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Der starr Blickende


„ ,Drache‘ bedeutet ,der starr Blickende‘.
Ein Drache ist ein schlangenartiges Mischwesen, aber wir wissen nicht wirklich, wer sie sind, woher sie kommen, wie viele von ihnen es gibt, wozu sie fähig sind.
Wir können ihnen Namen geben, ihre ganzes gewaltiges, furchteinflößendes, prachtvolles Wesen in einem Wort zusammenfassen, das ihnen niemals gerecht werden kann, aber das unserem verschränkten Verstand dazu dient, es zumindest teilweise zu erfassen.
Wir können die Gesamtheit ihres riesigen, schuppenbedeckten Körpers mit den edelsteinähnlichen, strahlenden Augen mit einem Wort bezeichnen und es verbreiten, aber wir können sie nicht einsperren.
All die Eigenschaften, die wir mit dieser Bezeichnung verbinden, werden sie niemals einfangen können.
Sie sind unabhängige, unbändige, unzähmbare Wesen.
Von Geburt an versuchen wir, andere Wesen unter unsere Kontrolle zu bringen und sie zu beherrschen. Doch es gibt Wesen, die in der Nahrungskette über uns stehen.
Welchen Sinn hat es, unzählige von uns für den Versuch, diesen göttlich anmutenden Wesen ihre Würde zu nehmen, in den Tod zu schicken?
Warum diese Wahrheit nicht akzeptieren?“
Dies schrieb mein Vater vor 20 Jahren, ein Jahr vor seinem Tod, drei Jahre, nachdem die Drachen gekommen waren.
Sie erschienen am Himmel wie ein Rudel bunter Sternschnuppen und hinterließen Schneewirbel von Schuppenpartikeln, die Kometenschweifen glichen.
Ihre Sprache, ihre Rufe waren ein neues Lied in unserer Welt, in der die Tyrannei herrschte. Ein Lied, das uns von dieser zu befreien scheinen wollte.
Jeder Laut klang gewaltig, bergeversetzend, drang einem durch Mark und Bein, versetzte einen nicht in Angst und Schrecken, sondern in Ehrfurcht, und gleichzeitig spürte man, dass das Leben in dieses vom Tod regierte Land zurückkehrte.
Ihre Körper schlängelten sich durch die Wolken, durch die Nebelschwaden, wie Naturgeister, die gerade erst aus der Welt der Geister und Götter in unsere einkehrten und sich langsam manifestierten – nicht vollkommen ungreifbar und doch zu himmlisch, um zu denken, wir könnten uns mit ihnen messen.
Ihr Lied nahm uns zuerst die Angst, doch die Starre der Ehrfurcht hielt nicht ewig und die Menschen begannen nun, die Furchtsamkeit durch ihre Adern schleichen zu lassen, wo sie das Blut gefroren ließ, während die Götterboten wabernde Flammen versprühten, die die Wolken in tausend Tropfen zu Boden fallen ließen und so den Himmel mit der Erde verbanden, unseren nach der Dürre trockenen Feldern Feuchtigkeit spendeten und unsere Ernte retteten.
Sie waren das Wunder, für das wir so lange gebetet hatten und das nun, als wir die Hoffnung fast aufgegeben hatten, erschienen war.
Aber wir konnten etwas so Wunderbares, Vollkommenes in unserer Welt, die dem Abgrund so nahe war, und neben uns, die wir so sehr von unseren Schwächen geleitet wurden, nicht dulden. Nichts blieb von unserem alles umgreifenden und umfassenden Zerstörungsdrang verschont – auch kein Wunder, das die Götter höchstselbst zu uns herabgesandt haben mussten.
Wir besiegten die Drachen, zwangen ihnen unsere grausame Herrschaft auf, wie sie uns selbst aufgezwungen worden, und versuchten sie zu etwas zu machen, das wir waren: Gefangene, die sich selbst hinter Gitter gebracht hatten und dann den Schlüssel einfach weggeworfen hatten. Wir quälten sie so lange bis sich unsere Augen in den ihren spiegelte: Der Ausdruck von Besiegten und Bezwungen ohne Hoffnung auf Befreiung.
Wir blickten in den Spiegel und waren zufrieden, dass unser Spiegelbild nicht schöner und leuchtender war als wir es waren.
Wir feierten den Sieg, rühmten uns selbst für unsere Taten, unseren fingierten Mut, gaben den Drachen den Schuld für all die Menschen, die im Kampf gegen die angeblichen Monster gefallen waren, und frohlockten, weil wir die Sündenböcke zu unseren Lasttieren gemacht hatten.
Wir wollten nicht einsehen, dass nicht unsere geistige Überlegenheit der Grund für ihren Untergang war, sondern unsere schiere Überzahl.
Die Drachen waren die Herrscher des Universums, frei im Denken und Handeln, wie wir es uns einbildeten ebenfalls zu sein – dabei übersahen wir die Mauern unseres selbst errichteten Gefängnisses, unserer sicheren Höhle.
Wir waren nicht mehr als Parasiten, die sich im schmutzigen Untergrund, den sie selbst Welt nannten, den sie selbst als Heimat auserkoren hatten, vermehrt hatten, bis sie genug waren, um an die Oberfläche zu strömen und alles unter ihrer Masse zu begraben, ungeachtet seiner Pracht oder seines Wertes.
Unser Sieg war die schwarze Masse, die nun unsere neue Welt war, zufrieden waren wir mit dem Anblick der Erde, die bedeckt war von unseren Leibern.
Wir waren eitel.
Es wäre jetzt ein Einfaches, zu behaupten, ich gehöre nicht zu dieser schwarzen, alles verzehrenden Masse, aber so wie es ein Einfaches wäre, wäre es auch Heuchelei.
Natürlich war ich erst sechs, als wir den Sieg errungen, damals, vor 13 Jahren, und hatte kaum Anteil daran. Aber tagtäglich sah ich mich der Überheblichkeit meiner Mitmenschen gegenüber und wagte es nicht zu behaupten, ich sei anders, sei besser.
Ich war ein Teil der alles verschlingenden Bestie und ich würde nichts anderes behaupten.
War nicht der Niedergang meines Vaters der beste Beweis für die Fehlbarkeit unseres Volkes?
Während die Menschen in Panik verfielen und die Ohren den verachtenden Lügen des Adels öffneten, verfasste er Schriften über die Schönheit und Erhabenheit dieser mystischen Wesen.
Letztendlich war er es, der uns den Weg zur Unterwerfung der Drachen ebnete.
Er war derjenige, der ihre Schwachstelle entdeckte und sich mit diesem Wissen zum Obersten Drachenreiter aufschwang, zum Heerführer, zu einem weiteren Tyrannen.
