stück das man sehen kann ist voll von rosa und weißer Spitze und Rüschen. Es passt natürlich perfekt zum Kleid. Ich trete vor den Spiegel.
„Der Ausschnitt ist viel zu groß.“ stelle ich fest. Überraschenderweise schüttelt meine Tante den Kopf.
„Ich finde es gut so, du kannst doch zeigen was du hast.“ Ich merke wie ich rot werde. Was ist das denn? Zeigen was du hast… Aber blos nicht den Bauch…
Und ich finde das überhaupt nicht gut so. Ich meine, ich hab doch sowieso schon einen großen Busen, durch den Push up Effekt der Korsage wirkt er jetzt noch größer. Das finde ich überhaupt nicht gut. Der Prinz soll blos nicht denken das ich was von dem will!
Denn ich werde ihn nicht heiraten!
Wortlos reicht Pa´s Schwester mir die passenden Schuhe. Sie sind hochhackig.
„Ich kann auf Plateau Schuhen nicht laufen.“
„Oh.“ Sagt sie nur und ich muss sie trotzdem anziehen.
Das tue ich dann auch, aber nur weil die Schuhe so niedlich aussehen... Ich meine, damit das ganze schnell vorbei ist.
„Ich komme gleich wieder.“ Sie entfernt sich. Ich setze mich auf einen Stuhl.
Das ist mit diesem wuchtigen Kleid gar nicht so einfach.
Und was mach ich jetzt? Ich könnte ganz schnell das ganze Zeugs ausziehen und wegrennen... Aber ich komme vermutlich nicht so schnell aus dem Kleid raus und vor allem nicht alleine.
Ich könnte Chana eine SMS schicken. Okay, das mach ich. Vorsichtig stehe ich auf und knie mich vor meine Tasche. Ich suche das neue Super Handy das Pa mir geschenkt hat und schreibe:
Hi Chana wie gehts dir? Ich werd grad von meiner Tante gefoltert lass mal später telefonieren
HDL Lyonne
Dann packe ich es wieder zurück und fange an, an die Decke zu starren.
…Marvin... Man soll Menschen nicht nach dem Aussehen beurteilen, denn ganz oft sind die Gutaussehenden die Arschlöcher. Obwohl er ja keins ist.
Ich frage mich immer noch warum Pa ihn eingeladen hat. Und warum war Ma sofort einverstanden? Warum vertragen sie sich so gut? Pa muss diesen Marvin ziemlich gut kennen, sonst hätte er mich ihm nicht anvertraut. Ich meine damit, dass Marvin ja auch aufdringlich hätte sein können, Pa muss gewusst haben das er das nicht ist. Na ja, ich an Marvin´s Stelle wäre auch nicht aufdringlich zu einem Mädchen das so aussieht wie ich. Außerdem hätte ich es auch sofort meinen Eltern erzählen können und dann wär er voll am Arsch. Also... also die einzige Möglichkeit ist dann die, das er selbst nicht wirklich Lust darauf gehabt hatte, aber Pa ihn drum gebeten hat.
Oder meine Eltern und die Eltern von Marvin wollen uns verkuppeln... Äh nein, ich bin ja doch verlobt.
Also noch mal von vorne... zum Thema zurück... Was war das Thema? Ach ja! Also ich glaube einfach das Pa ihn gut kennt, auch seinen Vater, und ihn deshalb eingeladen hat, weil er mit Ma alleine sein wollte... obwohl ich ja dann auch chana oder so hätte mitnehmen können…
Die Tür geht auf, meine Tante kommt herein!
Sie stellt drei Kartons ab.
„Das sind Absatzschuhe, die trägst du zum Angewöhnen. Ich will nicht das du auf dem Ball stolperst und dir die Beine brichst.“ Äh…Was soll ich dazu sagen?
„Aha.“, meine ich und denke nicht daran diese Schuhe zu tragen.
Meine Tante schaut auf ihre Uhr, danach starrt sie einen Moment vor sich hin.
„Du hast jetzt keine Lust mehr, richtig?“ Ich runzel die Stirn.
„Ich hatte von Anfang an keine Lust darauf.“ Sie nickt.
„Dann hören wir jetzt einfach auf. Wir treffen uns Montag wieder, also morgen. Wir werden die Frisur proben und einkaufen gehen.“ Sie sieht mich scharf an.
„Und morgen möchte ich dich mit etwas mehr Ernst bei der Sache sehen. Es geht hier schließlich alles nur um dich!“
Das ist ja das Problem! Es geht alles nur um mich. Aber nicht mit mir...
„In Ordnung, kann ich mich dann wieder umziehen? Es drückt nämlich überall.“ Schon will ich mich aus dem Stoff befreien, doch meine Tante hält mich auf.
„Was? Das darf eigentlich nicht sein. Wo drückt es denn?“, meint sie und kommt auf mich zu.
„An der Brust und an der Taille, ich krieg nämlich immer noch keine Luft!“
„An der Brust? Warte! Ich helfe dir jetzt erstmal das Überkleid auszuziehen.“ Sie ignoriert den zweiten Teil des Satzes einfach! Man!

Vorsichtig zieht sie mir den Stoff aus. Danach stehe ich wieder in weißen Unterröcken und der Korsage vor ihr.
„Kannst du mir das Ding jetzt auf machen?“
„Wo genau drückt es?“ Sie ignoriert die Fragen die sie nicht beantworten will einfach! Wie dreist das ist! Wenn ich das machen würde, würde meine Mutter mir aber was erzählen!
„Hier!“ Ich zeige rechts und links knapp neben meinem Busen auf die Korsage. Oder besser Korsett, so eng wie es ist...
„Das Korsett passt nicht.“ Füge ich hinzu.
„Stimmt.“ Geht es ihr jetzt auf. Endlich! Dankeschön!
„Das sieht auch ganz komisch aus. Die Körbchen scheinen doch zu eng zu sein...“ und dann fügt sie zu allem Ärger noch hinzu: „Du hast aber große Brüste.“ Ich werde rot, das ist mir jetzt richtig peinlich!
Und schon redet sie weiter.
„Also Körbchengröße D statt C... Sonst hat alles gepasst?“
„Nein, wie bereits erwähnt ist mir diese Zwangsjacke zu eng! Das Stück Stoff ist nämlich grad dabei mich zu erdrosseln!“ Meine Tante verdreht darauf nur die Augen und verlässt den Raum, nachdem sie äußerst lieblos das elende Stück Stoff aufgeschnürt hat.
Blöde Kuh!
Nach dem ich mich wieder umgezogen habe ist es schon Zwölf Uhr. Wir gehen wieder hinunter zur Eingangshalle. Plötzlich wendet sich meine Tante wieder zu mir.
„Ach ja, eh ich das vergesse, ich will dich nicht noch einmal in einer Hose sehen.“
Hä? Dann will ich sie halt auch nicht mehr in dieser piss-gelben Bluse sehen?
„Was?“ Frage ich aber nur,
„solche Hosen gehören sich einfach nicht für Frauen, du sollst in der Öffentlichkeit weniger Hosen und mehr Röcke tragen.“
Ja! geht’s noch? Natürlich werde ich noch Hosen anziehen! Glaubt diese Frau jetzt etwa allen Ernstes, dass ich jetzt plötzlich nur noch in Röcken und Kleidern herumlaufen werde nur weil sie das sagt?
„Ich habe gar keine Röcke, und, ich werde mir auch keine Röcke kaufen!“ Ich gucke sie wütend an.
„Musst du auch nicht, das habe ich bereits für dich getan.“ Was? Das ist nicht ihr Ernst!? Sie hat mir Kleidung gekauft? Sieht die dann etwa so aus wie die Klamotten die sie trägt? beiger, knielanger, komischer geschnittener Rock mit schwarzer Spitze oder Pipi-gelbe Bluse?
Es klingelt.
Dem Himmel sei Dank! Endlich befreit mich mein Vater von dieser Frau, die unerklärlicher Weise mit mir verwandt ist! Ich gehe schnell zur Tür, und da steht Pa auch schon.
„Hallo, Kleine!“ Ich lächle ihn an.
„Hallo Pa.“ Er legt den Arm um mich und drückt mich an sich.
Ich bin gerettet!

Müde steige ich an diesem Sonntagabend ins Bett. Als letztes muss ich an Ma denken, die so sehr gestrahlt hatte als sie Pa sah, sie vertragen sich wohl jetzt wieder richtig gut...

„Nein, nein. Nein, N-E-I-N“ Diktiere ich.
„Schatz! Bitte, du musst doch..-“ Ich unterbreche sie.
„Nein.“
„Abe..-“
„Nein.“
„Liebling, es geht nicht, dass..-“
„Nein. Ich zieh das nicht an. Ich mach das nicht. Nein nein nein nein nein nein nein!“ Ich weiß das ich wie eine Sechsjährige benehme aber das ist mir echt egal! Ich zieh keinen Rock zur Schule an und erst recht nicht diese komischen Schuhe!
„Du bist Schuld!“ Schreie ich meine Mutter an.
„Du hättest sie aufhalten können!“ Sie verdreht erneut die Augen.
„Sie sagten du bist damit einverstanden.“, beteuert sie.
„Das stimmt aber nicht! Ich will meine Sachen zurück! Du hättest es wissen müssen, du kennst mich doch! Notfalls hättest du mich anrufen sollen!“ Sie setzt sich sichtlich entnervt auf den Stuhl in der Diele, dabei schaut sie auf die Uhr.
„Hör mal, ich muss gleich los und du musst auch zur Schule! Lyonne, lass uns fürs erste diese Diskussion beenden. Wir können heute Nachmittag weiterreden.“ Ich schüttle den Kopf. Das ist so unfair!

„Wenn jemand das mit deinen Sachen machen würde!“, fauche ich ihr entgegen und bin mega beleidigt, dass sie nicht mehr auf meiner Seite steht.
Meine Tante hatte arrangiert alle meine alten Klamotten abzuholen, dafür hat sie mir dann neue Sachen zum Tragen gebracht.
Das lief alles in der Zeit, in der ich bei ihr war ab, das war alles eiskalt geplant! Ich habe jetzt keine Hosen mehr, nur noch Röcke und Kleider! Die Leute waren sogar an meiner Unterwäsche! Das ist doch echt das... aller aller Letzte! Ich fühle mich von allen total verraten und überhaupt nicht ernst genommen!
„Ich geh nicht in diesen Klamotten zur Schule!“ Ma steht auf.
„Hält Chana nicht heute ihr Referat? Da willst du doch zuhören?“, oh man! Das stimmt!
Ich stapfe auf mein Zimmer, dort krame ich die Klamotten zusammen die noch am normalsten aussehen. Die Sachen die ich gestern anhatte kann ich leider nicht einfach anziehen, denn die habe ich leider schon gestern in die Wäsche getan, und da Ma immer Nachts wäscht ist noch nichts trocken.
Total ärgerlich zwänge ich mich in ein Spitzen-Höschen rein und in den zugehörigen schwarzen BH. Dazu trage ich eine rote Bluse und darüber eine schwarze Strickjacke. Der Faltenrock der dazu gehört geht mir knapp bis zum Knie, ich hätte gedacht das Tante mir bodenlange Röcke besorgt hätte.
Und auch meine Schuhe sind alle Futsch! Nur die von gestern sind noch hier, und das sind Sportschuhe, die passen jetzt echt nicht. Was soll ich denn blos machen? Verzweifelt setze ich mich auf den Boden.
Und breche in Tränen aus.
Aber ich muss zur Schule! Chana ist immer so nervös und aufgeregt bei Referaten, ich muss sie unterstützen!
Resignierend ziehe ich mir schließlich trotzdem meine Turnschuhe an. Egal…

Aber, Ich trag nie so was! Und auch wenn sich ein paar aus der Schule so kleiden, ich will nicht so herum laufen! Das sieht so nach „Püppchen“ oder „Reiches Elternhaus“ aus
Mir bleibt aber nichts anders übrig, und ich muss jetzt los. Erschrocken stelle ich fest, dass es schon ziemlich spät ist. Ich will nicht auch noch zu spät kommen, so dass ich mir der Aufmerksamkeit aller meiner Mitschüler sicher sein werde!
Ich renne eilig die Straße zur Schule entlang.
Und ich bin nicht zu spät! Einige andere Schüler stehen auch noch vor dem Schultor.
Ich suche Chana und auf dem Weg zum Klassenraum fällt mir auf, das sich ein paar Leute nach mir umgucken.
„Hallo Chana!“ Sie dreht sich zu mir um, sie hat ihr Referat in der Hand, vermutlich hatte sie grade noch geübt.
„Was hast du denn an?“, meint sie überrascht.
„Äh, ja das ist eine lange Geschichte... Ich wollte sie dir sowieso erzählen, aber… nicht jetzt?“ Sie sieht neugierig aus.
„Okay, da bin ich ja schon gespannt!“ Das kann sie auch!
„Und, kannst du dein Referat gut?“ Sie wird plötzlich weiß.
„Ja, aber ich bin trotzdem total aufgeregt! Zum Glück muss ich es in der ersten Stunde halten, sonst wäre ich in den Stunden davor so was von unkonzentriert! Aber... Sag mal... Dein Vater hat ja meiner Mutter gesagt dass sie meinen Vater von ihm grüßen soll. Das hat sie auch und dann wollten wir natürlich wissen woher sie sich kennen. Und da meint mein Vater doch tatsächlich dass dein Vater für den König arbeitet! Aber nicht irgendwas weit weg vom König sondern richtig nah dran, er ist einer der Leibwächter und sogar gut mit ihm befreundet!“ Ach du Scheiße! Jetzt werde ich blass.
„Das gehört zur langen Geschichte dazu! Ich erzähl dir das, ehrlich! Aber nicht jetzt.“
„Jetzt bin ich aber echt neugierig! Also stimmt das dass er der...-“
„Ja! Ich erzähl dir das wann anders.“ Wir gehen Richtung Klassenraum.
„Okay.“ Sagt sie und konzentriert sich wieder auf ihren Vortrag.
Zu meinem Schreck steht vor der Klasse Annika. Sie lächelt als sie mich sieht. Ich will mit Chana an ihr vorbei gehen, doch sie versperrt uns den Weg.
„Tag, Lyonne.“ Sagt sie und starrt mich an. Ich würde jetzt gerne etwas sagen das sie weggehen lässt, irgendwas wo sie richtig angepisst ist... Aber mir fällt nichts ein.
„Was ist? Geh zur Seite!“ Sagt zu meiner Überraschung Chana.
„Warum wollt ihr denn nicht mit mir reden?“ Fragt Annika und bleibt stehen. Ich blicke von der Seite zu Chana und sehe wie aufgeregt sie ist. Ihr sonst so blasses Gesicht ist leicht gerötet und ihre Mundwinkel zucken.
Sie geht auf Annika zu.
„Du lässt uns jetzt hier durch! Es nervt!“ Wow, sie kann ja richtig wütend werden! Und obwohl sie einen Kopf kleiner als Annika ist scheint sie ihr einen Moment ebenbürtig.
Ich komme meiner Freundin zu Hilfe, außerdem habe ich noch eine Rechnung zu begleichen. Ich lächle Annika nett an.
„Danke, für die nette Begrüßung!“ sage ich, schiebe sie zur Seite indem ich ihr auf ihre Brust fasse und sie weg schubse. Sie starrt mich mit offenem Mund an, leider ist sie nicht die einzige. Ein paar aus meiner Klasse haben es ebenso bemerkt. Aber mir ist das jetzt echt egal! Es gibt viel bewegendere Dinge als Annika! Zum Beispiel meinen Verlobten! Ich werde ihn nicht heiraten! Das tue ich nicht! Er ruiniert mein Leben!
Ich setze mich auf meinen Platz, Chana beschreibt die Tafel.
Jemand kommt in die Klasse.
Es ist Marvin!
Sein Platz ist direkt neben mir, nur der Gang trennt uns.
„Hallo Lyonne.“ Sagt er.
„Hi.“ Sage ich und lächel sogar etwas. Dann kommt der Lehrer rein.
Das Referat von Chana ist gut und sie bekommt eine eins dafür.
In der Pause kommt sie zu mir.
„Ich bin so erleichtert! Jetzt hab ich das endlich hinter mir, und eine Eins habe ich sogar dafür bekommen!“ Ich stimme ihr zu.
„Ja, jetzt hast du es endlich geschafft.“ Sie schaut mich neugierig an, ich weiß was sie gleich von mir wissen will.
„Erzählst du es mir jetzt?“ Ich seufze. Ich will das nicht hier machen, was ist wenn uns jemand hört?
„Ich will nicht das es jemand anders hört.“ Sie dreht sich um.
„Is keiner in der Nähe.“ Sie hat sogar recht.
„Na gut. Also .. ja.. . Das wichtigste weißt du ja schon. Mein Vater ist mit dem König befreundet, er ist sein erster Leibwächter.“ Ich stocke.
Ich kann ihr das nicht erzählen!
„Und... und... ich muss demnächst zu so einem Ball mit ihm, deshalb renovieren sie mich jetzt.“ Sie scheint etwas enttäuscht, sie wollte was Spannenderes.
„Deswegen musst du jetzt einen Rock tragen? Und Absatz? Weil du irgendwann zu einer Feier gehst?“ Ha ha, was soll ich denn jetzt sagen?
„Nein, die Schuhe trage ich damit ich dann da damit laufen kann... und der Rock...“ Ich sehe sie gequält an. Sie bemerkt meinen Blick.
„Du brauchst mir den Rest nicht jetzt erzählen. Mach es wann anders.“ Und leise fügt sie hinzu.
„Wenn du willst.“ Sie weiß das es da noch was wichtiges gibt, hoffentlich weiß sie nicht was es ist.
Obwohl es dann eigentlich nicht mehr so schwer wäre es ihr zu sagen.
„Danke! Wollen wir uns heute sehen? Du kannst zu mir kommen... Vielleicht schaffe ich es dann dir zu sagen.“ Sie nickt nachdenklich.
„Das scheint ja ziemlich wichtig zu sein.“ Ich nicke. Hinter Chana sehe ich Sarina, sie steht bei Annika. Das macht mich traurig.
„Weißt du was Sarina hat?“ Sie dreht sich um und folgt dabei meinem Blick.
„Nicht so richtig.“ Wir gehen nicht zu ihr.
Nach der Schule, wo ich einigen Fragen über meinem neuen Look ausgeliefert war, gehe ich nicht nach Hause, sondern will schnell zu Saturn. Ich hab mir nämlich vor zwei Wochen eine CD bestellt. Hinter dem Schultor gehe ich also nicht wie normalerweise nach rechts, sondern nach links die Straße entlang.
„Hey, wo gehst du denn lang?“ Ich drehe mich zu Marvin um. Er trägt heute Stiefel über seine Jeans.
Aber das ist ja unwichtig. Im Grunde ist Marvin nicht wichtig. Überhaupt nicht erwähnenswert!
„Ich geh zu Saturn.“
„Ich komm mit.“Er überlegt noch nicht mal! Fragt nicht, sondern entscheidet das einfach mal so!
„Warum?“, frage ich wenig geistreich.
„Einfach so.“, entgegnet er simpel.
Dieses „Einfach so”, macht mich so wütend, dass ich vergesse, dass ich eigentlich schüchtern bin und schreie Marvin an:
„Nein, du lügst. Ich will endlich das du mir sagst warum du ständig bei mir rumhängst.“ Wollen meine Eltern das etwa von ihm? Das könnte ich mir fast vorstellen.
Genau!
Mein Vater hat ihn als Bodyguard angestellt!
Ha ha, nein nein.... aber das wäre sogar fast denkbar, bei meinem Vater...
Schnell vertreibe ich den ekelhaften Witz aus meinen Gedanken und attackiere Marvin wieder mit entschlossen bösen Blicken.
Schließlich bleibt er nervös neben mir stehen und zuckt komisch mit dem Mund.
Er will sich davor drücken mir zu antworten!
„Hey! Jetzt sag gefälligst was, Marvin!“, das ist das erste Mal das ich ihn beim Namen nenne.
Er schaut mir plötzlich fest ins Gesicht.
„Okay, aber...“, dann bricht er ab.
Ich warte.
Und er fängt von neuem an.
„Dein Vater... er... er wollte das du sicher bist, und da hat er mich, für dich, als Bodyguard eingesetzt.“
„WAS?“ Wie bitte? Ich hör wohl nicht recht? Das ist doch nicht die Möglichkeit! Das war vorhin ein Scherz von mir! Das kann doch gar nicht sein!
„Das ist jetzt ein Witz, oder? Du verarscht mich! Sag, dass das ein Scherz ist!“
Ich schreie, spüre wie sich meine Augen mit Tränen füllen und wie sich eine innere Spannung in meiner Brust aufbaut.
„Nein, das ist kein Witz. Es besteht immerhin eine begrenzte Gefahr für dich. Natürlich keine große!“ Versucht er das Ganze zu entschärfen.
„Du... du.... wie, ich meine.... Leibwächter sind doch solche Muskelpakete... die, die Sonnenbrillen tragen und in ihrem Jackett versteckt eine Pistole tragen! Wie willst du einer sein?“ Ungläubig stehe ich da und in meinem Kopf kreisen Gedanken irre Kreise und sind nicht aufzuhalten.
„Du brauchst keine Angst haben, dir passiert schon nichts. Und weil du nicht so gefährdet bist, wie du es dir jetzt vielleicht vorstellst, brauchst du auch nicht solch einen Leibwächter wie du ihn dir vorstellst.“, meint er lächelnd. LÄCHELND! Macht er sich jetzt über mich lustig oder was?
Wie gemein von ihm!
Er hört auf zu lächelnd, sieht mir in die Augen.
Die erste Träne.
Ich mache einen Schritt zur Seite. Er will noch etwas sagen, lässt es dann aber doch.
„Ich geh nach Hause!“, sage ich und laufe los.
„Warte!“, er läuft mir nach.
Er will das ich warte? Das ich nach all dem WARTEN?
Das kann er vergessen! Der kann mich mal!
Ich schniefe und weine, stolper beinahe und bekomm´ kaum noch Luft.
Nach ein paar Metern hat Marvin mich dann auch eingeholt. Schnell wisch ich mir die Tränen weg.
Dass er jetzt so was wie mein Leibwächter ist, ist nicht das Schlimme, das mir die Tränen in die Augen treibt. Das schlimme daran ist eigentlich das er mich damit erinnert.
Er erinnert mich daran, dass mein Leben jetzt ganz anders aussieht, und nicht mehr dasselbe ist wie zuvor.
Er erinnert mich an die Verlobung.
Und dass meine Eltern, also eher Pa, mir nichts davon erzählt hat ist sowas von bescheuert!
„Was?“ Schrei ich ihn an, als er mich am Arm festhält und nicht loslässt obwohl ich versuche meinen Arm zu befreien.
„Was willst du? Ich geh doch nur nach Hause!“ Er schließt kurz die Augen und macht sie fast sofort wieder auf. Nur etwas länger als man blinzelt. Vermutlich weiß er nicht was er zu einem hysterischen Mädchen sagen soll.
„Beruhig dich.“ Sagt er dann schließlich.
Oh!
Ich soll mich beruhigen!?
„Warum? Was bringt´s mir?“ Ich verdrehe die Augen.
„Warum sagst du mir das eigentlich erst jetzt?“, füge ich dann doch etwas ruhiger hinzu.
„Wir wussten nicht wie du reagierst.“, entschuldigt er sich.
Ha!
Männerlogik!
„Tja, jetzt weißt du es ja.“ Stelle ich sarkastisch fest, er hält mich immer noch am Arm.
„Kannst du mich jetzt endlich loslassen?“ Er schaut (dummerweise) verwirrt auf seine Hand, die meinen Ellbogen festhält.
„Wenn du nicht weg rennst...“ Ich reiß mich los und dann sehen wir uns einen Moment an.
Dieser Typ verflucht bestimmt auch das Schicksal, das er Babysitter für mich spielen muss, für eine hysterische Heulsuse.
Denn schon wieder rollen mir Tränen die Wangen hinunter.
Er kommt einen Schritt auf mich zu und hebt seine Hand zu meinem Gesicht. Vorsichtig wischt er meine Tränen weg.
Einfach so.
Ich versuche nicht so entsetzt zu gucken, aber mein Herz klopft in der nächsten Sekunde viel zu schnell! Und der Blick in seine dunkelblauen Augen, die viel zu nah bei mir sind, verursacht noch eine Steigerung, des ohnehin schon zu schnellen Tempos, meiner Herzfrequenz.
Dodomm, dodomm...
Endlich schaue ich weg, drehe mich um und gehe.
Er folgt mir.
Den ganzen Weg, bis nach Hause verfolgt mich dieses Bild. Wir er mich anschaut, mit den fast schwarzen Augen...
Sein Blick war irgendwie... voller Gefühl…mitfühlend.
Pa´s Auto steht vor der Tür.
Ich stürme ins Haus und entdecke meinen Vater ahnungslos mit meiner Mutter am Tisch sitzen.
„Pa! Wie konntest du nur? Warum hast du mir nicht die Wahrheit gesagt? Das mit Marvin?“ Eben grade schien er noch entspannt und guter Dinge, doch jetzt sehe ich ganz deutlich wie seine Miene Ärger ausdrückt.
Es nervt ihn, glaub ich.
Aber was kann ich denn dafür? Mal ganz ehrlich, meine Schuld ist das am allerwenigsten!
„Tut mir leid, wir wollten es dir erst nächste Woche sagen...“, meint er dann im geschäftlichen Ton.
„Aha.“, meine ich empört.
Was soll man denn dazu noch sagen? Mir fällt jedenfalls nichts mehr ein.
Ich drehe mich nicht um, ich weiß auch so, dass Marvin hinter mir steht. Schnell will ich in meinem Zimmer verschwinden.
Im Grunde habe ich mit einem schlechten Gewissen bei Paps gerechnet, oder wenigstens mit Mitgefühl. Oder von Ma.
Das Wort, Bodyguard ist nicht gefallen, wusste Ma eigentlich von dem Ganzen, oder nicht?
Wahrscheinlich stecken die alle unter einer Decke...
Ich fühl mich Einsam.
Mist!, denke ich noch kurz bevor ich die Tür zu meinem Zimmer aufreiße.
Geschockt bleibe ich in der Tür stehen.
Mein Zimmer gibt es nicht mehr. Vor mir befindet sich nur noch ein fast leerer Raum mit einigen Umzugskartons.
Wütend trete ich gegen einen dieser Kartons und fang wieder an zu heulen.
„Das können die doch nicht machen!“ Flüster ich. Sogar die Gardinen sind schon abgenommen worden.
Toll das man mich gefragt hat!
War deren Entschuldigung etwa auch wieder dieselbe, nämlich: „Wir wussten nicht wie du reagieren würdest”?
Wie hirnrissig ist das? Wie gemein, wie gefühllos, wie kaltherzig, wie...scheiße!?
Eine melancholische Stimmung überfällt mich. Die weißen Wände des Zimmers werden grau. Das Licht flackert dunkel durch die kahlen Fenster.
Ich stehe hier, wo früher mein Bett gestanden hatte. Und alles ist so leer.
Ich werde wohl nie mehr so leben wie vorher.
Ich sinke auf den Boden und starre vor mich hin.
Meine Hände sind nass, weil meine Tränen immer noch fließen. Ich starre auf meine Hände, mit den perfekt manikürten Nägeln.
Ja ja, Geld macht nicht glücklich!
Aber es erfüllt Wünsche.
Auch wenn es nicht meine Wünsche sind.
Aber ich bin ja auch nicht glücklich.
Ich hole tief Luft.
Das ist alles gar nicht so schlimm, rede ich mir ein, es gibt doch eigentlich nur ein einziges Problem:
Den Prinzen.
Könnte ihn doch bitte jemand für mich ungeboren machen? Dann müsste ich ihn nämlich auch nicht heiraten!
Oh Gott, heiraten! Einen Prinzen! Einen Unbekannten!
Schnell stehe ich auf, laufe zur Toilette und schließe ab bevor ich mich übergebe.
An die Tür gelehnt hole ich tief Luft.
Alles wird gut, das ist alles nicht so schlimm!
Von wegen „nicht so schlimm”! Es IST schlimm! Ich meine gibt es etwas Schlimmeres?
Also gut, mir fallen schon einige Dinge ein. Zum Beispiel Krieg, Atombomben und so weiter.
Aber das ist alles weit weg! So etwas passiert nicht in meinem Leben.
Unvorstellbar!
...
Unvorstellbar, war es früher auch für mich, von einer Verlobung zu sprechen.
Unvorstellbar ist es für mich an die Heirat zu denken.
Ich meine: HEIRAT! Hallo!? Ich bin erst 17! Und außerdem habe ich doch bisher noch so gar nicht an einen eventuellen Freund gedacht, geschweige denn an einen MANN! Einen EHEMANN!
Oh Gott, mir wird wieder übel. An etwas anderes denken, ganz schnell!!
Kleine flauschige Kätzchen, rosarote Wolken, fluffige Eulen, ein riesiger Eisbecher.... noch mehr Kätzchen?
Das hilft überhaupt nicht! Als Chana mir einmal erzählt hat, das es in schlimmen Momenten hilft an etwas Schönes zu denken, hat sie wohl gelogen!
Oder es hilft nur bei mir nicht...
Gerade überlege ich weiter, warum es wohl bei mir nicht hilft, als ich bemerke, dass es hilft! Ich meine ich habe gerade einige Zeit nicht mehr über mein Problem nachgedacht!
Mein Problem....
...jetzt ist es wieder da.
Plötzlich klopft es an die Badezimmertür.
Erschrocken stehe ich auf.
„Ja?“, frage ich erschrocken.
Warum eigentlich erschrocken? Ich meine, das ist doch mein Badezimmer, ich habe jedes Recht hier drinnen zu sitzen und depressiv zu sein!
„Lyonne?“, höre ich meine Mutter fragen. „Alles okay? Darf ich rein kommen?“
Soll ich überhaupt antworten? Ich meine, mit mir redet hier ja auch niemand...
Ich lass Ma herein und sie setzt sich auf den Badewannenrand. Ich lehne mich wieder gegen die Tür.
„Es tut mir Leid Lyonne. Eigentlich wollten wir das ganze langsamer angehen.“ Sie schaut mich an.
Mehr nicht.
Und schon bin ich ihr gar nicht mehr so böse.
Sie ist schließlich meine Ma.
„Weißt du,“, fährt sie fort „Pa´s Sekretär hat das Ganze zu früh geplant. Mit dem Umzug.“
Ma schaut mich wieder an, lächelnd, eine Braue leicht nach oben gezogen.
„Wir ziehen doch nur um. Freust du dich nicht, dass wir dann wieder alle zusammen wohnen? Mit deinem Vater?“
Natürlich freue ich mich, aber trotzdem...
„Doch, schon.“ Ich schaue auf die Fliesen auf den Boden. Und ich erinnere mich plötzlich daran, wie oft mich Ma immer erinnern musste, bis ich das Bad geputzt habe. Im Nachhinein war das doch nicht schlimm. Jetzt frage ich mich warum ich das als Last empfand. Jetzt würde ich gerne jeden Tag die ganze Wohnung putzen, wenn ich dafür mein altes Leben behalten dürfte. So etwas geht aber nicht, das ist jetzt alles vorbei.
Ich seufze tief.
„Das geht dir alles zu schnell, nicht wahr? Lyonne, ich verspreche dir jetzt was.“ Ich blicke hoch zu ihr.
„Wenn du den Prinzen kennengelernt hast, und ihn nach einem Jahr immer noch nicht leiden kannst, lösen wir die Verlobung.“
Ich blicke sie erstaunt an.
Das geht jetzt plötzlich so einfach?
„Im Ernst? Das geht?“
Leise macht sich etwas Hoffnung in mir breit. Ich müsste also nur ein Jahr aushalten und dann wäre alles vorbei und ich könnte wie vorher weiterleben?
Ein ganzes Jahr...
„Abgemacht?“, fragt mich Ma und reicht mir ihre Hand.
Ich schlage ein.

