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Kann man ein Leben umtauschen

Sternenhimmel ohne Hoffnung


Mit ihren fünf Jahren stand sie auf dem Bahnhofsvorplatz einer großen Stadt.
Ihre Haut war leicht gebräunt von der gesunden Landluft, das dunkelbraune, glänzende Haar war zu zwei Zöpfen geflochten, versehen mit sorgfältig gebügelten Ripsschleifen, so wie man sie auf dem Land oder in einer ländlichen Kleinstadt zu damaliger Zeit trug.
Eine lange Reise lag hinter ihr. Das Gepäck und die Beaufsichtigung wurden dem Schaffner
der Eisenbahngesellschaft anvertraut, ebenso das kleine Mädchen.

Es war schon Abend, sie sah ein Lichtermeer von Sternen am Himmel, so, als würden sie nur für dieses kleine Kind zum Empfang leuchten, in dieser fremden Stadt,
von der sie nie etwas gehört hatte.

„Herzlich willkommen in deinem neuen Leben“, schienen sie zu sagen.

Wieso willkommen? Sie wollte nicht hierher kommen. Sie musste sich dem Willen der Erwachsenen fügen, ob sie wollte oder nicht.

Eine Frau, die sie nicht kannte, nahm sie in Empfang und stellte sich mit den Worten vor:
„Ich bin deine Mutter, ab heute sagst du Mutti zu mir“.

Mutti? Was für eine Mutti? Ich habe doch eine Oma, die ist meine Mutti!

Die Bezeichnung Mutter hatte sie nur im Zusammenhang mit einer Frau gehört, die in den Westen geflüchtet war und ihr Kind zurück gelassen hatte. Wieso geflüchtet, sie hatte doch eine Wohnung, ihre Mutter, eine Schwester und zwei Brüder, die unversehrt aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurden. Da musste man doch nicht flüchten, - in ein besseres, freies Leben ohne Ballast und Anhang und ohne Verantwortung, deren Bedeutung sie nicht kannte. Und dann noch ein kleines Kind, das sie unter Schmerzen geboren hatte, zurücklassen. Nein, diese Frau konnte mit dieser Verantwortung nichts anfangen.

Ein Mann, den sie nicht kannte, begrüßte sie herzlich. Er wollte sie in ihr neues Zuhause fahren, mit einem Motorrad. Die Fahrt dauerte nicht sehr lange und sie waren am Ziel angekommen.

Wo war hier ein Haus, in dem sie zukünftig leben sollte. Ohne ihre Oma?
Die Orientierung fiel ihr schwer, eine Beleuchtung gab es nicht, sie tasteten sich durch die fast undurchdringliche Dunkelheit zu einem unkenntlichen Haus. Es war der Rest eines Hauses, eine Ruine ohne Dach und ohne bewohnbare Räume. Eine Ruine, die dem Bombenhagel, der der Stadt den Garaus machen wollte, Stand gehalten hatte.

Mehrere Kellerstufen mussten überwunden werden, um in einen langen Flur zu gelangen.
Von diesem gingen einige Türen aus grob gehobelten Brettern in Räume ab, in denen mehrere Menschen Unterschlupf gefunden hatten. Eine dieser Türen wurde geöffnet und sie befand in einem ursprünglichen Vorratskeller.
Dieser Raum enthielt drei Betten, eine Apfelsinenkiste, versehen mit einem selbst genähten Vorhang, der wohl diesem Raum eine gewisse Gemütlichkeit geben sollte. Sie diente als Schrank für die Kochutensilien. An der Stirnseite befand sich ein Fenster, groß genug, um gerade mal einen Kohlensack durchzulassen. Zu klein, wie sich später herausstellte, um ihrem kleinen Körper als Fluchtweg zu dienen.

Zu diesem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass dies nicht die letzte Station ihres Lebens sein sollte, hatte keine Ahnung von den vielen geschriebenen Briefen, dass dieses Kind nicht erwünscht war, in dieser Stadt und in diesem Keller. Hatte keine Vorstellung, dass dieser Aufenthalt nur von kurzer Dauer sein sollte und sich bald die Türen eines Kinderheimes für sie öffnen würden.

Sollte das der Anfang einer nie endenden Odyssee sein?

Ein großer, schlanker, fast dürrer Mann mit einem hageren Gesicht, mit aus dem Schädel glotzenden, kalt blickenden, grau-blauen Augen, umrahmt von weißen Augenbrauen, die er sich regelmäßig mit einem Augenbrauenstift färbte, begrüßte sie.
Das sollte der neue Vater sein!? Dieser Mann würde das kleine Mädchen von nun an nur noch „Walross“ nennen!

Dieses Tier hatte sie in einem Buch abgebildet gesehen. Es war ein riesiger Fleischklops, der nur zwei Flossen an seinem Rumpf hatte, um sich fortzubewegen. Dieses nur aus wabbelndem Fett bestehende Etwas sollte sie sein? Nein! Kannte er nicht ihren richtigen Namen?
War sie ein Bastard, der nicht erwünscht war und nun einen neuen Namen bekam?

Täglich zelebrierte er knieend ein immer wiederkehrendes Ritual, in dem er seine Marienbilder küsste und murmelnd Gebete sprach um, sie in diese Zeremonie einzubinden. Sie lernte schnell, und so konnte er sie in die Kirche zu schicken, wenn die Amerikaner Carepakete an die Bevölkerung ausgaben, die von dem Pfarrer jedem einzelnen Kind der Gemeinde übergeben wurden und zu Hause abgeliefert werden mussten.

Eines Tages kam jemand von der Behörde ins Haus, um dem kleine Mädchen vorübergehend eine andere Unterkunft zu bieten, bis die Eltern eine menschenwürdigere Wohnung für sich und die kleine Karin besorgen konnten.

Inmitten von alten Bäumen lag die weiße Villa, einem Märchenschloss ähnelnd, die einst einer angesehenen Hanseatischen Kaufmannsfamilie gehörte, sie wurde ihr neues Zuhause.

Das kleine Menschenkind kann sich an diese Zeit des Kinderheimes nur bruchstückhaft erinnern. Sie nässte wieder ein und wollte nur noch Baby sein.

Die Schubladen, in denen sie ihre Tränen, Ängste, Zorn, Wut und Trauer deponiert hatte, bleiben für die Zeit ihrer Kindheit für immer geschlossen.


Wenn sie heute im Frühling und Sommer manchmal an diesem Haus vorbeigeht, erinnert sie sich sehr vage und lückenhaft an diese Zeit. Geht schnellen Schrittes weiter, um ihr Herzklopfen mit tiefem Durchatmen zu beruhigen.

Impressum

Texte: Copyrith liegt bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 06.01.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Danke an meinen "Grossen" durch den ich erst in der Lage war diese Geschichte zu schreiben, denn seine Zuversicht und positive Ausstrahlung bewirkten dieses Buch

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