Die Schuld floss durch unser aller Blut, auf ewig würde es rot sein vom Hass auf alles andere, was versuchte, sich abseits der Masse zu halten.
„Karima, beeil dich gefälligst!“
Ich hob meinen Blick und fand mich Jarbo gegenüber, dem 8. Oberst der Drachengarde.
13 Jahre lang gab es diese schon. Nach dem Fall der Drachen hatte sie sich in Höchstgeschwindigkeit formiert und bildete seitdem einen weiteren Schandfleck auf dem Umhang des Tyrannen.
Dennoch war, trotz dieser recht kurzen Zeit, bereits der 8. Oberst an der Spitze. Seine Position war gefährlich und kein Oberst hatte länger als drei Jahre gelebt – selbst diese Dauer war beachtlich.
Wie alle Drachenführer trug Jarbo zahlreiche Narben und Brandwunden. Die auffälligste Narbe verlief von seinem Kinn über die Wange bis hoch die Stirn hinauf, wo sie auch unter dem kurz geschorenen Haar noch deutlich sichtbar war.
Sie lief auch über sein linkes Auge, das blassblau ins Nichts starrte, als könne es die Welt sehen, aus der die Drachen gekommen waren. Aber ich wusste, dass dieses Auge schon lange nirgendwo mehr hinsah. Das einzige, was Jarbo damit noch sehen konnte, waren Traumbilder, in denen er noch mächtiger war als er es jetzt war, in denen er der Herr über das ganze Land war.
Für ihn war ich nur ein weiteres Stallmädchen, mit der Ausnahme, das seine Autorität auf mich keine Wirkung hatte.
„Anuba ist verletzt. Es wäre besser, du ließest sie sich erst erholen und wartest, bis die Wunde verheilt ist.“ Tonlos brachte ich dieses Argument hervor und lehnte mich demonstrativ gegen das Gitter des Drachengeheges.
Nun, etwas unterschied mich ebenfalls von den anderen, die in den Ställen arbeiteten: Ich hatte Ehrfurcht vor den Drachen, aber keine große Furcht.
Jarbo musterte mich eindringlich, wütend. Die Bestie, die mir an die Kehle springen wollte, stand vor mir, nicht hinter meinem Rücken.
Ich lächelte in mich hinein, in dem Wissen, dass nur die angebliche Gefahr hinter mir ihn in diesem Moment an dem Vorhaben hinderte. So paradox es auch war: Solange ich einem Drachen nah genug war, wagte niemand es, mich zu belangen.
Anuba reagierte nicht auf Jarbos Anwesenheit, sondern starrte ins Leere wie Jarbos totes Auge.
Anuba schien vor genauso langer Zeit gestorben zu sein und sich nun an einem anderen Ort zu befinden.
„Du glaubst, ich gebe irgendetwas auf den Rat von jemanden, der den ganzen Tag Mist durch die Gegend karrt?“, zischte er.
Anuba regte sich und ein Schnaufen so laut wie ein hausgroßer Kessel ertönte, ihr Atem zerrte an meinen Kleidern wie ein starker Windzug.
Als sie hergekommen war, vor einigen Monaten erst, hatten ihre Schuppen alle Facetten von Rot, von Ocker über Ziegel und Karmesinrot bis Purpurrot. Die Farben brachen sich in allen glatten Oberflächen und ließen die Umgebung in sanften Rottönen leuchten, dass man glaubte, die Sonne ginge unter.
Nun hatten ihre Schuppen nur noch ein dunkles, mattes Rot, das eher schmutzig wirkte.
Die Augen, die zuvor voller Energie, voller Leben, voller Weisheit, voller Macht, voller Glanz waren, waren nun so stumpf wie das Metall eines alten Schwertes, in dem sich nichts mehr spiegelte, keine Regung mehr zu sehen war. Nur noch dumpfer Schmerz, wenn Jarbo den Speer zwischen die Schuppen in ihren Nacken stieß.
Sie sang nicht mehr, sie gab nur noch hohe Klagelaute von sich, wenn Jarbo sie malträtierte. Klagelaute, die mich jedes Mal beinahe zum Weinen brachten, mir das Herz zerrissen und mich eine unendliche Schuld fühlen ließen, die mich nachts nicht schlafen ließ.
Es war mein Vater, der mir in diesen Träumen begegnete und sich zu mir gesellte, deutlich zeigte, dass ich zu ihm gehörte – ich war ein Parasit wie alle anderen, weil ich es geschehen ließ.
„Du bist so dumm, Karima. Irgendwann wird dich eines der Biester töten.“, flüsterte Jarbo und sah mich mit einem überlegenen Lächeln an.
Ich erhob mich, stützte mich auf die Mistgabel und wandte mich um. Blickte Anuba in die rubinroten Augen, die dumpf ins Nichts starrten.
Dann schaute ich wieder zu Jarbo.
„Diesen Tag wirst du nicht mehr erleben. Davor hat dich eines dieser Biester bereits von seinem Rücken geworfen und du wirst an einem gebrochenen Rückgrat sterben. Welch Ironie.“
Wie einen Speer, voller Angriffslust, packte ich meine Mistgabel und stolzierte an Jarbo vorbei, in dem Wissen, dass er Anuba nun trotzdem zum Training holen würde.
Das einzige, das ich tun konnte, war, die Misthaufen wegzukarren, damit die Drachen nicht in ihren eigenen Exkrementen dahinsiechen mussten, sondern in einem sauberen Käfig sterben konnten. Und ihnen ihr Futter in ihre Tröge zu kippen. Besagtes Futter bestand für gewöhnlich aus Resten und Dingen, die eigentlich nur noch in den Abfall gehörten. Der Gestank trieb mir jedes Mal die Tränen in die Augen und die Galle in die Kehle.
So auch heute. Mit angehaltenem Atem leerte ich den Eimer aus und trat schnell zurück, hustete einmal kräftig und nahm einen tiefen Atemzug von der Luft, die nur durch finstere Gedanken und grausame Taten verpestet war.
Kisino hatte sich soweit in die Ecke gedrückt wie möglich, sein Schwanz peitschte nervös hin und her, er hatte den mächtigen Schädel eingezogen und blickte zur eisengrauen Decke hoch, die den Blick zum Himmel, zu den Wolken, zur Freiheit verwehrte.
Letzte Nacht hatte er noch geschrien, gebrüllt und sich mit all seiner Kraft und seiner Wut gegen die Gitter geworfen.
Heute ging ein stetiges Wimmern von seiner Kehle aus, das in der Luft hing wie schwerer Dunst und das Atmen genauso schwer machte.