Wir wollen noch etwas essen und dann losfahren. Meine Eltern haben mit Absprache von Marvin beschlossen, etwas Chinesisches zu bestellen. Ich habe mehrmals erklärt, dass ich keinen Hunger habe und deshalb nichts haben möchte. Das ließ meine Eltern jedoch völlig kalt und sie haben trotzdem etwas für mich mitbestellt.
„Iss doch was, Lyonne, ja?“ Ma reicht mir etwas leckeres Chinesisches. Aber im Moment verfluche ich den starken Geruch.
„Ne, ich habe wirklich keinen Hunger.“ Nach meiner Würgattacke von vorhin kann ich jetzt echt nichts essen...
„Du bist aber nicht krank? Willst du was anderes? Du hast aber heute schon etwas gegessen?“ Nein.
„Ich hab was gegessen, ich will jetzt wirklich nichts!“ Sie schaut mir in die Augen.
Ich schaue weg, seufze und achte darauf nicht in die Richtung von Marvin zu sehen. Doch aus den Augenwinkeln bemerke ich seinen Blick.
Nur weil er jetzt anscheinend so etwas wie mein Bodyguard, ist das kein Grund mich anzustarren!
Und Pa ignoriere ich auch. Denn auf ihn bin ich immer noch wütend.
Schließlich stehe ich auf und sage Bescheid, dass ich im Wagen warten werde.
Draußen drehe ich mich um und betrachte die Haushälfte, in der ich aufgewachsen bin ein letztes Mal. Ich habe die letzten... vier, sechs, NEUN (!) Jahre dort gewohnt.
Ich meine, das ist eine lange Zeit, so viele Erinnerungen... Der blaue Briefkasten neben der Tür, in dem unser Ersatzschlüssel immer lag. Das kaputte Türchen, von dem ein bisschen die blaue Farbe abblättert und die rote darunter zum Vorschein kommt.
Ich schaue mir die Haustür an, davor der alte Vorleger.
Das „Willkommen” darauf ist kaum noch zu lesen...
Die Fenster schaue ich mir nicht an. Denn da fehlen zum Teil schon die Gardinen. Wie trostlos, daran will ich mich nicht erinnern.
Schließlich wende ich mich ab und sehe die Straße hinunter. Links geht’s zu der kleinen Einkaufsmeile. Rechts zur Bushaltestelle...also zur Schule...
Versunken in Erinnerungen und traurig über den Abschied, setze ich mich auf einen Steinsockel des Zauns.
Nach wenigen Minuten höre ich wie die Tür aufgeht.
Ich vermute mal die anderen kommen, um los zu fahren. Zu unserem neuem Haus...
Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter und als ich hochgucke um zu sehen wer da ist, sehe ich Marvin, der sich auch prompt neben mich setzt.
„Ist dir übel?“ Verblüfft sehe ich hoch zu ihm. Jetzt nimmt er seine Hand weg.
„Was? Warum?“, frage ich nur.
„Weil du so schlecht aussiehst.“ Bevor ich überhaupt die Unhöflichkeit seiner Aussage bemerke korrigiert er sich verlegen.
„Äh, tut mir leid, so war das nicht gemeint! Du siehst nicht schlecht aus, ich meine nur, weil du so blass bist... und auch vorhin nichts essen wolltest...“, nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Du siehst nicht schlecht aus, du bist wirklich hübsch.“
Was? WAS? Das hat er nicht gesagt! Meint er das ernst? Was redet er denn da?
Er sieht mich ehrlich an, also wars nicht ironisch oder sarkastisch gemeint?
W-was tu ich denn jetzt? Was mache ich jetzt?
Ich presse meine Handflächen auf meine Oberschenkel und starre auf den Boden. Dabei spüre ich den Blick von Marvin.
„Ähm, danke.“
Plötzlich lacht er leise.
Oh Gott! Er hat nur ein Scherz gemacht und lacht mich jetzt aus!
Ich spüre wie mir das Blut ins Gesicht steigt und will schon aufspringen und weglaufen.
„Macht dich das Kompliment wirklich so verlegen?“
Jetzt schaue ich doch zu ihm hoch.
Nein, er hat mich nicht ausgelacht, dann würde er jetzt nicht so lieb lächeln.
Ich versuche mich zu rechtfertigen.
„Also,.... ich höre so etwas nicht so oft... und deshalb ist das...“, ich weiß nicht mehr was ich sagen wollte und höre deshalb einfach auf zu reden.
Er sieht mich nur an.
Ich will hier weg!
Um nicht einfach nur so dazusitzen, ordne ich erst meine Haare, und als wir dann immer noch nichts sagen, die Falten meines Rocks.
Warum sagt er denn nichts?
Vielleicht sollte ich einfach gehen und mich schon mal ins Auto setzen?
„Wirklich nicht?“
Seine Frage verwirrt mich zunächst.
Wirklich was nicht?
Ach so! Die Frage bezog sich auf meinen Krüppelsatz von eben!
„Die meisten sind halt nicht so nett wie du gerade.“
Vielleicht hat er das ja auch nur gesagt, um sein Faux pas von davor wieder gutzumachen. Oder aus Mitleid.
Bei dem Gedanken wird mir noch unwohler.
„Wieso nett? Es ist doch die Wahrheit.“
Verdutzt mustere ich ihn. Aber er scheint das ernst zu meinen.
Er muss mich doch sehen! Ich meine, ich weiß doch wie ich aussehe. Und ich sehe bestimmt nicht „wirklich hübsch” aus.
„Ich weiß dass ich eher unterer Durchschnitt bin, du kannst also aufhören so nett zu tun, ich kenn dein wahres Gesicht doch schon!“, sage ich und lache. Es hört sich nur irgendwie unecht an. Das bemerke ich sogar selbst.
Anstatt mitzulachen und damit die Situation zu entspannen, runzelt er die Stirn.
Und sieht mich weiter an.
Kann er nicht endlich damit aufhören? Mit diesem Ausdruck im Gesicht, mit diesem Blick, mit diesen Augen?
„Glaubst du das wirklich?“, fragt er mich irgendwie ungläubig.
Ich pack´s nicht mehr!
Schnell springe ich herunter vom Zaun. Dann setze ich mich halt doch schon einmal in den Wagen.
„Was gibt es da zu glauben? Ich sehe mich doch jeden Tag im Spiegel...“, sage ich noch bevor ich mich umdrehe. Und die Blicke der anderen wenn sie mich streifen.
Ich öffne die Tür, setze mich hinein und will gerade die Tür zumachen. Doch da höre ich Marvin meinen Namen rufen.
„Du siehst aber wirklich hübsch aus!“
Die Tür fällt zu und ich bleibe erstarrt auf meinem Sitz sitzen.
Das hat er jetzt nicht wirklich gerufen?! Das hat doch bestimmt unser Fahrer gehört! Und waren das nicht meine Eltern, da an der Haustür? Und wer weiß wer hier noch alles plötzlich in Hörweite war?
Oh Gott, ist das peinlich!
Warum macht er so etwas?

Es heißt Tachycardie!

Unterwegs schließe ich die Augen um allen unangenehmen Fragen und Gesprächen zu entgehen. Die Fahrt dauert über eine Stunde, wir befinden uns jetzt schon fast außerhalb der Stadt. Und dann sind wir da. Ich werfe einen langen Blick auf unser neues Haus. Aber unser neues Haus, ist eigentlich kein Haus. Es ist eher eine Villa. Auf Nachfrage erzählt mir mein Vater, dass es 15 Zimmer gibt. Fünfzehn! Hallo? Wofür?

Wir laufen durch den hübschen Garten auf einem gelben Steinweg. Vor den wenigen Stufen die zu einer Art Empore führen, wo sich die Tür befindet bleibe ich einen Moment stehen. Es ist eine große weiße Tür, die hübsch verziert ist und mit einem Glaskern in der Mitte.

Wir betreten das Haus. Pa und Ma als erstes, dann ich und nach mir Marvin. Wir befinden uns in einer Art Flurhalle, rechts und links führt eine hübsche Treppe nach oben. Das zweite Stockwerk sieht von hier aus wie eine Terrasse. Kurz freue ich mich, aber dann erscheint mir plötzlich alles so furchtbar sinnlos. In einem Anflug von Selbstmitleid seufze ich tief und komme mir wie das, am unfairsten behandelte Mädchen der Welt vor. Selbstverständlich weiß ich, dass es nicht so ist. Es gibt hundertmal schlimmere Sachen. Ich muss nur an die Dritte Welt Länder denken... schon geht es mir noch schlechter. Weil ich mir ziemlich egoistisch und verwöhnt vorkomme. Ein Straßenmädchen aus Afrika würde schreien vor Freude, wenn es mit mir tauschen könnte. Würde ich mit ihm tauschen wollen? Ich verdränge den Gedanken und ein anderer macht sich Platz: dass ich es trotz allem nicht verdient habe, dieses Schicksal. Schicksal, was soll das sein? Gibt es das wirklich, oder ist es nur eine Erfindung, um die Gegenwart einfacher zu ertragen? Ich glaube eigentlich nicht daran, dass alles vorgeschrieben ist, dass man „nur” leben muss. Dass es einen bestimmten Weg gibt, unausweichlich eine bestimmte Bahn, ohne dass man selbst entscheiden kann. Aber darum geht es doch, oder? Um die Selbstbestimmung. Es geht darum Entscheidungen zu treffen. Ganz allein, auch wenn es manchmal allzu schwer fällt. Und wenn Jemand anders für dich Entscheidungen trifft, dann hört es doch auf dein Leben zu sein und wäre sinnlos. Oder?

Die Fensterscheibe ist kalt. Meine Handfläche, die auf der Scheibe liegt auch. Draußen geht gerade die Sonne unter und mir ist so, als ob auch in meinem Leben etwas verschwinden würde. Aber endgültig und ohne Wiederkehr, nicht so wie die Sonne, die morgen wieder aufgehen wird. Irgendwie beneide ich sie. Ich drehe mich um. Mein neues Zimmer ist so groß wie unser altes Wohnzimmer. Ich fühle mich hier alleine richtig verloren. An meinem Zimmer grenzt ein eigenes Bad. Alles ist wunderschön. So wie man sich ein Traumhaus vorstellt. Leider berührt mich das alles heute Abend nicht. Nicht mal das große Himmelbett. Nicht mal der flauschige Teppich. Und außerdem ist das gesamte Zimmer rosa. Ich meine Rosa!? Ma weiß doch, dass Rosa nicht meine Farbe ist. Dass ich nicht so mädchenhaft bin. Rosa Gardinen, rosa Teppich, rosa Bettwäsche, rosa Tischdecke. Plötzlich werde ich richtig wütend auf die Person, die das ausgesucht hat. „Ich hasse das Zimmer!“, sage ich und laufe hinaus. Ich fühle mich wie in einem Hotel, oder einem schönen Gefängnis. Ich kenne das Haus gar nicht und das macht mir Angst. Es ist doch unser Haus. Aber ich habe keine Beziehung dazu. Ich fühle mich nicht wohl. Ich fühle mich nicht zuhause.

22 Uhr 37 und 20 Sekunden, 21, 22, 23.... Links, rechts, links, rechts. Mein Kopf schwingt im Takt des Pendels der Standuhr. „Lyonne? Was machst du da?“, meine Mutter unterbricht meine Beziehung zur Uhr und so endet die monotone Litanei der Zeitmessung. „Ich pendel.“ Klack, klack, die Schuhe meiner Mutter auf dem Holzboden. „Bist du nicht müde? Geh am besten schlafen. Und morgen sehen wir uns zusammen das Haus an, ja?“ Ja, ja, ja. Der Stoff meines Rockes raschelt als ich aufstehe. „Okay.“, sage ich und lächle sogar.

Mein Zimmer befindet sich im ersten Stock, links. In dem kleinen Flur, der zu einer Dachterrasse führt befinden sich außer meiner Zimmertür noch drei andere. Ich will sie öffnen um zu sehen, was sich dahinter befindet. Hinter der ersten Tür befindet sich eine Art Warteraum. Zumindest wirkt er so auf mich. Alles ziemlich hell eingerichtet, mit zwei Sofas und kleinen Tischen davor. An den Fenstern stehen Blumentöpfe mit lila Blumen. Und an der Wand stehen zwei Bücherregale. Vielleicht eine Art Wohnzimmer. Das nächste wirkt eher wie ein Schlafzimmer. Ein Bett, ein Tisch, Schränke... Es wirkt auch irgendwie bewohnt. Auf dem Bett liegen eine Hose und noch etwas, was ich nicht erkennen kann. Aber meine Eltern haben ihr Schlafzimmer auf der anderen Seite des Hauses. Dieses Zimmer scheint wohl auch ein eigenes Bad zu haben. Und irgendjemand scheint dort drin zu sein. Geräusche von fließendem Wasser... MARVIN! Das ist sein Zimmer!!! Das Geräusch verstummt und die Türklinke wird nach unten gedrückt. Wenn seine Klamotten hier auf dem Bett liegen, was hat er dann an? Bevor ich das auf eine peinliche Art und Weise erfahren könnte, drehe ich mich um und reiße die Tür des Zimmers auf um hinauszustürzen. Leider wortwörtlich. Ich Trampel stolpere vor Schreck bei der Vorstellung über meine eigenen Füße. Ich höre wie Jemand schnell zur Tür kommt. Verdammt! Schnell rapple ich mich auf, doch nicht schnell genug.

„Lyonne? Alles klar? Bist du hingefallen?“, ich höre an seiner Stimme, dass er die Situation nicht so richtig einordnen kann. Ich drehe mich nicht um und winke ab. „Ja- Nein! Geht schon. Hab mich in der Tür geirrt!“ Schleunigst mache ich mich auf den Weg zu meinem Zimmer, das, wie ich feststellen muss, genau gegenüber von Marvins liegt. Was genau haben sich meine Eltern dabei gedacht!? Einen kurzen Moment denke ich mit einigem Entsetzen darüber nach, dann jedoch holt mich Marvin wieder in die peinliche Gegenwart zurück.

„In der Tür geirrt? Oder doch neugierig? „ Erstarrt bleibe ich stehen und drehe mich dann aufgebracht um, um ihm zu erzählen dass ich ja wohl jedes Recht habe mich in der Tür zu irren, immerhin wohne ich hier! Doch das umdrehen erweist sich als folgenschwerer Fehler. Denn als ich Marvin sehe, wie er da in seinem halboffenen Morgenmantel am Türrahmen lehnt, versagt meine Stimme für einige Sekunden jämmerlich. Dann endlich: „Ich... habe mich in der Tür geirrt. „, mehr bringe ich nicht heraus. Danach verschwinde ich in meinem Zimmer und lehne mich an die Tür um kurz Luft zu holen, was auch echt notwendig ist. Mir blieb gerade buchstäblich die Luft weg! Unglaublich! Was ist los mit mir? Ah! Das ist alles seine Schuld! Vielleicht macht er das extra, um mich zu verwirren...? Ehrlich das verwirrt mich total!

 

„Aufgewacht!“ Sofort schlage ich die Augen auf. „Aufwachen Süße!“ Ich starre meinen Pa mit weit aufgerissenen Augen an. Dann setze ich mich auf. „Ich bin wach, ich bin wach.....“, sage ich und stehe auf, bevor ich mich doch nochmal zurücksinken lasse. Pa verlässt Kopfschüttelnd mein Zimmer.

 

Wir sitzen zu viert am Frühstückstisch und frühstücken. Ich esse nur eine Birne. Ich muss schließlich vorsichtig sein, nicht das ich mich wieder übergeben muss. „Lyonne?“ Ich drehe mich zu Ma um. „Warum isst du nichts?“

Essen? Ich esse doch meine Birne!? Ich fange an zu lachen. „Was ist denn so komisch?“ Fragt Pa. Ich stehe schnell auf. „Ach...gar nichts! Ich geh schon mal los!“ Ha ha! Ich esse meine Birne... Lachend versuche ich die Tür auf zumachen, komischer weise geht sie von alleine auf. Ach nein, er hat sie auf gemacht, stimmt ja, er geht ja auch in meine Klasse. Ich schaue einfach an Marvin vorbei und laufe schnell hinaus. Die Treppen hinunter und über den gelben Steinweg bis zum Auto.“Ganz schön warm für April.“, meint er plötzlich. „Hm.“ Ich schaue aus dem Fenster. Wie alt ist Marvin eigentlich? „Wie alt bist du?“ Er dreht sich überrascht zu mir um. „18, aber das hast du mich schon mal gefragt.“ Nein! Wie peinlich, jetzt denkt er dass ich mich total für ihn interessiere! Oh! Er ist genauso alt wie Fye. Ob sie sich sonst irgendwie ähnlich sind? Vielleicht sieht Fye ja auch so gut aus? Marvin hat dunkelblaue Augen. Welche Augenfarbe hat Fye? Ich will Pa nicht fragen, er soll nicht denken dass ich mich für ihn interessiere.

Ich erinnere mich plötzlich wieder an gestern Abend. Nein! Das ist mir so peinlich! Fast automatisch wandert mein Blick von seinem Gesicht zu seinem Oberkörper. An dem war ja nichts zu beanstanden...

„Sag mal, was guckst du mich grad so an?“ Ich atme scharf ein. Du meine Güte! Ich starre ihn die ganze Zeit an! Wie lange schon? Was ist los mit mir? „H-hab ich gar nicht!“, sage ich und denke gleichzeitig wie dumm es sich anhört. „Hast du nicht?“, fragt er dann auch und findet das irgendwie auch noch lustig. „.Nein!.. Ich war in Gedanken.“

Es hat glaube ich niemand aus meiner Schule mitbekommen, dass Marvin und ich aus dem gleichen Auto gestiegen sind. Und wenn, hätten wir ja auch eine Fahrgemeinschaft gebildet haben können. So etwas macht man doch, oder?

Ich suche in der Schule nach Chana. Marvin folgt mir wie ein Hündchen. Ich muss schon wieder lachen. Marvin geht kurz etwas schneller um neben mir zu gehen. „Warum lachst du eigentlich schon den ganzen Morgen?“ Ich muss mich zusammen reißen. Nicht an Birnen denken. Auch nicht an Marvin als Hund. Nein nein nein! „Ach, ich muss nur an.... Witze denken.“ Ich sehe in die andere Richtung. „Erzähl mal.“ „Nein nein! Das ist ein Insider, den würdest du nicht verstehen.... Ah! Da ist sie ja!“ Sage ich erleichtert und gehe zu Chana. Ihr Leibwächter  heute zwei Meter weiter auffällig an der Wand. Ihrer ist schon voll alt. Da habe ich mit meinem ja Glück gehabt...irgendwie. „Na?“ Chana hat heute auch einen Rock an. Mit unseren Bodyguards im Schlepptau gehen wir zum Unterrichtsraum „Kann ich heute zu dir?“ Fragt sie mich und setzt sich gleichzeitig auf ihren Platz. „Ja, gleich nach der Schule?“ Frage ich sie und beobachte wie die anderen in den Raum strömen. Ich sehe Annika gar nicht. Ah! Da kommt sie. „Ja, ich freu mich!“ Ich sehe wie Annika zu Marvin geht. Was will sie von ihm? Ich beobachte sie. „Lyonne? Hast du mir zugehört?“ Ich nicke abwesend und bedeute ihr mit einer Kopfbewegung ruhig zu sein und gleichzeitig in die Richtung zu sehen. „Oh.“ macht sie und guckt ebenfalls interessiert zu den beiden. Annika tut niedlich und lacht verhalten. Marvin hört ihr aufmerksam zu, dann schüttelt er den Kopf und setzt sich hin. Sie stützt sich auf seine Tischplatte und redet auf ihn ein, sie sieht verärgert aus. Ich will zu gerne wissen um was es geht. Vielleicht um ein Date? Dann sagt er was und sieht kurz zu mir! Sie folgt seinem Blick und atmet wütend ein, dann setzt sie sich auf ihren Platz. Was war das denn? Haben die grade über mich geredet? Ich drehe mich fragend zu Chana um. Sie zuckt auch die Achseln, beugt sich dann aber zu mir rüber und fügt hinzu: „Genau wie in einem Manga!“ Ha ha ha – ha!

In der Pause sitzen wir (Chana ich und gezwungenermaßen unsere Guardians) in der Kantine. Sie weiß ja nicht wer Marvin ist, bestimmt wundert sie sich warum er immer bei uns ist. Bei mir ist. Hoffentlich denkt sie nicht an blöde Sachen. „Sag mal, Lyonne, was macht Marvin eigentlich die ganze Zeit hier? Hab ich hier irgendwas verpasst? Ich meine, nicht das es mich irgendwie stört.... es irritiert mich eher.“ Ja... äh, was soll ich denn jetzt sagen? „Das ist... weil... Mein Vater kennt seine Familie. Deswegen wollen meine Eltern das wir uns anfreunden.“ Sie guckt mich schief an. „Deswegen klebt der an dir wie ein Kaugummi?“ Schlechtes Beispiel! Mensch Chana! „Nein! Das ist... wegen... weil er von weit her gereist ist und sich hier nicht auskennt! Ich soll ihm helfen!“ Wow, das ist ja echt mal eine tolle Ausrede! „Und... warum redest du dann nicht mit ihm?“ Oh! „Du fragst mich ja total aus! Und ich will schließlich mit dir reden.“ Ho ho, Schleimattacke! „Okay, ist zwar ein bisschen fies.“ Der kann das ab!, denke ich und trinke aus meiner Wasserflasche. Ich schiele zu Marvin rüber. Er beobachtet mich. Mann! Total offensichtlich!

