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Buch 1

 

 

 

 

 

 

 

 

 Anbeginn

Kapitel 1 – William

Geräuschlos schlich Will wieder einmal auf vier Pfoten durch den Wald.

So gut wie unsichtbar zwischen den dichten Farnen und dem hohen Gras, verschmolz sein schwarzes Fell mit der Nacht, einzig seine weißen Pfoten blitzten ab und zu auf, wenn er sie aus dem Moos und den Nadeln zog, die den Waldboden bedeckten. Fast völlig lautlos huschte er unter den Büschen und Sträuchern hindurch in Richtung des städtischen Tierheims, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm, die ihn von seinem Vorhaben ablenkte.

Eine fette Motte landete auf dem Ast eines leicht stachelig aussehenden Busches zu seiner Linken, und bevor der menschliche, rationale Teil in ihm reagieren konnte, hatte der Jagdinstinkt seiner Katzenseite ihn fest im Griff. Sofort senkte er seinen Körper, sodass sein schneeweißer Bauch auf den Waldboden gepresst war, und fixierte das Insekt – einen grau gezeichneten Nachtfalter – mit seinen irisierend grünen Augen. Bewegungslos kauerte er da, nur seine Schwanzspitze zuckte, als er sich langsam, sehr langsam auf die Motte zuschob, die leicht mit den Flügeln flatterte, als würde sie ihn verspotten, ihn dazu herausfordern, doch endlich anzugreifen …

Gerade als er zum Sprung ansetzte, regte sich etwas in seinem Hinterkopf. Der Gedanke, dass das vielleicht doch keine so gute Idee war, egal, wie saftig und lecker die Motte aussah, kam von seiner menschlichen Seite, doch er schob den Einwand rasch beiseite, denn der Snack in Form einer Motte war kurz davor, ihm wegzufliegen.

In seinen Ohren rauschte es vom Adrenalin der Jagd, und plötzlich schien alles verlangsamt zu sein, als er sich kraftvoll mit den Hinterbeinen vom Boden abstieß und seinen Körper lang machte. Selbstzufrieden gratulierte er sich wieder einmal selbst zu seiner herausragenden Jagdleistung, als er mit Kurs auf das Insekt durch die Luft segelte.

Der Sprung war nicht nur im perfekten Winkel, sondern auch so lautlos und flink ausgeführt wurde, dass die Motte ihn nicht kommen sehen würde, bis es zu spät war.

Nur noch eine Handbreit vom Objekt seiner Begierde entfernt, wurde ihm jedoch klar, warum das wirklich keine gute Idee gewesen war. Erst jetzt schien in seinem vor Selbstgefälligkeit getrübten Katzenhirn anzukommen, worauf die Motte saß.

Klette. Ein ganzer, verdammter, stacheliger Busch davon.

Tapfer unterdrückte er seine zunehmende Panik und konzentrierte sich wieder auf seine Beute. Wenn er sich schon in einem ganzen Busch voll Klette verfangen würde, dann wollte er vorher zumindest die Motte noch gefangen haben.

Als wäre sein unvermeidliches, stachliges Schicksal nicht schon schlimm genug, schien das Glück weiterhin nicht auf seiner Seite zu sein. Noch im Flug musste er zusehen, wie die Motte ihre papiernen, grauen Flügel ausbreitete und vom Zweig abhob.

Nun war nicht nur sein Stolz tief getroffen, weil sein perfekter Sprung ihn geradezu in die klebrig stachligen Äste einer Klette befördern würde, sondern auch sein Ego, weil ihm obendrein noch seine Beute entwischt war.

Prompt erfasste ihn die Panik wieder, und er begann, verzweifelt zu strampeln und mit den Pfoten in der Luft zu rudern, doch nichts brachte ihn mehr von seinem Kurs ab.

Mit einem lauten Rascheln landete er direkt in der stachligen Katzenhölle namens Klette.

Der Strauch war gute anderthalb Meter hoch, und statt genau obendrauf hängen zu bleiben, sank er hinein, da die Kletten nicht sofort an seinem seidigen Fell festklebten. Er drehte sich geschickt dem Boden entgegen, bereit, auf den Pfoten zu landen, doch bevor er erleichtert seufzen konnte – wenn er so hoch über dem Boden hing, würde er sich niemals befreien können! – jaulte er auf, als ein scharfer Schmerz durch sein Hinterteil schoss und er etwa zwanzig Zentimeter über dem Boden zum Stillstand kam.

Winselnd versuchte er, sich durch Zappeln zu befreien, gab jedoch sofort auf, als ihm klar wurde, dass seine gesamte Kehrseite, inklusive seines buschigen Schwanzes, in den Kletten festhing und ihn so in der Luft gefangen hielt.

Abgesehen vom schmerzhaften Zug auf seine Wirbelsäule, den die blöden, stachlig-klebrigen Blütenköpfe verursachten, klebten mindestens ein halbes Dutzend Kletten an ihm fest, darunter auch welche an seiner Flanke und am empfindlichen Fell an seinem Bauch. Die lästigen Dinger waren nicht so leicht zu entfernen, deshalb versuchte er es gar nicht erst. Einen kurzen Moment lang erwog er, sich einfach zu verwandeln. Als Mensch könnte er sich in Sekundenschnelle von den Kletten befreien, wieder seines Weges gehen, und der Schäden wäre weitaus geringer, als wenn er sich als Kater der Stachelpflanze entledigte. Doch dann erklang das unmissverständliche Bellen eines Hundes in naher Umgebung und er verdrängte die Idee sogleich. Wenn ein Hund in der Nähe war, war sein Herrchen nicht fern. Er konnte nicht riskieren, sich vor einem Menschen zu enttarnen. Ganz abgesehen davon, dass sein inneres Kätzchen allein bei dem Geräusch des Hundes schon zappelte …

Also gab er einfach sein Bestes dabei, seinen Körper trotz der Schmerzen zu verdrehen, und begann mühevoll, die Zweige, an denen die Klettenblüten hingen, durchzubeißen.

Gefühlte zwei qualvolle, nicht enden wollende Stunden und einige alarmierende Verlagerungen seines Gleichgewichts später, durch die er schon fast dachte, dass er seinen Schwanz komplett verlieren würde, war er endlich frei und purzelte nicht sehr anmutig mit der Schnauze voraus zu Boden.

So viel zu Katzen, die immer auf den Pfoten landeten. Sein Ego hatte ziemlich etwas abbekommen in dieser Nacht …

Die Kletten hingen immer noch in seinem Fell, da er nicht schmerzfrei hineinbeißen konnte, um sie abzupflücken, und rieben mit jedem Schritt, den er tat, unangenehm gegen sein Hinterteil. Jedoch konnte er nicht viel dagegen tun, bis er sich zurückverwandelte.

Will ignorierte die kratzigen Kletten und wandte sich wieder in Richtung des Tierheims. Er verzog das Gesicht, da seine Lautlosigkeit ihm dank der Kletten ebenfalls abhanden gekommen war, weil die Stacheln beim Laufen am Waldboden rieben und ihm ein Rascheln folgte, wohin er ging.

Murrend blickte er auf in den Himmel und zuckte zusammen, als er die ersten rot-goldenen Schlieren hinter den Bäumen hervorschimmern sah, die vom Sonnenaufgang kündeten.

Verdammt, wie lange hatte er in diesen Kletten festgehangen? Der Morgen nahte schon, weil er sich von seinen blöden Kätzcheninstinkten hatte mitreißen lassen …

Er musste sich beeilen, wenn er es noch zum Tierheim schaffen wollte, bevor ihn die Inhaberin bei ihrer morgendlichen Runde im Wald finden und für einen ausgebüchsten Bewohner ihrer Käfige halten würde.

Endlich dort angekommen, näherte er sich vorsichtig der Tür und lauschte erst einmal. Als er niemanden hörte, schlüpfte er rasch durch das offene Fenster hinein und betrat den Raum mit den bewohnten Tierkäfigen. Sobald ihn die Hunde wahrnahmen, begannen sie, wie verrückt zu bellen und gegen die Käfigtüren zu stoßen. Worauf er nicht vorbereitet war, war, dass die Inhaberin des Tierheims an diesem Tag wohl früher zur Arbeit gekommen sein musste als sonst. Oder aber die Klette hatte ihn doch mehr Zeit gekostet als gedacht …

Denn kaum eine Minute, nachdem die Hunde anfingen zu bellen, hörte er hinter sich die Tür aufgehen und wurde, bevor er reagieren konnte, im Nackenfell gepackt und hochgehoben. „Na, wen haben wir denn da?" Lächelnd hielt sie ihn auf Augenhöhe vor sich und schaute ihn aus funkelnd goldenen Augen höhnisch an. „Noch ein Ausreißer. Wie süß."

Erst jetzt sah er den rot getigerten Kater in ihrer anderen Hand, der winselnd versuchte, sich zu befreien. Auch Will wand sich hilflos in ihrem Griff. Vergeblich, sie ließ nicht locker und trug die beiden Kater zu einem Käfig mit geöffneter Tür. Vorsichtig setzte sie zuerst den roten – Garfield, dachte Will in einem Anflug von unpassender Belustigung – darin ab, schloss die Tür und schob den Riegel vor. Dann hob sie Will erneut hoch und begann, die Kletten aus seinem Fell zu zupfen. Bei jeder der stacheligen Blüten, von denen sie ihn befreite, zuckte er zusammen, da er spürte, wie sich mit ihnen Fell von ihm löste.

„Und du bist auch noch Stammkunde … dich habe ich definitiv schon öfter hier gehabt."

Ihre Stimme kam ihm seltsam vertraut vor, und er schrieb es der Tatsache zu, dass er sich dummerweise wirklich schon mehrmals von ihr hatte fangen lassen. Er hatte häufiger, als ihm lieb war, in einem ihrer Käfige gesteckt, da er es aus irgendeinem Grund nicht unterlassen konnte, hierherzukommen. Wenn er als Kater herumlief, war der Gedanke einfach zu verführerisch, die ganzen eingesperrten Hunde hier zu ärgern …

Trotzdem zog ihn auch in Menschengestalt etwas hierher, auch wenn er keine Ahnung hatte, was. Katzen konnte er keine adoptieren, denn sein inneres Kätzchen war sehr territorial. Und von Hunden brauchte er gar nicht erst anzufangen. Die meisten der Viecher mochten ihn ja nicht einmal als Zweibeiner …

Als die nicht sehr sympathische Tierheim-Lady ihn schließlich von den Kletten befreit hatte, war er so erleichtert, dass er mit dem Versuch aufhörte, sich ihrem Griff zu entwinden, und erst zu spät merkte, dass sie ihn in einem weiteren Käfig einschloss.

Will warf sich sofort gegen das Gitter und kratzte daran herum. In Gedanken verfluchte er sich für seine Dummheit. Warum musste er auch jedes Mal wieder hierherkommen, obwohl es ihm schon zu oft passiert war?

Lachend verließ die Frau den Raum und ließ die Tür hinter sich zuknallen. Danach war es still. Seufzend verzog er sich schließlich in die hinterste Ecke des Käfigs und rollte sich zu einer Kugel zusammen, nachdem er sich, vergeblich nach einer bequemen Stelle suchend, dreimal um die eigene Achse drehte. Trotz seines wunden Hinterteils war er kurz darauf eingeschlafen.

 

Wenig später wurde er vom Kreischen eines Kindes geweckt. Die Sonne war inzwischen vollständig aufgegangen und brachte die ersten Familien mit sich, die ein Tier adoptieren wollten. Will gähnte und streckte sich genüsslich, obwohl ihm sein Bett oder ein Baum lieber gewesen wären als der harte, mit Stroh ausgelegte Boden des Zwingers. Er setzte sich nah an das Gitter des Käfigs und beobachtete das rege Treiben im Tierheim. Die Familie mit dem kreischenden Kind, das ihn geweckt hatte, stand vor den Hundekäfigen und überlegte, welcher der kläffenden Köter denn mit zu ihnen nach Hause kommen sollte. Nach langem Hin und Her entschieden sie sich schließlich für einen winzigen Rehpinscher, der ihnen sicher schon am ersten Tag in seinem neuen Zuhause irgendwo verloren gehen würde. Das darauffolgende Paar nahm einen Pudel mit, und als nächstes erlangte eine weiß-braun getupfte Katze die Freiheit.

Da er endlich mal hier heraus wollte, begann Will unruhig herumzutigern und immer wieder an der Tür seines Gefängnisses zu kratzen. Nach einiger Zeit hörte er die tiefe Stimme eines Mannes reden und die eines Mädchens darauf antworten. Es klang ganz nach einer Diskussion.

Aber – Will hob den Kopf und lauschte – die Stimme des Mädchens klang nicht normal. Sie war voll mit Trauer und zitterte so, als würde sie jeden Moment brechen. Sie machte nicht den Eindruck, als würde sie sich unglaublich über ein Haustier freuen. Nein, sie hörte sich eher so an, als wäre ihr in diesem Moment alles egal. Als hätte sie etwas so Wichtiges in ihrem Leben verloren, ohne das es sich nicht mehr für sie zu leben lohnte. Als wollte sie nichts Anderes, als zu sterben.

Neugierig trat Will näher an die Käfigtür und spähte hinaus. Der Mann, der zuvor geredet hatte, und das Mädchen betraten den Raum, in dem Will sich befand.