Ich hatte die Phasen schon häufig genug beobachtet:
Zuerst waren sie voller Wut, wollten ausbrechen, davonfliegen, Rache nehmen an den Wesen, die es gewagt hatten, sie vom Himmel herabzuholen.
Dann, an ihrem ersten Morgen, wurden sie zum ersten Mal ,gezähmt‘: Jarbo höchstselbst übernahm mit Freuden diese Aufgabe, die beinhaltete den Drachen solange mit einem glühenden Eisen zu ,streicheln‘, bis er ,endlich Frieden‘ gab.
Das waren die kritischsten Momente: Nicht nur für die Drachen, auch für die Menschen.
Die Schreie drangen durch das ganze Lager, übertönten das Scharren und die Rufe der anderen Drachen, selbst die Antwortrufe der Drachen, die noch nicht lange genug da waren, die noch nicht gebrochen waren. Jeder hörte es, hörte die Qual der Gefangenen und den Schmerz der Gefolterten.
Aber sie taten so, als würden sie es nicht wahrnehmen. An solchen Morgen schienen die Menschen immer besonders geschäftig, wuselten durch die Gassen der Drachengehege, karrten schmutziges Stroh und Mist und altes Futter durch die Gegend, beeilten sich, ihre Botschaften schneller zu überbringen als irgendwann sonst, polierten ihre Waffen gründlicher als an den anderen Tagen.
Die Gegend um die Arena war dann wie beinahe ausgestorben, als würden die Schreie der Drachen eine unsichtbare Barriere darum bilden – und so war es auch.
Die Boten, so eilig sie es auch hatten, nahmen einen Umweg, die staubige Erde war an diesen Morgen frei von den frischen Abdrücken der Karren und Schuhe.
Diejenigen, die das zum ersten Mal erlebten, drückten sich häufig vor der Arbeit, verkrochen sich stattdessen in einer dunklen Ecke und weinten, weinten für die Drachen, litten mit ihnen. Und nach einigen Malen war es Routine, die Routine, zu ignorieren und nur wahrzunehmen, was man wahrnehmen wollte: Dass die Drachen dafür gesorgt hatten, dass wir unser Herrschaftsgebiet hatten vergrößern können, dass wir noch mehr Waren hatten – die direkt an den König und den Adel gingen.
Es war eine allgemein akzeptierte Wahrheit, dass es am Einfachsten ist, zu tun, was einem gesagt wird, nicht selbst zu denken, kein Risiko einzugehen, sondern das Leben zu nehmen, wie es kam.
Und während diese Wahrheit an jenen Morgen das Handeln des Großteils bestimmte, stand ich unten auf den Stufen der Arne und blickte über die Abgrenzung hinunter zu Jarbo, der den Neuen quälte. Hier nahm ich den Schmerz mit all seiner Intensität wahr, aber ich gewöhnte mich nie daran, es härtete mich nicht ab. Im Gegenteil: Jedes Mal wuchs mein Hass auf Jarbo, auf alle Drachenreiter, auf alle in diesem Lager, auf alle Menschen, auf mich selbst.
Und dieser Hass, diese Selbstverachtung, gab mir die Bestätigung, dass ich vielleicht noch nicht verloren war, dass ich noch so etwas wie Moral und Mitgefühl besaß. Das einzige Problem, das Problem, das wir alle teilten, war das Nichtstun, das stille Zuschauen.
Den Schmerz, der ständig und immerwährend dumpf in meinem Innern pochte, kam in diesen Momenten in seiner vollen Größe zum Vorschein und ließ mich all meine Schuld fühlen, während sie gleichzeitig durch mein Mitleiden gemildert wurde, kaum merklich.
Meine Finger bohrten sich in den harten, staubigen Stein, während Jarbos Peitsche erneut in den Staub eintauchte, daraus auftauchte wie eine gespannte Kobra, die Giftzähne bereit zum Zuschlagen. Heller Staub umspielt ihren Körper und betont jede ihrer Windungen.
Im selben Moment erschlaffte die gespannte Armbrust und ein Bolzen bohrte sich in das weiche Fleisch zwischen Hals und Rücken.
Kisinos Kopf riss gen Himmel und er spie Feuer, spie Feuer und Schreie, die die ganze Arena erzittern ließen. Er hob seine Vorderbeine, wollte sich aufrichten, die Flügel spannen, doch armdicke Eisenketten zu allen Richtungen verhinderten es, packten seine Beine, seinen Hals, seinen Körper und hielten ihn am Boden.
Ein weiterer markerschütternder Schrei entrang sich seiner Kehle, als dem Drachen erneut bewusst wurde, dass er gefangen war.
Er spie Feuer, spie es in alle Richtungen, aber es war nur eine Frage der Zeit bis er es nicht mehr konnte.
Der Nachhall seines Schreies schien ewig zu währen und fesselte mich an diesen Platz, ließ mich mit jeder Vibration spüren, welch einzige böse Laune der Natur die Menschheit war.
Kisino schrie, brüllte, bäumte sich auf, wand sich in seinen Ketten, ließ sie rasseln, spie Feuer, immer weiter, versuchte den Staub in Brand zu stecken und fachte stattdessen nur Jarbos Freude an dieser Grausamkeit an, entzündete sein kehliges, tiefes Lachen, das die vernarbten Brandwunden auf seinem Gesicht sich verziehen ließ. Kisino wimmerte, jammerte, rief in seiner Sprache um Hilfe und wollte die Ketten sprengen, aber kein Drache sprengte jemals die Ketten.
Die Ketten hielten die Drachen in Zaun und legten sich schließlich unsichtbar um die Menschen, zeigten ihnen, dass selbst so mächtige Wesen wie die Drachen sich nicht dagegen wehren konnten, dass sich niemand der Grausamkeit des Lebens entziehen konnte so wie Kisino sich nicht Jarbos Grausamkeit entziehen konnte.
Ich war die einzige von niederem Rang, die anderen Zuschauer waren hochrangige Drachenreiter oder Adlige, die das barbarische Schauspiel mit krankhafter Faszination und Ehrfurcht – vor Jarbo – beobachteten. Wann immer Jarbos Peitsche knallte, ein Bolzenschuss folgte und die Schreie des Drachen schwächer und leiser wurden, klatschten sie, klatschten lauter und begeisterter.
Es war wie sein künftiges Spiegelbild zu betrachten, mit einer Glaskugel in die dunkle Zukunft zu sehen: Eines Tages würde ich es auch akzeptieren müssen, den Schmerz und die Qual Anderer und ich würde jubeln, weil ich nicht mehr weiterleiden konnte, weil es einfacher war zu lachen als zu weinen.