„Wow!“ Sagt Chana als sie vor unserem neuem Haus steht. Sie hat mir glaube ich geglaubt, das Marvin ein Freund der Familie ist und deshalb hier wohnt. Ich fühle mich ja auch nicht so gut sie anzulügen, aber was bleibt mir anderes übrig? „Das ist echt heftig!“ Ich zeige ihr den Garten, den ich bis dahin selbst noch nicht ganz gesehen habe. Marvin ist inzwischen rein gegangen. Der Bodyguard von meiner Freundin folgt uns auch nicht mehr, nachdem er die ganzen Sicherheitsvorkehrungen an unserem überhohen Gartenzaun inspiziert hat. Er scheint wohl zufrieden zu sein. „Und wie sieht dein Zimmer aus?“ „Ganz normal eigentlich.“ Sie findet mein Bett toll. „Oh, so eins will ich auch! Das sieht ja so toll aus! Richtig riesig! Ein Himmelbett!“ Ich mache die Tür zu meinem Balkon auf. „Ich habe sogar einen Balkon, gucke!“ Wir sehen auf den Garten hinunter. „Und warum seid ihr noch mal umgezogen?“ „Weil Pa und Ma wieder geheiratet haben. Jetzt sind wir wieder eine richtige Familie.“ Sage ich lakonisch. Ich kann nichts dafür, immerhin bin ich mit Jemanden verlobt, den ich nicht kenne und natürlich auch nicht kennen lernen will. Chana geht wieder rein und setzt sich auf meine Couch. „Okay, erzähl! Dein Verlobter und so.“ Ugh! „Was soll ich denn erzählen? Ich weiß ja selber nichts.“ Sie verdreht über so viel Unwissenheit die Augen. „Zum Beispiel wie er aussieht. Inzwischen musst du ja wohl wissen wie er aussieht.“ Ne. „Tut mir leid. Keine Ahnung. Und weißt du, ich habe auch nicht vor ihn zu ehelichen.“ Sie muss über das Wort lachen. Ich lache mit. „Aber dir bleibt doch nichts anderes übrig?“ „Doch vielleicht...“ Ich denke an Ma´s Versprechen. Ein Jahr... „Und jetzt erzähl du mal! Du weißt doch jede Menge über deinen Verlobten! Warum hast du mir das eigentlich nicht schon früher erzählt?“ Chana fängt an zu erzählen. Sie weiß ziemlich viel über diesen Jungen. „Ich hole uns was zu trinken!“, unterbreche ich ihren Redefluss, als ich nicht mehr zuhören kann. Schnell laufe ich die Treppe runter. In der Küche lasse ich mich erschöpft auf einen Stuhl fallen. Ich wusste gar nicht, dass man vom Zuhören so müde werden kann. Ma kommt in die Küche. „Ah, da bist du ja!“ Na toll, was kommt jetzt? „Heute Abend fahren wir mit deiner Tante und deinem Vater zu einer Veranstaltung. Um Sechs Uhr kommt deine Tante um dich fertig zu machen. Bis dahin muss Chana leider wieder nach Hause. Wir können sie aber auch bringen.“ Ich gucke sie total verstimmt an. „Was´n das für ´ne Veranstaltung?“ Ich mache inzwischen die Getränke fertig. „Ach, so eine Jubiläumsfeier.“ Toll und ich bin jetzt schon so müde. „Ich bin aber so fertig heute.“ Sage ich müde und gähne demonstrativ. Sie hat sich aber schon umgedreht und geht aus der Küche. Wieder in meinem Zimmer werfe ich einen Blick auf die Uhr. Halb Fünf. „Hey, Chana! Du muss leider um sechs Uhr schon wieder gehen. Heute Abend ist irgend so ein Fest wo wir hin gehen. Sollen wir dich dann rüber fahren?“ Sie nimmt einen Schluck und nickt. „Das wäre cool.“

 

Vor dem Spiegel drehe ich mich einmal langsam. Das Abendkleid ist eng anliegend, erst ab den Knien fällt es in seidigen lockeren Stufen bis zum Boden. Der Rest besteht aus dunkelblauen Samt. Der Ausschnitt ist etwas zu weit und mit Spitze besetzt. Im Nacken ist das Kleid verschließbar und darüber trage ich noch einen kurzen Blazer.

„Wie eine echte Prinzessin”, höre ich Marvin sagen. Ich strecke meinem Spiegelbild die Zunge heraus und gehe weg, damit er nicht sieht wie ich rot werde.

Das ist auf Dauer bestimmt nicht gesund. Ich meine, wenn man so oft rot wird. Es ist ja nichts anderes, als dass man zu viel Blut in den Arterien hat, die im Gesicht liegen, deshalb färbt sich das Gesicht dann rot, oder? Ich meine das kann doch nicht gesund sein... Oder wäre das dann doch ein positiver Effekt? Ich meine, immerhin wird da dann alles Mal ordentlich durchblutet. Und eine gute Durchblutung ist wichtig, erst recht im Gehirn. Heißt das, dass die erhöhte Durchblutung im Hirn, also das häufige Rotwerden seinetwegen, eine Leistungssteigerung mit sich führen würde?

Oh Gott!

Über was mache ich mir hier eigentlich Gedanken?

Als wir alle aus dem Haus gehen sehe ich mir jeden einzeln noch mal an. Ma trägt ein Grünes Kleid und die Haare hochgesteckt. Außerdem noch ein weißes Tuch was sie über die Schultern trägt. Pa trägt einen einfachen blauen Anzug. Meine Tante ein lila Kostüm mit Seideneinsätzen, was sehr teuer aussieht. Marvin hat lediglich einen schwarzen stinknormalen Anzug an. Das ändert allerdings nichts daran dass es super cool an ihm aussieht...Ich setze mich zu ihm nach hinten.

Plötzlich fällt mir etwas ein! „Moment mal, welcher Tag ist heute?” frage ich alarmiert.

„Donnerstag”, aber wenn heute Donnerstag ist, ist morgen Freitag. Das heißt, dass ich heute nicht rechtzeitig ins Bett gehen kann und morgen unausgeschlafen zur Schule muss? Früh aufstehen? Hallo, mal im Ernst, ich bin jetzt schon total müde, dabei ist es erst zwanzig Uhr...

„Warum?”, fragt Marvin neugierig. „Weil morgen Freitag ist”, antworte ich ausweichend und ernte dafür einen jener Blicke von ihm. „Ähm, was ist das eigentlich für ´ne ... Veranstaltung?”, erwartungsvoll schaue ich ihn an

„Hast du von dem Jubiläum der Falkenburg gehört? Das ist die Veranstaltung.” Ich stutze. Die Falkenburg? Das Wahrzeichen der Stadt? Klar habe ich davon gehört, jedoch, natürlich nicht damit gerechnet, dass ich an der Feier teilnehmen werde. Dort werden nur übelste reiche, prominente oder adlige Leute sein! Im Fernsehen haben sie schon vor einiger Zeit davon berichtet und es angekündigt. Es wurde darüber spekuliert ob Mitglieder der Königsfamilie anwesend sein werden, und wer nich noch alles... Moment!!! Königsfamilie!? Fye?!

„Du, Marvin, meinst du der König oder so wird da sein?”, er blinzelt kurz. „Du fragst wegen deinem Verlobten?”, meint er und sieht mich erwartungsvoll an.

„Sag das nicht, das habe ich überhaupt nicht gemeint!” Vielleicht war ich etwas zu heftig, denn jetzt schaut er aus dem Fenster und sieht von der Seite fast etwas traurig aus. Ich räuspere mich. „Ja... ähm, doch vielleicht meinte ich ihn... also, was meinst du?”, gebe ich in versöhnlichen Ton zu und lege in einem Anflug von Nettigkeit meine Hand auf seine Schulter. Jetzt dreht sich Marvin wieder um, sieht kurz auf meine Hand, die ich schnell wieder wegnehme, und anschließend zu mir.

„Vielleicht”, sagt er dann mit einem Lächeln.

 

Als wir schließlich ankommen sind, bin ich ziemlich aufgeregt. Immerhin war ich noch nie auf so einer Feier. Was ist wenn ich mich blamiere? Ich weiß ja gar nicht, was genau ich da so zu tun habe. Und wenn mich Jemand fragt wer ich bin? `Hallo, ich bin übrigens die Verlobte von Fye, dem Prinzen, freut mich auch sie kennenzulernen.` Oh nee! Das darf nicht passieren! Und noch schlimmer: Was ist wenn mein Fye wirklich da ist? Was mache ich dann????

Ich sehe aus dem Fenster als unser PKW parkt. Den Eingang erkenne ich kaum wieder. Von Schulausflügen kenne ich die Falkenburg als zwar ehrfurchtsvollen und irgendwie schönen Ort, aber auch als ein eher ruhiges, fast tristes Gebäude.

Heute Abend ist davon jedoch nichts zu sehen. Ein roter (!) Teppich führt die wenigen Stufen hinauf zum Eingang. Ich sehe zu wie meine Eltern gerade dort entlanggehen und ständig fotografiert werde, von den vielen Journalisten die an beiden Seiten hinter einer Sperrung stehen.

Erschrocken starre ich aus dem getönten Fenster. „Fotos!?” Was mache ich jetzt? Nachher bin ich noch in der Zeitung und dann ist es aus mit der Schule, dann wird nämlich jeder wissen wollen warum ich bei diesem Jubiläum war und dann kommt meine Verlobung raus und dann ist alles vorbei!

„Fotos?” Marvin rutscht dicht zu mir heran um auch aus dem Fenster zu sehen. Dabei kommt er mir schon ziemlich nah. Und jetzt dreht er sich auch noch zu mir, sodass zwischen unseren Gesichtern nicht mehr als ein 15 cm Schullineal passen würde. Ich versuche ein bisschen nach hinten zu rücken, doch mein Kopf lehnt schon an der Lehne.

„Kein Problem, ich habe einen Plan”, dann lächelt er mich an und fängt an sich auszuziehen!

...na gut, er zieht blos seine Jacke aus.

„Moment! Was machst du da?”

„Ich werde dich schützen, ich bin doch schließlich dein Bodyguard” Nachdem er sein Jackett ausgezogen hat öffnet er die Tür und ehe ich protestieren kann stehen wir vor dem Auto. Marvin hält sein Jackett über unsere Köpfe, sodass man uns nicht erkennen kann und wir laufen bis zum Eingang. Dort zieht mein Bodyguard wieder seine Jacke an. Ich muss erst mal nach Luft schnappen nach diesem Spurt.

„Und, wie war ich?”, fragt er mich mit einem erwartungsvollen Gesichtsausdruck.

„...na ja...”, was will er denn jetzt hören?

„Du warst sehr kreativ?”, enttäuscht winkt er ab.

„Ich dachte, du würdest mir jetzt vor Dankbarkeit um den Hals fallen. Das wäre das Mindeste.”

„Das Mindeste!?”, frage ich fassungslos nach.

„Ja, wäre ich nicht so einfallsreich, könntest du morgen nicht mehr zur Schule gehen.”, damit geht er ein paar Schritte, dreht sich dann zu mir um und wartet kurz bis ich bei ihm bin. Gemeinsam gehen wir dann in die Halle.

Dann könnte ich nicht mehr zur Schule gehen? Aber eigentlich müsste das doch nicht so sein, oder? Ich meine, ich bin eben die Tochter von dem Leibwächter des Königs. Ist doch natürlich dass ich da zu so ´ner ollen Feier gehe... Na ja, wahrscheinlich würden die Journalisten irgendwie herausfinden, dass ich mit dem blöden Prinzen verlobt bin.

Und dann zur Schule gehen, und den Kommentaren der Mitschüler ausgesetzt sein? Oder noch schlimmer, Ziel irgendwelcher Anschläge zu werden... na gut, ich sollte nicht so übertreiben.

Aber wenn ich nicht mehr zur Schule könnte, würde ich dann Privat unterrichtet werden, oder wie?

 

Im Innern erwartet uns eine ganz andere Atmosphäre, fast wie eine Entschädigung, für das Gedrängel von eben. Dieser Teil des Gebäudes, ist uns geschmückt und vorbereitet. Ich versuche mir nicht ansehen zu lassen wie das alles auf mich wirkt. Meine Eltern haben auf uns gewartet und winken uns zu sich heran. Ein dicker Mann steht bei ihnen. Ich hole tief Luft und lächle.

Der Mann scheint kaum in seinen schwarzen Anzug zu passen, ich habe Angst dass gleich einer der silbernen Knöpfe mit einem >Peng< abreisst und irgendjemanden dabei verletzt!

„Wie schön, wie schön, das muss ihre Tochter sein”. Der Mann trinkt einen Schluck aus seinem Glas und betrachtet mich dabei mit seinen Schweinsäuglein.

„Meine Güte, mein lieber von Gorett, was für hübsche Frauen sie in ihrer Familie haben, wirklich beneidenswert!- Oh! Ist das dort hinten nicht die gute Therin? Entschuldige mich, ich muss sie unbedingt sprechen!”, damit verabschiedet sich der Dicke. Mein Vater nickt ihm nur, wie es mir scheint, halbherzig zu.

„Das war der Veranstalter. Seine Frau muss hier auch irgendwo sein.“ Sagt mir Pa. Ich weiß nicht was genau er mir damit sagen will. Soll ich jetzt los und sie suchen oder was?

Ich sehe kurz zu Marvin hoch. Er sieht sich unauffällig im Raum um. So ganz wohl scheint er sich hier ja auch nicht zu fühlen. Meine Mutter dagegen sieht sich strahlend die prächtige Einrichtung an.

In einiger Entfernung sehe ich meine Tante in ihrem lila Kleid stehen. Die Frauen mit denen sie sich unterhält passen irgendwie zu ihr. Die eine lacht grade so laut, dass ich es bis hier her höre. Und seltsamerweise scheint es meiner Tante nichts auszumachen. Ich hätte jetzt gedacht sie runzelt wenigstens die Stirn, so wie bei mir immer, wenn ich etwas Falsches tue oder sage.

Jetzt gehen wir zu einer kleineren Gruppe. Marvin spricht kurz mit Pa und geht dann weg. Ich will fragen wo er hingeht, doch schon stehen wir bei den Leuten die sich auch gleich allesamt fleißig bei meinem Vater einschleimen. Pa stellt sie uns auch vor, aber ich höre nicht hin.

Ich lächle einfach.

Dann gehen wir weiter. Überall fremde Seelen in teuren Stoffen und Düften, die meine Nasenschleimhäute angreifen.

Der eine Mann dreht sich zu Pa um und lacht ihn freundlich an, dann klopft er ihm auf die Schulter.

„Hey, lange nicht gesehen!“ Sie schütteln sich kräftig die Hände und genau jetzt, genau jetzt fange ich an mich total alleine zu fühlen.

Später setzen wir uns an einen hübschen Tisch und Pa holt uns etwas zu trinken. Ich hatte mir den ganzen Abend echt anders vorgestellt. Es scheint für mich furchtbar sinnlos zu sein.

Ich nehme noch einen Schluck.

Und Marvin ist immer noch weg.

Ich will meine Beine übereinander schlagen, doch es funktioniert nicht, weil das Kleid zu eng ist.

Ich habe keine Lust mehr. Was soll ich hier? Da hätte ich zuhause bleiben können. Meine Eltern reden mit irgendwelchen Menschen und lassen mich hier alleine.

Und Marvin ist immer noch weg.

Ich gehe zum Buffet, aber ich hab keinen Hunger.

„Was für ein hübsches Wesen, wer kann das sein?”, ertönt es plötzlich hinter mir. Es dauert ein bisschen bis ich registriere, dass ich gemeint bin.

Okay. Alles klar. Bleib ruhig Lyonne.

Also drehe ich mich vorsichtig um. Der Urheber dieser Worte ist nicht ganz so alt wie der Durchschnitt, jedoch bestimmt über 40. Seine gegelten Haare glänzen im Licht.

Ich versuche ihn anzulächeln, doch ich denke, das bleibt beim Versuch.

Als er es kapiert, dass ich ihm nicht freiwillig antworte, fängt er wieder an zu sprechen.

„Ich habe sie noch nie gesehen, mit wem sind sie wohl hier, wenn ich fragen darf?”, dabei glänzen seine Zähne unnatürlich weiß.

Am liebsten würde ich sagen „Nein, das dürfen sie nicht”, aber ich will mich ja nicht am ersten Tag unter den Reichen unbeliebt machen.

„Und wer sind sie, dass sie glauben ich würde mit ihnen reden?”, sage ich und merke während ich spreche, dass ich vielleicht etwas anderes hätte sagen sollen.

Oder einfach gar nichts.

Der Unbekannte sieht mich verblüfft an, dann etwas pikiert. Dann zwingt er sich zu lächeln.

„Oh, sie sind nicht auf dem Kopf gefallen, nun, mein Name ist Ferdersen.”, dabei neigt er leicht den Kopf.

Und sieht mich anschließend hoffnungsvoll an.

„Wie nett.”, meine ich und gehe schnell weg. Auf dem Weg greife ich mir ein Glas mit etwas rotem von einem Tablett. Ich trinke es in zwei Zügen aus und stelle es auf irgendeinem Tisch ab. Dann gehe ich zu der Glaswand und sehe hinaus auf den Park, der mit einigen Lichtern beleuchtet ist, ansonsten ist es schon dunkel.

Einer der Kellner bietet mir noch so ein Getränk an, ich nehme es, trinke es diesmal langsamer aus und stelle es auf die kleine Kommode neben mir ab.

Ich weiß, dass wohl ein bisschen Alkohol in den Cocktails ist, doch ich denke nicht dass ich von zwei Gläsern betrunken werde.

Oder von vier Gläsern. Oder waren es doch fünf? Egal, in Cocktail ist nicht viel drin. Und ich meine mir geht’s ja auch noch gut. Ich habe ja auch gegessen.

Vorhin. Also heute Mittag.

Also schön, ich sollte wohl lieber nichts mehr trinken, ich bin das ja auch nicht gewöhnt. Die einzigen Gelegenheiten bei denen ich etwas trinke sind Geburtstage, und da bleibt es meistens bei einem oder zwei Gläsern Sekt. Oder wenn wir mit Pa essen einem Glas Wein. Dabei mag ich Wein gar nicht so gerne.

Ist ja auch egal.

Wenigstens ist nirgends was vom blöden Prinzen zu sehen.

Versteckt der sich oder was?

Ich drehe mich und sehe mich in der Halle um. Meine Eltern sind auch irgendwo und meine Mutter sieht mich sogar. Sie lächelt mir lieb zu.

Und ich lächle.

Seufzend drehe ich mich wieder um.

 

Ich merke plötzlich, dass sich neben mir eine Tür in der Glaswand befindet, die hinaus führt.

Ich öffne sie und verlasse die erhellte Halle.

Draußen ist es etwas kühl, aber mir ist sowieso warm, als passt es und ich atme tief durch.

Ich gehe den gepflasterten Weg spazieren, entlang der Lichterkette bis zu dem weißen Reh. Neben der Statue steht eine kleine Lampe

Ich beuge mich hinunter und sehe mir den Kopf genauer an. Er ist total detailliert gearbeitet.

„Hallo Rehchen, du bist sehr schön!”.

Die Augen sehen im Schein des Mondes lebendig aus, als wenn es mich ansehen würde.

„Wie heißt du denn Rehchen?”, ich hocke mich jetzt hin und warte ein wenig.

„Schade, dass du nicht antwortest, ich glaub ich nenne dich einfach Weißi, weil du so weiß bist.”, dann erzähle ich Weißi ein bisschen von dem Abend, der so furchtbar langweilig ist.

„Aber weißt du was, der Mond scheint heute so schön!”, ich blicke zum Mond hoch. Plötzlich höre ich etwas.

„Lyonne?”, jemand sagt meinen Namen!

„Weißi? Oh, woher weißt du denn wie ich heiße?”

„Lyonne, was machst du da?”, Weißi redet ohne seinen Mund zu bewegen!

„Du hast aber eine ganz schön tiefe Stimme, ich dachte du wärst ein Mädchen. Vielleicht sollte ich dich anders nennen”. Im Kopf gehe ich verschiedene Abwandlungen von `Weißi` durch und plötzlich werde ich an den Schultern ergriffen.

Zu Tode erschrocken schreie ich auf.

Niemals hätte ich gedacht dass Weißi so etwas mit seinen Hufen machen könnte.

„Lyonne! Schau mich an!”

Das ist nicht Weißi, das ist Marvin. Seine dunklen Augen würde ich überall erkennen.

Er hält mein Gesicht in seinen großen Händen und sieht mir in die Augen. Vielleicht etwas besorgt?

„Hallo Marvin, das hier ist Weißi, es kann sogar sprechen!”, meine ich stolz und sehe zu dem Reh rüber.

„Bist du betrunken?”, fragt er mich mit blöder ernster Stimme.

Ruckartig stehe ich auf. Kurz sehe ich zu dem Reh. Es ist wirklich nur eine blöde Statue.

Egal.

„Nein, bin ich nicht. Hast du dich versteckt? Du warst plötzlich weg und hast dich die ganze zeit nicht blicken lassen!”, ich drehe mich galant um und gehe den Weg weiter. Doch der Boden ist sehr uneben, sodass es nicht so einfach ist mit den Plateau Klötzen an meinen Füßen zu laufen.

„Bleib stehen, sonst fällst du noch. Komm, wir gehen nach Hause.”, Marvin läuft hinter mir her.

Ich bleibe stehen.

„Und wenn ich nicht will?”, gebe ich sehr entschlossen kund.

„Ich brauche deine Erlaubnis nicht”, Marvin kommt jetzt auf mich zu.

„Brauchst du nicht?”, verwirrt drehe ich mich wieder um und gehe weiter.

Etwas schneller, sonst holt er mich ein.

Kurz frage ich mich, wieso ich eigentlich nicht nach Hause will, ich ignoriere diesen Gedanken aber und laufe weiter.

Aber der Boden ist wirklich sehr uneben. Fast stolpere ich, doch ich kann mich noch fangen.

Schwindelig will ich weiter gehen, doch jetzt klappt das mit den Schuhen und dem blöden Boden gar nicht mehr.

„Scheiße!”, entfährt es mir bevor ich endgültig das Gleichgewicht verliere und falle.

Bevor ich auf den Boden aufschlage, umfasst Marvin meinen Bauch und bewahrt mich vor dem Sturz auf den harten Boden.

Als mich Marvin so hält, fängt mein Herz anormal schnell und doll an zu schlagen. Tatschycardie. So heißt das glaub ich, das hatten wir doch mal in der Schule, oder?

Ich halte mich irgendwo, irgendwie fest. Sein Arm? Seine Schulter?

„Halt dich einfach fest.”, seine Worte sind ganz nah an meinem Ohr. Dann hebt er mich hoch.

Als er mich den Weg entlang trägt achte ich sehr genau auf meinen Herzschlag. Die Frequenz scheint sich noch zu erhöhen, nicht dass mir noch was passiert!

„Marvin, warte mal kurz bitte. Lass mich runter”, statt das zu tun geht er einfach weiter. Ich schaue kurz zu ihm hoch, schau in sein Gesicht auf das das Mondlicht fällt. Und seine Augen leuchten so wunderschön…

„Im Ernst Marvin, das ist grad voll wichtig!”, einen Moment sieht er mir ins Gesicht, dann seufzt er und stellt mich hin. Etwas wacklig noch fühlt es sich an, aber mit einer Hand hält er mich fest.

„Was ist?”, fragt er.

„Mein Herz!”, ich nehme seine freie Hand und lege sie über mein Herz. Er will sie wegnehmen, doch ich halte sie fest.

„Nicht wahr, es schlägt viel zu schnell!”.

Marvin blinzelt mich erstaunt an.

„Und...seit wann ist das so?”, fragt er mich. Ich lasse seine Hand los und sofort nimmt er auch seine weg.

Er schluckt.

Ich überlege.

„Ich glaube, erst als du gekommen bist. Ich denke du bist der Auslöser und Schuld, wenn ich daran sterbe.”, meine ich und schwanke noch einmal bedenklich.

Jetzt schaut er mich wieder an.

„Das wird dich nicht umbringen”, meint er und lächelt gezwungen. „Lyonne… du bist … also, überleg doch mal warum…- ach was rede ich eigentlich mit einer Betrunkenen”.

Wieder nimmt er mich hoch, ganz eng an seine Brust und trägt mich weiter.

„Tatschycardie!”, meine ich entrüstet zu Marvin. Er soll ruhig wissen, dass es so nicht besser wird!

„Es heißt Tachykardie”, Marvin ist so ein Angeber!

 

Warte! Was ist hier los? Marvin trägt mich? Er trägt mich?! Warum tut er das?

Unvermittelt habe ich einen klaren Moment und mir wird bewusst, dass ich wohl doch etwas angetrunken bin, sonst könnte ich doch alleine gehen, hätte nicht mit einer Statue geredet und...- Katze!

Eine getigerte kleine Katze läuft an uns vorbei und sieht mit ihren leuchtenden Augen hoch.

„Lass mich sofort runter! Bitte, bitte, bitte, bitte!!”, jammere ich und strample mit den Beinen.

Doch Marvin geht einfach weiter!

„Aber die Katze! Marvin die Katze! Ich brauche sie!” Ich jammere und strample, aber ohne Erfolg.

Irgendwann sitzen wir im fahrenden Auto.

Es ist immens wichtig, dass ich diese Katze mitnehme! So unglaublich wichtig...

Total aufgedreht klettere ich über Marvin zum Fenster.

„Ich will die Katze haben! Mieze, Mieze...”, draußen ist es stockdunkel, nur hier und da leuchtet ein Licht. Vielleicht eine Straßenlampe.

„Setz dich hin, Lyonne...”, Marvin nervt mich und versucht mich wieder neben sich auf den Sitz zu befördern.

Das Auto ruckt, sodass ich mit meinem Kopf gegen die Decke knalle. „Auuu”, wimmere ich. „Na toll, siehst du, weil du hier so ´nen Quatsch machst...”, mit einem Lachen nimmt er mich fest in die Arme.

„Ich kann mich nicht mehr bewegen...”, jammere ich. Und obwohl ich mich bemühe schaffe ich es nicht mich zu befreien. Ich frage warum er das macht, er sagt etwas wie, dass er mich vor mich selbst schützen müsste und so albernes Zeug.

„Aber meine Tatsch... Takdingsdie! Das ist total... gefährlich!”, versuche ich zu argumentieren, als ich mein Herz hämmern höre.

Darauf sagt er erst nichts, lacht er? Ich kann sein Gesicht nicht sehen. Und dann fragt er: „Du Lyonne, war dein Verlobter heute eigentlich da?”, ich muss einen Moment nachdenken. „Nein, der Blödmann war nicht da!”, sage ich und werde ärgerlich.

Marvin sieht mich schräg an, „Blödmann?”, fragt er nach. „Ja, dass er sich nicht blicken lässt! Nicht dass ich ihn sehen möchte, aber mir so aus dem Weg zu gehen...”. Ich blinzle in die Dunkelheit, kneife die Augen zusammen. Und dann fange ich an zu weinen. Ich weine solange, bis ich nicht mehr kann. Marvin hält mich die ganze Zeit fest und streicht mir über den Kopf.

 

Es ist hell, als ich aufwache. Und als ich aufstehe merke ich, dass ich noch das Kleid trage. Die Schuhe stehen vor meinem Bett und die Jacke hängt an der kleinen Garderobe.

Ich kann mich überhaupt nicht mehr erinnern wie ich nachhause gekommen bin.

Komische Bilder düsen durch meinen Kopf und verwirren mich.

Also das letzte was ich weiß... dass ich an der Glaswand stand...- nein, ich bin in den Garten gegangen und dann... ja, und dann?

Gähnende Leere in meinem Kopf.

Nach dem Duschen sehe ich auf die Uhr. Es ist schon elf! Kein Wunder, dass ich so hungrig bin!