Es waren zweifellos Vater und Tochter, die Ähnlichkeit war unverkennbar. Die gleichen eisblauen Augen und die gleiche ovale Gesichtsform. Das Mädchen hatte dunkelbraunes, taillenlanges Haar, das ihr in wilden, glänzenden Locken über den Rücken fiel. Will schätzte sie auf 16 Jahre, obwohl ihre zarten, elfenhaften Gesichtszüge und ihr zierlicher Körper sie etwas jünger aussehen ließen. Sie war kaum größer als einen Meter sechzig, würde ihm in seiner menschlichen Gestalt mit seinen einszweiundneunzig also gerade mal bis zur Brust gehen. Sie hatte blasse, makellose Haut und rote, sinnliche Lippen, bei denen er sich – wenn er nicht gerade in einem Käfig gefangen wäre – zurückhalten müsste, um nicht über sie herzufallen. Sie sah aus wie ein Engel.

Die einzigen Aspekte, die das wunderschöne Bild störten, waren die dunklen Augenringe und die vom Weinen aufgequollenen Augen.

Vom ersten Moment an war Will fasziniert und wie verzaubert von ihr.

Er vergaß sogar, dass er mit einem schmerzenden Hintern in einem winzigen Käfig festsaß, bis ihn die nächste Albtraumfamilie adoptierte.

Die Stimme ihres Vaters riss Will aus seiner Träumerei.

„Claire, Schatz, glaub mir. Du wirst in der nächsten Zeit jemanden an deiner Seite brauchen, wenn ich zwei Wochen lang auf Geschäftsreise bin. Du kannst doch in deinem Zustand nicht allein so lange zu Hause bleiben! Ein süßer Welpe würde dir gut tun …"

Man hörte und sah ihm die Verzweiflung deutlich an, als er sich mit der Hand durchs dunkle, mit einigen silbernen Strähnen durchzogene Haar fuhr und seine Tochter flehend anschaute. Anscheinend versuchte er, sie zur Adoption eines Haustieres – ein Hund, wirklich? Will schnaubte verächtlich – zu überreden. Aber das Mädchen blieb stur. Es schüttelte heftig den Kopf, und William konnte Tränen in ihren Augen erkennen.

„Chloe kann bei mir wohnen …“, versuchte sie, sich mit einer halbherzigen Ausrede aus der Affäre zu ziehen, doch man sah ihr an, wie nah sie einem Nervenzusammenbruch war. Um die Fassung nicht zu verlieren, ließ sie ihren Blick durch den Raum gleiten und blinzelte, um die Tränen zu vertreiben. William stieß unwillkürlich ein langgezogenes, herzzerreißendes Miauen aus, das wie ein gepeinigtes Jaulen klang. Seltsamerweise spürte er einen scharfen Schmerz in seiner Brust, dort, wo sein Herz war. Aber er konnte nicht zuordnen, woher dieser Schmerz plötzlich kam. Er war sich sicher, dass er sich auf seiner stacheligen Spritztour durch den Wald nicht an der Brust verletzt hatte. Woher kam das jetzt also?

Irgendwie schien er unbewusst mit dem Mädchen mitzuleiden und ihre seelischen Qualen zu spüren.

Überrascht fuhr das Mädchen zu ihm herum. Sobald sich ihre Blicke trafen - eisiges Blau gegen ein schönes Grün, das an einen sonnendurchfluteten Wald erinnerte -, sah Will den Ausdruck endlosen Schmerzes in ihren Augen. Der wurde jedoch in diesem Moment von etwas Anderem überlagert. Endlich kam Leben in das blasse Porzellan ihrer elfenhaften Züge und ihr Blick wurde weich, als sie nach einem kurzen Zögern an seinen Käfig herantrat. „Dad!", rief sie über die Schulter. „Ich glaube, ich habe meine Meinung geändert. Ich möchte doch ein Haustier. Diesen Kater."

Ich nehm's zurück, dachte Will blinzelnd, als das Mädchen ihre Finger durch das Gitter des Käfigs steckte, um dem Kater sanft über den Kopf zu streichen. Ganz und gar keine Albtraumfamilie …

Dann, ohne auf irgendwelche Worte ihres Vaters oder der Tierpflegerin, die bis jetzt teilnahmslos am Tresen gesessen hatte, zu achten, schob sie den Riegel der Käfigtür zurück, öffnete diese und hob den schwarzen Kater mit den weißen Pfoten vorsichtig auf den Arm. Er schnurrte, als sie ihn leicht unterm weißen Kinn kraulte und rieb seinen Kopf an ihrer Hand. Sie war so versunken im Anblick des Katers, dass sie nicht einmal ihren Vater hörte, der hinter ihr mit unverkennbarer Erleichterung etwas zu der Tierpflegerin sagte.

„Das ist Liebe auf den ersten Blick."

Kapitel 2 – Claire

Sobald Claire Donovan in diese funkelnden, grünen Katzenaugen geblickt hatte, war es um sie geschehen. Die ganze Trauer über den Verlust ihrer Mutter war wie weggeblasen, die albtraumhaften Ereignisse der letzten Wochen rückten in den Hintergrund.

Der Grund: ein schwarzer Kater mit weißen Pfötchen, der ihr Leben sofort irgendwie erträglicher machte, obwohl es zuvor noch eine hoffnungslose Katastrophe gewesen war. Claire wusste nicht, wie oder warum, aber die unschuldigen Augen des Katers reparierten etwas in ihr, das durch den plötzlichen Tod ihrer Mutter zu Bruch gegangen war. Sie trösteten sie, wie es keinem der teuren Geschenke gelungen war, mit denen ihr Vater sie überhäuft hatte, um sie von ihrer Trauer abzulenken.

 

Der Papierkram war schnell erledigt und der Kater wurde offiziell in den Besitz seiner neuen Familie übergeben. Nun saß Claire mit dem Kater im Arm – sie hatte darauf bestanden, ihn ohne Transportkiste mitzunehmen, da sie darauf vertraute, dass er ihr nicht davonlaufen würde – auf dem Rücksitz vom Lieblingsautos ihres Vater, auf dem Weg zurück nach Hause. Es war ein Wunder, dass er ihr erlaubt hatte, den Kater in seinem geliebten Wagen mitfahren zu lassen. Zuerst war er strikt dagegen gewesen und wollte das Tier in einer Transportkiste in den Kofferraum verfrachten, aber da in letzter Zeit nichts so lief, wie es sollte, gab er schließlich nach und ließ seiner Tochter ihren Willen.

Nun hatten sie die Villa fast erreicht.

Seit Claire den Kater hatte, war sie wie verwandelt. Die Trauer, die die letzten Tage ihr Gesicht umwölkt hatte, war verschwunden und machte leuchtenden Augen, einem sanften Lächeln auf den Lippen sowie einem Ausdruck des Staunens Platz, die immer erschienen, sobald sie den Kater ansah. Sie hatte sich ihm sofort verbunden gefühlt, als sie ihn im Tierheim gesehen hatte, eingesperrt in einem zu kleinen Käfig, in dem es nicht einmal Gelegenheit zum Auslauf gab.

 

In diesem Moment hielt ihr Vater vor dem Haus. Das Anwesen der Donovans war eine riesige, zweistöckige Villa mit fünf Schlafzimmern, wovon drei Gästezimmer waren, drei Bädern, wovon eines Claire allein gehörte, kompletter Sportausstattung im Keller und einem Swimmingpool im Garten. Dazu noch ein gigantisches Wohnzimmer, das fast das gesamte Erdgeschoss einnahm, und eine Küche mit Esszimmer, ausgestattet mit den modernsten High-Tech Küchenuntensilien.

Claires Mutter hatte den Kuchenteig lieber immer mit einem einfachen Schneebesen per Hand umgerührt, als die elektrische Küchenmaschine zu benutzen. Ihre Antwort auf die Frage nach dem Warum war immer nur ein amüsiertes Lachen gewesen.

Claire seufzte wehmütig und dachte an ihre Mutter, die vor einer Woche bei einem Autounfall überraschend ums Leben gekommen war. Eine Träne stahl sich unbemerkt aus ihrem Augenwinkel und rollte ihre blasse Wange hinab. Weitere folgten und bald glänzte ihr Gesicht vor Nässe.

Der Kater, der bis jetzt wohlig schnurrend auf Claires Schoß zusammengerollt gewesen war, sah auf. Plötzlich stellte er sich auf die Hinterbeine, stützte die Vorderpfoten an Claires linker Schulter ab und leckte ihr sanft die Tränen vom Gesicht. Erstaunt bemerkte Claire, was der Kater da tat. Er schien sie trösten zu wollen, denn gleich darauf rieb er sein feuchtes Näschen an ihrem Hals und begann wieder, leise zu schnurren.

Claire lächelte unter Tränen und drückte ihr Gesicht in sein weiches Fell.

„Claire, kommst du?" Ihr Vater war bereits ausgestiegen und wartete auf sie.

„Sofort", rief sie zurück. Sie öffnete die Tür und stieg aus, dann setzte sie den Kater auf dem Boden ab.

„Claire, was tust du da? Er wird noch davonlaufen." Kopfschüttelnd holte ihr Vater die leere Transportkiste aus dem Kofferraum und machte Anstalten, den Kater hineinzulocken, doch Claire hielt ihn davon ab.

„Er wird nicht weglaufen.", sagte sie zuversichtlich und ging zur Haustür. Tatsächlich folgte der Kater ihr sofort, statt sich über die Freiheit zu freuen und davonzulaufen. Claires Vater blieb verblüfft stehen und sah zu, wie erst das Mädchen und dann der Kater nacheinander im Haus verschwanden. Schließlich erwachte er aus seiner Starre und folgte den beiden mit der Grundausstattung, bestehend aus dem Käfig und einer Tüte mit Futter, die die Mitarbeiterin des Tierheims ihnen mitgegeben hatte.

Drinnen angekommen stellte er die Transportkiste ab und lief ins Wohnzimmer, wo Claire es sich auf dem roten Sofa gemütlich gemacht hatte und der Kater auf ihrem Schoß saß. „Achja, wie willst du ihn überhaupt nennen?", fragte ihr Vater. In einem Anflug von totaler Albernheit benannte Claire ihn nach ihrem Kindheitsidol und ehemaligen Lieblingskuscheltier, einem fluffigen, schwarz-weißen Panda.

Ihre nächsten Worte ließen ihren Dad zum ersten Mal seit drei Wochen in Gelächter ausbrechen.

„Er soll Captain Kitty heißen."

Kapitel 3 – William

 

Captain Kitty?

William unterdrückte ein Lachen, um sich damit nicht zu verraten.

Dieser Name war ja fast schlimmer als der, den die letzte Familie, bei der er gelandet war, ihm gegeben hatte! Zum Glück war er weggelaufen, bevor sie angefangen hatten, ihn 'Fluffy' zu rufen. Aber es machte es nicht minder lustig, später irgendwann ein Foto von sich selbst in Katzengestalt an jedem Baum hängen zu sehen, wo darunter 'Kater Fluffy wird vermisst!' stand. Wer kam denn bitte schön auf die blöde Idee, einem Kater den Namen eines Hundes zu geben? Anscheinend gab es solche Leute auf der Welt ...

Will hatte große Mühe, das Grinsen zu unterdrücken, das sich auf seinem Gesicht ausbreiten wollte. Es würde wohl etwas komisch aussehen, wenn das neu adoptierte Haustier plötzlich grinsen konnte, nachdem es sich ohnehin schon unnormal benahm.

Und da saß er nun, mit Claire auf dem Sofa im Wohnzimmer der riesigen Villa, die sein neues Zuhause sein sollte. Claires Dad war vorhin gegangen, um Katzenzubehör zu kaufen, seitdem saß Claire im Wohnzimmer und sah fern. Will – Captain Kitty – war wie ein Schal über ihre Schultern drapiert, den Kopf auf die Pfoten gelegt, die auf ihrer Schulter direkt neben ihrem Hals ruhten. Sein Schwanz strich ihr immer wieder neckisch übers Gesicht, sodass sie jedes Mal lachen musste, wenn er ihr die Sicht versperrte. Irgendwann schlief sie schließlich ein und Will kletterte vorsichtig, um sie nicht zu wecken, von ihr herunter.

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie nicht bei dem leisesten Geräusch aufwachen würde, und ihr Vater noch nicht wieder da war, wechselte er in seine Menschengestalt. Er schloss die Augen und spürte, wie sich sein Rückgrat verlängerte, das Fell verschwand und sein Körper wuchs. Seine Pfoten wurden zu Händen mit langen Fingern und sein Gesicht nahm die Züge eines Menschen an. Eine Sekunde später stand ein 21-jähriger, muskulöser und äußerst gutaussehender Mann mit schwarzem Haar und geheimnisvollen grünen Augen an der Stelle, wo zuvor der Kater gestanden hatte.

Er schaltete lautlos den Fernseher aus und schob vorsichtig seine Arme unter Claires Körper, um sie hochzuheben. Behutsam trug er sie die Treppe in den ersten Stock hinauf und öffnete die erste Tür.