Doch jetzt blickte ich zwischen Tränenschleiern zu den Leuten hinüber, die mich als Gesinde und Pöbel beschimpften, während Kisinos Schreie weiterhin die Luft erfüllten.
Kisino hieß nicht wirklich Kisino. Er hieß nur für mich, eine der unbedeutendsten Personen in diesem Lager, denn ich hatte ihm im Stillen diesen Namen gegeben, als er in Ketten in ein Gehege gesteckt wurde und meinen mitleidigen Blick voller Wut und Angst erwiderte.
Für die Leute dort drüben war er nur „Biest 97“.
Er war nur eine Nummer, eine dunkle, kleine, unbedeutende Ziffer.
Vermutlich war es einfacher, etwas zu quälen, was keinen Namen hatte, sondern nur eine Nummer besaß wie der Gegenstand in einem Inventar. Es war nur ein Gegenstand, den man wegwarf, wenn er unbrauchbar wurde oder kaputt ging.
Die ganze Welt, alles um mich herum, war so furchtbar grausam, dass ich drohte zu zerbrechen, an jedem neuen Morgen, jedem Tag, drohte ich einfach in dieser alles verschlingenden Dunkelheit zu verschwinden, ein Teil von ihr zu werden.
Irgendwann würde der Sog zu stark werden. Es gab nur fressen und gefressen werden, zerstören oder zerstört werden, aufzugeben und zu akzeptieren oder sich zu wehren und im Kampf zu fallen.
Kisino wehrte sich länger bis er bezwungen wurde. Es dauerte länger und dennoch war der Moment, in dem er schließlich zusammensacke und zu Boden ging, dort kroch wie ein ergebenes Reptil, unausweichlich.
Letztendlich verstärkte er seine Qualen so nur – und auch meine.
Diese Morgen waren für mich immer ein Hin- und Hergerissen sein, gefangen im Zwiespalt. Ich feuerte die Drachen insgeheim an, war froh, wenn sie sich wehrten, und bat doch darum, dass sie einsahen, dass Gegenwehr sinnlos war und sie sich sowieso ergeben mussten.
Es brauchte 46 Bolzenschüsse bis dieser Moment für Kisino kam, bis seine Beine plötzlich wegsackten und sein Bauch über den Staub rutschte.
Ich schloss die Augen und atmete tief die staubige Luft ein, die getränkt war von den Splittern der zerbrochenen Freiheit.
Dann begann ich mit meiner Arbeit. Anubas Käfig war der erste. Ich sah gerade noch ihren Schwanz, als sie um die Ecke verschwand, auf dem Weg zur Arena, langsam, schleichend, peinvoll.
Ich wusste ganz genau, wie ihre Verletzung entstanden war. Ich hatte die Geschichte in allen Details gehört, als ein Drachenreiter sie begeistert am abendlichen Lagerfeuer erzählt hatte.
Anuba und einige andere Drachen waren mit ihren Reitern aufgebrochen, weil einige Wilde gesichtet worden waren. Die Drachen wurden gegen ihre eigenen Kameraden in den Kampf geschickt, als Waffen benutzt, um sie niederzuringen und ihnen dasselbe Schicksal zuteilwerden zu lassen.
Kisino war derjenige, der in seiner blinden Verzweiflung, als Anuba ihn zu Boden gerungen hatte, ihr Bein verwundet hatte.
Es war ein Kampf Bruder gegen Schwester, in dem nur eine Seite gewinnen konnte – für gewöhnlich war das die Seite der Menschen.
Jedes Mal, wenn die Drachenreiter auszogen, wünschte ich mir, sie würden ohne neue Drachen heimkehren, gar nicht mehr heimkehren, aber sie waren fast immer siegreich.
Die Unterwerfung, das Töten hatte kein Ende, unsere Grausamkeit kannte keine Gnade.
Der nächste Beweis würde am nächsten Tag folgen.
Es war der Höhepunkt des Jahres für die Menschen, der Tiefpunkt für die Drachen und dem Funken Leben, das noch in mir schlummerte, trotz meines jungen Alters.
Aus der ganzen Gegend strömten die Ameisen und Parasiten herbei, um das Spektakel zu sehen, sie füllten die Logen der Arena und jubelten und jauchzten angesichts dessen, was bevorstand, quetschten sich auf die Stufen und drängten sich dicht an dicht, zerquetschten einander fast, Hauptsache, sie verpassten nichts.
Ich stand vor einem der Tunnel unter den Sitzreihen, die in die Arena führten und sah hoch zu Jarbo, der die 13. Drachenspiele eröffnete.
Staub rieselte von der Decke aufgrund des aufgeregten Stampfens des Volkes und die Wände vibrierten von ihrem Geschrei, das ihre Blutgier kundtat.
Jarbo erhob sich von seinem Sitz neben dem Grafen und trat an das Geländer der Tribüne, hob die Arme und brachte das anwesende Volk zum Verstummen.
„13 Jahre“, dröhnte seine tiefe Stimme durch die Arena, die Luft vor Anspannung zum Zerreißen gespannt, voller Vorfreude, blitzende Augen lagen auf Jarbo, sogen jedes seiner zerstörerischen Worte in sich auf, „13 Jahre sind nun vergangen, seitdem wir die Gefahr gebannt haben.“
Er machte eine kunstvolle Pause, die von Jubel der Menschen gefüllt wurde.
„13 Jahre seitdem die Menschheit ihre Vormachtstellung gefestigt hat und wieder einmal gezeigt hat, wie mächtig sie ist.“
Erneuter Jubel brandete durch die Menge.
„13 Jahre seitdem wir diese Bestien“, er spie das Wort regelrecht aus, legte seine ganze Abscheu und seinen ganzen Hass hinein, ballte wütend die Faust und reckte sie vor, „gezähmt und unter unsere Kontrolle gebracht haben. 13 Jahre seitdem die Menschheit wieder einmal gezeigt hat, dass sie zum Herrschen bestimmt ist!“
Die Menge war kaum noch zu halten, ein wahnsinniger Mob, gefangen in ihrem Blutdurst.
„Wir haben gezeigt, dass wir die Kontrolle haben und heute beweisen wir es erneut. Wir sind die Spielemacher.“
Wahnsinn blitzte in den Augen, Hände klatschten, Füße stampften, Zungen leckten über trockene Lippen, durstig nach Drachenblut.
„Wir halten das Leben der Drachen, der Bestien, in unseren Händen, diese bedeutungslosen Leben. Feiern wir unseren Sieg, suhlen wir uns im Blut der Unterlegenen, genießen wir den Kampf zwischen Bestien, die nur Zerstörung kennen.“
Er machte eine erneute Pause, der Wahnsinn blitze in seinen Augen stärker als in denen aller anderen und seine Narben schienen in der Sonne zu leuchten, wie Teufelsmale.