Treppe runter, Tür, Flur, Tür und Küche. Ich esse ein Müsli. Und wieder diese Bilder!

Komisch...

Die Tür geht auf und Marvin kommt herein. Als er mich sieht stockt er kurz in der Bewegung, dann setzt er sich jedoch mir gegenüber und sieht mich gespannt an. So als ob ich ihm jetzt eine Geschichte erzählen würde.

„Gut geschlafen?”, fragt er mich schließlich, als ich nur weiter esse.

„Ich denke schon”, meine ich und denke nach. Das hat er nicht um sonst gefragt und er sieht mich auch nicht umsonst so an!

Über meine Schüssel gebeugt fixiere ich ihn scharf.

„Und... du?”, frage ich ihn schließlich. Darauf verzieht er die Lippen zu einem Grinsen. Und meint nur „Gut”.

Später kommen meine Eltern vorbei und teilen mir mit, dass ich heute noch ein Date mit meiner Tante hätte. So etwas Unnötiges! Sie will mir doch eh nur unwichtige Dinge beibringen. Ich meine, wenn ich nach einem Jahr erlöst bin von dieser Verlobung, wofür brauche ich das dann bitte? Richtig! Ich brauche es nämlich nicht.

 

Nach dem Mittagessen sitze ich im Wohnzimmer, höre Musik und genieße den schulfreien Freitag. So um fünfzehn bis sechzehn Uhr wollte dann meine Tante kommen. Wie nervig.

Wieder diese Bilder im Kopf. Was ist das für eine Statue? Ein Reh? Was macht so eine Statue in meinen Gedanken? Gerade kommt Ma durch den Raum und ich frage sie, ob gestern irgendwas mit einer Reh-Statue war.

„Nein, nicht das ich wüsste. Vielleicht war sie irgendwo im Garten. Aber frage doch mal Marvin, wenn du nicht erinnern kannst”, meint sie lässig und will schon wieder gehen.

„Halt Stopp, was meinst du damit? Wieso soll ich da Marvin fragen?”, will ich wissen und richte mich alarmiert in meinem Sessel auf.

„Na weil er dich doch gefunden und nach Hause gebracht hat”.

Meine Mutter ist schon seit einiger Zeit wieder weg. Ich sitze zusammengesunken in dem Sessel und bin den Tränen nahe. Langsam erinnere ich mich an einzelne Episoden des gestrigen Abends. Oh Mann! Oh Mann! Das darf nicht wahr sein! Ich war doch nicht etwa so besoffen, dass mir peinliche Dinge passieren konnten!? Ich weiß jetzt wieder, dass ich mit einer Reh-Statue geredet habe. Und dann erinnere ich mich daran, dass Marvin... dass er mich bis in das Auto getragen hat. Und habe ich ihm wirklich etwas von meiner Herzfrequenz erzählt?

Oh mein Gott! Ich habe ihn mir nicht auf die Brust fassen lassen, oder!? Erschrocken starre ich ins Nichts. Das wäre dann ja ein übelstes Geständnis gewesen! Obwohl ich natürlich nichts dergleichen... also ich bin ja nicht in ihn verliebt. Es war nur so, die Situation und... na ja, ich hatte wohl zu viel getrunken...

Momentmal, wie viel war das denn? Im Ernst, Cocktails haben mich umgehauen? ... Nun es waren schon einige davon. Eigentlich waren es wirklich viele...

Und ich war bis jetzt immer diejenige, die die Kids aus meiner Klasse verurteilt hatte, wenn sie wieder einer ihrer Saufgeschichten erzählten. „Und ich wusste nichts mehr!”- ich habe mich bis jetzt immer gefragt wie das sein kann und gehöre nun auch dazu...

Erneut schrecke ich auf: Im Auto lag ich nicht wirklich heulend in seinen Armen, oder?

Oh nein, oh nein, oh nein! Verzweifelt halte ich meinen Kopf.

Was war denn danach? Hat mich Marvin etwa ins Bett gelegt? Nein, hat er nicht, ganz bestimmt nicht...

Ich glaube ich muss nach alldem wegziehen. Nein! Besser wäre Auswandern, in ein fernes Land, das niemand kennt, im Zeugenschutzprogramm oder so...

Ich atme tief durch. Ganz tief.... Okay. Das kann schon mal passieren. Wichtiger ist heute, wie ich damit umgehe. Das üble Ausmaß meiner Geschichte kennt soweit ich weiß nur Marvin. Und der hat bestimmt besseres zu tun, als meinen Eltern auf die Nase zu binden, wenn sich ihre Tochter übel betrinkt. Hoffe ich zumindest…

Also muss ich mir nur überlegen, wie ich mich ihm gegenüber verhalte.

Ich könnte so tun, als ob das nichts Besonderes wäre. „Ach das gestern? War doch nicht so wild, da hab ich mich schon mal schlimmer besoffen!”... ja, das geht mal gar nicht! Wer soll mir das glauben? Gut, also am besten tu ich so, als wenn nichts wäre. Ja, genau! Ich kann mich nicht erinnern! Und wenn ich mich weiterhin nicht erinnern kann, ist es praktisch gar nicht passiert! Problem gelöst!

Lachend, so wie mein Opa, lehne ich mich zurück. Der Sessel ist ungemein bequem und ich beschließe noch ein bisschen länger hier sitzen zu bleiben. Träge greife ich nach der Fernbedienung und schalte das Gerät ein. Jetzt zur Mittagszeit kommt nichts Vernünftiges. Ich zappe durch die Programme und werde immer gelangweilter. Bei einem Nachrichtenprogramm halte ich schließlich an, weil sie etwas über meinen Lieblings Actionschauspieler erzählen. Der neue Film von ihm käme überdurchschnittlich gut an und spränge alle Rekorde. Ich erinnere mich, dass der Film Anfang der Woche in die Kinos kam. Ich ärgere mich, dass ich ihn bis jetzt noch nicht gesehen habe.

Mein Blick schweift durch den Raum. Die rechte Wand des Wohnzimmers besteht komplett aus Glas, dahinter befindet sich eine Veranda. Ich beobachte eine Weile eine Amsel, die auf dem Gartentisch spaziert und sich dabei immer wieder umsieht. Doch plötzlich fliegt sie weg.

„Was siehst du dir an?”, ertönt es plötzlich von der Tür aus. Ich schrecke ein bisschen zusammen, als Marvin so ins Zimmer kommt. Aber ich habe ja alles vergessen! Kurz schaue ich auf die Veranda. Die Amsel ist weg. Aber dann merke ich, dass Marvin natürlich den Fernseher meinte. Ich schau kurz in den Kasten um herauszufinden, was ich da eigentlich gucke. Nur irgendwas Langweiliges über Politik. „Siehst du doch”, meine ich also zu ihm. Marvin nimmt den Schalter und schaltet das Gerät aus.

„Moment mal, ich wollte das gucken!”, lüge ich entrüstet über sein Ich-bin-der-Bestimmer-Verhalten. Total unbeeindruckt dreht sich Marvin auf der Couch zu mir um. „Gestern... im Auto, da hast du so geweint… ich wollte dir nur sagen, dass du nicht alleine sein musst…-„ bevor Marvin noch mehr sagen kann, unterbreche ich ihn.

„Hör mal, ich kann mich an gar nichts mehr von gestern erinnern. Ja? Gar nichts mehr!”, demonstrativ greife ich nach der Schaltung um das Gerät wieder einzuschalten und merke dabei wie mein  Gesicht immer heißer wird. Wahrscheinlich bin ich schon knallrot! Aber alles was ich gesagt und getan habe… das ist so unglaublich peinlich!

„Das glaube ich nicht!”, Marvin steht mit einer geschmeidigen Bewegung auf, ist mit einem großen Schritt bei mir, hält meine Hand fest, sodass ich nicht anschalten kann und beugt sich zur mir hinunter. „Dann hättest du gerade nämlich anders reagiert,”, sein Gesicht befindet sich eindeutig zu nah bei meinem. Während ich gezwungen bin in seine tiefblauen Augen zu starren, redet er weiter. „du hättest nachgefragt, weil du ja nicht gewusst hättest, dass es da etwas gab, was du lieber vergessen hättest”, endlich richtet er sich wieder auf.

„Andererseits, ist es ja auch verständlich, dass du es verdrängen willst”, ein bisschen Spott liegt in seiner Stimme und ich werde vor Scham wahrscheinlich noch röter. Das ist nicht fair!

„Das war ja alles keine Absicht!”, stelle ich klar. Und nur weil ich wirklich wütend auf Marvin bin, nur deshalb, boxe ich ihn mit meiner Faust gegen seine Schulter. Erstaunt macht er einen Schritt zurück. Dann grinst er mich, fast schon albern, an. „Was ist? Du gibst mir die Schuld für deine Dummheit? Findest du das nicht ein bisschen kindisch?”, nach einer kurzen Pause, in der ich richtig wütend werde, fügt er noch hinzu „das ist doch nicht so schlimm, passiert jedem mal...”.

„Nein! Das hätte mir aber nicht passieren dürfen!”, fauche ich wütend zurück. „Ich war halt die ganze Zeit alleine! Was sollte ich denn da schon großartiges machen? Und wo warst du? Gestern hast du mich noch gefragt, ob der Scheiß-Prinz da war! Weißt du was ich mich die ganze Zeit über gefragt habe?“ ich hole kurz Luft und brause dann weiter: „Ich habe mich gefragt wo du warst!”, Marvins Augen blitzen auf, er macht wieder einen Schritt auf mich zu. „Also willst du, dass ich ständig bei dir bin um auf dich aufzupassen?”.

Sprachlos sehe ich zu meinem Aufpasser.

„Was? Keine Ahnung!! Was redest du für komplizierte Sachen...” irritiert weiche ich seinen Blick aus. Dann fällt mir ein, was ich sagen kann. „Außerdem geht es nicht darum dass ich dich immer da haben will, das habe ich nie gesagt, nur will ich auch nicht allein sein.” Einigermaßen zufrieden mit mir, atme ich erleichtert aus.

„Dann hör mir zu:“, meint Marvin, „wenn du nicht allein sein willst, dann kann ich da sein. Aber bis jetzt sah es für mich eher so aus, als wäre ich dir lästig. Also frag dich nicht warum, wenn ich nicht da bin, Lyonne.” Als ich zu ihm sehe, sieht er mich aufmerksam an.

Noch mehr irritiert drehe ich mich um und gehe aus dem Raum. An der Tür bleibe ich dann doch noch einmal stehen. „A-also, es tut mir Leid, du hast Recht damit. Es war blöd von mir dir die Schuld dafür zu geben.”

Schnell laufe ich hoch in mein Zimmer.

Wie peinlich... wieso habe ich das alles gesagt? Bin ich immer noch betrunken? Ich hab doch Marvin nicht wirklich vermisst? Es ging doch nur darum, dass ich alleine war. Jeder wäre gut... ja, genau! 

Ich gehe zu dem großen Fenster und fasse mit beiden Händen auf das Glas. In der Scheibe sehe ich ein bleiches, geisterhaftes Ich-Selbst.

„Ja, genau... Rede es dir schön, Lyonne. Warum kannst du es nicht zugeben?”, mein Spiegelbild gibt mir keine Antwort. „Ach Scheiße!”, von wegen so tun als ob! Ha! Vergessen.... Vergessen geht nicht so einfach, erst recht nicht auf Knopfdruck. Verdrängung, ist das keine Lösung? Meine Verlobung: einfach verdrängen, Sarinas Verrat: einfach verdrängen, mein Nicht-Mitsprache-Recht in allem was mit mir und meinem Leben zu tun hat: einfach verdrängen, gestern Abend: einfach verdrängen! Meine Gefühle? Einfach verdrängen!

Okay, egal, halb so wild. Lyonne, sei stark! Alles gut! Es ist doch nichts Schlimmes passiert. Niemand ist gestorben, niemand ist krank und in einem Jahr ist alles vorbei.

Das Klingeln meines Handys reißt mich aus dem Sumpf meiner Gedanken. Auf dem Display erkenne ich Chanas Namen. Erst will ich nicht rangehen, doch dann nehme ich tief Luft und flöte ein 'Hallo' in das Gerät. „Oh Supi, hast du Zeit? Warum warst du heute nicht in der Schule? Du hast mir nicht zurück geschrieben, ich hatte schon Angst dir ist was passiert....”, Chana redet etwas undeutlich, wahrscheinlich isst sie gerade etwas. Ich erkläre ihr mit einem mulmigen Gefühl, dass ich wegen dieser Ach so wichtigen Feier ausschlafen durfte und lege mich aufs Bett, dabei atme ich heimlich noch einmal tief ein und dann aus. „Also pass auf Lyo-lon!! Sarina hat angerufen und stell dir vor was sie gesagt hat: Dass sie wohl überreagiert hätte und so was und ob wir uns am Wochenende, also morgen, treffen wollen! Was machen wir? Beleidigt sein? Froh über ihre späte Einsicht oder sind wir misstrauisch?”, ich kann ihren Worten kaum folgen. Sarina will sich plötzlich mit uns treffen? „Keine Ahnung”, meine ich. Und erinnere mich direkt an das letzte Mal als ich 'keine Ahnung' gesagt habe. Vor wenigen Minuten, unten bei Marvin. Hat sich das wirklich so angehört? Als ob ich ihn unbedingt in meiner Nähe haben will?

„Lyonne? Bist du noch da? Alles klar?”, schon wieder reißt mich Chana aus den Gedanken, die mich nicht wirklich weiterbringen.

„Ja, tut mir Leid. Lass uns einfach hingehen. Ich meine, lass uns nicht nachtragend sein. Guter Wille und so....”, ich höre Chana aufgeregt schmatzen. „Was? Einfach so?”, eine Weile sagt sie nichts. „...Na gut, aber das nächste Mal machen wir es so wie ich will.- Also das hört sich jetzt blöd an”, schmatz, schmatz, „So meinte ich das nicht! Du weißt schon...”. Ein paar Minuten reden wir noch, dann bin ich wieder allein in meinem Zimmer. Alleine mit mir und meinen Gedanken.

In einer Stunde wird meine Tante kommen. Ich stöhne bei dem Gedanken an sie gequält auf. Was für eine Scheiße! Ich will das nicht!

Wütend stehe ich auf. Ich halte es nicht mehr hier aus, nichts tun, blos denken, ärgern, denken.... Mein Blick fällt auf meinen Kleiderschrank. Riesig! Er ist riesig groß! Ich brauche keinen so großen Kleiderschrank! Entschlossen trete ich gegen ihn. Doch es ist eine gute Produktion, sodass mein Tritt nichts bewirkt. Kein Splittern, kein Riss, kein Zittern.

Ich reiße die Türen auf und nehme die Kleider samt Bügel von der Kleiderstange um sie auf den Boden zu schmeißen. Alle diese Kleider, die ich nicht haben will.

Nach kurzem Überlegen suche ich mir meine einzige Hose, nämlich meine Sporthose, heraus und ziehe sie an. Darüber ziehe ich mir eine lila Strickjacke. Meine alte schwarze Umhängetasche werfe ich mir noch über und will dann rausgehen. Als ich mich im Spiegel sehe, binde ich mir noch schnell meine Haare zurück.

Das ist immer noch mein Leben! Ich muss hier mit allem irgendwie klar kommen! Ich habe ein Recht darauf, dass zu tun, was ich, aus ganz persönlichen Gründen tun möchte! Nein, nicht möchte, sondern will! Oder nein, muss!, ich muss manches tun! Gerade jetzt muss ich mich in alldem wiederfinden. Ohne Kleid. Ohne lockiges Haar. Ohne Bodyguard.

Unten ist niemand. Also laufe ich einfach weiter und hinaus in den Garten. Dann über den Parkplatz und springe sogar über den kleinen Zaun.

Ich renne die Straße hinunter, immer weiter. Das ganze Viertel entlang. Irgendwann macht sich meine schlechte Kondition bemerkbar und ich setze mich auf die nächste Bank an der Bushaltestelle. Mit dem nächsten Bus fahre ich Richtung Stadt.

In dieser Stadt bin ich aufgewachsen und ich fühle mich hier zu hause. Alles ist so vertraut. Der kleine Kiosk neben dem Kino. Die City-Galerie und das Museum dahinter. Die eingezäunten Bäumchen, der Brunnen und sogar der Müll der an manchen Ecken so typisch herum liegt. Das alles ist mir so vertraut.

Und doch scheint alles so weit, weit weg. Vor zwei Wochen habe ich mich noch gefreut siebzehn geworden zu sein. Jetzt erscheint mir mein Alter vollkommen irrelevant.

Die Schule, Annika, Sarina, mein Vater, die Tante, Marvin die VERLOBUNG.... Was ist nur passiert? Die Häuser sehen grau aus und die Menschen um mich sehe ich nicht wirklich. Ich meine ich sehe sie, aber es spielt keine Rolle. Sie sind da, ich bin da, aber wir haben nichts miteinander zu tun. Das alles hat nichts mit mir zu tun. Alles vollkommen irrelevant. Keine Bedeutung. Das Leben wird überschätzt.

Ich laufe weiter, irgendwann bin ich beim Bahnhof. Ich gehe mit den Augen die Anzeigen durch. Wie viele Ziele es gibt! Ich könnte überall hin fahren! Plötzlich erinnere ich mich wieder daran, wie meine Mutter und ich vor ein paar Jahren mit dem Zug zu meinen Großeltern gefahren sind. Es war eine ziemlich lange, anstrengende Fahrt, aber es war ein Abenteuer! Ich weiß noch genau an welchem Gleis wir losgefahren sind. Langsam gehe ich dorthin und setze mich auf eine Bank.

Teilnahmslos beobachte ich die viele Menschen, die Züge und die Tauben die überall herum schwirren.

Eigentlich hat alles damit angefangen, als mein Vater mir wieder seinen Namen gegeben hat. Oder besser, als er es veranlasste. Von Gorett... Es hat also gar nicht mit der Verlobung begonnen, sondern mit diesen Namen. Na ja, schon auch mit der Verlobung, die war ja der Anstoß. Aber eben mehr auch nicht. Alles was danach passierte war nicht wirklich die Verlobung sondern.... ja, was war es alles? Ich denke, dass was mich am meisten stört, ist dieses Gefühl, ein Gefangener zu sein, über dem man bestimmt ohne ihn nach der eigenen Meinung zu fragen. Ich muss zugeben, dass ich von Natur aus kein Mensch bin, der sehr autonom oder entscheidungsfreudig ist. Bis jetzt.

Ich glaube ich bin es einfach nicht gewohnt. Ja! Das ist es! Ich muss etwas tun! Weil ich bis jetzt nie etwas tun musste, ich meine sowas wie wichtigste Entscheidungen treffen, deshalb bin ich einfach nicht in Übung. Moment! Heißt das, ich bin selbst Schuld? Nein, nein, nein... na gut, vielleicht teilweise. Dann werde ich das ab jetzt ändern! Ja genau, ich werde gleich morgen damit anfangen! Ich werde aufstehen und lauter Entscheidungen treffen, die übelst wichtig sind! Zum Beispiel... dass ich mich mit Sarina treffen werde. Na gut, das habe ich eigentlich schon entschieden. Okay, dann eben was anderes....

Ich stoße erschöpft die Luft aus. Okay, okay, ich werde das mit den Entscheidungen erst mal verschieben.

Ein ICE fährt mit lautem Gepuste los. Ich wünschte ich würde jetzt dort drin sitzen um nach Weitweg zu fahren. Ich wünschte, ich müsste mich nicht ständig mit meiner Tante treffen. Ich wünschte alles wäre so wie immer, wie vorher.

Ich wünschte ich würde keinen Ärger bekommen, wenn ich irgendwann nach Hause gehe.

Aber am meisten wünsche ich mir, dass ich aufhören könnte über eine gewisse Person nachzudenken. Marvin, Marvin, Marvin, dieser blöde Typ geht mir auch hier nicht aus dem Kopf. Ich könnte natürlich wieder so tun als ob, nämlich als ob nichts wäre, doch will ich nicht weiter so tun.

Also... was ist da los? In meinem Kopf? In mir drinnen? Oder besser, was ist mit Marvin los, dass er mich so nervt, nicht aus meinem Kopf verschwindet?

Ich weiß eigentlich gar nichts über ihn. Manchmal ist er ganz lieb, leider viel zu direkt und er ärgert mich zu oft. Und ich blamiere mich ständig vor ihm! Das hat damals schon angefangen, als er mich an jenem Morgen nur im Schlaf-Shirt gesehen hatte und dann das gestern, ganz zu schweigen von den anderen vielen Malen... Also dass muss unbedingt aufhören! Ich denke das sollte die oberste Priorität haben! Denn das schränkt meine Lebensqualität erheblich ein!

Aber warum bin ich so oft aufgeregt, wenn Marvin bei mir ist?

Noch ein Zug, noch ein Zug, schhhh!! Nicht denken Lyonne, nicht denken, du weißt nicht wo das hinführen kann!

Ja, ich kann ihn gut leiden! Und ja, es stimmt schon dass ich ihn echt süß finde. Aber ich bin nicht in ihn verliebt! Es behauptet zwar auch keiner, aber das muss klar sein. Denn zum Verlieben gehört mehr als ein paar Tage peinliches Zusammentreffen! Und außerdem wird Marvin das auch ganz anders sehen! Allein deshalb muss ich mich jetzt mal zusammenreißen! Ja echt, was mache ich mir hier eigentlich für Gedanken? Völlig unnötig! Nur weil ein Typ in mein Leben tritt, heißt das nicht, dass ich mich in ihn verlieben muss!

Entschlossen stehe ich auf.

Ich werde ab jetzt selbst meine Entscheidungen treffen! Und wenn ich diesen Marvin so mag, dann befreunde ich mich halt einfach mit ihm! Falls er das überhaupt will...

Ich denke ich sollte zurückgehen. Ich gucke auf die Bahnhofsuhr und erschrecke mächtig! Es ist schon fast achtzehn Uhr!

Auf mein Telefon gucke ich lieber nicht, stattdessen laufe ich, wie so viele andere Menschen, den Bahnhof entlang.

 

Vielleicht bin ich auch völlig dumm

Kapitel 6

Und jetzt? Was soll ich jetzt machen? So lange hier bleiben, bis mich Jemand findet? Oder doch lieber auf ein Wunder warten?

Während ich Richtung Stadtzentrum laufe, schaue ich doch mal auf mein Telefon. Scheiße! 13 verpasste Anrufe und mehrere Nachrichten! Alle Anrufe und Nachrichten sind von derselben Nummer. Vom schlechten Gewissen getrieben, sehe ich mir die Nachrichten an.

In der ersten Nachricht steht „wo bist du?”, in der zweiten „ruf bitte an, deine Eltern und deine Tante wollen wissen wo du bist”, die Nachrichten sind von Marvin? In den nächsten Nachrichten schreibt er dass er mich vorhin rauslaufen gesehen hat und ob alles okay ist. Dann, dass er meiner Familie gesagt hat, dass ich bei Chana bin. Und am Ende, dass ich jetzt wirklich mal anrufen könnte und dass er mich jetzt „von Chana abholt”.

Total baff bleibe ich mitten auf dem Weg stehen.

Er deckt mich? Er hilft mir, obwohl er überhaupt nicht weiß was ich mache, wo ich bin? Warum steht er auf meiner Seite und nicht auf die von meinen Eltern?

Schnell gucke ich nach, von wann die letzte Nachricht ist.

Achtzehn Minuten! Vor Achtzehn Minuten! Hektisch drücke ich auf den grünen Hörer. Doch dann breche ich ab. Ich kann ihn doch nicht einfach anrufen... Was, wenn er mich anschreit? Doch, ich ruf jetzt an, nicht dass er auch noch meinetwegen Ärger bekommt...

Tuut tuut, „Wo bist du?”, mehr fragt Marvin nicht. Und er klingt nicht mal ärgerlich! „Am Bahnhof.”, sage ich und hole tief Luft um mich zu bedanken. Dafür, dass er mich nicht bei meinen Eltern verpetzt hat. Aber als ich grad loslegen wollte, hat er schon aufgelegt.

Mit klopfendem Herzen laufe ich zurück zum Bahnhof und warte am Eingang, gleich neben einem rauchenden Punk, auf Marvin.

 

Inzwischen ist es schon fünfzehn Minuten nach vier.

Als der Wind durch meine Jacke weht wird mir klar, dass es kalt ist. Ich mache meine Haare auf, damit sie im Wind wehen wenn Marvin kommt. Ein bisschen später binde ich sie mir wieder zusammen, weil es albern ist. Dann verlagere ich mein Gewicht auf das rechte Bein, etwas später auf das andere. Anschließend fange ich an auf beiden Füßen zu wippen. Vielleicht sollte ich in die Bahnhofshalle gehen?

Ein rotes Auto fährt vor. Aber wir haben kein rotes Auto. Ich schaue wieder auf die Uhr. Es ist zwanzig Minuten nach vier! Es sind blos fünf Minuten vergangen! Wie können erst fünf Minuten seit ich hier stehe, vergangen sein!? Fassungslos starre ich mein Telefon an. Dann sehe ich zur Bahnhofsuhr rüber, um zu kontrollieren, ob meine Uhr richtig geht. Tatsächlich! Sechzehn Uhr zwanzig! Andererseits, so habe ich ein bisschen Zeit... aber für was? Um mir eine Erklärung auszudenken, warum ich wie ein kleines Kind weggelaufen bin? Nein, nein, nein, ich bin niemandem Rechenschaft schuldig!

Jetzt fährt ein Motorrad auf den Bahnhofsplatz. Von der anderen Seite kommt eine Familie zum Bahnhof gerannt. Mutter, Vater und zwei Kinder. Ob sie den Zug noch bekommen, den sie nehmen wollen? Der kleine Junge zieht die Knie beim Laufen furchtbar hoch, sodass es ulkig aussieht. Ich muss lachen.

Danach starre ich in den wolkenverhangenen Himmel und frage mich, weshalb Wolken manchmal weiß und manchmal grau sind. Kommt es darauf an wie viel es davon gibt? Ich laufe ein paar Schritte hin und her, sehe mir die Pflastersteine an und frage mich wie lange es wohl gedauert hat, sie zu verlegen.

„Lyonne”, höre ich eine vertraute Stimme rufen. Verdutzt sehe ich hoch. Zu Marvin hoch, der plötzlich vor mir steht. Er sieht mich mit einem Blick an, den ich nicht wirklich deuten kann. Die leicht nach oben gezogenen Brauen. Fragend? Bedauernd? Erwartet er irgendetwas von mir? Jetzt?

Und warum trägt er so eine blöde Lederjacke? Will er besonders cool wirken? Und warum tut er das auch noch? „Komm”, sagt er und ich folge ihm. Als wir vor dem Motorrad anhalten, welches ich eben noch beim Parken beobachtet hatte, sehe ich verwirrt zu Marvin. Und erst jetzt sehe ich den Helm in seiner Hand. Aha! Daher auch die Lederjacke... also eher nicht um besonders toll auszusehen, sondern zweckmäßig...