Volltreffer! Wie er vermutet hatte, war ihr Zimmer im ersten Stock und relativ nahe an der Wendeltreppe dran, die ins Erdgeschoss hinunterführte. Er konnte sich vorstellen, dass sie lieber einen kurzen Weg ging, als jeden Morgen erst einmal durch das halbe Haus laufen zu müssen, um zur Küche zu gelangen. Als einziges Kind in einer Villa mit so vielen Zimmern zu wohnen war bestimmt nicht einfach. Vor allem, wenn man dazu noch seine Mutter verlor.

William trat durch die Tür und sah sich um.

Claires Schlafzimmer war komplett in Blau gehalten. Darin fanden sich alle möglichen Blautöne, von einem hellen Meerblau bis zu einem satten, vollen Königsblau war alles dabei. Das Zimmer war riesengroß und quadratisch, sodass es genug Freiraum für eigene Möbel gab. Ein Himmelbett mit aquamarinfarbener Decke und einer Menge Kissen, dazu Vorhänge aus kobaltblauer, fast durchsichtiger Seide, stand hinten im Raum etwas entfernt von der Glastür, die auf einen Balkon hinausführte. Da das Dach des Himmelbetts offen war, konnte man die Decke des Zimmers sehen, die himmelblau gestrichen und mit flauschigen Wölkchen bemalt war. Neben dem Bett stand ein Nachttisch aus dunklem, fast schwarzem Holz mit einem Wecker drauf. Gegenüber vom Bett entdeckte er eine Tür, hinter der sich ein großes Bad mit Duschkabine und Eckbadewanne befand, und eine zweite Tür führte in einen begehbaren Kleiderschrank, der bis zum Rand mit Kleidung gefüllt war. Rechts von der Zimmertür standen Schreibstuhl und Drehstuhl und links daneben ein weißes Sofa vor einem Flachbildfernseher. Links von der Tür thronte ein hellblaues Klavier mit passendem Hocker.

Das Zimmer war sehr hell und einladend und verriet viel über die Persönlichkeit seiner Bewohnerin. Zum Beispiel, dass sie Klavier spielte.

Will war überrascht über die Einrichtung des Zimmers. Er hätte nicht so viel Blau erwartet.

Er hatte nicht gedacht, dass Claire Klavier spielte, allerdings bemerkte er, dass ihre feingliedrigen, langen Finger wie dafür geschaffen waren, genau das zu tun.

Sanft legte Will sie auf das Bett und deckte sie zu. Sie sah so friedlich aus, wenn sie schlief. Keine Spur von der Trauer und dem Schmerz, die die ganze letzte Zeit über ihr schönes Gesicht beschattet hatten. William beugte sich über sie und hauchte ihr einen leichten Kuss auf die Stirn, dann öffnete er die Tür zum Balkon, sprang hinunter und war im nächsten Moment verschwunden.

Kapitel 4 – Claire

 

Claire schlief lange.

Als sie erwachte, lag sie zugedeckt in ihrem Bett und fragte sich, wer sie ins Bett getragen hatte. Ihr Vater hatte sie lange nicht mehr zu Bett gebracht, zuletzt als sie neun Jahre alt gewesen war. Wegen seiner Arbeit war er meistens sehr spät, oft erst nach ihrer Schlafenszeit nach Hause gekommen. Sie hatte als Kind nur an den Wochenenden Zeit mit ihm verbringen können, und das nur dann, wenn er nicht gerade geschäftlich verreist war. Ihre Mutter war ihr Fels gewesen, die einzige Person, die zu allen Zeiten bei ihr gewesen war, die ihr bei allen Problemen zur Seite gestanden hatte, besonders dann, wenn ihr Vater wieder einmal beschäftigt mit Arbeiten war. Das ließ ihren plötzlichen Verlust nur umso mehr schmerzen, als hätte sie einen Teil ihrer Selbst verloren, der so wesentlich war, dass es sich anfühlte, als müsste sie nun ohne ihr Herz weiterleben.

Sie liebte ihren Vater, aber er war nie so ein essenzieller Teil ihres Lebens gewesen wie ihre Mutter. Er war nie lang genug zu Hause gewesen, dass sie aufhören konnte, ihn zwischen Geschäftsreisen und arbeitsbedingter Abwesenheit zu vermissen. Nicht einmal, wenn er mit ihr an den Wochenenden im Vergnügungspark Zuckerwatte naschte oder mit ihr Geschenke Einkaufen ging, die sie von seinem Fernbleiben ablenken sollten.

Ihr Vater hatte sich alle Mühe gegeben, trotz seiner Arbeit für sie da zu sein, war jedoch lange kein richtiger Vater mehr für sie gewesen.

Konnte er es also gewesen sein?

Als Claire sich aufsetzte, kribbelte ihre Stirn, als hätte jemand mit einer Feder darüber gestrichen, um sie zu kitzeln. Verschlafen wischte sie sich mit der Hand übers Gesicht und schlug die Decke zurück. Gähnend stand sie auf und streckte sich, dann tapste sie barfuß ins Bad, um zu duschen. Da es Wochenende war, gab es keine Schule und so konnte sie sich Zeit lassen. Als sie fertig war, belebt und nun richtig wach, suchte sie sich Sachen zum Anziehen heraus. Ein graues Top, schwarze Shorts und ihre blauen Lieblingssneaker, dazu die Silberkette ihrer Mutter, ein kleines Medaillon in Form einer Träne. Claire klappte es auf und sah sehnsüchtig hinein. Im Innern war ein winziges Bild zu sehen, das Claires Vater zeigte, der liebevoll ihre Mutter umarmte und dabei Claire als Baby im Arm hielt. Alle drei - auch Claire - lächelten glücklich.

Plötzlicher Kummer trübte Claires sonnige Laune zusammen mit den Tränen, die ihr in die Augen stiegen, und sie klappte das Medaillon schniefend wieder zu. Hastig wischte sie sich mit der Hand übers Gesicht und trat an ihren Spiegel, um mit etwas Make-up zu kaschieren, wie fertig sie aussah.

Fertig angezogen und geschminkt ging sie hinunter in die Küche und biss in Ermangelung eines richtigen Frühstücks in einen saftigen, grünen Apfel.

Auf dem Küchentresen fand sie eine Notiz von ihrem Vater, der sie wissen ließ, dass er dieses Wochenende in Vorbereitung auf eine weitere Geschäftsreise im Büro sein würde.

Da sie in der Stimmung war, das Haus zu verlassen, rief sie schließlich ihre beste Freundin Chloe an.

„Ja?", meldete sich diese.

„Hey. Hast du Lust, heute auszugehen?", fragte Claire.

„Claire!"

Lachend hielt Claire das Handy von ihrem Ohr weg, um von Chloes Aufschrei nicht taub zu werden. Ihre Freundin hatte ihren Anruf eindeutig nicht erwartet.

„Na klar!", flötete sie, offensichtlich erfreut. „Wie geht es dir?"

Chloe Havering, Claires beste Freundin, war eine der wenigen Personen, die Claires vollstes Vertrauen besaßen. Die beiden kannten sich seit dem Kindergarten. Sie waren zusammen aufgewachsen und Chloe gehörte praktisch zur Familie. Aber seit dem Unfall ihrer Mutter vor drei Wochen hatte Claire sich in sich zurückgezogen und ihre Freunde und die Leute um sich herum - darunter auch Chloe - vernachlässigt. Sie hatte Chloe seither nicht angerufen, nur das Nötigste mit ihrem Vater besprochen und nach dem Begräbnis die Villa nicht mehr verlassen, bis ihr Vater sie zum Tierheim mitgenommen hatte. Sie war seitdem nicht einmal mehr zur Schule gegangen und hatte alle Anrufe und Nachrichten von Chloe und Kyle, dem besten Freund der beiden Mädchen, nicht beantwortet.

„Besser", antwortete Claire zögerlich lächelnd. „Und ich muss dir heute Abend unbedingt jemanden vorstellen. Übernachtest du bei mir?"

Sie hörte Chloe am anderen Ende laut quietschen. „Natürlich!", jauchzte sie. „Claire, du weißt gar nicht, wie sehr ich dich vermisst habe! Aber zuerst …" Sie machte eine bedeutungsvolle Pause.

„… zuerst gehen wir shoppen!"

Das entlockte Claire ein seit dem Tod ihrer Mutter selten gewordenes Lachen. „In zwanzig Minuten vor dem Shoppingcenter?"

„Geht klar!", rief Chloe. „Bis gleich, Süße!"

Kichernd legte Claire auf und vergewisserte sich rasch, dass ihre Geldbörse mit der Kreditkarte in ihrer Handtasche war. Dann schnappte sie sich die Schlüssel ihres Jaguars - eines der jüngsten Geschenke von ihrem Vater - und machte sich auf den Weg zur Garage.

Die unterirdische Garage war riesig, größer als die gesamte Wohnfläche der Villa, und sehr geräumig. Obwohl sie Platz für viel mehr bot, standen nur fünf Wagen darin, Claires neuer Jaguar und vier Favoriten ihres Vaters von verschiedenen Herstellern. Claires Vater hatte eine richtige Schwäche für Autos. Und dabei waren das noch nicht einmal alle!

Claires Vater besaß auch noch eine Villa in Chicago, dazu eine Limousine mit privatem Chauffeur, der ihn stets von der Villa zur Firma oder zu geschäftlichen Meetings fuhr.

Aber das fand Claire etwas übertrieben. Sie mochte es nicht, von fremden Leuten herumkutschiert zu werden. Sie bevorzugte es weniger auffällig und auch nicht zu protzig, weshalb sie es bis jetzt vermieden hatte, ihren neuen Jaguar zu fahren.

In der Garage angekommen, überlegte sie erst einmal, ob sie zu dem Treffen mit Chloe wirklich den Jaguar nehmen sollte. Lächelnd entschloss sie sich stattdessen, als Entschuldigung dafür, dass sie ihre beste Freundin so lange ignoriert hatte, den Lamborghini zu nehmen. Grinsend nahm sie den Schlüssel des Wagens vom Haken und strich mit den Fingern kurz über den makellosen gelben Lack, bevor sie die Flügeltür aufklappen ließ und sich hineinsetzte.

Damit schoss sie zwar ihren eigenen Vorsatz, von wegen nicht zu auffällig in den Wind, aber sie wusste, Chloe würde es gefallen.

Chloe hatte sie schon öfters gefragt, ob sie nicht mit dem Lamborghini fahren könnten, aber Claire hatte bis jetzt immer abgelehnt, weil sie nicht auffallen wollte und zudem stark bezweifelte, dass ihr Vater das erlauben würde. Doch um ihre beste Freundin zu besänftigen, würde Claire alles tun. Sogar mächtig auffallen. Chloe liebte es aufzufallen. Und Claires Vater würde sich darüber freuen, dass sie endlich mal aus dem Haus ging, Lamborghini oder nicht.

Bis zur Mall brauchte sie mit dem Lamborghini nur zehn Minuten, sodass sie wenig später beim Vorfahren auf dem Parkplatz von allen Seiten angegafft wurde. Mehrere Jungen grinsten sie anzüglich an, wildfremde Männer pfiffen ihr hinterher.

Augenrollend stieg sie aus und lehnte sich an die Fahrertür, um auf Chloe zu warten. Kaum fünf Minuten später hörte sie lautes Gekreische hinter sich und drehte sich grinsend nach der Geräuschquelle um. Und da war sie.

Chloe stand wie angewurzelt da und starrte Claire mitsamt ihrem ungewöhnlich auffälligen, kanariengelben Fahrzeug an. Mit aufgerissenen Augen und offenem Mund kam sie langsam näher und strich ehrfürchtig über die Motorhaube des Autos.

„Herzlichen Glückwunsch!", gratulierte Claire lächelnd. Chloe schaute sie verwirrt an. „Für was denn?", fragte sie nichtsahnend.

„Na dafür, dass du einen ganzen Tag lang diesen schnellen, gelben und sehr auffälligen fahrbaren Untersatz plus eine bezaubernde persönliche Chauffeurin ganz für dich allein hast!"

Bei den letzten Worten zeigte Claire auf sich selbst und zwinkerte Chloe schmunzelnd zu.

Diese begann sofort wieder mit ihrem aufgeregten Gekreische und fiel ihrer Freundin stürmisch um den Hals, „Wirklich?!", quietschte sie glücklich.

Claire nickte lachend und erwiderte die Umarmung, dabei fragte sie sich, wie sie es so lange ohne Chloe ausgehalten hatte. Drei ganze Wochen ohne die gute, manchmal etwas durchgeknallte Chloe waren schon ziemlich lang, fand Claire. Mit ihr wurde es einem nie langweilig.

„Und, wie viel hast du vor, heute zu kaufen?" Claire hielt schon einmal ihr Handy bereit.

Chloe grinste und blinzelte verschwörerisch. „Gute Idee … Ihn brauchen wir unbedingt!"

Claire begann zu kichern, als Chloe errötete und sich im Glas eines Schaufenster vergewisserte, ob ihr Aussehen in Ordnung war. Rasch überprüfte sie mit den Fingern, ob ihr glattes hellbraunes Haar, das sie aufwendig hochgesteckt hatte, makellos saß, und tupfte sich noch etwas Lipgloss auf die Lippen. „Jetzt kannst du ihn anrufen!", flötete sie aufgeregt, als sie endlich fertig war.

Claire tat wie geheißen und rief Pablo an, ein Angestellter und gleichzeitig enger Freund ihres Vater, den sie immer anrufen durfte, wenn sie beim Shoppen einen Tütenträger brauchte.