Wahrlich, dieser Mann musste vom Teufel höchstselbst berührt worden sein.
Er holte tief Luft und brüllte in die Arena, begleitet von den begeisterten Rufen der ungeduldigen Menge: „Hiermit eröffne ich… die 13. Drachenspiele!“
Kanonen wurden gezündet, Kugeln schossen gen Himmel und übertönten für einen Moment die Menge, bevor ich voller Widerwillen nach der Kurbel griff und das Tor hochzog. Quietschend und knarrend verschwand das Tor im Stein und im Tunnel hörte ich das Knurren eines Drachen.
Es war Schuld, Mitgefühl, Mitleid, Abscheu, die ich in solchen Momenten empfand, doch es war auch einer der wenigen Momente, in denen ich tatsächlich Angst vor den Drachen hatte. Wäre ich einer der Drachen, ich würde jede Chance nutzen, um Rache an den Menschen zu üben, die mich versklavt hatten – ich war ebenso einer dieser Menschen.
Das Herz klopfte mir bis zum Hals und hektisch kurbelte ich bis meine Arme schmerzten und das Tor bis zum Anschlag in der Mauer verschwand.
Dann sprang ich auf und griff nach dem Seil, das in die Arena hinabhing. Beinahe gleichzeitig flohen auch die übrigen Helfer und kletterten behände und, geschickt nach zahlreichen Übungsstunden, die Seile hinauf, während die Mauern selbst vom Trampeln der Drachen erzitterten.
Meine Hand ertastete gerade den Vorsprung und ich zog mich hoch, als der erste Drache in die Arena preschte, begrüßt von den Rufen der Zuschauer.
Schwer atmend ließ ich mich im Schneidersitz auf der Mauer nieder und starrte Anuba an. Ich sah die Angst in ihren Augen als sie sich in der runden Arena, in der sie so oft gequält worden war, wiederfand, umringt von den kleinen, dreckigen Parasiten. Sie wusste gar nicht wie ihr geschah. Ihr Blick glitt über die Menge, streifte mich und blieb für einen Moment an mir haften.
Ich glaubte, dass sie mich erkannte, dass sie durchaus wusste, wer ich war. Doch dann fiel ihr Blick auf die Tribüne und auf Jarbo der sich gerade zurück in seinen Sitz fallen ließ.
Zitternd blieb sie vor dem Tor stehen und wartete, lieferte sich ein stummes Augenduell mit Jarbo.
Dann betrat der zweite Drache die Arena. Kisino.
Mein hastiger Atem stockte.
Ich hatte gewusst, dass beide Drachen für die Spiele ausgewählt worden waren, aber sie beide gemeinsam im Ring zu sehen war dennoch ein Schock.
Von allen Drachen war Anuba diejenige, bei der ich nachts am öftesten gewacht hatte, der ich vorgesungen hatte, wenn das Lager bereits schlief und sie vor sich her wimmerte.
Sie hatte mich dann stets mit ihren rubinroten Augen beobachtet und mir stumm gelauscht.
Ihr hatte ich alles erzählt, all meine Gedanken mit ihr geteilt, unsicher, ob sie jedes meiner Worte verstand, aber sicher, dass sie meine Nähe durchaus wahrnahm, und das nicht unbedingt als unangenehm.
Kisino war ungebrochen, der neue Drache, der Drache, den Anuba in die Versklavung hatte treiben müssen.
Und nun standen sie sich in der Arena gegenüber.
Rubin gegen Smaragd. Zwei Juwelen mit dem Auftrag, einander zu töten.
Ich sah das Erkennen in Kisinos Augen und die Wut, doch genauso die Unsicherheit angesichts dessen, was er nun tun sollte. Er sah sie immer noch als Schwester.
Doch Anuba war schon länger hier, Anuba kannte die Regeln, sie war zum Kämpfen trainiert worden.
Mit einem warnenden Brüllen stieß sie nach vorne und zu Kisino, der gerade noch rechtzeitig zur Seite sprang, ihre Kiefer schnappten ins Leere, das darauffolgende Feuer versengte nur Staubkörner.
Kisino starrte sie an, beobachtete sie und schien zu überlegen. Doch auch er fügte sich in das Spiel und stürzte sich auf Anuba, wenn auch unsicherer und langsamer, immer noch gehemmt.
Er wusste, was zu tun war, aber er war noch nicht vollkommen gebrochen.
Vorher konnte man nie sagen, welcher Drache die besseren Chancen hatte. Natürlich war Anuba zum Kampf auf Drachen trainiert worden und hatte schon gegen zahlreiche gekämpft und auch gesiegt, andererseits war Kisino praktisch noch wild und ungezähmt, hatte noch seine vollkommene Stärke und seine Wildheit.
Er brüllte und schlug seinen Schwanz wie eine Keule. Anuba spreizte ihre Flügel und für einen Moment befand sie sich weit genug über dem Boden, damit der Schwanz unter ihren Füßen vorbeiglitt, doch Anuba war durch ihre Verletzung geschwächt und im nächsten Moment stand sie wieder auf festem Boden und als der Schwanz zurückpeitschte, war er es, der Anuba von den Füßen warf. Ihr Rücken schlug auf der Erde auf und die Arena erbebte.
Ein Schmerzensschrei gleich einem Kampfgebrüll entrang sich ihrer Kehle und im nächsten Moment stand sie wieder auf den Beinen, mehr denn je zum Kampf bereit.
Ihr Maul schnappte nach Kisinos langem Hals, doch der zog seine Flügel wieder an und ließ Anuba dagegen prallen, ließ einen Schlag mit seiner vorderen linken Pranke folgen.
Dunkles Drachenblut verdunkelte den staubigen Arenaboden und tropfte aus Anubas Wunden am Hals. Sie brüllte schmerzerfüllt und wollte erneut zum Angriff ansetzen, stürmte bereits vor. Sie trat auf ihrem linken Fuß auf und schrie erneut. Sie schwankte, als ihr Bein einknickte und im Fall traf sie ein weiterer Prankenhieb.
Dieses Mal schlug Anuba der Länge nach auf dem Boden auf. Kisino zögerte nur einen kurzen Moment, kurz genug, damit Anuba sich nicht wieder aufrichten konnte, und biss in ihren Hals.
Blut bedeckte Kisinos scharfe Zähne, lief an Anubas Hals hinab.
An diesem Punkt war der Kampf entschieden.
Dieser Kampf war sogar von vorne herein entschieden gewesen – Anubas Wunde hatte ihren Tod bedeutet.
Den Rest des Kampfes beobachtete ich mit tiefer sinkendem Herzen, denn ich wusste, Anuba würde nun sterben.