Ich sehe wieder zu dem Gefährt. Am Lenkrad baumelt ein zweiter Helm. Und erst jetzt fällt der Groschen.

„Moment! Du hast ein Motorrad? Aber wir fahren damit jetzt nicht, nä? Irgendwo steht doch das Auto und der Fahrer und so, richtig?”, aufgeregt plappere ich auf Marvin ein. Der beißt sich auf die Lippe. „Nun ja, das Auto konnte ich nicht nehmen, sonst hätte der Fahrer alles herausgefunden.” und nach einer Pause, in der ich nichts sage, fügt er hinzu „außerdem bin ich lange nicht mehr gefahren”, dann grinst mich Marvin strahlend an. Ich sehe zu ihm hoch und merke plötzlich, dass ich ihn wirklich sehr schön finde. Die Sonne die gerade durch die Wolken bricht und seine dunkelroten Haare leuchten lässt und der Wind der mit ihnen spielt lassen mich Marvin in diesem Moment, buchstäblich in einem anderen Licht sehen. Und als ich genau in seine blauen Augen sehe und sich unsere Blicke treffen fängt mein Herz an zu rasen.

Nein, nein, nein, nein, nein! Alles nur Einbildung! Ich blinzle solange bis ich wieder normal gucken kann. Marvin runzelt die Stirn „Alles klar? Hast du was im Auge?”, ich schüttle nur den Kopf und sehe woanders hin. Nämlich auf das Metallding mit den zwei Rädern.

Okay!

ICH WERDE NICHT MIT EINEM MOTORRAD FAHREN! Das kann Marvin mal so was von vergessen!!! „In Ordnung, Marvin, ruf bitte das Auto an... also den Fahrer. Du weißt schon und ich meine... also ich glaube nicht, dass ich mich da drauf setze!”, bekräftigend zu meinen starken Worten nicke ich entschlossen. „Aber...”, meint Marvin und kommt einen Schritt auf mich zu. „...dann kann der Chauffeur dich verpetzen. Ich hole dich ja grad von „Chana” ab. Schon wieder vergessen?”, dann legt er seine ausgestreckten Hände auf meine Schulter und sieht mich an.

„Aber!”, beginne ich nun auch und überlege angestrengt, wie ich Marvin klarmachen will, dass ich nicht auf dieses Ding steigen werde.

Während ich überlege nimmt Marvin den zweiten Helm vom Lenkrad und reicht ihn mir hin. Ich nehme ihn aber nicht

„Ne”, ich schüttle den Kopf entschlossen. Ich will nicht ohne Wände und Dach und mit hoher Geschwindigkeit über die Straße fahren. Allein bei der Vorstellung hinter Marvin auf diesem Rad zu sitzen, fängt mein Bauch an sich zu überschlagen.

„Lyonne, komm schon! Du hast keine Wahl!”, abschätzend sieht Marvin mich an. „Hier!”, damit drückt er mir den Helm in die Hände und beugt sich über mich.

WAS ZUM?!

Doch bevor ich protestieren kann, ist Marvin schon fertig und präsentiert mir vor meinen Augen das Zopfgummi. „Damit es nicht drückt!”, meint er nur und setzt mir den Helm auf.

Irritiert lasse ich mich zum Motorrad schieben. Jetzt schaue ich Marvin dabei zu, wie er auf das unmögliche Teil steigt. Er setzt sich den Helm auf und sieht zu mir rüber. Auffordernd winkt er mir zu „Na los!”.

Aus den Augenwinkel sehe ich wie eine kleine Gruppe Jugendlicher zu uns herüber sieht.

Im nächsten Moment hieve ich mich umständlich hinter Marvin auf das Rad.

„Okay, und jetzt?”, unschlüssig starre ich meine Hände an. Jetzt kommt wohl der Teil bei dem ich meine Arme um Marvin schlingen muss.

Mein Bodyguard dreht seinen Kopf nach hinten. Durch den Helm kann ich zwar nur seine Augen sehen, aber ich könnte schwören, dass er mich grad angrinst.

„Du hältst dich jetzt gut fest!”, seinen Worten folgend lege ich rechts und links meine Hände an seine Seiten. Daraufhin nimmt Marvin sie, „richtig fest, sonst habe ich Angst, dass was passiert!”, damit legt er meine Hände fest um seinen Bauch und bevor ich weiß wie mir geschieht startet er das Gerät.

Als Marvin losfährt fängt mein Bauch an zu kribbeln und ich kann nicht sagen, woran es tatsächlich liegt. So habe ich mir das aber nicht vorgestellt! Ich dachte, ich hätte Angst und wäre aufgeregt auf einem Motorrad zu fahren. Aber jetzt fühle ich mich eher... anders... komisch. Und zwar nicht weil ich auf dieser Maschine sitze, sondern weil ich hinter Marvin auf dieser Maschine sitze… mit meinen Händen an seinem Körper...

Und plötzlich muss ich daran denken, wie Marvin mich im Auto gehalten hat, als ich zu viel getrunken hatte und den Heulanfall hatte. Und daran, als er mir gesagt hatte, dass er mich hübsch findet. Und dann das vorhin, dass er für mich da sein könnte...

Grinsend halte ich mich noch ein bisschen doller fest. Und natürlich nur, weil Marvin gesagt hat, ich soll das tun.

 

Als wir zuhause ankommen, bin ich total durchgefroren. Nach den ersten paar Minuten hatte Marvin zwar noch mal angehalten und mir seine Jacke beinahe aufgezwungen, aber ich hatte sie nicht genommen, weil er darunter nur ein T-Shirt anhatte. Ich meine, wäre er mit so dünnem Stoff und ohne Ärmel gefahren, dann hätte er sich doch bei den lappigen 12 Grad, auf dem Motorrad, eine Lungenentzündung geholt. Und was noch schlimmer wäre, es hätten sich zwischen meinen Händen und seiner Haut lediglich eine furchtbar dünne Schicht Baumwolle befunden. Damit wäre ich nicht klar gekommen. Selbst die Lederjacke empfand ich irgendwann als ungenügend.

Mann! Fast zwanzig Minuten so nah an Marvin, nach diesen ganzen verrückten Gedanken! Ich kann nicht mehr! „Ich geh schon mal rein”, habe ich gesagt und sitze jetzt im Esszimmer. Ich halte mich an einem Glas Wasser fest und warte.

Plötzlich kommt Marvin in den Raum und ich lasse alle meine blöden Gedanken fallen. Mit ihnen dummerweise auch das Glas Wasser. „Mist, Mist, Mist!“, jetzt ist auch noch das Glas kaputt gegangen! Wie dämlich von mir…

Marvin kommt schnell um den Tisch herum „Was machst du denn?“, fragt er erstaunt. Ich antworte mit einem „Keine Ahnung“!

Verärgert hocke ich mich hin und sammle die Scherben auf. Dann halte ich kurz inne. Ist das nicht egal? Wir haben genug Gläser, wir haben genug Geld, wir haben sogar einen Reinigungsdienst. Warum ärgere ich mich und mache hier sauber?

Weil ich das so gewohnt bin, beantworte ich mir die Frage selbst und werfe die Scherben in den Eimer den mir Marvin hinhält. Bevor ich meine Hände wegnehmen kann hält Marvin sie fest und betrachtet sie eingehend. Dann sieht er mir in die Augen, lässt meine Hände aber immer noch nicht los.

„Du hättest dich schneiden können.“, tadelt er mich. Und dabei zieht er seine Brauen zusammen.

Ich ignoriere die Tatsache, dass Marvin immer noch meine Hände festhält. Dass er mir im Augenblick so nah ist und dass mein Herz immer schneller schlägt…

Ich schaue endlich woanders hin. Nicht mehr in seine wunderschönen Augen.

Marvin lässt meine Hände los.

„Ich hole mal Küchentücher zum Trockenmachen.“, bevor ich gehe drehe ich mich noch einmal um. „Und Marvin? Danke für vorhin. Ich bin dir echt was schuldig.“, sage ich und lächle ihn an. Er grinst zu mir hoch „kein Problem“. Und bevor es in mir wieder zum Flattern kommt, drehe ich mich um und gehe in die Küche.

 

„Ma wirklich, ich habe total vergessen dass die Tante heute kommen wollte! Wirklich, ich war nicht absichtlich weg!“, beteuere ich später meiner Mutter. Über die Maßen skeptisch sieht sie mir noch einen Moment in die Augen.

„Also schön. Dann wird der Termin eben verschoben.“ In Gedanken stöhne ich auf. Verschoben? Im Ernst? Als wenn das ein Arzttermin oder etwas ähnlich Wichtiges wäre!

Ausfallen! Es sollte ausfallen!

Genervt mache ich mich auf, zurück in mein Zimmer. Als ich die Tür öffne starrt mir üble Unordnung entgegen. Hatte ich komplett vergessen!

Seufzend stopfe ich meine Kleidung zurück in den Schrank und räume das nötigste auf. Dann mache ich Musik an und lege mich aufs Bett.

Blablabla, alles egal!

 

„In Ordnung, ich klingle jetzt!“, nachdem Marvin gegangen war, stehen Chana und ich nun vor Sarinas Haustür. Entschlossen sehe ich zu Chana rüber, dann presse ich meinen Finger auf den Knopf. Das laute Klingeln lässt mich kurz zusammenfahren. Ich habe zwei Stunden, für länger hatte ich Marvin nicht überreden können, nicht dabei zu sein.

Die hölzerne Tür wird mit einem Ruck aufgerissen und Sarina steht vor uns.

„Ihr seid gekommen.“, tatsächlich lächelt sie ein bisschen.

Chana und ich folgen ihr in ihr Zimmer.

„Oh!“, machen Chana und ich wie aus einem Mund. Wir sind nicht allein.

Annika.

Da sitzt Annika auf dem Bett und lächelt uns zu. Mein erster Impuls ist, mich umzudrehen und wegzulaufen.

Doch ich bleibe stehen. Echt mutig von mir!

„Was macht die hier?“, fragt Chana nicht so leise, wie es höflich gewesen wäre und sieht vorwurfsvoll zu Sarina. Diese jedoch ignoriert das völlig.

„Habe ich nicht gesagt, dass Anni auch da ist?“, innerlich verziehe ich das Gesicht.

Anni? Das ist ja widerlich…

Nervös streiche ich mir über den Rock. „Ja, das hast du wohl vergessen zu erwähnen“, plötzlich bin ich mir gar nicht mehr so sicher, dass Sarina sich bei uns entschuldigen will.

Und das vielleicht wieder alles so wie früher wird. War wahrscheinlich einfach nur naiv von mir so zu denken.

Als ich mir die Gesichter von Sarina und Annika ansehe, entdecke ich im Ausdruck verblüffende Ähnlichkeiten. Und verzieht Sarina ihre Braue nicht auch gerade so hoch wie Annika immer?

„Okay“, ich ziehe meine Mundwinkel nach oben und setze mich auf den Sitzsack vor dem Bett. Während Chana am Türrahmen angelehnt stehen bleibt.

Und Sarina fährt sich durch ihre Haare und leckt sich danach über ihre Unterlippe. Unverhohlen starre ich meine ehemalige Freundin an. Als sie fragt, ob wir einen Film gucken wollen, sage ich „nein“.

„Sondern?“, fragt Annika nun und sieht schräg zu mir rüber.

„Eigentlich… wollten wir uns doch nur zu dritt treffen?“, frage ich nun doch. Chana nickt zustimmend.

„Achso, ich wollte aber nicht dass es langweilig wird, deswegen… ist Annika auch da. Es ist doch viel lustiger, je mehr da sind, findet ihr nicht?“.

Nein… zumindest nicht so…

„Ach komm“, winkt Annika jetzt ab. „Wenn sie keine Lust haben mit uns abzuhängen, dann gehe ich eben“, schon steht sie auf.

Aber Sarina hält sie sofort auf.

„Nein, warum, du musst doch jetzt nicht gehen, oder Chana? Lyonne?“, wir schauen uns kurz an. Eben hat sie uns praktisch als langweilig bezeichnet und wenn es ihr wichtiger ist jetzt mit Annika >>abzuhängen<<, dann gehen wir eben wieder.

Chana stößt sich vom Türrahmen ab und ich stehe auf.

„Lass uns ein anderes Mal treffen, ja? Irgendwann, wenn es besser passt.“, wir gehen alleine aus dem Zimmer und den Flur entlang. Und ich frage mich ernsthaft, ob ich hier jemals wieder langgehen werde.

Ein paar Meter entfernt von Sarinas Gartenzaun, bleiben wir stehen.

„Ich glaub das nicht, das ist unglaublich!“, Chana macht sich sofort Luft. Aber auch ich bin total verwirrt.

„Ich versteh das nicht, warum kann sie uns denn plötzlich nicht mehr leiden und will stattdessen mit Annika befreundet sein?“, Chana zuckt hilflos die Schultern.

 

Nachdem Chana von ihrem Fahrer abgeholt wurde, bleibe ich in der Nähe vom Supermarktparkplatz stehen. Eigentlich hätte ich sofort Marvin anrufen müssen, damit er mich abholt, das war so abgemacht. Aber ich habe grad so eine melancholische Stimmung und will noch eine paar Minuten hier alleine in der Dämmerung stehen.

Wow, ich hoffe ich bin nicht depressiv!

„Lyonne?“, meldet sich Marvin fast sofort als ich ihn anrufe.

„Ja, ich bin fertig… kannst du mich abholen?“, frage ich leise in den Telefonhörer.

„Auf jeden Fall, warte kurz noch bei deiner Freundin, ich klingel dann.“, bevor er auflegt sage ich schnell, dass ich gar nicht mehr bei Sarina bin.

„Ich steh hier schon auf dem Parkplatz von diesem Discounter. Ich kann dir auch entgegen kommen. Du hast doch gesagt, dass du hier irgendwo in der Nähe warten wolltest…“ einen Moment ist er still.

„…dann, weißt du wo die Sparkasse ist? Komm da hin, das ist nicht weit von dir.“ Als das abgemacht ist, mache ich mich auch sogleich auf den Weg. Es ist wirklich nicht weit und ich bin ganz schnell da.

Ich kann die Sparkasse schon sehen, als ich um die nächste Ecke gehe. Und irgendwer steht da auch schon.

Langsam fängt es an zu dämmern. Und lange Schatten werfen sich über die Straße.

Die Person wirft etwas auf den Boden und tritt darauf.

Ein LKW fährt jetzt direkt an mir vorbei und vom Fahrtwind bleibt mir kurz die Luft weg.

Als ich die Augen wieder öffne gehen die Lampen an und ich erkenne Marvin der direkt vor dem Eingang der Sparkasse steht.

Dieser Moment wirkt irgendwie total verwunschen auf mich, deswegen atme ich kurz noch den Zauber des Augenblicks ein.

Aber dann weht plötzlich ein Wind, der reißt mich wieder in die Realität, in der ich Marvin gegenüber stehe und ihn nur anstarre.

Irgendwie weiß ich nicht was ich sagen soll, also bringe ich nur ein blödes „Hallo“, hervor.

Aber Marvin lächelt mich warm an.

„Ich habe das Auto gleich da hinten stehen.“, gemeinsam gehen wir zum Parkplatz rüber.

„Hattet ihr Spaß?“, fragt Marvin und das erinnert mich total an Pa, wenn er mich früher immer abgeholt hat… Ich will nicht, dass mich Marvin an meinen Vater erinnert…

„Na ja, es geht…“, ein schiefer Blick von Marvin. Also werde ich etwas genauer.

„…eher nicht.“, seine Braue hebt sich erwartungsvoll.

„Annika war auch da… das war ein bisschen komisch. Hm, du weiß ja, dass das nicht unbedingt unsere Freundin ist.“ Ich stocke, was soll ich noch sagen. Vielleicht sieht er Annika ja anders?

„Und warum war sie dann überhaupt da? Habt ihr euch deswegen nur so kurz gesehen“

„Ja und das ist eine gute Frage, das weiß ich auch nicht so genau…warum sie da war…“

Marvin drückt auf den Knopf des Schlüssels und mit einem Klick entsperren sich die Türen des Autos.

„Ist das deins?“, frage ich und steige ein.

„Nein“, sagt er nur und ich drehe mich zu ihm.

„Etwa geklaut?“, frage ich scherzhaft und er lacht daraufhin kurz auf und streift mich mit einem belustigten Blick, während er den Schlüssel einsteckt und das Auto startet.

Marvin fährt total angenehm Auto, nicht so wie mein Vater, bei dem mir immer schlecht wird.

„Sag mal…“, fange an, will aber erst nicht weiter sprechen, doch bevor Marvin nachfragen kann rede ich doch weiter. „…rauchst du?“.

Als ich das ausgesprochen habe, zuckt kurz ein schuldbewusster Ausdruck über Marvins Gesicht.

„Na ja, eigentlich nicht mehr.“, sagt er leise und nach einem Moment fügt er noch hinzu.

„Ich dachte, du hättest es nicht gesehen.“, ich schaue wieder auf die Straße.

Das Rauchen nicht gut ist, weiß doch jeder, und das Marvin raucht, hätte ich echt nicht gedacht.

`Eigentlich nicht mehr`, hat er gesagt, was meint er jetzt damit?

„Es ist ja deine Sache“, sage ich, obwohl ich ihm am liebsten auf die Risiken hingewiesen hätte, aber die kennt er sicherlich.

Unbehaglich schielt er zu mir rüber.

„Ich hab mal eine kurze Zeit geraucht als ich siebzehn war, dann habe ich aber wieder aufgehört.“, er macht eine kurze Spannungspause.

„Ich hab vorhin einen alten… Bekannten getroffen und irgendwie hat er mir dann eine angeboten und… naja.“

Ich kann es mir nicht verkneifen die Braue hochzuziehen. Damit ich nichts Belehrendes sage, wiederhole ich innerlich für mich, dass es seine Sache ist. Jeder hat das Recht seine Gesundheit zu zerstören, jeder hat das Recht seine Gesundheit zu zerstören…

„Und… also du erzählst das ja jetzt nicht rum, oder so, dass weiß ich ja…“, er räuspert sich. Aha, nett dass er davon ausgeht.

Er schaut wieder kurz zu mir rüber, dann wieder konzentriert auf die Straße.

„Wem sollte ich das denn erzählen? Ich glaub nicht, dass meinen Eltern das was ausmachen würde, du bist ja nicht mein Freund oder so…“, rede ich drauf los ohne vorher nachzudenken. Du bist ja nicht mein Freund? Warum hab ich das denn gesagt? Nun, eigentlich ist das ja nicht schlimm, nur warum wird mein Gesicht jetzt so warm?

Marvin sieht kurz zu mir rüber und ich sehe dass er schon den Mund öffnet um etwas zu sagen, aber ich komme ihm zuvor, weil ich ein bisschen Angst habe, dass er auf meinen Kommentar eingehen könnte.

Ich räuspere mich.

„Und warum hast du dann wieder aufgehört?“, darauf seufzt Marvin kurz schwer.

„Wegen meiner Oma, sie rauchte Kette und verstarb in dieser Zeit an Lungenkrebs.“

Was? Wow, das ist wirklich…heftig.

„Oh, das tut mir Leid, war sie länger krank deswegen?“, frage ich um ihm meine Anteilnahme zu zeigen.

Wieder schaut er mich kurz von der Seite an.

„Lyonne, du verfolgst so gar nicht die Nachrichten, oder?“, als er wieder nach vorne sieht lächelt er.

Aber ich verstehe seine vollkommen aus dem Zusammenhang gerissene Frage überhaupt nicht.

„Wieso fragst du das jetzt? Ich höre manchmal im Auto Radio… und Chana erzählt mir auch mal was…“, naja, sie liest zwar auch keine Zeitung, eher Klatschmagazine und das auch nur selten, aber irgendwas musste ich ja sagen um meine Ehre zu retten. Marvin muss nicht denken, dass ich ein dummes desinteressiertes Mädchen bin.

„Das sollte kein Angriff sein… hast du schon mal geraucht?“, erschrocken schau ich zu ihm

„Nein, natürlich nicht…“, meine ich sofort. Daraufhin lächelt er.

„Das habe ich mir bei dir auch nicht vorstellen können.“

Marvin schaut wieder auf die Straße und wir schweigen eine Zeit einvernehmlich.

Dann beginnt Marvin wieder das Gespräch.

„Also du und Chana, ihr seid gut befreundet… und warum habt ihr euch dann mit Sarina und Annika getroffen, wenn ihr euch nicht leiden könnt?“, fragt er plötzlich interessiert nach.

Perplex schaue ich ihn an. Aber er konzentriert sich aufs Fahren. Sein Blick ist auf die dunkle Straße vor uns gerichtet.

„Also eigentlich, ist Sarina auch eine gute Freundin, nur in letzter Zeit ist sie… irgendwie anders…“ fange ich an und höre auf, weil ich nicht weiter weiß.

„Menschen verändern sich, das ist normal. Wenn es eine echte Freundschaft ist, hält sie Veränderungen stand. Ansonsten war es wahrscheinlich nicht so.“, Marvin schaut mich von der Seite her an, ich runzle die Stirn, etwas verägert über seine Worte. Meint er damit, dass Sarina und ich nie wirklich befreundet waren?

„Frag sie das nächste Mal doch direkt, ob du ihr noch was wert bist.“, erschrocken hole ich Luft.

„Sowas fragt man doch nicht einfach so. Vielleicht in schnulzigen Filmen, aber sowas fragt man doch nicht eine Freundin!“, erwidere ich entgeistert.

Aber Marvin lacht daraufhin.

„Wieso, darf man nur im Film ehrlich und direkt sein?“, dazu sage ich nichts mehr.

Irgendwie verwirrend. Natürlich muss man auf diese Frage mit nein antworten, aber das würde bedeuten, dass ich sie tatsächlich so fragen könnte, was meinen Ausbruch von eben als völlig dumm hinstellen würde.

Nachdenklich schaue ich aus dem Fenster.

Na ja, vielleicht bin ich auch völlig dumm.

Marvin parkt irgendwann das Auto, ich bleibe kurz sitzen, atme tief durch und greife dann nach der Tür um sie zu öffnen. Doch Marvin kommt mir zuvor. Er muss schon eben ausgestiegen und um das Auto gelaufen sein um mir die Tür zu öffnen. Schnell steige ich aus.

„Oh, danke.“, sage ich und stolpere und falle fast hin.

„Alles klar?“, für alle Fälle hat Marvin die Tür losgelassen und dafür meinen Arm ergriffen.

„Äh, ja.“, peinlich berührt steige ich neben ihm die Stufen zur Eingangstür hoch.

Echt jetzt…

Zuhause ist auf dem ersten Blick alles dunkel. Ich schaue aber trotzdem im Erdgeschoss in alle Zimmer.

„Suchst du deine Eltern? Die sind ausgegangen. Sie dachten wohl, wenn du bei deinen Freundinnen bist machen sie sich mal einen schönen Abend.“, Marvin lehnt lässig am Türrahmen zwischen Küche und Wohnzimmer.

„Achso.“, ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass es erst acht Uhr ist. Ob was Gutes im Fernsehen läuft?

Kurz erinnere ich mich an die Szene von letztens, als Marvin mich partout nicht Fernsehen gucken lassen hat.

Misstrauisch setze ich mich auf die Couch und schalte das Gerät ein. Zwischendurch schiele ich unauffällig zu Marvin rüber. Der steht nur da und guckt, wie ich finde ziemlich auffällig, zu mir rüber. Wird er gleich kommen und mir tatsächlich wieder die Fernbedienung wegnehmen?

Ich zappe durch die Programme und schaue nach, ob gleich irgendwas zur „Prime-Time“ kommt.

Aber auf einmal bemerke ich wie Marvin in meine Richtung kommt. Wird er etwa tatsächlich…

Bereit für die Verteidigung nehme ich die Bedienung in beide Hände und presse sie gegen mich.

„Was machst du da?“, fragt er mit irritiertem Tonfall und lässt sich neben mich auf die Couch fallen.

„Ich darf mich doch dazu setzen?“, fragend sieht er mich an und einen Moment betrachte ich eingehend seine dunkelblauen Augen.

„Das ist weil… du hast mir letztes Mal das Fernsehen verboten, weißt du nicht mehr?“, vorwurfsvoll rücke ich ein bisschen von ihm weg. Auch deshalb, weil sich sonst unsere Oberschenkel beinahe berührt hätten. Was irgendwie komisch wäre.

„Achso… ne, das war nur an dem Tag. Heute bist du sicher…wahrscheinlich… Was willst du dir denn ansehen?“. Sein Blick huscht zum Bildschirm und verfolgt eine Toastbrot Werbung.

Ich erzähle ihm, dass ich mir einen Tolkien Film ansehen wollte der gleich anfängt.

„Hört sich gut an, hast du was dagegen wenn ich mit gucke?“ und obwohl es etwas merkwürdig ist mit einem Jungen abends einen Film zugucken wenn die Eltern nicht da sind, sage ich fast sofort „gerne“. Es ist eben doch schöner nicht alleine einen Film zu schauen.

Bevor der Film anfängt mache ich noch einen Tee und suche in der Küche nach Chips.

Aber ich finde keine. So ein Mist. Seufzend suche ich weiter. Das einzige was ich finde sind Schokoladenkekse.

Also nehme ich diese mit.

Bevor es losgeht, habe ich etwas Angst, dass es irgendwie komisch wird mit Marvin einen Film zu schauen, aber als der Film losgeht, löst sich die Spannung. Wir können gemeinsam lachen und wenn ich etwas nicht verstehe, mit den ganzen Namen komme ich zum Beispiel total durcheinander, erklärt mir Marvin alles, zum Beispiel wer wer ist. Es ist total entspannt und gemütlich, sodass ich kaum merke wie die Zeit vergeht.

Erst als ich bei einer Werbepause mal zur Toilette gehe, gucke ich auf die Uhr. Oha! Es ist schon 22:09 Uhr! Und ein Ende ist noch nicht in Sicht! Aber da ich morgen nicht zur Schule muss, ist es ja nicht so schlimm…

Bevor ich wieder zurück ins Wohnzimmer gehe, ziehe ich mir meine Pyjama Hose und einen gemütlichen Pullover an und nehme mir eine leichte Decke mit, weil es irgendwie ein bisschen kalt geworden ist.

Marvin lächelt als er mich sieht.

„Ist dir kalt?“, fragt er und ist kaum zu sehen, weil es in diesem Raum nur das Licht vom Fernsehen gibt und einer kleinen Lampe die hinter Marvin auf einem kleinen Tisch steht.

„Ein bisschen“, während ich mich gemütlich auf dem Sitzmöbel einrichte macht Marvin wieder auf laut, weil der Film weitergeht.

„Ist dir auch kalt?“, frage ich höflicherweise und biete ihm ein bisschen Decke an.

Er schüttelt den Kopf.

„Nein gar nicht, mir ist warm. Wenn dir nicht warm wird kannst du ja ein bisschen näher kommen.“, ein bisschen erschrocken schaue ich ihn an um herauszufinden, wie er das meinte. So als würde er jetzt auch merken, dass seine Worte ein bisschen wie ein Anmachspruch klingen breitet sich ein bestimmter Ausdruck auf seinem Gesicht aus. Ein bisschen erstaunt, ein bisschen belustigt, ein bisschen Marvin.