Kaum zehn Minuten später ertönte das laute Knurren eines vorfahrenden Motorrads. Chloes grüne Augen blitzten vor freudiger Erwartung auf, als sie das Geräusch hörte. Sie war total verknallt in ihn, das war so was von offensichtlich.

Das Motorrad, eine pechschwarze Suzuki Ninja, hielt genau neben Claires Lamborghini und der Fahrer stieg herunter und nahm den schwarzen Helm ab.

Pablo Salvador war Spanier. Außerdem war er dreiundzwanzig Jahre alt, groß, muskulös und braun gebrannt und hatte dunkelbraunes, zerzaustes Haar. Seine haselnussbraunen Augen funkelten schelmisch, als er die beiden Mädchen ansah.

„Na, schon wieder einer eurer Monster-Shoppingtrips? Ich werde irgendwie das Gefühl nicht los, dass ihr mich nicht nur fürs Tütentragen braucht." Er zwinkerte Chloe zu, die sofort loskicherte, sich bei ihm unterhakte und ihn mit sich ins Shoppingcenter zog.

Claire folgte den beiden grinsend und zusammen plünderten Chloe und sie die Geschäfte.

 

Letztendlich übertrafen sie sich selbst.

Sie kauften so viel, dass ein zweiter Pablo gut von Nutzen gewesen wäre, wenn ihnen nicht von woanders Hilfe zuteil geworden wäre.

Ein junger Mann mit geheimnisvollen grünen Augen half ihnen beim Tragen der ganzen Tüten und Kartons zum Auto. Danach lud Claire alle auf ein Eis ein. Pablo musste leider wieder gehen – natürlich nicht, ohne Claire zum Abschied zu drücken und Chloe ein letztes Mal zuzuzwinkern, bevor er auf sein Motorrad stieg. Aber ihr gutaussehender Helfer kam mit.

„Mein Name ist William", stellte er sich vor. „Freunde sagen aber einfach nur Will zu mir."

Claire ergriff seine ausgestreckte Hand und schüttelte diese. Sobald sie seine Haut berührte, begann ihre Stirn wieder zu kribbeln. Erstaunt ließ sie ihn los – und das Kribbeln hörte auf. „Ich bin Claire", erwiderte sie, während sie ihn anlächelte und sich eine Haarsträhne hinters Ohr strich, um unauffällig ihre Stirn zu berühren. Sie liefen nebeneinander her, dabei musterte Claire ihn verstohlen aus dem Augenwinkel.

Er fuhr sich mit der Hand durch das seidige, schwarze Haar und verwuschelte es dabei, sodass es ihm etwas unordentlich ins Gesicht fiel. Es machte ihn nur noch anziehender. Wenn man ihn ansah, fiel einem sofort das leuchtende Hellgrün seiner Augen auf, die Claire seltsam bekannt vorkamen. Hohe Wangenknochen, elegant geschwungene Lippen und die markante Linie seines Kiefers betonten sein männliches Aussehen noch zusätzlich. Er trug ein schwarzes T-Shirt, das um die darunter liegenden Muskeln spannte, wenn er sich bewegte. Ein umwerfender Anblick.

Claire errötete über ihre eigenen Gedanken und wandte den Blick ab. Aus einem unerklärlichen Grund juckte es sie in den Fingern, ihm durch das dichte, strähnige Haar zu fahren oder ihre Finger mit seinen zu verschränken. Sie musste sich zurückhalten, nicht ihre Hand auszustrecken und genau das zu tun.

Endlich bei der Eisdiele angekommen, spendierte sie allen eine Kugel Eis. Mit den Eiswaffeln in der Hand liefen sie schließlich zurück zum Parkplatz des Shoppingcenters, wo Claires Auto stand.

Außerdem wartete dort jemand, der offenbar ein Freund von William war. Sobald Will ihn sah, lief er auf ihn zu, sagte etwas zu ihm und kam dann zu Claire zurück, um sich zu verabschieden. „Es tut mir leid, aber ich muss jetzt los." Ein zerknirschtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Danke für das Eis. Sehen wir uns wieder?"

Claire lächelte zurück und schaute dann verlegen zu Boden. „Gerne. Ähm … morgen?"

Will nickte erfreut. "Gut, dann treffen wir uns morgen um fünf wieder hier?"

Claire willigte ein, setzte sich dann mit Chloe in den Lamborghini. „Danke für deine Hilfe und … äh na ja, wir sehen uns ja dann morgen!"

Sie winkte ihm zu und fuhr los. Chloe wiederum begann zu grinsen und schaute wissend zu ihr herüber. „Ach, wie süß. Es sieht ganz so aus, als hätte sich da jemand verknallt!" Sie knuffte Claire in die Seite; diese kicherte errötend und sah schnell wieder nach vorne. „Ich verstehe dich ja", sprach Chloe weiter und zwinkerte ihr zu. „Er ist auch wirklich zum Anbeißen! Aber trotzdem … er kann mit Pablo nicht mithalten." Diesmal war es an ihr, rot zu werden und verlegen wegzuschauen. Claire lachte.

„Ach ja, wen wolltest du mir eigentlich vorstellen?" Chloe schaute sie neugierig an.

„Lass dich überraschen", antwortete Claire geheimnisvoll und hielt an einer Ampel. Sie wusste, dass Chloe Katzen über alles liebte. Und irgendwie hatte sie schon jetzt ein Bisschen Mitleid mit Captain Kitty … er konnte ja nicht wissen, dass er bald zu Tode geknuddelt werden würde, und das von der besten Freundin von Claire.

Claire kicherte in sich hinein, als sie sich vorstellte, wie es dem armen Captain Kitty gehen würde, sobald Chloe ihn in die Mangel nahm.

Sie trat aufs Gas, als die Ampel endlich auf Grün sprang und wich Chloes neugierigen Blicken aus. „Wollen wir etwas essen gehen?", versuchte Claire vom Thema abzulenken. Sie war fest entschlossen, nichts zu verraten. Es sollte eine Überraschung werden.

„Klar, Pizza vielleicht?", schlug Chloe vor.

Claire nickte zustimmend und wendete, um zur nächsten Pizzeria zu fahren.

Nach dem Essen machten sie sich schließlich zu Claire nach Hause auf. Chloe hatte die Tasche mit ihren Sachen dabei, um bei Claire zu übernachten, und sie war noch immer neugierig, wen sie denn kennenlernen sollte. Sobald Claire die Haustür aufschloss und eintrat, schoss Captain Kitty die Treppe herunter und strich um ihre Beine herum.

Beim Anblick des Katers bekam Chloe große Augen. „Oooh, ist der niedlich!" Sofort kniete sie sich hin und begann, ihn zu streicheln.

Claire seufzte und schaute Captain Kitty mitleidig an. Tut mir leid, Süßer, dachte sie und hob entschuldigend die Schultern, in der Hoffnung, er würde sie verstehen. Aber da musst du jetzt durch.

Kapitel 5 – William

 

Etwa zwei Stunden nachdem er sich mit dem Versprechen auf ein baldiges Wiedersehen von Claire verabschiedet hatte, saß Will in seinem Wagen und sah seinem davonfahrenden Freund hinterher. Erst als die Rücklichter des Taxis um die Ecke verschwanden, ließ er selbst den Motor an und reihte sich in den Verkehr ein.

Wills Tag war bisher ereignisreicher verlaufen als geplant.

Zuerst traf er Claire – seine neue ‚Besitzerin‘ wohlgemerkt – zufällig in der Mall, obwohl er es nicht für einen allzu großen Zufall hielt, Mädchen im Einkaufscenter anzutreffen. Besonders nicht, nachdem er ihre beste Freundin Chloe kennengelernt hatte …

Claire persönlich zu treffen, in Menschenform und endlich einmal nicht als Kater, war ein ganz besonderes Erlebnis gewesen.

Da war zunächst die Tatsache, dass das Gefühl der Hingezogenheit sehr viel intensiver und weit weniger seltsam war, als wenn er auf vier Pfoten herumtapste.

Klar, als Kätzchen himmelte er sie praktisch an, aber als Mensch traf ihn die Wucht ihrer Ausstrahlung stärker als dann, wenn er vom Boden zu ihr hochschauen musste. Er wusste nicht, ob es daran lag, dass sie vor ihm als Captain Kitty ihre Schilde senkte und er daher über das Ausmaß ihrer Gefühle Bescheid wusste, doch selbst dann, wenn er sie um mindestens zwei Köpfe überragte – sie war geradezu winzig – spürte er immer noch deutlich den Schmerz hinter der Fassade der aufgesetzten Gleichgültigkeit und bemühten Fröhlichkeit, wusste, wie verloren sie sich fühlte und wie stark sie doch gleichzeitig war.

Aber da war noch mehr.

Will war in seinem Leben schon vielen Frauen begegnet, doch noch nie hatte ihn so ein Verlangen überkommen, sich jemandem zu öffnen, wie es bei Claire der Fall war. Vielleicht lag es daran, dass er sie erst seit wenigen Tagen kannte und dennoch schon mehr über sie wusste, als er sollte, mehr als sie ihm jemals von sich aus erzählt hätte, hätte sie gewusst, dass er kein gewöhnliches Kätzchen war. Oder aber er bildete sich wieder nur Dinge ein, weil er zu wenig geschlafen hatte … jedenfalls hatte er den Drang verspürt, ihr seine sämtlichen Geheimnisse zu verraten, wobei er doch überhaupt nur durch einen dummen Zufall in diese Lage mit der Adoption gekommen war …

Er hatte - ohne sie anzusehen - bemerkt, wie sie ihn auf dem Weg zur Eisdiele verstohlen von der Seite angesehen hatte. Seine Mundwinkel zuckten und er hatte sich beherrschen müssen, nicht laut loszulachen. Wenn sie nur gewusst hätte, dass ihr Haustier gerade in Menschengestalt neben ihr herlief!

Zuerst hatte er sich gefragt, wer der gebräunte Typ war, der mit den Mädchen unterwegs gewesen war, ob es Claires Freund sein könnte. Ihr Umgang mit ihm war mehr als nur vertraut, als kannten sie sich seit Jahren. Aber nachdem Will gesehen hatte, wie der Mann, Pablo, und Claires Freundin, Chloe, sich ansahen, wusste er es besser. Die beiden waren definitiv ineinander verliebt. Es war so eindeutig, dass er es sogar bemerkte, ohne vorher die ganzen Pheromone zu wittern, mit denen sie die Luft verpestet hatten. Sein inneres Kätzchen hatte beinahe niesen müssen …

Aber wer war der Mann dann?

Da Pablo jedoch schon ziemlich bald gegangen war, hatte Will nicht mehr die Chance gehabt, das herauszufinden.

Und sein Erstaunen erst, als die beiden Mädchen in einen knallgelben Lamborghini gestiegen waren! Wenn ihn die beeindruckenden Ausmaße ihres Zuhauses nicht schon davon überzeugt hätten, dass sie aus einer ziemlich wohlhabenden Familie stammen musste, dann hätte es spätestens dieser teure Wagen getan …

Er grinste wieder, als er daran dachte, dass er sie gleich morgen wiedersehen würde. Ob sie dann auch in dem gelben Schlitten kommen würde?

Immerhin hatte er nicht ständig aufpassen müssen, in seiner Katzengestalt nicht etwas zu ‚Menschliches‘ vor ihr zu tun und sich damit zu verraten. Allerdings hatte er ein paar Mal versehentlich fast vor Wonne geschnurrt, als er ihre Blicke auf sich bemerkt hatte. Zu sehen, wie sie errötet war, zu wissen, dass das seinetwegen – des menschlichen Wills wegen – passierte, fühlte sich besser an, als in seiner Tigergestalt faul auf einem Baum zu liegen und sich von der Sonne das Fell wärmen zu lassen.

Und das war als Tiger praktisch seine Lieblingsbeschäftigung.

Will hielt einen Moment lang inne, als er gerade nach dem Umspringen der Ampel wieder Gas geben wollte, und hinter ihm ertönte ein Chor von Hupen, weil sich die anderen Verkehrsteilnehmer darüber aufregten, dass er bei Grün noch am selben Fleck stand.

Blinzelnd schaute er auf und trat aus Reflex aufs Gas, was den Wagen einen Satz nach vorne machen ließ, bevor er ihn in den Griff bekam und weiterfuhr.

Verdammt, er hatte es schon wieder getan.

Er hatte über seine Tigergestalt gedacht, als hätte er sie noch, dabei lebte er mittlerweile seit fünf Jahren ohne sie, lebte so, als hätte man ihm als Rechtshänder seinen rechten Arm genommen. Als wäre ihm etwas so Fundamentales wie ein Teil seiner Seele genommen worden.

Seit fünf Jahren lebte er nun so und konnte sich immer noch nicht an das Gefühl gewöhnen, eine Seite seines Wesens weniger zu haben. Er hatte sich selbst verboten, daran zu denken, weil es jedes Mal nur noch mehr schmerzte als vorher, wenn ihn die Tatsache aufs Neue traf, und weil es ihn sowieso in seinen Träumen heimsuchte. Warum dann auch seine kostbaren wachen Momente, in denen er den Albträumen entfliehen konnte, damit verschwenden, ebendiese in seinen Kopf zu lassen?