Die restlichen Angriffe, Verteidigungsversuche, waren unwichtig, denn jeder in der Arena wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Anuba verblutet wäre.
Ein letzter lauter Aufschlag und Anuba lag am Boden, röchelnd, schmerzerfüllt, sterbend.
Mit angehaltenem Atem beobachteten die Menschen in der Arena das sterbende Wesen, weideten sich an ihrem Schmerz und wünschten Anuba den Tod, einen langen, schmerzhaften Tod.
Viele von ihnen hatten Familienangehörige oder Freunde an die Drachen verloren – als die Drachen von den Menschen angegriffen worden waren und sich verteidigt hatten.
Kisino tappte auf sie zu und ließ sich neben ihr nieder, legte seinen Kopf neben ihren und sie blickten einander in die Augen. Kisino schnaubte und stupste sie entschuldigend, mitfühlend mit seiner Schnauze an und teilte ihren Schmerz.
Beide hatten gewusst, dass nur einer überleben konnte, dass sie zum Kämpfen gezwungen gewesen waren.
Die Menge beobachtete die beiden Drachen, doch der Anblick berührte ihr Herz nicht. Sie wollten den Tod beider Drachen. Für sie waren es zwei Bestien, die nicht im Herzen miteinander vereint waren, sondern in ihrer Liebe zum Töten und zur Zerstörung.
Sie verstanden nicht, was da gerade vor sich ging, denn dafür hätten sie die Drachen als fühlende, denkende Wesen akzeptieren müssen.
Sie warteten auf Anubas Tod, damit Kisinos Tod folgen konnte.
Und dann schloss der rote Rubin schließlich seine Augen und seine Seele entfloh an einen Ort, der hoffentlich besser war als das hier. Ein Ort, an dem er frei sein konnte.
Kisino schnaubte, stupste sie ein letztes Mal und erhob sich dann, spannte seine Flügel zu ihrer vollen Größe auf, stellte sich auf die Hinterbeine und stieß einen markerschütternden Schrei voller Schmerz, Wut und Verzweiflung aus, stieß eine Flamme aus, die über Anubas Schuppen glitt wie fließendes Wasser über Diamanten und ließ sie wie Edelsteine leuchten, dass es selbst dem Pöbel in der Arena den Atem raubte. Dies war ein Moment der Ehrung, in dem niemand den Drachen ihre Schönheit absprechen konnte.
Aber die Menschen vergasen, verdrängten und lebten weiter.
Wie das Feuer erlosch, so erlosch auch die Ehrfurcht vor den Drachen und dem Schauspiel, das sich da gerade geboten hatte und der Mob schrie in Ekstase, brüllte vor Freude, kreischte in Hysterie und sah die Geste des Drachen nicht als das was sie war, sondern als das, was der Moment für sie war: Sie sahen es als eine Geste des Triumphs und feierten den Sieger, den sie ebenso tot sehen wollten.
Mir war speiübel angesichts dieser Verachtung gegenüber dem Leben.
Das zweite Tor öffnete sich und Männer in Rüstungen und mit Speeren verteilten sich um Kisino herum, hielten ihn zurück, während Männer vom ersten Tor Ketten um Anubas mächtigen Leib legten und eine Masse von Menschen sie Stück für Stück zurück in den Tunnel zog.
Die Szenerie hatte etwas Lächerliches: Ameisen hielten Zahnstocher, um einen König der Lüfte in Schach zu halten, während sie seine Schwester, die er gerade gezwungen gewesen war zu töten, zurück in den Tunnel zerrten, damit Platz für seinen zweiten Kampf war.
Drachen waren wertvoll – wertvoll als Kriegsmaschinen.
Sie opferten nur zwei in jedem Jahr.
Kisino war der Nächste.
Die Leiche war verschwunden, die Männer zogen sich eilig zurück.
Zurück blieb der Smaragd, der die ganze Arena beherrschte, sich im Kreis drehte und seinen Schmerz und die Herausforderung in die Menge brüllte.
Und es antwortete jemand.
Ich holte tief Luft und seufzte. Das war das Ende.
Jarbo trat an das Geländer, hob die Hände und bat um Ruhe.
Die Menge verstummte und Kisino wandte sich zu Jarbo um.
Stumm begegneten sich ihre Blicke. Kisino erkannte den Schuldigen für dieses Spektakel und Jarbo erkannte seinen Todfeind.
Mindestens einer von ihnen war in einigen Minuten tot.
„Der erste ist gefallen!“, scholl Jarbos Stimme durch die Arena, woraufhin ein lauter Applaus folgte. Irgendwo schrie jemand „Einer ist nicht genug!“ und Jarbo fuhr fort: „Nun seht euch diese Bestie an.“
Anklagend wies er auf „Bestie 97“.
„Ohne Zögern tötete er seine Schwester. Er sah eine Möglichkeit zu töten…“ Jarbo reckte seinen Arm gen Himmel und schloss seine Faust, als würde er ein unsichtbares Insekt zerquetschen. „… und hat sie genutzt!“
Buhrufe ertönten, Zeichen der Heuchelei, die meine Übelkeit nur noch weiter verstärkte.
„Also frage ich euch… soll ich die Welt von einer weiteren Bestie befreien? Wollen wir hier und heute ein Zeichen setzen?“
Begeisterte Rufe und Schreie, Kreischen erfüllte die Arena, Applaus brandete durch die Sitzreihen, Leute standen auf und sprangen mit ausgestreckten Armen in die Luft.
„Tötet ihn!“
„Bestraft ihn!“
„Lasst ihn leiden!“
„Rottet die Drachen aus!“
„Er soll sterben!“
Ganz langsam hob Jarbo seine Hände hoch, reckte sie weit zum Himmel, zur Heimat der Drachen, wie er konnte und rief, so laut er konnte: „So! Sei! Es!“
Er zog sein Schwert und verschwand für einen Moment, bevor er am Fuße der Treppe in der Arena wieder auftauchte.
„Jarbo!“ Der Schrei hallte hundertfach durch die Arena, jubelnd, begeistert, bewundernd, ermutigend, anhimmelnd.
Jarbos Schwert blitzte im Schein der Sonne, obwohl es kein Vergleich war zu den blitzenden Schuppen Kisinos. Dennoch jubelten die Leute ihm zu.
„Töte ihn endlich!“
„Worauf wartest du?“
„Lass das Biest leiden!“
Doch Jarbo genoss den Applaus und die Bewunderung, die Anerkennung. Vielleicht würde es seine letzte Gelegenheit sein – drei der letzten sieben Anführer der Drachengarde waren in der Arena gefallen. Wie mein Vater.