„Also das meine ich nur wortwörtlich, ganz ohne Hintergedanken!“, versichert er mir und greift dann zu seiner Wasserflasche um etwas zu trinken.

Okay, ich mache mir zu viele Gedanken.

Wir gucken weiter und je weiter der Abend voranschreitet, desto müder werde ich und irgendwann fallen mir dann die Augen auch einfach zu.

 

Als ich wieder aufwache ist es außer dem Licht des stummgeschalteten Fernsehers dunkel. Auf dem Display ist eine Frau zu sehen, die Broschen verkaufen will.

Wie lange ist der Film schon zu Ende? Marvin ist bestimmt schon nach oben gegangen.

Ich blinzle. Anscheinend liege ich hier auf der Couch. Als ich mich aufrichte, merke ich, dass mein Bein eingeschlafen ist. Vorsichtig strecke ich es etwas… und stoße gegen etwas… jemanden… Marvin.

Hups! Hoffentlich habe ich ihn nicht geweckt! Leise krieche ich nach rechts um mir die Lage genauer anzusehen.

Mit geschlossenen Augen sitzt er angelehnt mit leicht geneigten Kopf an der Stelle, an der ich ihn in Erinnerung hatte.

Warum sieht er selbst bei so schlechtem Licht so gut aus? Warum gefallen mir sogar seine dunkelroten Haare? Hatte ich nicht immer behauptet, dass mir nur blonde Männer gefallen würden? Und warum hat er so dichte Wimpern?

Mein Blick gleitet seinen Hals hinab bis auf seine vor der Brust verschränkten Armen. Ob ihm kalt geworden ist? Er trägt nur ein dünnes Sweatshirt. Sollte ich ihn wecken? Völlig unentschlossen starre ich ihn nur weiter an.

Wie es sich wohl anfühlt, durch seine kurzen Haare zu streichen? Und ist das da auf seinem Kinn ein Bartschatten? Wie sähe Marvin aus, wenn er sich morgens nicht rasieren würde? Wie würde es sich anfühlen, über seine Bartstoppeln zu streichen?

 

Auf einmal kapiere ich was ich da denke und schrecke panisch zurück.

Leider ein Stück zu weit.

Mit einem schmerzhaften Aufprall lande ich auf den Wohnzimmerboden.

„Aaaaauuu!“, kann ich mich nicht zurückhalten, weil es so fies weh tut. Ich glaub ich habe mir den Fuß gebrochen.

Zumindest verstaucht.

Nein er muss gebrochen sein, es tut so unglaublich weh! Wahrscheinlich ist er abgebrochen! Anders kann ich mir diese Schmerzintensität nicht erklären…

„Was ist passiert?“, von den lauten Knall aufgeschreckt kommt Marvin zu mir nach unten auf den Boden.

Irgendwie kommt er mir so nahe dabei, dass ich einen Moment lang diese mega heftigen Schmerzen vergessen kann.

Danach pocht es umso heftiger.

„Ich bin auf meinen Fuß gefallen. Irgendwie hat er sich beim runterfallen verdreht!“

„Was, dein Fuß ist runtergefallen und hat sich dabei verdreht?“, ungläubig und noch im Halbschlaf sieht mich Marvin verwirrt an und greift nach meinem Fuß.

„Nein ich bin zusammen mit meinem Fuß.. na das ist doch klar… jedenfalls bin ich so mit der Seite aufgekommen und… ist doch egal, ich glaub mein Fuß ist gebrochen oder schlimmer!“, irgendwie beende ich diesen Satz, der im Nachhinein gar kein richtiger Satz ist.

„Oder schlimmer? Was kann denn schlimmer als gebrochen sein? Er sieht zumindest noch ganz vollständig aus. Du kannst dich beruhigen, er muss wahrscheinlich nicht amputiert werden.“, erklärt mir Marvin trocken.

„Ha ha.“, ich greife nun ebenfalls nach meinem Fuß um ihn zu betasten, oder das Blut das vielleicht irgendwo runterfließt.

„Wie bist du überhaupt von dem Sofa gefallen?“, neugierig blickt er mir bei der Frage genau in die Augen.

Als ich mir gedanklich die Antwort gebe, wird mein Gesicht ganz heiß und ich bin froh, dass es so dunkel ist, sonst sähe er jetzt wahrscheinlich mein knallrotes Gesicht.

„Das… ist irgendwie passiert… Ich habe mich erschreckt.“, versuche ich zu erklären und schaue überall hin, nur nicht in Marvins Augen.

„Tut das weh?“, er macht irgendwas mit meinem Fuß, was fürchterlich wehtut.

„Aua!“, vorwurfsvoll ziehe ich meinen Fuß weg und stoße seine Hand weg.

Grinst er etwa? Obwohl ich Schmerzen habe?

„Na, gebrochen ist er auf jeden Fall nicht. Höchstens verstaucht. Wahrscheinlich einfach nur geprellt.“, dass er meine Verletzung so abtut verletzt mich ein bisschen.

„Aber ich tu nicht so, es tut wirklich ganz schön doll weh.“, sage ich leise und streiche über meinen armen Fuß. Zumindest kann ich jetzt wieder meine Zehen bewegen.

„Geh am besten schlafen. Wenn dein Fuß sich jetzt über Nacht ausruhen kann, ist er morgen wahrscheinlich wieder fit.“, Marvin steht auf und reicht mir die Hand. Was für eine zurückhaltende Einschätzung, und überhaupt, woher will er das denn wissen, ist er etwa ein Arzt? Nach dem Sportunfall war er viel mehr um mich besorgt…

Trotzdem greife ich seine Hand und lasse mich hochziehen. Vorsichtig stehe ich dabei auf den unverletzten Fuß. Zaghaft teste ich aus, ob ich den anderen Fuß, den Linken, schon benutzen kann.

Es tut über alle Maßen weh!

Ich setze mich auf die Couch.

„Ich glaube ich schaffs nicht bis nach oben, ich schlaf einfach hier auf dem Sofa weiter. Ich greife mir die Decke und bin grad dabei mich hinzulegen, als Marvin mich am Arm festhält.

„Warte, warum bittest du mich nicht dir hoch zu helfen?“, erstsaunt kann ich einen Moment nichts sagen.

„Ach… das musst du nicht. Geh ruhig schlafen. Ich glaub es tut mir echt zu doll weh hochzuhumpeln… auch mit Hilfe…“, auch wenn er mich stützen würde, wäre das Ganze eine Kraxelei.

„Ach Lyonne, ich kann dich doch einfach hochtragen. Komm schon, geh in dein Bett um zu schlafen, das ist doch nichts hier auf der Couch!“, erwartungsvoll bleibt er vor mir stehen.

Erstaunt und ein bisschen errötend (was er ja zum Glück nicht sieht bei dem Licht), denke ich über seine Worte nach.

„Aber…“, will ich einwenden, doch Marivn schüttelt den Kopf.

„Hör auf mit Aber! Komm einfach, mach es nicht kompliziert!“, daraufhin dreht er mir den Rücken zu und kniet sich vor mich hin.

„Los, kletter auf meinen Rücken!“, fordert er mich auf.

Oh nein, das geht doch nicht!

Ich rutsche ein Stückchen vor.

Ich kann das nicht! Dann müsste ich mich ja richtig an ihn klammern und eng an ihn gepresst, an seinem Rücken… nein, das geht nicht!

Marivn dreht sich fragend zu mir um. Aber ich kann das nicht. Einen Moment schaut er so zu mir hoch und keiner sagt was.

Dann steht Marvin auf und beugt sich zu mir runter.

Was macht er denn jetzt? Geschockt fängt mein Herz an sein Pumptempo zu erhöhen.

Marvin nimmt mich jetzt mit beiden Armen, einer an meinem Rücken, einer unter meinen Beinen, zu sich hoch an die Brust und läuft los.

„…“, ich mache zwar den Mund auf, aber bringe keinen Ton raus.

„Du solltest nicht auf dem Sofa schlafen, das ist doch unbequem und schlimmstenfalls erkältest du dich oder verlegst dir was beim Schlafen“. Während er mich die Stufen hochträgt kann ich nur über seine Ausdauer staunen. Ich wiege immerhin so um die 60 Kilogramm,… dass er mich hier einfach so auf seinen Armen hochtragen kann…

„Und wenn du nicht in der Lage bist dich zu bewegen, muss ich dich eben ganz ohne Mithilfe nach oben schaffen!“, er klingt ein bisschen amüsiert.

„Das ist weil…“, was wollte ich sagen? Warum ist seine Brust an meinem Gesicht so warm? Und seine Hände an meinem Rücken… und an meinen Beinen...

„Ja?“

„Äh…“, bringe ich nur heraus und möchte mich am liebsten selbst verhauen. Warum bin ich plötzlich nicht mehr der menschlichen Sprache mächtig? Was ist heute nur los mit mir?

„Wolltest du etwas sagen?“, fragt er und grinst zu mir runter, ich weiß es genau, auch wenn ich ganz woanders hingucke, ich spüre seinen Blick brennend auf meinem Gesicht. Oder warum sonst ist mein Gesicht so heiß?

„Macht es dich nervös? So viel Körpernähe?“, nach Luft schnappend drehe ich mein Gesicht nun doch zu seinem.

„Das stimmt doch gar nicht!“, entgegne ich, was in meinem Zustand eine intellektuelle und kognitive Glanzleistung ist.

Aber Marvin fängt daraufhin an zu lachen. Nur ganz leise, aber ich spüre wie sein ganzer Brustkorb bebt.

Meine Tür macht er mit seinem Ellenbogen auf und dann setzt er mich vorsichtig auf mein Bett ab.

„Lass mich noch mal deinen Fuß abtasten.“, ohne auf eine Antwort zu warten greift er schon nach meinem Fuß. Er tastet ganz sanft meinen Fuß und Knöchel ab. An der Stelle, wo ich ihn verdreht habe, tut es ziemlich weh und ich zucke zurück.

Als er zu mir hochschaut gucke ich woanders hin.

„Ist schon gut, du hast bestimmt recht und es tut morgen nicht mehr weh.“, ich greife nach meiner Decke und fummle damit rum.

Meine Güte! Warum fühlt sich mein Kopf so leer an, oder besser gesagt, vollgestopft von Marvin! Als wenn nichts anderes darin Platz hätte! Wieso macht er mich so fertig? Dass ich mich so blöd anstellen muss! Ich bekomme kein richtiges Wort heraus!

„Gute Nacht Lyonne!“, bevor er geht streicht er mir mit seiner Hand über die Haare.

„Gute Nacht“, hauche ich so leise, dass er es vielleicht gar nicht gehört hat. Erst als er die Tür zugemacht hat schaue ich wieder hoch.

Mit einer Hand greife ich an mein Herz. Ist das eine Herzrhythmusstörung? So laut und schnell hat es noch nie geschlagen, höchstens nach den 3 Kilometerläufen im Sportunterricht.

 

Das hier ist schlimmer als Sportunterricht! Mein Herz schlägt so schnell wie nie zuvor in meinem Leben. Ich schnaufe wie ein Pferd und habe das Gefühl, dass ich nicht mehr lange mache. Ich bin erst siebzehn, soll das mein Ende sein?

„Dein Puls ist jetzt bei 200, Lyonne, du bist ganz schön untrainiert!“, neben mir sitzt meine Tante entspannt auf einem Stuhl während ich auf einem Laufband meine letzten Schritte gehe.

„Eine… Pause…. Wäre…ganz …. toll“, keuche ich. Außerdem, ich habe auch nie behauptet in irgendeiner Weise trainiert zu sein…

„Nach zwölf Minuten? Also ich bitte dich, dann können wir es gleich sein lassen.“, sie schaut eine Weile interessiert auf ihr Tablet.

„Wäre… für mich…. auch okay…“, ich glaub ich spring einfach von diesem Mördergerät…

Neben meiner Tante steht ein sportlicher Mann, der sich als Fitnesstrainer vorgestellt hat und seitdem gar nichts mehr gesagt hat. Stattdessen schreibt er sich unglaublich viel in sein Heft. Was schreibt er sich da alles auf? Doch dann fängt er doch noch an zu reden:

„Wenn wir dreimal die Woche 2 bis 3 Stunden trainieren würden, könnten wir bis…-“, ehe der Mann weiter sprechen kann will ich ihn unterbrechen. Ich hole tief Luft, allerdings komme ich so aus dem Tritt, kann mich grad noch so festhalten, wäre aber trotzdem gestürzt, wenn mich der Trainer nicht mit einer Hand am Ellenbogen festgehalten hätte.

Keuchend stütze ich mich, unauffällig hoffe ich, am Sportgerät fest.

„Also dreimal die Woche geht schon mal nicht! Und das mit den drei Stunden kann man auch gleich streichen!“, gebe ich kund. Also da läuft doch was gewaltig verkehrt bei der Schwester meines Vaters! Dreimal die Woche je drei Stunden! Wie witzig… gar nicht. Soll ich bei der nächsten Olympiade mitmachen oder was?

„Ich bin nicht sportlich und habe auch nicht vor, an irgendeinen Wettkampf teilzunehmen. Also wenn es nur um meine Gesundheit geht, reicht einmal die Woche ne Stunde ja wohl völlig aus….“ Man! Ich bin doch nicht fett oder so! Wieso muss ich hier an so einem Programm mitmachen?

Meine Tante schürzt missbilligend ihre Lippen. Heute hat sie orangene Lippen. Wunderschön, wirklich wunderschön. Das passt zumindest zu ihrem roten Sportdress.

„Lyonne, es geht doch nicht darum aus dir eine Sportlerin zu machen. Wir wollen einfach möglichst effizient deinen Körper in Form bringen.“

Meinen Körper in Form bringen? Bin ich also doch unförmig?

Und was bedeutet überhaupt effizient?

Genervt lasse ich meinen Blick kurz durch das Sportcenter schweifen. Meine Eltern entdecke ich an den Fahrrädern und Marvin an irgendsoeinem Gerät an dem er Klimmzüge macht.

„Lyonne, stell dich nicht immer so an, wenn was Neues auf dich zukommt.“, sagt meine Tante und der Typ neben ihr nickt als wüsste er irgendetwas über mich.

Ich will widersprechen, fange schon an, sage irgendwas… bin dabei aber völlig abgelenkt.

Marvin hört gar nicht mehr auf mit den Klimmzügen. Das ist bestimmt anstrengend. So richtig glücklich sieht er dabei aber auch nicht so richtig aus. Na gut, wenn man Sport macht lächelt man vielleicht auch nicht die ganze Zeit.

„…und warum lächelst du jetzt? Was wolltest du nun sagen? Das war kein vollständiger Satz, Lyonne!“, irgendwie ertappt drehe ich mich wieder zu meiner orangelippigen Tante um.

„Ja, das… weiß ich nicht mehr. Ich war abgelenkt…“, meine Tante runzelt die Stirn und sieht in die Richtung in die ich grad Marvin angestarrt habe.

„ÄH…“, ich will irgendwas sagen, aber sie kommt mir zuvor.

„Abgelenkt? Von was? Von Marvin vielleicht?“, sie wendet sich mir überrascht zu. Ich wedle mit meinen Händen.

„Nein.“, sage ich nachdrücklich, „von den Geräten da hinten, sie sehen so…. Interessant aus. Was machen wir denn jetzt als nächstes?“, euphorisch sehe ich mich dabei im Fitnesscenter um.

O je, ich will hier wieder raus…

Einige Zeit später, wieder im Umkleideraum, bin ich völlig fertig.

Das war soo anstrengend!

„Da fühlt man sich doch richtig gut nach körperlicher Bewegung, oder Lyonne?“, meine Mutter hatte vorhin noch hochmotiviert mit meinem Vater trainiert, während ihre Schwägerin mich gepeinigt hat.

Ich antworte ihr nicht. Vor allem geht es mir nicht richtig gut nach dieser Folterei!

Sie stupst mich mit dem Ellenbogen an.

„Na komm schon, sei nicht so ein Muffel!“, ich weiche aus und greife mir meine Tasche. Dann hole ich meine Duschsachen heraus. Toll, das ist auch noch eine gemeinschaftsdusche! Ich mag so was nicht!

„Haare brauchst du dir aber nicht waschen, wir gehen a noch in die Saune.“, tönt meine Mutter plötzlich, als ich schon in mein Handtuch gewickelt und bewaffnet mit Duschzeug Richtung Gemeinschaftsdusche laufe.

„Entschuldigung?“, ich drehe mich wieder um und merke wie mein linkes Auge anfängt zu zucken.

„Nach dem Sport sollte man in die Sauna, das entgiftet den Körper, dein Vater sagt das zumindest. Es ist aber auch gut für eine schöne Haut…“, ich hebe meine Hand um sie zu stoppen.

„Ma, ich werde definitv nicht in die Sauna gehen! Da muss man sich doch ausziehen!“, zische ich sie böse an.

Beschwichtigend legt sie ihre Hand auf meine Schulter.

„Kein Problem, wir gehen nur in die Frauensauna!“

„Ach so!“, ich tue als würde ich erleichtert lachen. „Na dann ist das kein Problem! Dann muss ich mich ja nur vor Frauen ausziehen! Mach ich ständig!“, sage ich sarkastisch und beleidigt verschränke ich die Arme vor der Brust.

Ma seufzt tief.

„Ach Lyonne, sei doch nicht so! Probiere es doch wenigstens aus. Du kannst ja danach immer noch sagen, dass es nichts für dich war. Hm?“, in Anbetracht der Tatsache, dass jetzt einige andere den Raum betreten um sich umzuziehen und mir das Gespräch vor den ganzen anderen betuchten Frauen peinlich wäre, gehe ich schweigend duschen.

Einen Moment stehe ich da mit dem Handtuch. Dann hole ich tief Luft und zieh es durch.

Ausziehen, duschen… warum kann es denn keine einzelnen Duschkabinen geben? Ich steh einfach nicht auf FKK! Da sollte man meinen so ein Nobel-Sportstudio hätte so viel Luxus…

Was für ein ätzendes Tag!!

 

Ich glaub das nicht!

Vier splitterfasernackte Frauen kommen auf uns zu und biegen dann nach links ab.

Oh Gott, ich will ja nicht hingucken! Aber dann müsste ich ja an die Decke gucken, denn überall laufen begeisterte Saunagäste herum.

Ich drehe mich um, um wieder zu gehen.

Ich kann das nicht!

Drei Frauen stehen mir im Weg und drängeln in meine Richtung und ich weiche aus und…ich bin eingekesselt!

Mama!

Hilfesuchend blicke ich mich um. Ein Fehler! Überall entkleidete Frauen. Große, Kleine, Dicke, Dünne…

„Lyonne, komm wir gehen erst in die 60 Grad Sauna!“, hilflos folge ich der Stimme meiner Mutter.

„Was soll das heißen erst in die 60 Grad Sauna?“, frage ich nervös.

„Wir fangen erstmal nicht zu hoch temperiert an, du bist es ja noch nicht gewohnt!“, noch nicht? Oh je, wie meint sie das?

Vor der Sauna hängt meine Mutter ihr Handtuch lässig an einen Haken und dreht sich erwartungsvoll zu mir um.

„Los komm Lyonne!“

Ohne weiter nachzudenken hänge ich mein Handtuch zur Seite und folge ihr. Das Saunatuch presse ich dabei verzweifelt an mich.

Wir setzen uns nebeneinander in die unterste Reihe. Das ist gut, so komme ich nicht in die Verlegenheit jemanden anstarren zu müssen. Außer ich schaue zur Seite. Dort sitzen nämlich zwei ältere Frauen, die trotz ihres Alters noch eine echt gute Figur haben. Ich frage mich ob das hartes Training gewesen ist oder eher ein netter Doktor…

Ich will jetzt wieder raus hier! Jetzt habe ich es ja ausprobiert du muss hier nie wieder her!

Die Sanduhr zeigt unbarmherzig, dass erst drei Minuten um wären. Das kann nicht sein!

Ich gehe einfach!

Bevor ich aufstehen kann, fällt mir ein, dass mich garantiert jeder anschauen wird wenn ich jetzt rausgehe.

Panisch bleibe ich sitzen.

Mir ist heiß, ich schmelze!

Ich schiele zu Ma rüber, sie hat die Augen zu und Schweißperlen fließen ihr über das Gesicht.

Irgendwie ist es merkwürdig meine Mutter komplett nackt zu sehen. Wann waren wir beide zum letzten Mal gemeinsam nackt? Damals beim Babyschwimmen?

Meinetwegen muss sich das auch nicht wiederholen. Ich meine, der Mensch ist einfach nicht dafür gemacht ohne Klamotten rumzusitzen oder zu laufen. Das sollte man einfach nicht.

Zumindest mag ich das nicht.

Mir ist heiß! Und ich schwitze!

Fünf Minuten erst! Okay, wenn jemand aufsteht und rausgeht, dann geh ich auch!

Ich muss nicht lange warten, aber als die Frau vor mir rausläuft trau ich mich nicht auch aufzustehen.

Ich bin so blöd!

Wahrscheinlich werde ich für immer hier sitzen bleiben müssen. Für immer! Solange bis ich zu einer Pfütze geschmolzen bin.

Dann fragt mich Ma ob es mir gut gehen würde.

„Geht so, war schon mal besser.“, bringe ich mit letzter Kraft hervor.

„Komm, wir gehen jetzt raus!“, ich habe keine Wahl und stehe auf um meiner Mutter zu folgen.

Ich fühle mich gedemütigt. Auch unter der Dusche wird es nicht besser. Der ganze Tag ist eine nackte Demütigung. Eine splitterfasernackte!

Danach gehe ich im Handtuch eingewickelt und mit meiner Tasche wieder in den Umkleideraum. Dort ist mir schon alles egal, ich ziehe mich einfach um ohne nach rechts oder links zu gucken.

Endlich bin ich fertig und laufe durch den Raum mit den Spiegeln und den Föhnen Richtung Ausgang.

Ma wollte noch eine Runde länger in die Sauna. Warum nur? Was war toll daran zu sitzen und zu schwitzen?

Endlich bin ich draußen, ich atme tief durch. Meine nassen Haare habe ich zu einem komischen Knoten gebunden. Egal, es ist warm, ich werde mich schon nicht erkälten.

Die ganze Anlage von dem Luxus-Wellness-Spa-Sport-Massaker-Haus ist sehr hübsch und ordentlich. Der Rasen ist kurz geschnitten, wahrscheinlich ist es Kunstrasen. Hier und da stehen Blumen und Palmen in Kübeln. Einer vom Personal steht an der Tür und wünscht allen einen guten Tag. Ich setze mich auf eine leere Bank. Wahrscheinlich kann ich hier jetzt stundenlang warten.

Ich beobachte hübsche und nicht so hübsche, aber teuer verpackte Menschen an mir vorbei laufen.

Die Haare sitzen perfekt, das Gesicht ebenso. Obwohl sie in eine Sauna gehen und davor womöglich noch Sport machen.

Ich lehne mich zurück und schaue mir den Sonnenuntergang an. Es sieht echt schön aus. Ich freue mich auf den Sommer, heute ist es noch so spät so lau, das man schon den Sommer riechen kann.

Ich vergesse sogar dabei die schrecklichen Erlebnisse von vorhin und fühle mich irgendwie beruhigt von der Schönheit des bunten Himmels.

 

In der Schule sitze ich wie üblich neben Chana.

Ihre Haare sind komplett schwarz, sie hat sich wohl die bunte Strähne übergefärbt.

„Alles klar? Was ist mit deinen Haaren?“, frage ich sie etwas besorgt. Sie macht eine Grimasse.

„Ach, eigentlich nicht viel. Am Wochenende hatten wir nur so eine Veranstaltung, da wollten meine Eltern, dass ich „ordentlich“ aussehe. Ach ich verstehe sei ja, sie wollen dass ich einen guten Eindruck hinterlasse um mal einen tollen, und hast heißt erfolgreichen, Mann zu kriegen.“, sie seufzt tief und lässt dann ihren Kopf auf die Arme fallen, die sie auf den Tisch gelegt hatte.

Oje, das hörte sich nicht gut an. Ich tätschle sie tröstend ein bisschen. Eigentlich will ich ihr noch von dem Saunabesuch erzählen, aber dann fängt schon der Unterricht an.

Unser Klasselehrer verkündet gutgelaunt, dass er ein paar Neuigkeiten für uns hat. Panisch denke ich daran, dass ich noch überhaupt nichts für mein Praktikum, dass in ein oder zwei Monaten anfangen würde organisiert habe!

Nach den Ferien geht es schon los und ich hatte es einfach verpasst mich zu bewerben, beziehungsweise mir Plätze rauszusuchen. Ich habe noch gar keinen Plan wo ich hinwill!

Hey, ich könnte notfalls bei meinem Vater ein Praktikum mache, wäre doch interessant…

Aber unser Klasselehrer Herr Gruber will auf etwas anderes hinaus. Es geht um die Klassefahrt am Ende des Schuljahres.

Oh, ach ja, da war ja was.

Es soll nach Österreich gehen, zum Skifahren.

Auch das noch!

Ich lasse meinen Kopf auf meine Arme fallen, wie Chana vorhin, während ringsherum alle jubeln und in heller Vorfreude sind.

„Alles klar Lyonne?“, Chana legt ihren Kopf neben mich auf die Tischplatte und ich drehe mich zu ihr.

Einen Moment sehen wir uns nur an und ich bin fasziniert was für eine reine und glatte Haut meine Freundin hat. Ich kann kaum eine Pore erkenen.

„Wow, so nah sind wir uns auch nicht oft.“, stelle ich trocken fest, dann setzen wir uns kichernd wieder gerade hin.

Chana fragt, ob wir tauschen wollen. Ich weiß erst nicht was sie meint, aber dann fällt mir siedend heiß ein, dass sie ja nie auf Klassenfahrten mitfahren darf. Ihre Eltern möchten es nicht. Sie halten das für ihre einzige Tochter zu gefährlich. Ich schiele kurz zu dem braunhaarigen Mann in der Ecke des Raumes, der für sie als Leibwächter angestellt ist.

Sonst war ich auf Klassenfahrten immer zusammen mit Sarina in einem Zimmer. Zu wem kann ich denn jetzt gehen? Oh weh, wahrscheinlich komme ich dann im in das „Restezimmer“, wo alle reinkommen die keine Freunde haben. Die schlechte Auslese sozusagen. So jemand wie Jasmin, das Emo-Mädchen mit der aufgemalten Träne auf der Wange die immer vom Tod redet oder Pia, die jedem ihre politische Meinung aufdrängen möchte. Und natürlich Lyonne, die öde schwarzhaarige ohne Freunde in der Klasse.

Und dann auch noch Ski fahren! Ich war zwar noch nie auf Skiern, aber ich stelle es mir furchtbar vor! Ich habe viel zu große Angst davor hinzufallen als dass ich gerne in Skiern steigen würde.

Oder ich werde einfach so wie Chana nicht mitfahren! Aufatmend drehe ich mich zu ihr um.

„Ich glaube ich fahre auch nicht mit.“, flüstere ich ihr zu, während Herr Gruber uns einzelne Informationen preisgibt.