Dennoch erwischte er sich selbst in Momenten der Unachtsamkeit dabei, wie seine Gedanken zu der Zeit schweiften, in der er noch vollkommen gewesen war, frei als majestätischer Tiger durch die Natur streifen zu können.

Er hatte immer noch damit zu kämpfen. Mit dem Gefühl der Leere dort, wo vorher sein ganzes Leben lang der Tiger in ihm gelebt hatte, mit der ohnmächtigen Hilfslosigkeit, die ihn jedes Mal wie ein zäher, harter Dorn in der Pfote stach, mit jedem Schritt tiefer in sein Fleisch drang, wenn ihm klar wurde, dass er rein gar nichts dagegen ausrichten konnte und nichts tun konnte, um den Tiger jemals zurückzuholen.

Er vertrieb die Gefühle, die Claire ihn ihm hervorrief, und die Gedanken, die dadurch unweigerlich aufkamen, aus seinem Kopf und versuchte stattdessen, über die aktuellen Umstände nachzudenken.

Wie das Treffen, das er gerade hinter sich gebracht hatte.

Als er den Wagen vom Stadtzentrum weg und in Richtung der Vororte im Nordosten der Stadt lenkte, schweiften seine Gedanken wieder ab.

Will war die letzten Wochen über angespannt gewesen, sein inneres Kätzchen unruhiger als sonst.

Die Träume kamen häufiger.

Erinnerungen an jene Nacht, öfter Albträume als keine, die ihn nicht losließen. Von den Momenten, die er am meisten vergessen wollte.

Er stand unter Strom, immer mehr mit jeder weiteren Nacht, die er schweißüberströmt aus dem Schlaf schreckte. Das anhaltende Gefühl, dass etwas kurz davor war, zu passieren, nagte an ihm, füllte die Luft um ihn herum wie der unheilverkündende Geruch von Ozon und das statische Knistern, die einem Sturm vorausgingen.

Er hatte zunehmende Schwierigkeiten damit, die Erinnerungen niederzuringen, und langsam wurde ihm klar, warum.

Wie konnte er seiner Vergangenheit auch entrinnen, wenn sie ihn immer wieder einholte? Und zwar nicht nur in seinem Kopf.

So wie heute.

Als wäre das ganze Chaos seiner Gedanken, das das Treffen mit Claire hervorgerufen hatte, nicht genug, war heute, als hätte er ihn unbewusst heraufbeschworen, Adrien aufgetaucht.

Adrien O'Nelle, den Will seit ziemlich genau jenem Tag vor fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte.

Der so gut wie wahnsinnig geworden war, nachdem er an jenem Tag seine Gefährtin verloren hatte.

Nur dass er heute kein bisschen so gewirkt hatte, als hätte er den Verstand verloren.

Dunkles, fast schwarzes Haar, das ihm in die grauen Augen fiel, ihm strähnig im verschwitzten, mit Blut bespritzten Gesicht klebte, als er sich verzweifelt aufbäumte und versuchte, sich aus dem Griff der drei zu befreien, die ihn daran hinderten, in die lichterloh brennende Hütte zu rennen -

Ein lautes, anhaltendes Hupen ertönte, woraufhin Will zusammenzuckte und abrupt auf die Bremse trat. Plötzlich zurück in der Realität, schaute er sich alarmiert um und runzelte die Stirn, als er seine geballte Faust vor sich auf die Mitte des Lenkrads gepresst sah. Sobald er sie senkte und der durchdringende Laut abbrach, wurde ihm klar, dass er auf die Hupe geschlagen haben musste, als ihm die Fragmente jener Nacht in den Kopf geschossen waren.

Als er sich erinnerte, wie sie Adrien mit Gewalt hatten zurückhalten müssen, damit er nicht in seinen eigenen Tod lief.

Nachdem seine Gefährtin vor seinen Augen bei lebendigem Leibe verbrannt wurde.

Will schüttelte die Fäden der Vergangenheit ab, die hartnäckig an ihm zu hängen schienen wie ein klebriges Spinnennetz, und fuhr weiter, nicht ohne sich vergewissert zu haben, dass die Nebenstraße, in der er so plötzlich angehalten hatte, leer war.

Adrien hatte schockierende Nachrichten gebracht.

Seine seit fünf Jahren totgeglaubte Gefährtin war … am Leben?

Und nun sollte William ihm dabei helfen, sie zu finden.

Will hatte nicht so recht gewusst, wie er auf eine solche Enthüllung reagieren sollte, hatte Adrien nur sekundenlang fassungslos anstarren können, nachdem dieser ihm alles erzählt hatte.

Bei so vielen unerwarteten Ereignissen an einem Tag wusste Will kaum mehr, wo ihm der Kopf stand. Vielleicht war das alles auch nur ein Traum, der zu gut angefangen hatte, um wahr zu sein …

Nach Adriens Verschwinden an jenem Tag vor fünf Jahren, dem gleichen Tag an dem Will und so viele andere Gestaltwandler schreckliche Schicksalsschläge erlitten hatten, hatte Will kein Lebenszeichen mehr von ihm wahrgenommen, hatte geglaubt, dass der, der ihm immer wie ein älterer Bruder gewesen war, seiner Gefährtin in den Tod gefolgt war.

Die Gestaltwandler erwarteten nicht, dass einer der Ihren nach dem Verlust seiner Gefährtin überhaupt noch einen Lebenswillen hatte.

Man hatte nur eine einzige Chance. Verlor man seine andere Hälfte, seinen vom Schicksal vorbestimmten Seelengefährten, war man praktisch zu einem Leben voller Einsamkeit verdammt. Und nie wieder Glück zu kennen, wie man es mit seinem Gefährten erlebte, brach die meisten auf fundamentale Weise. Wer seinen Tod nicht selbst fand, verlor den Verstand, bis er nur noch als Schatten seiner Selbst elendig vor sich hin vegetierte, bis irgendwann letztendlich sein Ende kam.

Warum sollte Adrien also die Ausnahme sein?

Daher war Wills Schock in dem Moment umso großer gewesen, da dieser plötzlich quicklebendig und ohne eine Spur von Wahnsinn in den Augen vor ihm gestanden hatte. Und ihm diese Dinge erzählte, die dann doch etwas verrückt klangen.

Will hatte nur mit Mühe seine Fassung wahren können, als er nach der Rückkehr von der Eisdiele den verloren geglaubten Freund vor dem Einkaufszentrum wartend vorgefunden hatte. Er hatte in den Wolken gehangen, ganz überwältigt davon, Claire endlich als Mensch zu treffen, und wurde abrupt in die dunkle Realität zurückgeholt, als hätte man ihn als Kätzchen aus einem Nickerchen gerissen und in kaltes Wasser getunkt.

Und nun war sein Kopf voller Sorgen, neuen und alten. Er würde lange rennen müssen, um später Schlaf zu finden …

Kapitel 6 – Claire

Nach unzähligen vergeblichen Versuchen, ihren neu adoptierten Kater vor dem offensichtlich gefährlichen Entzücken ihrer Freundin zu retten, beschloss Claire am späten Abend schließlich, dass jetzt Schlafenszeit war.

Sie musste Chloe praktisch in ihr Zimmer hochzerren, während diese dem inzwischen mehr als nur etwas zerzausten und leicht traumatisiert erscheinenden Captain Kitty immer noch mit Herzchenaugen hinterherblickte.

Sie hatte ihn voller Überschwang geknuddelt und ihm beinahe ein paar Knochen gebrochen, während Claire angespannt auf der Couch gesessen und versucht hatte, einen Film zu schauen. Sie hatte Chloe mehrmals behutsam darauf hinweisen müssen, dass selbst der kleine süße Kater atmen musste, um zu überleben, und dass er nicht so robust war, wie die Welpen von Chloes jüngeren Zwillingsbrüdern. Nur schien Chloe das immer wieder zu vergessen …

Chloe war hin und weg gewesen, sobald ihr Blick zum ersten Mal auf Captain Kitty gefallen war, und hatte kaum eine Minute vergehen lassen, in der sie ihn nicht auf den Arm nahm, um ihn unterm Kinn zu kraulen, oder ihn fest an ihre Brust drückte und ihr Gesicht in seinem Fell vergrub. Anfänglich hatte Claire das Gefühl gehabt, dass Captain Kitty die Aufmerksamkeit genoss … bis zehn Minuten vergangen waren und Chloe immer noch nicht mit den intensiven Streicheleinheiten aufgehört hatte. Selbst Captain Kittys klägliche Maunzer und die Tatsache, dass er sich in ihrem Griff wand, um sich zu befreien, hatten sie nicht dazu gebracht, von ihm abzulassen.

Nun ‚spielte' Chloe bereits seit fast drei Stunden mit Captain Kitty und Claire wusste wirklich nicht, ob er ihr das jemals vergeben würde. Schon nachdem sie ihn endlich mit sanfter Gewalt aus Chloes Armen befreit hatte, setzte er nur sehr vorsichtig ein Pfötchen vors andere, und das nur nachdem er sich genau vergewissert hatte, dass Chloe nicht in der Nähe war.

Dass sie ihn nicht sogleich wieder packen und potenziell zu Tode knuddeln und begurren würde.

Claire konnte sich angesichts seiner Position - nah am Boden geduckt und bereit, sofort die Flucht zu ergreifen - ein schuldbewusstes Grinsen nicht verkneifen, als sie ihre Freundin die Treppe hoch und in ihr Schlafzimmer schleppte.

Klar, sie fühlte sich schlecht wegen Captain Kitty, wünschte, sie hätte ihm diese zu intensive Aufmerksamkeit von seitens Chloe, die, das wusste sie, noch lange andauern würde, ersparen können … doch war es auch ziemlich komisch anzusehen gewesen. Der Fakt, dass der sonst so süße, ihr gegenüber sehr zutrauliche Captain Kitty im Angesicht von Chloes übertriebenen Streicheleinheiten so zahm und eingeschüchtert wurde …

Irgendwie hatte Claire mehr Krallen erwartet.

 

 

Claire blinzelte gegen das gleißende Sonnenlicht, das durch die offenen Gardinen ins Zimmer und in ihre Augen fiel. Als sie mit einem herzhaften Gähnen den Kopf hob, um sich umzusehen, entdeckte sie auf der anderen Seite des Betts eine schnarchende Chloe und direkt neben sich ein gemustertes Fellknäuel, das sich als Captain Kitty entpuppte.

Er hatte sich neben ihr auf der Bettdecke zusammengerollt und schnurrte wohlig, sobald er ihren Blick auf sich bemerkte, eng an ihren Bauch geschmiegt. Claire schenkte ihm ein verschlafenes Lächeln und wurde im Gegenzug mit einem langsamen, sanften Blinzeln belohnt.

Sobald sich Chloe hinter ihr rührte, verengten sich seine Augen jedoch und er drängte sich näher an Claire's Bauch. Seine grünen Augen funkelten im Tageslicht wie geschliffene Smaragde, die Pupillen bloß kleine schwarze Punkte im endlosen Grün. Es schien so, als hätte Chloe gestern keinen guten Eindruck hinterlassen.

Schnaubend schlug Claire die Decke zurück und tapste ins Bad, um ihre morgendlichen Routine hinter sich zu bringen. Bevor sie die Tür abschloss, bekam sie noch mit, wie Captain Kitty sich vorsichtig, sehr vorsichtig der schlafenden Chloe näherte. Diese lag fast übers ganze Bett ausgestreckt auf dem Bauch, ihr Arm hing über die Bettkante und ein sanftes Schnarchen drang aus ihrem offenen Mund.

Von Neugier gepackt, ließ Claire die Badezimmertür einen Spalt offen, um zu sehen, was Captain Kitty vorhatte. Lautlos schlich sich der kleine Kater mit merkwürdig aufgestellten Ohren an ihre schlafende Freundin heran und blieb genau neben ihrem Kopf stehen. Dann hob er langsam, ganz langsam eine flauschige Pfote und ließ dabei seine Krallen schön eingepackt.

Claire hatte jetzt schon Schwierigkeiten, ihr Gelächter zu unterdrücken.

Als hätte er sie gehört, wandte Captain Kitty ihr seinen Kopf zu und blinzelte erneut, was Claire wie ein verschwörerisches Zwinkern deutete. Sie schaute mit angehaltenem Atem zu, wie er sich wieder seiner ‚Beute' zuwandte und sein Pfötchen noch weiter hob.

Blitzschnell haute er mit der Pfote mehrere Male auf Chloe's Nase und Wange, nahm nach einigen Klapsen seine zweite Pfote dazu und hüpfte schließlich wie ein Känguru auf den Hinterbeinen davon, sobald Chloe kreischend zu sich kam.

Claire kugelte sich vor Gelächter auf dem Boden, als Chloe sich aufsetzte - ihr Haar vom Schlafen zerzaust und ihr Gesicht blass vor Schreck - und dem Kätzchen ungläubig hinterher sah. Bei dem Geräusch flog Chloes Blick zu ihr und sie schnappte empört nach Luft.

Mit wackeligen Schritten stapfte sie auf Claire zu, als hätte diese mit Captain Kitty unter einer Decke gestanden. „Claire!", kreischte sie und startete eine Kitzelattacke auf ihre Freundin. „Du hast dir ein verrücktes kleines Fellknäuel ins Haus geholt!"