Wenn ich an diesen Tag dachte, der mir bereits einige Mal geschildert worden war, füllte sich mein Herz mit Hass und ich verachtete mich selbst dafür, sein Blut in meinen Adern zu tragen, verachtete mich dafür, dass mein Herz schlug, weil es ihn gegeben hatte.
Ich gehörte hierher: In diese Arena voller widerlicher Menschen.
Doch Kisino gehörte nicht hierher. Er gehörte in die Freiheit, in den strahlend blauen Himmel, den Himmel gefüllt mit den warmen Farben des Sonnenuntergangs, den rosigen Himmel der Morgendämmerung, den schwarzen Himmel der Nacht, allein erhellt durch den Mond und die Sterne.
Jarbo schritt auf Kisino zu, blickte ihm fest in die Augen, entschlossen.
Kisino erwiderte den Blick voller Herablassung und beobachtete jeden von Jarbos Schritten. Und im selben Augenblick, in dem Kisino sein Feuer spie, blieb Jarbo stehen. Er hatte den Abstand genau eingeschätzt und so streifte ihn nur die warme Briese des Feuers, der Wind zerrte an seinen Kleidern und strich über seinen kahl geschorenen Kopf, während Kisinos Flammen sinnlos verpufften.
Als sich die Rauchschwaden verzogen, stand Jarbo jedoch nicht mehr an seinem ehemaligen Platz, sondern seitlich von Kisino und hieb sein Schwert in dessen Flügel, hieb durch die Haut zwischen den dünnen Knochen wie durch ein Laken.
Kisino schrie und flatterte wie ein aufgescheuchter Vogel mit den Flügeln, während er vor Schmerz aufheulte. Jarbo rannte weiter, erreichte seine Rückseite und nutzte Kisinos Schmerz: Einen Moment später war seine Armbrust bereits gespannt, Jarbo betätigte den Abzug, die Sehne schwirrte, der Pfeil zischte und traf zielsicher die empfindliche Stelle zwischen Hals, Rücken und Schultern, an der keine Schuppen die Haut bedeckten.
Kisinos Schrei wurde lauter und höher, doch jetzt war die Wut deutlicher denn je zu vernehmen und er wandte sich in einer fließenden Bewegung um, gleich einem Wirbelwind, fegte mit seinem dornigen Schwanz Staub und Jarbo durch die Arena.
Innerlich atmete ich auf, als ich sah, dass Kisino etwas unternahm, dass er getroffen hatte, dass Jarbo Schmerzen litt, und unwillkürlich musste ich schwach lächeln.
Da lag er: Alle Viere von sich gestreckt auf dem dreckigen Arenaboden, bedeckt von Staub und Dreck. Dort, wo er hingehörte. Ich hatte den Drang, in die Arena zu springen, einen Freudentanz zu vollführen, auf Jarbos Schädel herumzutreten und ihm in sein dreckiges Gesicht zu spucken.
Aber ich saß hier oben und konnte nur dem Schauspiel folgen, das sich mir bot und hoffen, dass Kisino schnell genug reagierte.
Und plötzlich dehnte sich die Zeit: Die Stimmung in der Arena war zum Zerreißen gespannt, fast alle Menschen auf der Seite Jarbos, während dieser am Boden lag, vermutlich verletzt, Kisinos Augen auf ihn gerichtet.
Unwillkürlich hielt auch ich die Luft an und mit einem Mal schossen mir tausend Gedanken durch den Kopf, vor allem ein Gedanke war übermächtig: Würde Kisino Jarbo töten, dann würde man Kisino töten. Wäre Jarbo schneller, würde er Kisino vielleicht töten.
Aber – und dieser Gedanke war der entscheidende – dieser Moment war einmalig: Jarbo war dem Drachen ausgeliefert, sein Tod stand so gut wie fest. Er hatte also bereits verloren.
Wenn man den Kampf nun beenden könnte, dann würde vielleicht auch Kisino am Leben bleiben, denn Kisino hätte sich als starker Drache bewiesen, jedoch keinen Menschen getötet.
Bisher waren die Anführer der Drachengarde in der Arena zu schnell getötet worden, dass an ein Eingreifen hätte gedacht werden können: Ein Prankenhieb hatte sie sofort zerfetzt, eine Flamme sofort verbrannt, ein Drachenkörper sie sofort zerquetscht.
Doch nun lag Kisinos Pranke auf Jarbo, drückte auf dessen Brustkorb, schnürte ihm langsam die Luft ab, während Kisino den Tod Jarbos nur um Sekunden hinauszögerte.
Die Armbrustschützen auf den oberen Mauern der Arena sahen dem Kampf gebannt zu und konnten nicht eingreifen: Würde Jarbo sich noch befreien können, hätten sie so einen Sieg durch seine Hand vermieden; würden sie ihn so retten, hätte er vielleicht seine Ehre eingebüßt.
Sie konnten nichts tun, aber ich konnte es – das glaubte ich zumindest in diesem Augenblick.
Ich hatte Anuba, meinen geliebten Drachen sterben sehen, und einmal genügte mir. Kisino sollte leben. Und ich konnte etwas tun. Endlich hatte ich die Chance, etwas zu tun, sei es auch noch so unbedeutend.
Ich hielt dieses Leben voller Hass, Demütigung, Mitleid, Wut, Schmerz und Scham nicht mehr aus. Ich hielt es nicht mehr aus, Teil dieser schwarzen, zerstörerischen Masse zu sein. Einmal wollte ich mich davon absetzen und zeigen, dass es anders ging – anders gehen musste.
Ich schrie auf in der Stille, die sich wie ein Schleier über die Arena gelegt hatte, ein schriller, unmenschlicher Schrei und warf mich nach vorne, meine Hände lagen flach auf dem Boden direkt vor der Kante. Ich stütze mich auf sie, wandte mich im Sprung und ließ mich in die Arena fallen.
Ein dumpfer Stoß fuhr durch meine Knie und meinen Kopf und ich schwankte, als meine Füße den trockenen Arenaboden trafen, doch ich blieb stehen. Nach einer Schrecksekunde rannte ich los, direkt auf Jarbo und Kisinos Pranke zu und rief, so laut ich vermochte: „Halt!“
Und meine Stimme, von der ich niemals gedacht hätte, das sie so laut sein konnte nach all den Jahren des stummen Zusehens, erreichte die Menge und für diesen Moment lagen alle Augen auf mir, auf dem Mädchen, das plötzlich in die Arena gesprungen war – zu einem tollwütigen Drachen und einem todgeweihten Oberst.