„Was? Warum? Du musst! Wer erzählt mir denn danach alles haarklein?“, ich zucke die Schultern und verkneife es mir zu Sarina zu schielen.

Ich tue es doch und beobachte wie sie mit Annika und anderen Mädchen aufgeregt tuschelt. Sie guckt aber nicht zu uns. Ich fühle mich ein bisschen Aussätzig.

Dann merke ich, dass ich beobachtet werde und sehe nach links.

Marvin hat seinen Ellenbogen auf den Tisch gestellt und sein Kinn auf seine Hand abgelegt.

Er starrt mich unverfroren an. Fassungslos sehe ich wieder nach vorne und höre Herrn Gruber zu. Wie kann er mich so mir nichts dir nichts anstarren?

„So, dann wollte ich euch alle noch erinnern mir eure Praktikums Bescheinigungen von euren Betrieben abzugeben. Ich hoffe ihr habt alle einen Platz gefunden, wer bis nächste Woche noch keinen hat meldet sich bei mir, dann schauen wir gemeinsam.“

Oh nein! Oh nein! Wo soll ich denn so schnell einen Platz herbekommen?

Knallrot sitze ich da und überlege fieberhaft wo ich mich bewerben könnte.

Ich weiß ja auch gar nicht was ich mal werden möchte, wo soll ich also mal reingucken, in welchen Betrieb? In welchen Bereich?

Ich meine ja, ich wollte eigentlich zur Polizei gehen und da ein Praktikum machen aber… irgendwie… irgendwie glaub ich nicht dass das innerhalb einer Woche klappen sollte.

Und wahrscheinlich stelle ich mich dann da so blöd an, dass sie mich nach zwei Tagen rauswerfen.

Ehrlich gesagt, ich trau mich einfach nicht. Es war irgendwie immer mein heimlicher Traum und sollte ich mir das angucken und ich feststellen dass es nichts für mich ist dann… dann war es das mit dem Traum.

Den restlichen Schultag bin ich total in Gedanken versunken. Chana macht in einem Kosmetiksalon ein Praktikum, unsere Klassensprecherin bei einem Radiosender. Ich würde gerne wissen wo Sarina hingeht.

Auf den Weg zum Sportunterricht läuft Marvin vor mir her mit ein paar anderen Jungs.

Wo geht Marvin eigentlich hin? Er müsste doch mit mir zusammen ein Praktikum machen, sonst wäre das doch mit der Leibwächtergeschichte völlig sinnlos.

Nachdenklich starre ich auf seinen Rücke.

Dann werde ich angerempelt.

„Lyolonn! Wir müssen eigentlich mal wieder ins Kino gehen! Dann kannst du auch mal eines von den Kleidern anziehen die du dir letztens gekauft hast!“, Chana hakt sich bei mir unter.

„Ach ja, die Kleider… puh… ja, können wir machen nur weißt du…“, ich fange an zu flüstern. „ich habe vergessen mir einen Praktikumsplatz zu suchen! Ich brauche bis nächste Woche was!“, verzweifelt streiche ich mir über das Gesicht.

Warum ist alles so kompliziert?

„Du wolltest doch zur Polizei gehen?“, flüstert Chana zurück. Ich zucke die Schulter.

„Ja schon aber… ehrlich gesagt… ich weiß nicht…“, zusammen kommen wir in der Mädchenumkleide an.

Wir ziehen uns um und als ich grad meine Bluse ausgezogen habe um mir das Sportshirt überzustreifen, geht Annika an mir vorbei.

„Oh, hübsche Wäsche… meine Mutter trägt auch sowas.“, lächelnd geht sie weiter und zieht sich ebenfalls um.

Zuerst bin ich peinlich berührt, mehrere Mädchen gucken zu mir und können nun meinen Spitzen-BH begutachten. Aber mir fällt auf, keines der Mädchen grinst oder lacht mich aus.

Und dann sehe ich Sarina neben Annika und sie lachen zusammen über etwas.

Über mich?

Chana sagt irgendwas, ich ziehe mich schnell fertig um und gehe dann in die Sporthalle.

Ich bin das erste Mädchen. Etwas verloren setze ich mich auf eine der Bänke.

Ein paar Jungs laufen wie irre durch die Sporthalle und kämpfen leidenschaftlich um einen Ball.

Na toll, wegen meiner Tante und ihrer Kleidervorstellung… nein eigentlich wegen Annika… obwohl eigentlich… eigentlich könnte ich mir auch einfach neue Sachen kaufen, oder? Ich muss das doch nicht tragen! Diese Röcke, Blusen und Blazer. Und die Spitzenunterwäsche… Wieso überhaupt? Ich meine, möchte meine Tante mich so kleiden, damit ich dadurch mehr das Gefühl für eine Prinzessin bekomme? Oder denkt sie vielleicht wirklich ich trage das alles gerne? Ich denke… ich sollte noch mal mit ihr reden…

Oder einfach noch mal mit Chana shoppen gehen.

Plötzlich rollt ein Ball auf mich zu. Ich sehe hoch. Alle meine Mitschüler starren mich erwartungsvoll an.

Ich stehe auf, greife nach dem Ball und gebe alles. Mit voller Kraft werfe ich den Ball soweit ich kann, in Richtung der Jungs.

Er fliegt ungefähr vier Meter weit und rollt dann den Rest bis zu Fabian.

Einen Moment starren wir uns an, dann nimmt er kommentarlos den Ball und sie machen weiter mit ihrem Rumgelaufe.

Ich setze mich hin und bin peinlich berührt. Wieso kann ich nicht mal einen Ball werfen? Kurz überlege ich, dass meine Tante doch Recht hat, mit ihrem Sportprogramm für mich. Das eben gibt mir doch sehr zu denken.

Ich schaue um zu gucken ob mich jemand beobachtet. Aber das tut keiner, alle Jungs toben wie kleine Kinder durch die Halle oder stehen am Rand und reden über irgendwas. Keine Ahnung über was Jungs so reden. Über Sport? Naja und übers Herumknutschen, jedenfalls hatten das die Typen damals gemacht, als ich mit Sarina und den anderen im Café gewesen war.

Ich beobachte kurz Marvin, wie er einen Ball auf seinen Knien hüpfen lässt. Dabei fällt mir ein, dass ich ihm das Geld damals für die Schorle noch gar nicht wiedergegeben habe. Das muss ich unbedingt noch nachholen!

Jetzt kommen endlich auch ein paar Mädchen. Chana läuft auf mich zu und setzt sich neben mich.

„Ja… nur dass wir vielleicht noch mal shoppen gehen müssen.“, antworte ich noch etwas schmollend von Annikas Worten.

Chana lächelt aufmunternd.

„Lass dich doch von ihr nicht treffen. Sie spricht halt aus was in ihrem Kopf so abgeht, was nebenbei bemerkt keinen interessiert. Wir kommentieren ja auch nicht ständig ihren fragwürdigen Kleidungsstil!“, ich grinse ein bisschen.

„Du bist so lieb Chana!“, jetzt geht es mir besser.

Das ändert sich aber schlagartig, als unsere Lehrerin uns alle rausschickt um drei, und die Jungs fünf Runden zu laufen.

Als ich laufe tut mir alles weh. Ich merke jetzt einen richtig schönen Muskelkater von gestern.

So ein Elend!

Ich kann schon nach 200 Metern nicht mehr und schnaufe wütend neben Chana her. Sie macht eine etwas bessere Figur als ich, aber Chana geht auch regelmäßig in ihrem hauseigenen Swimming-Pool ein paar Runden zu schwimmen.

Annika und Sarina ziehen elegant an uns vorbei und natürlich die sportlichen Jungs. Irgendwann sage ich Chana, dass sie nicht auf mich warten braucht. Erst läuft sie trotzdem mit mir zusammen, dann möchte sie aber doch lieber nicht im Schritttempo laufen.

„Hast du Muskelkater?“, Marvin taucht plötzlich neben mir auf. Ich frage mich, ob das schon seine zweite oder dritte Runde ist. Ich beschließe aber nicht weiter drüber nachzudenken.

„Ja schon, du nicht?“, er schüttelt den Kopf. Insgesamt sieht er total frisch aus. Ich dagegen schnaufe bereits wie ein Pferd.

Neben Marvin versuche ich keine allzu schlechte Figur abzugeben, aber ich bekomme langsam Seitenstiche.

„Achte auf die richtige Atmung und denke an was anderes, an etwas Schönes!“, macht er mir Mut, hält mir seine Hand mit ausgestreckten Daumen hin und läuft dann wieder in seinem Tempo. Er ist ungefähr dreimal so schnell wie ich.

Nach und nach überholen mich, und den Rest der Schnecken-Truppe auch die anderen, und als ich bei der zweiten Runde bin sind viele schon fertig.

Währenddessen versuche ich an etwas Schönes zu denken. Aber mir fallen nur das Praktikum und die Klassenfahrt ein, zwei Horrorvorstellungen.

Was Schönes… Katzen… hey, mein Vater meinte doch dass die beiden flauschigen Tierchen bald nach dem Umzug zu uns komme sollten! Das wird doch dann bald Zeit! Die zweite Runde versuche ich mich nur darauf zu konzentrieren, auf den kleinen Husky und die Langhaarkatze.

Als ich mit der zweiten Runde fertig bin, pfeift unsere Lehrerin uns zusamen. Erleichtert laufe ich von dem Laufweg über die Wiese Richtung Sporthalle.

Dabei stolpere ich fast, kann mich aber grad noch halten. Meine Beine fühlen sich wie Wackelpudding an, ich frage mich wie ich die restliche Sportstunde überhaupt noch mitmachen soll…

Irgendwie überlege ich den Sportunterricht und nachdem ich mich blitzeschnell umgezogen habe, laufe ich schonmal raus. Nicht noch mal will ich mich den blicken oder Sticheleien von Annika aussetzen.

Vor dem Schultor warte ich brav auf Marvin.

Als ich so warte, laufen an mir ein paar andere Schüler vorbei. Ich sehe Nils, den Jungen aus der zwölften. Als er mich sieht kommt er wundersamer Weise auf mich zu.

„Hallo Lyonne!“, sagt er und steckt seine Hände in die Hosentaschen.

„Hattet ihr grad Sportunterricht?“, ich nicke.

„Und was hattet ihr?“, frage ich zurück. Er sagt dass sie Mathe hätten und es mega nervig gewesen wäre.

„Hey, was machst du jetzt? Hast du Lust mit mir in die Stadt zu gehen? Ich wollte mir noch ein Buch kaufen.“, verdutzt sage ich erstmal nichts, dann verschaffe ich mir mit einer Gegenfrage etwas Zeit.

„Oh, was liest du denn?“, er erzählt, dass er, genau wie ich total auf Fantasy Romane steht. Begeistert erzählt er mir von seinem Lieblingsbuch und ich erzähle ihm von meinem Lieblings Autor. Dabei hört er mir genau zu und als er erzählt finde ich es niedlich, dass er Grübchen hat.

Danach erzählt er dass er zuhause einen Hund hätte und mit seinem Vater zusammenleben würde, dieser wäre aber beruflich bedingt kaum zuhause.

Jetzt fragt er mich wo ich wohnen würde. Bevor ich antworten kann werden wir unterbrochen.

Von Marvin.

„Hallo Nils.“, sagt er. Nils begrüßt ihn begeistert. Marvin schaut zu mir rüber und dabei entdecke ich eine steile Falte zwischen seine Brauen.

„Kommst du jetzt?“, ich verschränke die Arme. Was soll das denn? Ich habe jawohl auf ihn gewartet und mit einem Mitschüler darf ich jawohl noch reden.

Nils sieht von mir zu Marvin und zurück.

„Seid ihr beide zusammen?“, ich starre ihn mit großen Augen an, dann wird mein Gesicht total heiß. Oh nein, wahrscheinlich bin ich puterrot geworden!

„Äh, nein.“, sage ich hastig, ehe zu viel Zeit vergehen kann. Aber fast gleichzeitig sagt Marvin:

„So ähnlich.“, verwirrt drehe ich mich zu ihm um.

„Ach… so ist das.“, Nils starrt mich an, dann lächelt er wieder.

„Dann euch noch einen schönen Tag! Tschüss Lyonne!“, damit geht er. Er hat nur zu mir tschüss gesagt!

Marvin geht los, ich folge ihm zum Parkplatz. Dort wartet schon unser Fahrer auf uns. Wir steigen in das graue Auto ein und ich hoffe uns sieht keiner, wie wir zusammen wegfahren, schlimm genug, dass Nils jetzt wahrscheinlich denkt wir wären ein Pärchen.

Wir sitzen beide hinten auf der Rückbank. Ich warte ein paar Minuten, dann stelle ich Marvin zur Rede, der die ganze Zeit stur aus dem Fenster schaut.

„Du sag mal… was sollte das grade?“, er dreht sich zu mir um und sieht auf mich runter. So fühlt es sich zumindest an.

„Was meinst du?“, hallo?

„Na was meine ich wohl? Wieso sagst du Nils, dass wir zusammen wären?“

„Habe ich ja gar nicht. Ich sagte: so was Ähnliches!“, ich verdrehe die Augen.

„Und warum hast du das so gesagt? Damit hast du die Sache so offen gelassen, der denkt doch jetzt das wir zusammen sind!“, vorwurfsvoll versuche ich ihn niederzustarren.

Na, warum wohl? Wieso will ich, dass dieser Nils denkt dass du vergeben bist?“, er äfft mich nach!

„Ja, das habe ich dich ja grad gefragt? Wäre schön, wenn du mir antworten würdest!“, ich bin sauer, gleichzeitig finde ich es blöd so mit Marvin zu reden. Ich hätte ihn einfach fragen sollen ohne ihm direkt einen Vorwurf zu machen.

„Ich habe das gesagt, damit er dich in Ruhe lässt! Lyonne, Typen sind nicht ohne Grund nett zu euch Mädchen, die machen nichts ohne Hintergedanken!“, ich glaube Marvin ist sauer auf mich.

„Nicht war Martin?“, spricht er plötzlich den Fahrer an. Oh, ich wusste gar nicht, dass er Martin heißt. Ich habe mir nicht mal Gedanken darüber gemacht, dass er auch einen Namen hat.

„Ja das stimmt. Männer sind Hunde. Fräulein Lyonne, hören sie auf das was … Herr Marvin sagt!“ kurz bin ich irritiert warum er „Herr Marvin“ sagt, aber dann konzentriere ich mich auf das eben gesagte.

„Okay, und ihr gehört aber nicht dazu?“, meine ich und hebe eine Braue. Daraufhin schaut Martin der Fahrer kurz nach hinten.

„Das habe ich nie behauptet.“, er schmunzelt kurz und sieht dann wieder nach vorne.

Anklagend sehe ich zu Marvin.

„Was soll das denn heißen?“ Was soll das? Was meint er denn jetzt?

„Marvin, soll ich mich jetzt auch vor dir in Acht nehmen?“, plötzlich seufzt Marvin tief und lächelt sogar ein bisschen.

„Ach Lyonne, ich meine doch nur… dass du bei Männern immer aufpassen solltest.“ Den Rest der Fahr schweigen wir.

Was war das denn für ein dämliches Gespräch. Ich bin doch nicht blöd! Aber eben mit Nils… wir haben ja nur geredet. Wahrscheinlich findet er mich ganz nett, sonst würde er ja nicht mit mir reden, aber mehr eben auch nicht. Warum auch, wir kennen uns ja auch gar nicht.

Aber dass Marvin so komisch reagiert hat und jetzt dieses Gespräch… ich kapiere gar ncihts mehr!

Ich fühle mich völlig dumm.

 

 

Kapitel 7

Das ist jetzt erst die Fünfte Woche!

Ich muss das mal zusammenfassen! Also, Pa hat mir verkündet, dass ich schon vor meiner Geburt verlobt wurde, dann hatten wir einen neuen in der Klasse, der sich als mein Bodyguard entpuppt hat und außerdem bei uns wohnt. Ach ja, wir sind ja auch noch umgezogen.

In meinem Kopf dreht sich alles.

Das ist ein bisschen viel, ich brauch Urlaub.

Seufzend suche ich im Internet weiter nach Institutionen bei denen ich mich für ein Praktikum bewerben kann.

Ich bin viel zu spät! Wie konnte das passieren?

Na ja, eigentlich ist noch einiges an Zeit dazwischen erstmal die Klassenfahrt und die Ferien und ich glaube dann auch nochmal zwei Wochen dazwischen. Aber bis nächsten Montag muss ich unserm Lehrer die Praktikumsbestätigung abgegeben haben!

Überfordert mache ich einfach die Augen zu.

Was soll ich tun?

Auf den Homepages steht meistens nichts von wegen Schülerpraktikum, weswegen schreibe ich mir einfach nur die angegebenen Telefonnummern aufschreibe.

Als ich ungefähr zehn habe, nehme ich den Telefonhörer in die Hand, hole tief Luft, schlucke die Panik vor dem Anruf runter und wähle.

Der Buchladen leitet mich dreimal weiter, bis dann die letzte Dame mir sagen kann, dass kein Platz mehr frei wäre.

Der Tierarzt nimmt keine Schüler und der Blumenladen ist auch schon voll.

Vielleicht könnte ich in irgendeinem Kindergarten anrufen, da gibt es doch bestimmt noch ein Platz!

Ich denke kurz darüber nach und stelle mir vor in einem Raum mit 20 kleinen Kindern zu sein und diese zu irgendwas bringen zu wollen oder noch schlimmer: mit ihnen zu spielen.

Keiner aus unserer Familie hat kleine Kinder und deswegen bin ich da einfach kein Profi. Ich finde Kinder ganz schön krass!

Vielleicht rufe ich doch noch bei der Polizei an?

Nein! Das geht nicht. Das war immer mein heimlicher (mehr oder weniger heimlich) Traum. Wenn ich jetzt keinen Platz bekomme… oder ich bekomme einen Platz und stelle mich dämlich an und hinterlasse einen schlechten Eindruck. Das wäre so unglaublich schlimm!

Man! Wo soll ich denn noch anrufen?

Ich könnte Ma fragen.

Oder bei Pa ein Praktikum machen… „und wo hast du dein Schulpraktikum gemacht?“, wenn mich jemand fragen würde, dann könnte ich darauf antworten: „ach, bei meinem Vater…. ja stimmt! Genau, ich bin ein Papakind! Hahaha“.

Abrupt stehe ich auf und verlasse mein Zimmer. Auf keinen Fall!

Während ich die Treppen runterlaufe überlege ich mir, dass es Zeit für einen kleinen Snack ist.

In der Küche gieße ich mir erstmal einen Orangensaft ein und suche dann in den Schränken nach Keksen oder Chips. Dabei streift mein Blick kurz die Anrichte. Auf einem Teller sind mehrere Äpfel aufeinander gestapelt. Wer will die denn alle essen?

Ein bisschen genervt, weil ich nichts finde, suche ich weiter.

Dann kommt Ma rein und fragt mich, was ich suche.

„Kekse oder Schokolade.“, aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sie den Kopf schüttelt.

„Ehrlich Lyonne? Wir haben doch grade erst Abendbrot gegessen… ich glaube da hinten im Schrank könnte was sein!“, ich ignoriere ihren Kommentar und öffne den genannten Schrank.

Tatsächlich entdecke ich eine Pralinenpackung.

„Darf ich die essen, oder wolltest du die?“, Ma zuckt die Schultern.

„Kannst du ruhig. Aber hast du wirklich noch Hunger?“, kritischer Blick von ihr. Ich ziehe die Brauen hoch.

„Appetit“, rechtfertige ich mich.

Mit dem Glas und den Pralinen laufe ich wieder in mein Zimmer.

Grübelnd öffne ich die Packung und betrachte kurz die Auswahl. Super, die Pralinen sind mit Rum und Marc de Champagne, die mag ich gerne!

Als ich grade genüsslich nach der zweiten greife klopft es an der Tür. Oh nein! Will Ma jetzt doch welche?

Kurz überlege ich die Pralinen zu verstecken und ihr zu sagen, dass ich sie schon aufgegessen hätte.

Dann erinnere ich mich daran, dass ich schon siebzehn bin.

„Kannst rein kommen!“.

Ich bin überrascht, als es nicht Ma ist sondern Marvin. Ich war wirklich felsenfest davon überzeugt davon, dass es Ma wegen der Schokolade wäre…

Marvin schlendert gemütlich zu mir an den Schreibtisch, dabei wirft er einen Blick auf die Schokolade.

Oh nein! Will er etwa welche davon haben?

Zögernd frage ich ihn daraufhin.

Er lächelt.

„Nein danke.“, dann wartet er einen Moment.

„Lyonne, hast du grad Zeit?“, verdutzt nicke ich. Er steht neben mir und schließlich biete ich ihm an sich auf mein Bett zu setzen. Dann betrachtet er kurz die rosa Bettwäsche, die lila Gardinen und die rosa Wände.

„Ich streiche die Wand demnächst neu, in grau oder so… ich habe mir die Farbe nicht ausgesucht.“, räuspernd lasse ich meinen Blick nun auch durch den Raum gleiten. Wer hatte den Raum blos so gestaltet.

„Magst du kein Rosa?“, fragt mich mein Aufpasser.

„Na ja, es geht. Aber das hier..“, ich deute in den Raum. „… ist eindeutig zu viel.“

Dann schaut sich Marvin ein paar Bücher an, die auf meinem Nachttisch liegen. Hey, was soll das!

Ein bisschen nervös überlege ich, ob mir die Bücher peinlich sein müssen. Nein eigentlich nicht. Außerdem… das ist mein Zimmer, was will Marvin hier überhaupt? Das macht mich nervös.

„Ähm, was möchtest du denn?“, frage ich also und nehme noch eine Praline in den Mund.

Er legt das Buch, indem es um Drachen und die Rettung der Welt geht, zur Seite und grinst mich an.

„Die Protagonisten heißt Lilia und ist in den Prinzen ihres Landes verliebt!“, Marvin grinst amüsiert, mir entgleist mein Gesicht. Er muss gemerkt haben, dass ich das nicht lustig finde (und im Übrigen bisher noch gar nicht diese Parallele zu meinem Leben gesehen hatte) und räuspert sich.

„Ich wollte eigentlich nur fragen wo du dien Praktikum machst, damit ich mich da auch… vorstellen kann.“

Aha! Er hat also vor am selben Ort, in derselben Institution sein Praktikum zu absolvieren wie ich. Nun, kein Wunder, schließlich soll er ja immer in meine Nähe bleiben.

„Ja das… ich weiß es ehrlich gesagt noch nicht…. Ich habe in all der Aufregung der letzten Wochen vergessen mich irgendwo zu bewerben.“, es ist mir peinlich, deswegen schaue ich Marvin nicht an, stattdessen aus dem großen Fenster.

„Oh.“, macht er verblüfft. Ich seufze laut.

„Ich habe grad mindestens hundert verschiedene Einrichtungen, Firmen und Geschäfte angerufen, in denen ich nach einem freien Platz gesucht habe! Die meisten haben keinen Platz oder nehmen erst gar nicht jemanden!“, ich lehne meinen Kopf auf meine Hand und blicke zur Marvin rüber.

Dieser sitzt aufrecht auf meinem Bett mit verschränkten Armen. Er sieht mir nachdenklich in die Augen.

„Wie wäre es, wenn ich uns zwei Plätze organisiere?“, verblüfft richte ich mich auf.

Hoffnung keimt in mir auf. Dann jedoch zweifle ich. Wie soll er das denn noch so kurzfristig schaffen, erst recht nach zwei Plätzen zu suchen?

„Bist du dir sicher, dass du das hinkriegst?“, frage ich deshalb. Er sieht mich daraufhin tadelnd an.

„Natürlich, wenn ich sage, dass ich das machen kann, dann kann ich das auch. Also überlässt du mir die Suche?“, ich nicke ungläubig.

Er sieht mir direkt in die Augen, so als wenn er in diesen etwas lesen könnte.

Ich hoffe mal nicht.

Wow! Wenn er für mich einen Praktikumsplatz findet, dann muss ich mir keinen Stress mehr machen! Ich kann es kaum glauben!

Wenn er das schafft, dann wäre ich ihm echt dankbar!

„Marvin, das wäre echt cool! Aber wie willst du das machen?“, frage ich neugierig nach.

Und esse noch eine Praline.

„Ich werde viel rumtelefonieren müssen. Notfalls greife ich auf ein paar spezielle… Kontakte zurück.“, wie er das sagt, klingt er wie ein Geheimagent.

Wahrscheinlich bedeutet das für ihn viel Arbeit. Und ich muss nichts tun.

„Kann ich dir dabei irgendwie helfen?“, er schüttelt den Kopf.

Ich muss an die Geschichte denken, als er mich letztens vom Bahnhof abgeholt hatte und meinen Eltern nichts davon erzählt hatte, dass ich weggelaufen war. Und jetzt rettet er mich schon wieder.

Ich drehe mich wieder zu Marvin um, er ist grade dabei wieder nach meinen Büchern zu greifen. Schnell lenke ich ihn davon ab.

„Hey, ähm, vielleicht kann ich ja irgendwie mal… meine ganzen Schulden bei dir bezahlen?“, zwei verdutzte Augen schauen mich an.

„Was für Schulden?“, will er wissen. Jetzt stützt er sich mit seinen beiden Armen links und rechts auf der Matratze ab.

„Na ja,.. dass du mich letzte Woche nicht verpetzt hast und jetzt die ganze Arbeit übernimmst. Außerdem schulde ich dir noch eine Apfelschorle!“, das habe ich nicht vergessen!

Wieder schaut dieser Typ mich so nachdenklich an.

Dann sagt er völlig ernst. „Du schuldest mir nichts, Lyonne.“, er sagt das ganz ruhig, aber weil er mich so ansieht, fängt plötzlich mein Bauch an zu kribbeln.

Ich blinzle.

„Doch. Außerdem… du musst meinetwegen wieder in die Schule gehen und das alles… auf mich aufpassen… vielleicht gibt es ja was über das du dich freuen würdest?“, frage ich mutig, dass ich mich getraut habe.

Marvin sagt nichts. Habe ich was Komisches gesagt?

„Na gut.“, meint er plötzlich und ich horche auf.

„Dann wünsche ich mir den Samstag.“, ich schaue ihn mit großen Augen an. Den Samstag? Wie meint er das?

Er muss merken, dass ich ihn nicht verstanden habe.

„Ich nehm dich am Samstag mit und wir unternehmen etwas, was ich gerne mach. Und dafür organisiere ich dir einen Praktikumsplatz. Bist du einverstanden?“, das scheint fair, oder? Immerhin ist er sonst fast immer sieben Tage die Woche bei mir, dann wäre es doch wirklich nett von mir, ihm einen Tag zu schenken.

Ich lächle, ich freue mich, dass ich ihm einen Wunsch erfüllen kann.

„Ja gerne! Abgemacht!“.

Marvin steht auf und lächelt mich an.

„Gut, dann mach ich mich an die Arbeit!“, dann geht er zur Tür.

„Danke!“, rufe ich ihm hinterher. Er hebt die Hand kurz und verlässt dann mein Zimmer.