Claire musste nur noch mehr lachen und leitete einen Gegenangriff ein. Bald lagen beide atemlos auf dem Teppich und wischten sich die Lachtränen weg. Captain Kitty, der inzwischen wieder zurückgekommen war und aufs Neue süß und brav aussah, saß auf dem Bett und schaute gelangweilt zu, als wollte er sagen: Seid ihr jetzt fertig?.

Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten, stand Claire auf und ging mit einem fröhlichem „Ich geh duschen!" ins Bad. Diesmal schloss sie die Tür hinter sich. Captain Kitty, der Anstalten gemacht hatte, ihr zu folgen, machte sofort Kehrt und flüchtete aus dem Zimmer, sobald er Chloes misstrauische Blicke auf sich bemerkte.

 

Claires Gedanken schweiften ab, während sie sich, in ein großes Handtuch gewickelt, eincremte und die Zähne putzte.

Letztendlich hatten die beiden Mädchen in Claires riesigem Bett noch die halbe Nacht wach gelegen und sich unterhalten.

Sie hatten über viele Dinge gesprochen. Pablo und Chloes Gefühle für ihn, über Will und das Date mit ihm, das Claire am nächsten Abend erwartete. Chloe war ganz außer sich vor Freunde und konnte sich kaum beherrschen, eine Sache, die Claire unglaublich amüsant fand. Sie führte sich so auf, als hätte sie selbst das Date und nicht Claire …

Claire war aufgeregt und freute sich darauf, Will wiederzusehen. Sehr sogar. Allerdings ließ sie es sich nach außen hin nicht anmerken, zumindest nicht so wie Chloe, die sehr leicht ihrer Aufregung erlag, wenn ein besonderes Erlebnis bevorstand. Sobald Pablo in der Nähe war, schien sie vor Freude beinahe Funken zu sprühen. Auf Shoppingtrips - ihrer absoluten Lieblingsbeschäftigung - war sie wie ein kleiner Wirbelwind, der durch die Mall fegte und schneller Geld ausgab, als ihre Eltern – oder sie durch Ferienjobs – verdienen konnten.

Claire war eher der Typ, der sich still im Inneren freute, wenn etwas Gutes geschah, und ebenso innerlich trauerte, wenn etwas Trauriges oder Kummervolles passierte. Sie hatte ihre eigenen Lieblingsbeschäftigungen, denen sie mit Leidenschaft nachging, aber selbst dabei war sie nicht so ein offenes Buch wie Chloe.

Ein weiteres Gesprächsthema waren ihre Pläne gewesen, für den nächsten Tag und die darauffolgende Woche, die Chloe bei Claire verbringen würde, sofern Chloes Eltern es erlaubten. Erst als schon die ersten blassen Sonnenstrahlen über den Himmel gekrochen waren und ihn mit roten und pinkfarbenen Schlieren versehen hatten, waren sie schließlich eingeschlafen.

Claire hatte diese endlosen Stunden von Frauengesprächen mit ihrer besten Freundin so sehr vermisst. Es schien, als hätte sich mit dem Tod ihrer Mutter so vieles in ihrem Leben geändert. So vieles, das sie wieder in ihren normalen Tagesablauf zurückbringen wollte. Sie musste einen Teil der Normalität in ihrem Leben wiederherstellen, nachdem sie so plötzlich einen der wichtigsten Menschen in ihrem Leben verloren hatte. Sie hatte das Gefühl, nur dann würde sie über den Tod ihrer Mutter hinwegkommen und nicht mehr jedes Mal das erstickende Gefühl haben, dass sie verloren war, nun da ihre Mutter nicht mehr an ihrer Seite war …

Als sie in ihrem Handtuch ins Zimmer zurückkehrte, um sich anzuziehen, strich sie mit den Fingern über die Tastenklappe ihres hellblauen Klaviers, das sie seit drei Wochen nicht mehr angerührt hatte. Darauf würde sie ebenfalls wieder zu spielen beginnen. Die Musik und ihre Kompositionen, welche ihre talentierte Mutter ihr beigebracht hatte, waren ebenso ein Teil von Claire wie ihre Liebe für Bücher, die sie ebenfalls von ihrer Mutter hatte. Auch wenn es wehtun würde, ohne die Hilfe ihrer Mutter neue Stücke zu schreiben, und auch wenn sie sich einen neuen Klavierlehrer suchen müsste und es sich wie Betrug anfühlen würde … sie würde wieder zu spielen anfangen.

Sie wurde aus ihren schwermütigen Gedanken gerissen, als Captain Kitty ins Zimmer getapst kam und sich auf dem Bett niederließ, von wo aus er schmachtend zu ihr hoch schaute.

Sie hätte nie erwartet, dass ihr neues Haustier schon so bald nach der Adoption derart anhänglich sein würde. Nicht, dass sie sich darüber beschweren wollte …

Nur in dem Handtuch, das sie sich nach dem Duschen um den Körper geschlungen hatte, lief sie zu ihrem Schrank. Als sie sich Kleidung und Unterwäsche herausgeholt hatte, ließ sie das Handtuch fallen, um sich umzuziehen. Ein plötzliches Geräusch hinter ihr ließ Claire für einen kurzen Moment erstarren, bevor sie sich nach dessen Ursprung umsah. Als ihr klar wurde, dass es Captain Kitty war, der noch immer gedämpft seltsame Laute ausstieß, musste sie lachen.

Der Kater, der nur Sekunden zuvor friedlich auf dem Bett gesessen hatte, hatte nun sein Köpfchen unter die Bettdecke gesteckt und produzierte quakende Töne, die ihn wie eine erkältete Ente klingen ließen.

Claire schlüpfte rasch in ihre Kleider und zog ihn dann von unter der Decke hervor. „Geht's dir gut, Kleiner?" Ein klägliches Miauen war die Antwort. Claire lachte erneut und hob ihn hoch, um ihn zu knuddeln.

Als er auf ihre Schulter kletterte und von dort wieder aufs Bett sprang, machte sie sich schnell fertig, um Chloe, die sich vermutlich in eines der anderen Badezimmer verzogen hatte, nicht warten zu lassen. Sie bürstete ihr nasses Haar und flocht es zu einem einfachen, langen Zopf, der ihren Rücken hinabfiel. Nachdem sie sich dezent geschminkt hatte, nahm sie Captain Kitty auf den Arm, um mit ihm im Wohnzimmer auf Chloe zu warten.

 

Da die beiden Mädchen in der Nacht beschlossen hatten, am nächsten Tag selbst Cupcakes und andere Leckereien zu backen, die sie dann bei einem Filmemarathon vernaschen würden, gingen sie nach einem langen Frühstück in einem berühmte Waffelhaus schließlich einkaufen. Ihr nächstes Ziel war Chloes Zuhause, da sie noch immer das Einverständnis ihrer Eltern brauchten, damit Chloe eine Woche bei Claire bleiben konnte. Außerdem musste Chloe mehr Kleidung und Wäsche packen, da sie nur ungern Claires Kleiderschrank überfiel, wenn sie ihre eigene, auffälligere Kleidung tragen konnte.

Sobald sie zur Tür hereinkamen, mit Chloes gesamten Einkäufen vom Vortag, wurden sie von Chloes jüngeren Zwillingsbrüdern belagert.

Mace und Milo Havering, beide sieben Jahre alt, wurden von Chloe liebevoll die ‚M&M's' genannt - süß, aber klebrig. Die Zwillinge waren so knuffig wie die beiden Welpen, die ihnen gehörten, genauso verspielt und mehr als nur ein bisschen frech und spitzbübig. In Chloes Worten: kleine Teufel. Claire fand sie nur unglaublich süß. Vielleicht lag es daran, dass die beiden ‚Tante Claire' vergötterten und um jeden Preis beeindrucken wollten …

„TANTE-…"

Milo stolperte über einen der Welpen und fiel ihr und Chloe vor die Füße, genau in den Haufen Einkaufstüten, die Chloe mitgebracht hatte.

„…-CLAIIIIIIIIIIIRE!!"

Maces Stimme klang ebenso quietschend wie die von Chloe, wenn sie mal wieder ein besonders hübsches Paar Schuhe entdeckte. Wie immer beendeten die Zwillinge gegenseitig ihre Sätze und mehr als einmal am Tag kam es vor, dass sie zur gleichen Zeit genau das Gleiche sagten.

Lachend ließ sich Claire euphorisch umarmen und beschnüffeln - das Beschnüffeln nicht nur von Seiten der Welpen. Seit sie die Welpen Cookie und Crumble adoptiert hatten, waren die Zwillinge mehr Hund als Mensch - und pflückte Milo aus dem Berg von Einkäufen. Ein Schal war um seine Schultern gewickelt wie eine Federboa und er hatte einen knallroten Hut auf, dem Chloe einfach nicht hatte widerstehen können.

Mace schnappte entsetzt nach Luft, als er seinen Zwilling so sah. „Oh nein! Noch mehr Kleidung?"

Milo stöhnte und ließ sich in Claires Armen zurückfallen, die Hand theatralisch an der Stirn. „Mom spricht schon mit Dad darüber, ob Chloe nicht unser Zimmer für ihre Massen an Kleidung übernehmen sollte …"

„… und wir müssten dann in Chloes altem Kleiderschrank schlafen!" Mace sah mindestens genauso elendig aus wie Milo, als er wieder einmal seinen Satz zu Ende führte. Dann zupfte er flehend an Claires Ärmel.

Bitte nicht!", tönten die Zwillinge im Chor.

„Wir brauchen unser Zimmer doch!", jammerte Milo, die kleinen Hände in seinen hellbraunen Locken vergraben.

„Wo sollen wir sonst unsere Legosammlung hintun?", erklang Maces genauso verzweifelter Einsatz.

Claire sah sich plötzlich vier Paaren von Hundeaugen gegenüber, die herzerweichend zu ihr hochblickten.

Du lieber Himmel, wie sollte sie da nur stark bleiben?

„Ihr könnt bei mir einziehen", bot sie an, kurz davor, vor unterdrücktem Gelächter zu explodieren. „Dann könnt ihr mein neues Kätzchen kennenlernen!"

Chloe schnaubte nur und lief augenverdrehend an den zwei Schlingeln vorbei. Die Welpen rannten übermütig hinter ihr her. „Fall nicht darauf rein, Claire. Erst wollen die dein Zimmer, dann deine Süßigkeiten, dann deine Seele …"

Claire folgte ihr kichernd, als die Zwillinge jeweils eine Hand in ihre schoben und stumm mit Mimik und Gestik weiter schauspielerten, was für eine Tragödie es doch wäre, in Chloes Kleiderschrank leben zu müssen.

„Ich brauch fünf Minuten, dann können wir los!", rief Chloe, die schon auf dem Weg in ihr Zimmer war, Claire über die Schulter zu.

Sobald sie im Wohnzimmer ankamen, ließen die Zwillinge von ihr ab und begannen stattdessen einen spielerischen Ringkampf miteinander und den Welpen, die unweigerlich mitmachen wollten. Bald kugelten sich vier Wesen lachend und prustend auf dem Boden, während Claire von ihrem sicheren Platz auf der Couch aus amüsiert zuschaute.

„Claire."

Aufblickend sah Claire sich Janice Havering gegenüber, Chloes Mom, die einen Teller mit Cookies und vier Gläser Milch auf einem Tablett trug. Tiefe Augenringe machten offensichtlich, wie erschöpft sie war, aus ihrem lockeren Pferdeschwanz hatten sich dunkelblonde Strähnen gelöst. Trotzdem wohnte ihren dunkelgrünen Augen eine gewisse Wärme inne, die nur für Claire bestimmt war.

„Hallo, Mrs. Havering."

Claire schenkte ihr ein aufrichtiges Lächeln und rutschte auf der Couch zur Seite, um ihr Platz zu machen. Janice stellte das Tablett ab und setzte sich, griff dann nach Claires Hand, um sie sanft zu drücken. Unweigerlich stiegen Claire Tränen in die Augen.

„Du siehst gut aus, Claire. Ich bin froh, dass es dir besser geht."

Janice war die beste Freundin ihrer Mutter gewesen, einer der Gründe, warum Claire und Chloe von klein auf zusammen aufgewachsen waren und nie ein Tag vergangen war, an dem sie sich nicht gesehen hatten. Der Tod von Claires Mutter hatte Janice mindestens genauso hart getroffen wie Claire selbst.

Mit zugeschnürter Kehle nickte Claire und erwiderte den Händedruck sanft. Es war unübersehbar, dass Janice sich Sorgen um sie gemacht hatte, als sie die drei Wochen nach dem Unfall so abgeschottet zu Hause geblieben war. Plötzlich fühlte sie sich schuldig. Sie hatte vielen Leuten Sorge bereitet … aber wie hätte sie auch das Haus verlassen können, wenn jede kleine Pfütze und jeder Windstoß sie an ihre Mutter erinnert hatten? Sie war lieber zu Hause eingesperrt geblieben, in ihrem selbst ernannten Gefängnis, mit ihrem eigenen Kummer und dem Schmerz, als in der Öffentlichkeit Tränen zu vergießen.

„I-ich …"

„Claire! Wir können los!"

Seufzend blinzelte Claire die Tränen weg, als Chloe hereingeplatzt kam. Sie wusste selbst nicht, was sie gerade sagen wollte. Immerhin hatte sie jetzt etwas Zeit, um zu überlegen, wie sie Janice ihre Gefühle übermitteln sollte.