Ich rannte und atmete staubige Arenaluft, spürte gleichzeitig einige bewunderte Blicke von denen, die dachten, ich tue dies für Jarbo, die vielleicht sogar vermuteten, ich musste seine Geliebte sein, während die meisten noch in ihrer Starre und Fassungslosigkeit gefangen waren.
Meine Füße stampften und schlitternd blieb ich neben Jarbo stehen, würdigte ihn keines Blickes, blickte nur in diese großen, grünen Augen, die mich neugierig und verwundert musterten. Kisino machte keine Anstalten, sich auf mich zu stürzen und erst als ich dies realisierte, merkte ich, wie mein Herz aufgeregt pochte.
Was tat ich hier?
Hätte ich hochgesehen, hätte ich mich beobachtet von jedem einzelnen Menschen in der Arena wiedergefunden, doch ich hatte nur Augen für diesen wunderschönen, erhabenen Drachen.
Bestie 97.
„Kisino.“, flüsterte ich ehrfürchtig und beinahe glaubte ich, dass er belustigt schnaubte, doch es war wohl nur meine Einbildung.
„Tu das nicht“, sagte ich plötzlich, ohne vorher darüber nachgedacht zu haben, aber in dem Wissen, dass ich etwas tun musste – und wenn das bedeutete vor dem ganzen Lager mit einem Drachen zu reden.
„Sie werden dich töten, wenn du ihn tötest.“
Kisino starrte mich an, seine Augen leuchtende Smaragde zwischen den schillernden Schuppen und obwohl er sich nicht regte, wusste ich, spürte ich, dass er verstand. Genauso sahich auch aus dem linken Augenwinkel, dass er den Druck auf Jarbos Brust verringerte und hörte diesen rasselnd und verzweifelt nach Luft ringen.
Mein Herz sagte „Verreckt doch, Bastard!“, aber mein Verstand wusste, dass mit ihm Kisino sterben würde.
Das war es? Ich würde Jarbo retten – Jarbo! – und Kisino in die Gefangenschaft schicken, die Anuba zerstört hatte, wie so viele Drachen zuvor, und die noch viele weitere zerstören würde.
Nein, dafür hatte ich nicht gerade den Sprung in das Haifischbecken gewagt.
Die Menge schien nicht mehr zu atmen, keiner wagte zu atmen, zu reden, sich zu bewegen. Selbst auf der Tribüne schwiegen die Adligen.
Egal, wie gut Jarbos Vorstellung gewesen war, meine war wirklich einzigartig.
Und auf einmal, inmitten des versammelten Lagers, wusste ich, was ich tun konnte.
Ich wandte mich um, beugte mich zu Jarbo hinab und hob eine der Armbrustbolzen auf, die aus Jarbos Köcher gefallen waren.
Immer noch bewegte sich niemand.
Dann erhob ich mich und steckte den Bolzen in das riesige Eisenschloss an Kisinos Pranke.
Es war, als würde die Menge nun zum ersten Mal Luft holen, erleichtert, dass ich endlich etwas tat und einige regten sich. Bevor jedoch jemand auf andere Gedanken kam, hob ich den Bolzen wieder und brüllte: „Das Leben des Drachen für den Oberst! So wie bei allen Drachenspielen!“
Damit wandte ich mich wieder dem Schloss zu, während die Menge wieder still stand, überlegte, leise tuschelte. Ich ließ mich jedoch nicht in meinem Vorhaben beirren.
Das Eisenschloss sprang auf und schlug felsengleich auf dem Arenaboden auf, fiel wie eine schwere Last von Kisino ab. Ich ging zur anderen Pranke und hantierte wieder am Schloss herum.
Plötzlich zischte Jarbos Stimme durch die Arena.
„Warum tust du das? Warum?“, zischte er hasserfüllt.
Ich würdigte sein hasserfülltes Gesicht keines Blickes.
„Du bist es nicht wert gerettet zu werden. Dein Leben spielt keine Rolle. Aber seines tut das.“
„Eine Bestie ohne Namen!“
„Einen Drachen namens Kisino. Ein Wesen mit mehr Verstand und Gefühl, als du jemals besitzen wirst.“
Und die letzte Fessel fiel. Kisino hob seine Pranke, blickte zu seinen Pranken, als könne er nicht glauben, was hier gerade geschah, als wolle er sich vergewissern, dass er wirklich nicht mehr an die Erde gebunden war.
Ich lächelte, zum ersten Mal seit Jahren voller Freude und Zuversicht, befreit von jedwedem Übel.
„Du bist frei.“, erklärte ich. „Du kannst gehen wohin du willst, davonfliegen. Du bist frei.“
Ich starrte in diese smaragdgrünen Augen in einem Moment, der perfekt war, in einer Arena, deren Boden blutbefleckt war, doch ich hörte die Freiheit nach Kisino rufen.
„Flieg schon“, hauchte ich und er starrte mich ebenso an wie ich ihn.
Und dann spürte ich einen kräftigen Windstoß, als Kisino seine Flügel spannte und sich vom Boden abstieß, sich gen Himmel erhob.
Sein Blick blieb noch für einen Moment an mir hängen und ich wusste, die Drachen hatten stets verstanden.
Ich dachte an den starren Blick, der den Drachen ihren Namen gab und wusste, er war falsch. Ihre Augen waren Offenbarungen: Offenbarungen des Überirdischen, einer Schönheit, die nirgendwo anders zu finden war, in keiner Diamantenmiene, in keinem Kunstwerk dieser Welt. Ihre Augen spiegelten alle Gefühle wider, die die Menschen so krampfhaft in ihren Herzen zu verbergen suchten.
Sie waren ehrlich, voller Gefühl und Schönheit.
Sie waren ein Spiegel der Freiheit, die kaum ein Mensch je zu greifen bekam.
Etwas zerriss in mir – die Angst, der Selbsthass, die Schuld zerplatzten wie eine Seifenblase, ungreifbar, die einzige Spur eine nasse Spur, zeitgleich etwas anderes.
Meine Hand griff an meine Brust, wo ein plötzlicher Schmerz mich durchzuckte. Ungläubig, bewundernd blickte ich starr auf das rote Blut an meinen schmutzigen Händen, das von der Pfeilspitze tropfte.
Lächelnd hob ich langsam den Kopf, verfolgte den aufsteigenden Flug des fliehenden Drachen, während sich mein Körper dem Boden näherte, mein Kopf auf dem harten, staubigen Boden aufschlug und Rot den Staub tränkte.
Ich vergoss das Blut, das stets so voller Hass war, vergoss es großzügig, um den Preis der Freiheit zu zahlen, während mein Blick starr wurde und als letztes Bild den blauen Himmel und den schimmernden Drachen in Erinnerung behielt.



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Tag der Veröffentlichung: 16.04.2012

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