Er hat mich gar nicht gefragt, wo ich ein Praktikum machen möchte.

Und ich habe keine Ahnung, was er am Samstag machen möchte.

Nachdenklich lege ich mich auf mein Bett. Nach kurzer Zeit greife ich mir das Buch von Lilia und erfahre bald darauf, dass der Prinz sie das ganze letzte Kapitel belogen hat.

So ein Scheißkerl!

 

Am Mittwoch ziehe ich mir das blau-weiße Kleid mit den Gänseblümchen an. Damit es nicht so schick aussieht ziehe ich mir darüber eine lange Strickjacke und dazu Turnschuhe an. Als ich mich im Spiegelbild betrachte, finde ich, dass es durchaus schultauglich ist. Wenn man bedenkt wie andere Leute da so herumlaufen.

Weil heute Mittwoch ist, muss ich nach der Schule zu meiner Tante. Da habe ich ja so große Lust drauf. Aber da hilft wohl kein Meckern und Hadern. Was sein muss muss sein, dem Schicksal kann man sich wohl nicht entgegen stellen oder hieß das Karma?

„Lyonne?“, ich drehe mich zu meinem Vater um. Huch was macht der denn noch hier? Meistens ist er doch schon viel früher weg.

„Hm?“, mache ich nur und trinke den Kaffee aus, den ich mir heute ausnahmsweise gönne.

„Ist heute etwas Besonderes?“, fragt mich Pa und betrachtet mein Outfit mit kritischem Blick. Ich schüttle den Kopf.

„Nein, wieso?“, provozierend schlürfend trinke ich meine Tasse leer. Jetzt runzelt Pa seine Stirn.

„Na dann.“, argwöhnisch beobachte ich ihn dabei, wie er sich zu mir an den Esstisch setzt und seinen Grünen Tee trinkt.

Mein Vater ist leidenschaftlicher Teetrinker und konsumiert Kaffee nur auf Besuchen aus Höflichkeit.

Schweigend sitzen wir am Tisch. Pa frühstückt während ich an einem Apfel knabbere.

Als Marvin die Treppe runterkommt stehe ich nach einem Blick auf die Uhr auf.

„Lass uns los, damit wir nicht zu spät kommen.“

Mit einem irritierten Blick mustert er kurz mein Outfit. Dann grüßt er Pa.

Pa wirft mir einen rechthaberischen Blick rüber.

„Siehst du, Marvin hat auch erstaunt geguckt.“ Kann sich mein Paps nicht verkneifen, im Gegenteil, es scheint ihm äußerst gut zu gefallen, dass er nicht alleine mit seiner Ansicht dasteht, ich hätte heute was Besonderes vor, weil ich mich besonders angezogen hätte.

Da gibt man sich mal Mühe etwas hübsch auszusehen, und wird gleich kritisch und voller Misstrauen beäugt.

Auffordernd nicke ich Marvin zu und gehe dann als erste durch die Haustür.

 

Während ich mit Marvin im Auto sitze denke ich darüber nach, wie ich das Mittwochstreffen irgendwie sausen lassen könnte.

Mir fällt aber nichts ein.

Als ich zu Marvin rüber schaue, fällt mir unser Deal von gestern ein.

„Hey, wenn ich dir bei der Praktikumssache doch irgendwie helfen kann… dann sag Bescheid.“ Sage ich und meine das auch ehrlich.

Marvin bedenkt mich daraufhin mit einem langen Blick. Irritiert blinzle ich ein paar Mal.

Dann sagt er: „Nein, wie ich gestern schon sagte; das ist so in Ordnung. Außerdem, haben wir ja einen Deal!“ Marvin grinst, seinen rechten Mundwinkel hebt er dabei etwas höher.

Was hat er wohl vor am Samstag? Hoffentlich will er keinen Sport machen! Bei meinem Glück gehen wir Rudern.

In der Schule treffe ich noch im Flur auf Chana, sie grinst mir erfreut entgegen. Heute scheint sie wieder gut gelaunt zu sein.

Bevor ich zu ihr laufe, drehe ich mich noch zu Marvin um.

„Bis später“, sage ich und sehe noch aus den Augenwinkeln wie er mich überrascht ansieht.

Egal.

Chana plappert direkt auf mich los.

„Lyonne, sei nicht überrascht, ich glaube ich hab mich verliebt! Und deswegen müssen wir am Freitag shoppen gehen, da musst du dich ja auch nicht mehr für deinen Referat vorbereiten und vielleicht können wir dann noch zum Friseur und dann übernachtest du bei mir und…“

Ich bleibe stehen.

„Was meinst du mit Referat?“ Chana runzelt verwirrt die Stirn.

„Ich dachte du musst morgen dein Referat in Politik halten…“

„Verdammt!“ Mit Entsetzen muss ich feststellen dass sie Recht hat! Und heute ist Mittwoch, bis morgen schaffe ich das doch nie!

Außerdem treffe ich mich heute mit meine Tante und dann habe ich fast gar keine Zeit mehr!

Hallo Fünf in Politik, By By schöne Zwei…

„Hast du das etwa vergessen?“ voller Mitgefühl tätschelt Chana meine Schulter.

„Ich muss mich krankschreiben lassen! Ich will mich nicht blamieren!“

Mit weinerlicher Stimme erzähle ich Chana dass ich schon das Praktikum und die blöde Klassenfahrt vergessen habe und das alles nur wegen dieser blöden Sache mit dem Prinzen!

Es ist einfach alles so blöd!

„Was ist los? Was hat Lyonne?“

Das ist Marvins Stimme. Er muss schräg hinter mir stehen, Chana sieht zu ihm und dann zu mir. Ich drehe mich nicht zu ihm um, ich weine zwar nicht richtig, aber mein Gesicht ist vor Aufregung wahrscheinlich total rot. Und das muss er nun wirklich nicht sehen.

Ich schaue meine Freundin beschwörend an. Chana scheint zu verstehen, sie nickt unauffällig und dreht sich dann wieder zu Marvin zu. Sehr gut, Chana ist gut im Ausreden finden. Marvin muss schließlich nicht alles aus meinem Leben wissen.

„Lyonne hat eine Frauensache.“

Geschockt starre ich zu Chana rüber, die aber nicht zu mir sieht.

Eine Frauensache?

Wie kann sie ihm denn sowas sagen?

„Oh, ach so… dann rufe ich besser den Fahrer um dich nachhause zu fahren.“

Und plötzlich macht es Sinn was Chana gesagt hat. Sie ist wirklich clever! Ich bin krank und muss nachhause und kann natürlich nicht zu meiner Tante und für morgen lasse ich mir direkt auch eine Krankmeldung schreiben!

Aber … das ist eine Lüge! Das geht nicht! Ich habe jetzt schon voll das schlechte Gewissen!

Während Marvin mit dem Fahrer am Telefon spricht überlege ich fieberhaft was ich tun soll.

„Äh… ich…“, fange ich an und breche dann ab. Aber ich bin sowieso so leise, dass mich Marvin nicht hören kann.

Chana zieht mich zur Seite.

„Ist doch eine gute Idee, oder? Und hab kein schlechtes Gewissen, wie oft sitzen wir Mädchen deswegen leidend im Unterricht und können nicht nach Hause? Sehe es als Akt der Emanzipation!“ Chana flüstert das eindringlich.

Ich kann ihrem Gedankengang nicht ganz folgen, aber schon dreht sich Marvin zu uns um und sieht mich auffordernd an. Chana nickt mir zu.

„Ich melde euch bei der Lehrerin ab. Gute Besserung und bis dann!“ Sie nimmt mich noch mal kurz in den Arm und geht dann zum Unterricht.

Es klingelt.

„Gib mir ruhig deine Tasche, komm Lyonne, wir warten draußen.“ Zögernd folge ich ihm, innerlich ganz nervös.

Ich kann ihm doch nicht eiskalt anlügen und dann auch noch mit so einer blöden Ausrede!

Aber zugeben, dass es gelogen war, dass kann ich jetzt wohl auch nicht mehr.

Ich spüre wie sich mein Magen vor schlechtem Gewissen zusammenzieht.

Marvins Hand erscheint vor meinem Sichtfeld. Kurz bin ich irritiert, dann erinnere ich mich an seinen Satz von eben. Und presse meine Tasche an mich.

„Das geht schon.“ Ich laufe neben ihm durch den Flur Richtung Ausgang. Auf dem Weg begegnen uns nur zwei ältere Schüler die, ziemlich gemächlich für diese Uhrzeit, Richtung Klassenräume laufen.

Gerade als wir durch das Tor nach Draußen treten, kommt uns Sarina entgegen.

„Oh“, macht sie überrascht, mustert mich und Marvin und dann wieder mich.

„Hi.“ Ich hebe meine Hand ein bisschen als Gruß und ich lächle auch. Sarina lächelt, irgendwie gequält, zurück und läuft dann einfach weiter.

Na toll, was soll das denn? Grüßen wir uns jetzt nicht mehr oder was?

Ein bisschen wütend und immer noch mit einem Stein im Magen stapfe ich die fünf Stufen hinunter. Unten angekommen steuern wir die Parkplätze an.

Schlecht gelaunt schaue ich in die Richtung aus der unser Chauffeur kommen muss. Marvin sagt nichts, ich schaue zu ihm rüber, da treffen sich unsere Blicke. Starrt er mich an? Versucht er herauszufinden ob ich schon ausgeblutet bin und er jetzt die 112 wählen muss.

„Ich liege nicht im Sterben, du musst mich deswegen nicht so besorgt angucken!“ Marvins Augen weiten sich einen kurzen Moment wie ertappt. Dann lächelt er mich schüchtern an.

„Aber wenn es doch so ist, dann sag mir rechtzeitig Bescheid damit ich laut nach einem Arzt rufen kann.“ Daraufhin muss ich schmunzeln obwohl ich eigentlich ernst bleiben will. Prompt wird mein schlechtes Gewissen noch ein bisschen schlechter.

Wieso ist Marvin denn jetzt auch noch so nett? Ich lüge ihn doch an!

Als wir im Auto sitzen mache ich die Augen zu. Ich will nicht mit Marvin reden, ich kann ihm wohl nie wieder in die Augen gucken! Das ist alles Chanas schuld!

Oder meine, weil ich wie in letzter Zeit öfter, nicht aufgepasst habe. Ich habe schon das Praktikum vergessen, jetzt auch noch ein Referat und dann beschwere ich mich auch noch darüber und heule rum.

Und Marvin beobachtet mich natürlich genau in dem Moment! Man, er muss doch nicht immer alles mitkriegen.

Zuhause angekommen bin ich nur noch ein Häufchen Elend. Sogar meine Tasche habe ich im Auto nicht rechtzeitig genommen, sodass Marvin sie jetzt trägt und es mir dadurch noch schlechter geht.

Ich hänge meine Jacke an die Garderobe und schleppe mich die Treppe nach oben.

Ma und Pa sind nicht da. Er ist wohl arbeiten, aber wo Ma ist weiß ich nicht.

Ich beschließe mich gleich an das Referat zu machen, damit sich das ganze wenigstens lohnt.

Vorher gehe ich noch schnell auf Toilette und will mir dann von irgendwoher noch was Süßes holen.

 

Heulend liege ich in meinem Bett und bemitleide mich selbst und mein Leben. Die Ironie des Schicksals hat zugeschlagen, sodass ich mich jetzt tatsächlich, gepeinigt von üblen Regelschmerzen unter meiner Decke krümme.

Meine Bauchschmerzen kamen also gar nicht von dem schlechten Gewissen sondern wirklich von der Natur der Sache! So was Bescheuertes.

Trotzdem bin ich irgendwie erleichtert, weil ich jetzt nicht gelogen habe… sozusagen.

Egal, ich muss jetzt erstmal überleben, danach kann ich mich deswegen immer noch verrückt machen.

Wo hatten wir noch mal die Schmerztabletten? Waren die im Bad unten oder in der Küche? Oder war die letzte Packung etwa leer?

„Ohhhh maaan!“ Heule ich unter der Decke und versuche mich gleichzeitig zu entspannen um die Krämpfe nicht zu verstärken.

„Mama…“ Wo war sie denn überhaupt? Soll ich sie anrufen? Damit sie kommt und sich um mich kümmert?

Ich wünschte ich könnte einschlafen.

Ich versuche stattdessen mein Buch zu lesen, aber ich kann mich nicht darauf konzentrieren und lege es wieder zur Seite.

Dann rolle ich mich wieder in Embryonalstellung ein. Was für eine Kacke!

Plötzlich klopft es. Ich bin dermaßen erschrocken, dass ich erstmal gar nicht weiß was ich machen soll.

„Lyonne? Darf ich reinkommen?“ Ich stottere kurz, setze mich auf und streiche mir mit beiden Händen hektisch durch die Haare, hoffentlich liegen sie nicht völlig verdreht.

Dann rufe ich schließlich „ja“.

Unsicher betritt Marvin mein Zimmer. Er hält irgendwas in der Hand, was ist das? Ich richte mich noch etwas weiter auf.

„Sind das… hast du da Kekse?“ Marvin hält daraufhin die Packung hoch. Schokoladenkekse!

„Für mich?“ Frage ich sicherheitshalber, obwohl es etwas seltsam wäre, würde er die Süßigkeiten einfach nur zum Zeigen mitbringen.

„Ja genau!“

Marvin kommt zu mir ans Bett und reicht sie mir.

Das ist so lieb von ihm!

Nur leider ist mir grad nicht nach Keksen. Generell nach nichts eigentlich. Deswegen lege ich sie neben meinem Buch auf meinem Nachttisch.

„Ich esse sie später. Grad hab ich keinen Hunger.“ Erstaunt wandern Marvins Brauen nach oben.

„Soll ich dir was zu trinken holen?“ Hm, das wäre schon wirklich toll, aber… Ich will eigentlich nicht dass er mich so sieht.

Das ist peinlich.

„Einen Tee?“ Fragt Marvin als ich nichts darauf sage.

Ich nicke. Dann sticht irgendjemand mit einem Messer in meinen Unterleib und ich verziehe das Gesicht.

Ach scheiß doch auf die Würde!

Ich lege mich wieder hin und höre auf angestrengt so zu tun als würde es mir nicht total schlecht gehen.

Womit ich nicht gerechnet habe ist Marvin, der sich an mein Bett kniet und eine Hand auf meine Schulter legt.

„Hey, kann ich dir sonst irgendwie… helfen?“

„Verwandle mich in einen Mann!“ Hauche ich, weil laut zu Sprechen anstrengend ist.

Daraufhin schmunzelt Marvin.

„Aber das wäre doch wirklich Schade… hast du schon eine Schmerztablette genommen?“

Ich schüttle den Kopf und wundere mich was er mit Schade meint.

„Warum denn nicht?“ Er wirkt ehrlich verblüfft, also klär ich ihn auf.

„Weil ich hier keine habe, ich weiß nicht ob wir unten irgendwo noch was haben…“

„Aber warum hast du dann nicht unten geguckt…-„ Marvin redet nicht weiter und scheint kapiert zu haben, dass ich momentan nicht laufen kann.

Auch Sprechen ist schwer.

Und Atmen.

„Oh je… dann organisiere ich dir welche! Brauchst du sonst noch etwas?“

Ich schaue in Marvins Gesicht. Er sieht mich nicht angeekelt oder so an, er macht sich wirklich Sorgen um mich. Ich dachte immer Jungs finden das Thema Periode eklig.

„Na ja, wenn du fragst dann… kannst du mir eine Wärmflasche machen? Und den Tee?“ Ermutigend klopft Marvin mir auf die Schulter und geht dann los.

Währenddessen schwimme ich in einem Meer von Schmerz und Zeitlosigkeit in einem Dämmerzustand dahin.

Merkwürdige Gedanken und Fragen bilden sich in meinem Hirn. Unter anderem so welche:

Wenn… wenn ich jetzt sterbe… wen heiratet dann der Prinz? Naja vielleicht hat er ja eine Freundin?

Was mache ich, wenn Marvin uns einen Praktikumsplatz auf dem Bau besorgt hat? Oder in einem Chemielabor?

Oder beim Steinmetz?

Wo ist Ma überhaupt? Sie arbeitet doch seit einiger Zeit von zuhause aus, hat sie etwa eine Affäre?

Und in dem Buch was ich grad lese… verliebt sich Lilia nun doch in den Prinzen oder in den fremden Krieger mit der Narbe?

Ich höre nicht wie die Tür aufgeht, aber plötzlich hockt Marvin neben meinem Bett. In der Hand ein Tablett.

Er hat mir wie versprochen einen Tee und Schmerztabletten gebracht. Bevor ich mich aufsetzen kann reicht er mir die Wärmflasche.

„Oh danke!“ Ich bin ihm wirklich dankbar. Die Wärmflasche lege ich auf meinem Bauch, als ich mich aufgerichtet habe.

Zitternd greife ich nach den Tabletten und komme mir dabei vor, als würde ich Sterbenskrank sein.

„Wow, geht’s?“ Ich nicke und schlucke eine Tablette mit einem Schluck aus dem Wasserglas, was Marvin neben dem Tee auf meinen Nachtschrank gestellt hat.

„Ja, das ist nur der Kreislauf.“ Dann trinke ich noch vorsichtig einen kleinen Schluck Tee, hindere mich mit letzter Selbstbeherrschung den Tee wieder auszuspucken. Meine Güte, wieso hat Marvin Salbeitee gekocht? Und dann auch noch so lange ziehen lassen? Ich bin doch nicht erkältet!

Ich lasse mir nichts anmerken, sondern nehme lediglich den Teebeutel aus der Tasse.

Als ich mich wieder hinlege macht Marvin keine Anstalten wieder zugehen. Ich schaue ihn an.

„Lyonne… sicher dass das normal ist? Oder soll ich lieber einen Arzt rufen?“ Ich muss lachen. Dann merke ich, dass Marvin das ernst gemeint haben muss, denn er lacht nicht und wirkt völlig ernst. Ich räuspere mich.

„Äh, ja das ist… wohl normal. Manchmal ist es bei mir so schlimm. Aber nicht jedes Mal.“

Ich hatte wirklich nie vor mit Marvin über meine Regel zu sprechen. Das ist irgendwie… komisch.

Er nickt, wirkt jedoch immer noch besorgt.

„Na gut, brauchst du noch irgendwas? Soll ich dir den Fernseher anmachen?“ Er blickt sich im Zimmer um, dann merkt er dass ich hier gar keinen Fernseher habe.

„Oder willst du einen Film schauen, das lenkt dich bestimmt ein bisschen ab, ich könnte einen Laptop direkt hier neben dein Bett stellen!“ Lächelnd höre ich ihm zu.

Er glaubt wirklich dass ich todkrank bin!

Dann kommt mir eine Idee. Ich denke nicht lange nach, mein Kopf funktioniert sowieso nicht so gut.

„Willst du mir was vorlesen?“

 

Marvin hat sich meinen Schreibtischstuhl zum Bett gezogen und liest aus dem Buch „Lilia die Kriegerin“ vor. Ich habe die Augen geschlossen. Die Wärmflasche ist angenehm war und langsam setzt die Wirkung der Schmerztablette ein.

Während ich Marvins angenehmer Stimme lausche kann ich mich langsam entspannen.

Er gibt sich richtig Mühe. Versucht die wörtliche Rede je nach Person und beschriebener Gefühlslage anders auszusprechen oder zu betonen und baut immer wieder Spannungspausen ein. Er muss das Gelesene komisch oder lustig finden, denn zwischendurch höre ich ihn verhalten lachen. Aber das macht er an Stellen, die eigentlich nicht lustig sind. Nun, es ist eben kein Buch für Jungs.

Hin und wieder schiele ich zu ihm rüber, es gefällt mir irgendwie ihm beim Vorlesen zu beobachten. Dann sehe ich auch wenn er grinst und einmal hat er sich schnell die Hand vor dem Mund gehalten um nicht laut zu lachen. Das war die Stelle an der Lilia einen inneren Monolog darüber geführt hat, welchen der beiden Männer sie wirklich liebt. Ich gebe zu, ein paar Stellen sind ein bisschen peinlich, wenn das so laut ausgesprochen wird. Von einem Jungen. Oder Mann, Marvin ist ja zwei Jahre älter als ich.

Ob er wohl eine Freundin hat? Das hätte er doch gesagt, oder? Andererseits, ich weiß auch nichts über seine Familie oder was gerne macht.

Was weiß ich schon über ihn?

Er hat schon einen Führerschein und Motorrad kann er auch fahren.

Und in einem Freizeitpark war er das erste Mal mit mir und meinen Eltern.

Ich öffne die Augen als Marvin wieder eine kurze Pause macht. In dem Moment sieht er auch zu mir und ich grinse. Er lächelt zurück und fragt wie es mir geht.

„Die Tablette wirkt langsam!“

„Soll ich weiterlesen?“ Ich nicke.

„Aber nur wenn du noch magst, du kannst auch gehen wenn du…-“ Marvin unterbricht mich.

„Ich lese weiter. Schließlich wird es jetzt richtig spannend. Immerhin treffen Prinz Marek und Roman der rote Krieger das erste Mal aufeinander!“ Schmunzelnd schließe ich wieder die Augen.

Ich kriege aber nicht mehr mit was bei dem Aufeinandertreffen der beiden Rivalen passiert, denn endlich schlafe ich ein.

 

Als ich aufwache fühle ich mich wieder wie ein Mensch. Mir ist wohlig warm und die Schmerzen sind abgeebbt. Beziehungsweise, das Schmerzmittel wirkt immer noch.

Der Blick auf die Uhr erschreckt mich. Es ist bereits fünfzehn Uhr! Wie lange habe ich denn geschlafen? Wir waren um halb neun wieder zuhause, dann kam Marvin irgendwann… ich muss spätestens gegen halb elf eingeschlafen sein! Wow, das sind über vier Stunden!

Kurz dreht sich alles als ich aufstehe, aber wirklich nur kurz. Im Bad mach ich mich kurz frisch und gehe dann Richtung Erdgeschoss.

Die Dielen knarzen leise als auf ihnen entlang laufe. Ma müsste doch jetzt auch langsam wieder da sein, richtig?

Geräusche, Worte. Jemand unterhält sich.

Als ich im Flur ankomme kann ich hören dass es Ma´s und Marvins Stimmen sind und sie müssen in der Küche sein. Ich betrete den Raum.

Ma lehnt an der Anrichte und kommt erfreut auf mich zu als sie mich sieht.

„Hey mein Schatz, hat´s dich dieses Mal voll erwischt?“ Sie umarmt mich und ich atme tief ihren besonderen Geruch ein.

„Aber Marvin hat sich ja um dich gekümmert.“ Ich setze mich an den Tisch und sehe scheu zu eben genannten rüber. Er sitzt auf einem der Küchenstühle und nippt an einem Wasserglas.

„Geht’s dir besser?“ Ich streiche mir ein paar Haare aus dem Gesicht. Wo ist mein Zopfgummi wenn ich es brauche?

„Ja, viel besser. Danke, für vorhin.“ Es ist mir trotzdem irgendwie unangenehm. Nicht mal mit meinem Vater rede ich über meine Regelblutung!

„Ich habe Papas Schwester abgesagt, heute musst du dich mal richtig ausruhen!“ Ich lasse meinen Kopf auf den Tisch fallen.

„Ich muss morgen ein Referat halten und hab´s total vergessen!“ Beichte ich schließlich und schließe die Augen.

„Oh“, macht Mama und tätschelt mir den Kopf. Sie fragt in welchem Fach und ich erzähle dass es Politik ist und ich was über die Entwicklung der Außenpolitik unseres Landes erzählen muss.

„Kannst du mich einfach für morgen krankmelden?“ Flehentlich schaue ich sie an und strecke meine ineinander verschränkten Hände in ihre Richtung aus.

„Lyonne, morgen geht es dir bestimmt wieder gut. Und wenn du dich rechtzeitig vorbereitet hättest, dann wäre das also kein Problem morgen zu Schule zu gehen. Ich kann doch nicht dein Versäumnis decken.“ Oh man, muss meine Ma so streng sein? Echt jetzt?

Ich hab´s mir eigentlich schon gedacht.

„Aber Lyonne ging es heute wirklich schlecht.“ Ich traue meinen Ohren kaum. Marvin verteidigt mich! Vor meiner Mutter!

„Marvin, das ist nett von dir dass du so mitfühlend bist, aber Lyonne ist nicht krank sondern hat ihre Regel und morgen wird es ihr wieder ganz gut gehen.“ Mir steigt das Blut ins Gesicht als Ma das sagt. Wir reden irgendwie schon den ganzen Tag darüber aber wenn meine Mutter das auch noch vor Marvin so ausspricht… Das ist peinlich.

„Also gut, ich gehe dann mal mein Referat vorbereiten. Während ich Schmerzen habe!“ Ich versuche Ma ein schlechtes Gewissen zu machen. Aber sie zieht nur ihre Brauen hoch.

Also stehe ich auf und verlasse die Küche.

Eigentlich habe ich Hunger, aber jetzt will ich nicht noch mal hineingehen.

In meinem Zimmer lege ich mich erstmal auf mein Bett und schaue auf mein Telefon. Chana hat mir mehrere Nachrichten geschickt. Sie fragt ob ich vorankomme.

Ich schreibe ihr das ganze Dilemma in kurzen Sätzen und setze mich dann seufzend an meinen Schreibtisch.

Außenpolitik… das ist…. Das Gegenteil von Innenpolitik.

„Oh man!“ Ich raufe mir die Haare. Ich weiß nicht mal was das ist! Wie soll ich morgen meinen Mitschülern was über Außenpolitik erzählen? Und dann auch über deren Entwicklung über die letzten Jahre…

Es klopft.

Marvin öffnet die Tür und verschränkt die Arme vor der Brust.

Will er mir etwa helfen? Ich meine, er ist ja anscheinend ganz gut in der Schule, oder?

Und ich behalte Recht:

„Ich helfe dir.“ Sagt er und ich nicke strahlend.

 

Marvin ist ziemlich schlau. Er hilft mir nicht einfach nur, er schreibt eigentlich mein komplettes Referat selbst und innerhalb zwanzig Minuten. Und jetzt macht er sich daran dazu eine Power-Point Präsentation zu erstellen.

Ich habe ein schlechtes Gewissen.

Als mein Magen laut knurrt schaut mein Retter von seinem Computer auf. Ich tue als wäre nichts und lerne weiter das Referat auswendig.

„Lyonne? Hast du hunger?“, kopfschüttelnd verneine ich und lese über die Präsentation.

„War das grad nicht dein Magen?“

„Ich dachte das wäre deiner?“, meine ich und kann nicht verhindern dass meine Mundwinkel zucken.

„Lyonne…“, überrascht schaue ich auf, als Marvin meinen Namen so warm ausspricht. Als sich unsere Blicke treffen sehe ich ertappt weg.

Wieso überhaupt? Wobei ertappt? Also blicke ich wieder zu ihm und begegne seinen erwartungsvollen Blick.

Jetzt beugt er sich zu mir rüber und uns trennt nur noch ein kleiner Meter voneinander.

„Ärgerst du mich?“ will der rothaarige von mir wissen und ich schüttle den Kopf.

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 25.06.2012

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