„Mom! Ich bleibe diese Woche bei Claire, okay? Ich kann doch nicht die Sommerferien zu Hause verbringen und Claire kann auch nicht einfach alleine bleiben!"

Chloe wusste, dass ihre Mutter nie etwas dagegen hatte, wenn sie bei Claire übernachten wollte, also fragte sie nicht einmal mehr, sie verkündete es nur. Die Tasche war auch schon bereit. Aber … wer konnte einfach so gehen, wenn Janice ihre berühmten Cookies gebacken hatte?

Chloe schnappte nach Luft. „Cookies!"

Sofort drängte sich Chloe zu ihnen auf die Couch und schnappte sich Milch und einen Cookie. Großzügigerweise schob sie Claire auch einen in die Hand.

„Cookies?" Maces gedämpfte Stimme kam von unter dem Bauch eines Welpen. Der zweite Welpe bellte, weil er sich angesprochen fühlte.

„Cookies!", quietschte Milo und hob den Welpen vom Gesicht seines Zwillingsbruders. Ein weiteres Bellen ertönte.

Dann rangelten die beiden um die restlichen Cookies auf dem Teller und verschütteten dabei beinahe die Milch.

Nach Verzehr mehrerer Cookies, die Chloe den Zwillingen erfolgreich entwinden konnte, zog sie Claire schließlich zur Tür und schnappte sich auf dem Weg ihre Tasche.

„Komm schon, wir müssen jetzt gehen, sonst kommst du noch zu spät zu deinem Date!"

„Date?" Mit gehobenen Augenbrauen sah ein mit Kekskrümeln verzierter Milo schockiert zu Claire auf.

„Date?", echote sich Mace, der Milo gerade penibel die Krümel vom Shirt pickte und aß. „Aber Tante Claire!"

Milo übernahm wieder. „Du hast gesagt, du wartest auf uns!"

Wieder sah sich Claire mit zu vielen Hundeaugen konfrontiert. Sie warf den Zwillingen einen zerknirschten Blick zu und schaute dann hilfesuchend zu Chloe.

„Na, ihr kleinen Nervensägen, was habe ich euch gesagt? Tante Claire ist viel zu alt für euch!"

Schmollend schauten die Zwillinge ihr hinterher, als sie zur Tür ging, dann landete ihr hoffnungsvoller Blick wieder auf Claire.

„Das Date wird bestimmt doof." Milo lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Wand neben der Tür.

„Der Typ kann doch nicht besser sein als wir", fügte Mace trotzig hinzu und gesellte sich zu seinem Bruder an die Wand. „Wir können Telepelathie!"

Claire grinste in sich hinein. „Ich glaube, das heißt „Telepathie', Süßer. Und ich glaube, wenn der Typ einen Zwillingsbruder hätte, könnte er das auch."

Jetzt runzelten beide die Stirn. „Hat er einen Zwillingsbruder?", fragte Milo besorgt.

Claire blinzelte. „Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht …"

Chloe, die bis jetzt an der Tür gestanden und amüsiert zugehört hatte, wurde nun ungeduldig. Sie scheuchte die Zwillinge von der Wand weg, um die Tür öffnen zu können. „Na, komm schon, wir müssen gehen!"

„Bis später!" Claire winkte den beiden Jungs zu und folgte Chloe nach draußen.

 

Wieder auf dem Donovan-Anwesen angekommen, brachte Chloe ihre Tasche in Claires Zimmer und betrat dann die Küche.

„Claire! Dein Dad hat einen Zettel geschrieben!", flötete sie gut gelaunt und brachte den Zettel gleich mit.

 

Bin früh zur Arbeit, komme spät zurück. Hab dich lieb, Dad.

 

Claire lächelte, nachdem sie ihn sich durchgelesen hatte, und legte ihn auf den Couchtisch.

„Das heißt sturmfreie Bude!", freute Chloe sich.

„Aber …" Claire warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. „… ich habe heute schon etwas vor! Du musst mir unbedingt helfen, Chloe! Was soll ich anziehen?"

Chloe lachte leise, ihre Augen leuchteten schon vor Aufregung. „Ganz ruhig, Süße. Wir waren gestern shoppen und da hast du dieses süße, dunkelblaue Kleid gekauft, das so toll zu deinen Augen passt, weißt du noch? Das wirst du anziehen. Es ist perfekt! Und dann werde ich dich noch etwas aufhübschen, et vóila! Dann haben wir unsere unwiderstehliche Claire!"

Claire lachte. „Was würde ich nur ohne dich tun?" Sie fiel Chloe um den Hals. „Ich weiß gar nicht, wie ich diese drei Wochen ohne dich ausgehalten habe!" Sie ließ Chloe wieder los, um einen Schritt zurückzutreten.

Sofort schaute Chloe geschäftig auf die Uhr. „Süße, wir haben noch zwei Stunden. Höchste Zeit, um anzufangen." Sie zog Claire die Treppe hoch in ihr Zimmer und begann, in Claires Sachen herumzukramen. „Du hüpfst jetzt unter die Dusche und dann mache ich dir die Haare und schminke dich. Du wirst wundervoll aussehen. Wundervoll und sexy und unvergesslich."

Mit einem Zwinkern schob sie Claire ins Bad und legte alles heraus, was sie brauchte. Sie stellte einen großen Spiegel auf, den sie aus einem der anderen Zimmer hatte, und verhüllte ihn mit einem Tuch. Dann platzierte sie einen Hocker davor und schleppte einen kleinen Tisch an, auf dem sie ihre ganzen Utensilien ausbreitete. Glätteisen, Lockenstab und Make-up, Haarspray, eine Bürste und Haarspangen.

Aus einer der vielen Tüten auf dem Boden von Claires Kleiderschrank holte sie das neue, dunkelblaue Kleid und einen Karton mit Schuhen. Anschließend kramte sie eine Tüte von Victoria's Secret hervor, in der schwarze Spitzenunterwäsche steckte. Grinsend legte sie die Sachen auf das Bett und setzte sich, um auf Claire zu warten.

Als diese aus dem Bad kam, ein Handtuch um sich geschlungen, drückte Chloe sie auf den Hocker und begann, ihr langes, dunkles Haar mit einem Handtuch trocken zu tupfen. Nach dem Föhnen und Glätten, durch das es glatt wie ein Schleier über Claires Schultern und bis auf den Po fiel, zauberte Chloe mit dem Lockenstab sanfte Wellen hinein, die sich an den Spitzen kringelten. Mit mehreren glänzend silbernen Spangen steckte sie es schließlich elegant hoch, ließ jedoch ein paar Strähnen lose fallen, sodass sie Claires Gesicht umrahmten. Ein bisschen Haarspray gab dem Kunstwerk Halt.

„Deine Frisur ist fertig!", verkündete sie zufrieden und legte die Haarspray-Dose weg, mit der sie Claire ordentlich eingenebelt hatte. „Jetzt kommt das atemberaubende Make-up und dann" - sie zeigte auf das Kleid, das auf dem Bett lag - „dann stecken wir dich in das Kleid!"

Gut gelaunt griff sie zum Make-up und vollendete ihr Werk.

Als sie mit Claires Gesicht fertig war, trat sie zum Bett und nahm die Unterwäsche aus der Tüte. „Das ziehst du jetzt an. Und keine Widerrede!" Sie schob Claire energisch in Richtung des Bads.

Diese sträubte sich jedoch. „Aber Chloe, das ist nur ein Date! Du tust ja so, als will ich ihn verführen!"

Chloe lachte nur und verfrachtete Claire gnadenlos ins Badezimmer. „Du kannst doch nicht unter diesem sexy Kleid normale Baumwollunterwäsche tragen, Süße. Das geht nun mal nicht, egal ob du ihn verführen willst, oder nicht!"

Mit diesen Worten setzte sie sich auf Claires Bett und wartete summend, bis diese sich umgezogen hatte. Als Claire endlich aus dem Bad kam, stieß Chloe ein lautes, bewunderndes Pfeifen aus und stand auf. „Wow! Ich wette unser Will würde dich liebend gerne mal so sehen."

Lachend nahm sie das Kleid vom Bett und hielt es hoch. Dunkelblauer Satin, trägerlos. An der Taille war ein breiter, silberner Gürtel eingenäht, der entlang der Blumenornamente mit Kristallen besetzt war, welche im Licht munter vor sich hin glitzerten. Unterhalb des Gürtels fiel der Stoff in Falten bis kurz übers Knie.

„Na, komm schon, rein mit dir!" Chloe hielt Claire abwartend das Kleid hin. Diese schlüpfte hinein und ließ zu, dass Chloe ihr den Reißverschluss am Rücken zuzog. Die Schuhe folgten, silberne Pumps, die perfekt mit dem silbernen Gürtel des Kleides harmonierten. Zuletzt drückte sie ihr noch eine silber-schwarze Tasche in die Hand und trat dann einen Schritt zurück.

„Hach, du siehst einfach zum Anbeißen aus!" Chloe war ganz begeistert und hüpfte aufgeregt um Claire herum. „Wenn dich dein Prince Charming so sieht, kann er dir nicht lange widerstehen, glaub mir! Soll ich dich hinfahren? Die Rückfahrt kann dann dein Prinz übernehmen …"

Lachend schnappte sie sich die Schlüssel des Jaguars und schlüpfte in ihre Jacke. „Na los, na los, na los! Du kommst noch zu spät!" Sie rannte grinsend die Treppe hinunter.

„Warte!", stoppte Claire sie. „Ich muss Captain Kitty füttern …"

Stöhnend folgte ihr Chloe in die Küche. „Das Fellknäuel kann doch warten! Dein Date ist wichtiger …" Sie seufzte und rieb sich über den Bauch. „Es ist schon ein Paar Stunden her, seit wir gefrühstückt haben, aber ich hab trotz Moms Cookies Hunger …"

Claire kam mit einem grünen Futternapf und einer Tüte Gourmet-Katzenfutter wieder.

„Gut, dass Dad an alles gedacht hat. Wir hätten Captain Kitty ja schlecht zum Waffelhaus mitnehmen können …"

Chloe schnaubte. „Waffeln? Ich glaube nicht, dass die ihm schmecken würden ..."

„Für Katzen gibt es das hier." Claire riss die Tüte auf und schielte vorsichtig hinein.

„Lachsfilet mit Spargelspitzen und Erbsen, mit einer cremigen Sauce Hollandaise und frischer Petersilie", las sie vor und kippte den Inhalt in den Napf.

„Das sieht aber lecker aus." Chloe rümpfte die Nase und machte einen Schritt in Richtung Küche. „Soll ich ihm Messer und Gabel holen oder reicht ihm das so? Das klingt für mich, als würde es eher auf die Speisekarte eines 5-Sterne Restaurants gehören als in Katzenfutter!" Sie lachte über ihren eigenen Witz.

Claire schüttelte augenrollend den Kopf über die Verrücktheit ihrer Freundin.

„Jetzt können wir gehen!" Chloe klatschte erfreut in die Hände und öffnete die Haustür. Claire folgte ihr grinsend zur Garage. Man könnte meinen, es wäre Chloes Date und nicht ihres.

Claire wüsste nur zu gerne, wie Chloe sich bei einem Date mit Pablo aufführen würde …

Kapitel 7 – William

 

Endlich am anderen Ende der Stadt angekommen, parkte Will vor einem Haus, dessen Außenwände von der Straße aus kaum sichtbar waren.
An fast allen Seiten wurde der rote Backstein von dichten Efeuranken bedeckt. Das giftige Gewächs wand sich um das Geländer der Veranda und formte regelrechte Teppiche im Vorgarten des Grundstücks, wucherte teils sogar über den schmalen Pfad, der durch das verwachsene Grün führte. Der Garten war verwildert, der Albtraum eines jeden Kätzchens mit mehr Kletten und Dornenbüschen als normalen Pflanzen. Ideale Fallen für buschige Schwänze …
Will schob den Drang, schaudernd über sein Hinterteil zu reiben, mit einem an sein inneres Kätzchen gerichteten Stirnrunzeln beiseite und stieg aus.
Es tat ihm nicht gut, ohne seine Tigergestalt zu leben. Mit jedem Tag, den er sich nur in einen Kater verwandeln konnte, traten die ‚Kätzcheninstinkte' sogar in seiner Menschenform stärker hervor als sonst. Als Kater hatte er es zunehmend schwieriger, seine menschlichen Gedanken zu fokussieren und den Trieben des Kätzchens zu widerstehen. Allein der Vorfall mit der Klette, die Tatsache, dass sein Jagdtrieb ihn förmlich dazu gezwungen hatte, den Angriff auf die Motte zu versuchen, hatte ihn davon überzeugt, dass er in Zukunft vorsichtiger sein musste. Er konnte es sich nicht leisten, auf solche Art die Kontrolle über sich zu verlieren. Es würde ihm nicht nur große Probleme bringen, sondern auch noch die Rückkehr zu seinem menschlichen Ich erschweren, jedes Mal wenn er sich zurückverwandelte …
Wie schon unzählige Male zuvor, schweiften seine Gedanken ab, zur Vergangenheit und der Zeit, in der er noch beide seiner Tiergestalten gehabt hatte.
Wills Heimatort und ebenso der Ursprung aller anderen Gestaltwandler, die Katzenwesen in sich trugen, war ein Dorf tief im Snoqualmie Valley süd-östlich von Seattle. Ursprünglich waren die Katzenwandler aus einem alten indianischen Eingeborenenstamm entstanden, den Snoqualmie, die seit jeher die Region dort bevölkerten. Über die Jahrhunderte wurden sie immer mehr von den wachsenden Siedlungen der Weißen verdrängt und mussten ihre Gestaltwandlernatur von den Menschen verstecken, bis sie sich nur noch in eine weitaus kleinere Gegend um den Snoqualmie Pass herum zurückgezogen hatten und ebendieses Dorf entstanden war. Der Name der Dorfs war mit dem Verschwinden der älteren Generationen so in Vergessenheit geraten, dass die wenigen Gestaltwandler, die die alte Sprache der Snoqualmie, Salish, noch beherrschten, es nur noch ‚ʔal'al' nannten - Zuhause.
Den Stammlegenden zufolge hatte Dukwibal, der Sohn einer Menschenfrau und eines Sterns, Gleichgewicht auf die Erde gebracht, indem er seine Kräfte dazu nutzte, Menschen, Tieren und Landschaften die Form zu geben, die sie heute hatten. Ihm, der auch der Verwandler oder Änderer genannt wurde, verdankten die Snoqualmie ihre Wandler-Fähigkeiten. Anders als die Quileute allerdings schuf er sie nicht aus wilden Wölfen, sondern als Menschen, schenkte ihnen die Geister von Großkatzen und verlieh ihnen die Gabe, die Gestalt dieser beliebig anzunehmen. Zur Tarnung, damit sie einfacher unter Menschen gehen konnten, ohne gejagt zu werden, ermöglichte er ihnen auch, zu normalen Katzen zu werden.
Er gab ihnen den Namen ‚słukwalb stubš'. Mondmänner. Weil sie sich verwandelten wie der Mond, der seine Phasen wechselt.
Auch Will war in diesem Dorf aufgewachsen, hatte diese Legenden zu hören bekommen wie Menschenkinder Märchen oder Gutenachtgeschichten.
An jenem verhängnisvollen Tag vor fünf Jahren, dem Tag, an dem er seine Tigergestalt verloren hatte, war Will ein junger Gestaltwandler von sechzehn Jahren gewesen, der gerade aus dem Schulalter heraus und noch dabei war, seinen eigenen Platz im Leben zu finden.
Jung, naiv und verzweifelt danach, etwas Großes zu leisten und irgendwo dazuzugehören, überlegte er nicht lange, als Darren Lionesse, ein mächtiger Gestaltwandler, dem mehrere bekannte Software- und Technikunternehmen gehörten, und der, wie Will später herausfand, über ein riesiges Netzwerk an Spionen und Lakaien überall im pazifischen Nordwesten verfügte, ihn rekrutierte.
Obwohl das Snoqualmie-Dorf sein Zuhause war, machte Will es seinen Freunden und den meisten jungen Gestaltwandlern gleich und verließ es, um sein eigenes Leben in der Stadt zu leben.
Darren ließ ihn ausbilden, beschaffte ihm dann einen Job in einer seiner Firmen, sodass Will finanziell bald auf eigenen Beinen stehen konnte. Später belegte Will aus eigenem Antrieb heraus akademische Online-Kurse und lernte das Programmieren von Softwares und Erstellen von Programmen, was ihm das bequeme Arbeiten von Zuhause aus ermöglichte.
Weil ihm nach weniger als einem Jahr in Darrens Unternehmen allerdings klar wurde, dass dieser nicht einfach so aus Herzensgüte sein Geld in junge Leute investierte und ihnen solche Gefallen erwies, wie er es Will gegenüber getan hatte, konfrontierte er ihn damit … und wurde prompt in Darrens inneren Kreis aufgenommen. Nun wurde ihm offenbart, dass Darren nicht nur der angesehene Unternehmer war, für den er sich unter Menschen ausgab. Er hatte weitaus tiefere Absichten, und die jungen Gestaltwandler, die er rekrutierte, sollten ihm dabei helfen, diese zu erfüllen, sobald sie ihre Loyalität bewiesen.
Als Anführer des zwielichtigen Untergrunds der Stadt hatte Darren versucht, die gesamte Jugend der Gestaltwandler auf seine Seite zu ziehen, damit sich in den kommenden Jahren keiner gegen ihn auflehnen könnte. Seine Anhänger sollten ihn im Kampf gegen mögliche Gegner unterstützten.
Schließlich kam der Tag, an dem Wills Treue auf die Probe gestellt werden sollte.
Als einer von Darrens persönlichen Gehilfen hatte er den Befehl erhalten, zusammen mit einer großen Gruppe von anderen, die ebenso in Darrens Dienst standen, ein Dorf von Gestaltwandlern anzugreifen, die sich Darren andauernd widersetzten, somit seine Position in Frage stellten und ihn davon abhielten, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen: die Macht über alle Gestaltwandler in der Gegend zu übernehmen.
In kleinen Einheiten von vier Mann wurden sie losgeschickt, dessen unbewusst, dass Darrens Angriff nicht einem fremden Rebellendorf gelten würde, sondern … ihrem Zuhause.
Wills Gruppe begriff dies zu spät und konnte dann nur noch zusehen, wie die Truppen ins Dorf einfielen und dort ein Massaker anrichteten. Obwohl Darren nur davon gesprochen hatte, den ‚Rebellen' lediglich eine Abreibung verpassen zu wollen, die sie umstimmen sollte, ließ er das ganze Dorf umstandslos niederbrennen und alle Einwohner, sogar Frauen, wehrlose Kinder und alte Leute, gnadenlos töten.
Was die ganze Aktion nur noch grausamer machte, war die Tatsache, dass Darren selbst von dort stammte, mit seiner jüngeren Schwester dort aufgewachsen war. Dennoch gab er, ohne mit der Wimper zu zucken, den Befehl, das Dorf zu zerstören, alle Behausungen anzuzünden und niemanden überleben zu lassen. Niemanden.
Eine kaltblütige Hinrichtung. Gerichtet an sein eigenes Heimatdorf.
In diesem Moment zersplitterten Wills Respekt und Wertschätzung Darren gegenüber, die schon fast an Bewunderung grenzten, wie ein Spiegel unter der Wucht eines Faustschlags in viele winzige Scherben zersprang, sodass Will fast taumelte, zutiefst getroffen von der plötzlichen Enthüllung, die sich wie ein bitterer Verrat anfühlte.
Seit er ihn bei sich ausgebildet und angestellt hatte, war Darren sein großes Vorbild und wie ein großer Bruder gewesen. Will hatte zu ihm aufgeschaut, war stolz gewesen, trotz seiner jungen Jahre einer seiner engsten Vertrauten geworden zu sein.
Das war, bevor er herausfand, was für ein Monster sich in Darren, dem vermeintlichen Helden, in Wirklichkeit verbarg. Wie konnte er nur sein eigenes Zuhause zu Grunde richten, die Leute, die praktisch seine Familie waren, einfach abschlachten lassen? Sogar seine eigene Schwester hatte in dem Dorf gelebt …
William war nach den ersten Morden klar geworden, dass das, was Darren tat, nicht nur unmenschlich, sondern auch abgrundtief falsch war, dass er, Will selbst, ihm beinahe dabei geholfen hatte. Voller Entsetzen hatten er und seine Teamkameraden, die über die eigentliche Natur des Auftrags genauso ahnungslos gewesen waren wie er, den Tod und die Zerstörung von unschuldigen Leben, zu der sie ursprünglich hätten beitragen sollen, aufzuhalten versucht. Sich jedoch zu viert gegen eine Armee von ergebenen Kämpfern zu stellen hatte sie fast das Leben gekostet.
Bis letztendlich die Schamanin des Dorfs, Darrens eigene Großmutter, das Blatt gewendet hatte.
Gerüchten zufolge war sie weit über zweihundert Jahre alt, was bei der durchschnittlichen Lebenserwartung von Gestaltwandlern, die etwas einhundertfünfzig Jahre betrug, mehr als nur außergewöhnlich war. Als Schamanin und Dorfälteste beherrschte sie alte Zauber, spirituelle Magie, die Generation für Generation mit dem Titel der Schamanin weitergegeben wurde und sowohl zur Heilung von Kranken als auch in Notfällen zur Verteidigung gegen Feinde eingesetzt wurde.
An jenem Tag brachte sie nicht Heilung, sondern Tod.
Einige der Angreifer wurden von einem Zauber der Alten ergriffen, der sie direkt in die lodernden Flammen der von ihnen in Brand gesteckten Hütten wirbelte, ihnen die Haut bei lebendigem Leib von den Knochen schmolz. William konnte ihre markerschütternden Schreie immer noch nachts in seinen Träumen hören.

Ein weiterer Gestaltwandler, der mit einem Messer auf Will zugelaufen war, hielt plötzlich inne, schnitt sich vor Wills Augen, unter Einfluss eines anderen Zaubers, hysterisch lachend das Herz aus der Brust und kollabierte erst, als er den noch zuckenden Muskel in seiner blutbeschmierten Hand hielt.
Anderen widerfuhr ähnlich Schreckliches, was letztlich dazu führte, dass die Angreifer auf die ein oder andere Weise tot endeten, bevor sie das Dorf dem Erdboden gleich machen konnten.
Da Will und seine Teamkameraden selbst zur Besinnung gekommen waren und noch versucht hatten, die abscheulichen Morde zu verhindern, war ihre Strafe milder ausgefallen als die der anderen. Die Schamanin hatte sie verflucht … ein Fluch, der ihnen die Gestalt ihrer Großkatze nahm.
Die kryptischen Worte der alten Hexe, mit denen sie den Fluch gewoben und um ihn gelegt hatte, hatten Will unerwartet getroffen, ließen ihn bis heute nicht los. Zuerst hatte er sie verhöhnt, ausgelacht, was angesichts dessen, dass er die Macht ihrer Zauber gerade erst mit eigenen Augen mit angesehen hatte, nicht sehr klug gewesen war. Ihm seine Tigergestalt wegnehmen? Bitte, das wäre doch so, als würde sie ihm seine Seele stehlen. Kein Gestaltwandler würde wagen, einem anderen so etwas anzutun.
Zumindest hatte er das gedacht. Spätestens aber, als er sich zu verwandeln versucht und es nicht geklappt hatte, musste er ihren Worten Glauben schenken.
Wills schwarzer Tiger - sogar unter anderen Gestaltwandlern eine wahre Seltenheit - war fort. Dort, wo er vorher in Wills Innern gelebt hatte, war nur Leere.
Sie hätte ihm genauso gut die Fähigkeit wegnehmen können zu atmen.
Benommen von der Erkenntnis, die ihn mit der Wucht einer Abrissbirne traf, sowie dem dichten Rauch, der über dem brennenden Dorf hing und das Atmen erschwerte, hatte Will nicht gemerkt, wie sich ihm jemand mit böser Absicht von hinten näherte, bis es zu spät war. Der unbekannte Angreifer rammte Will einen glühenden, spitzen Holzscheit, vermutlich von einer der brennenden Hütten aufgesammelt, in die linke Seite und floh, wobei er ihn stark blutend und besinnungslos zurückließ.
Er war beinahe bei dem Versuch gestorben, sein Zuhause zu verteidigen, und starb ein zweites Mal fast an dieser hinterlistigen Attacke.
Als Will das nächste Mal die Augen geöffnet hatte, war der einzige Beweis, dass er verwundet worden war, eine hässliche, handtellergroße Narbe an seiner Seite gewesen. In der Ferne sah er, wie sich die Dorfschamanin immer weiter entfernte, und zog daraus den Schluss, dass sie ihn wieder zusammengeflickt haben musste.
Über die nächsten Jahre hörte er immer wieder ihre Stimme in seinen Träumen, wie sie ihm Dinge zuflüsterte, während sie seine Verletzung heilte, Dinge an die er sich vorher nie erinnern konnte, bis er davon träumte. Oft wiederholte sie die Worte des Fluchs, als wollte sie ihm Salz in die offene Wunde reiben, die selbst nach fünf Jahren immer noch frisch war.
Will fand es komisch, die Ironie. An einem einzigen Tag hatte die Schamanin ihm eine Wunde geheilt und gleichzeitig eine weitere geschlagen, die womöglich niemals heilen würde.

Es war nicht so, dass Will nie versucht hatte, den Fluch zu brechen. Im Gegenteil, er hatte in den fünf Jahren unermüdlich nach einer Lösung gesucht, einer Deutung, sogar nach der Schamanin selbst. Er hatte neben dem Arbeiten sehr viel recherchiert, sogar alle alten Legenden der Snoqualmie gelesen, die er finden konnte, für den Fall, dass etwas über einen solchen Fluch darin stünde und es ihm helfen könnte. Er hatte eine mögliche Erklärung gefunden … und wenn sie wirklich stimmte, hing dennoch alles von purem Glück ab.
Anscheinend sah der Fluch vor, dass Will seine Tigergestalt erst zurückerhielt, wenn er seine Gefährtin fand.
William versuchte schon seit Jahren, den Fluch zu entziffern, und suchte noch viel länger schon nach besagter Gefährtin, die irgendwo dort draußen sein sollte. Sie könnte überall auf der Welt sein … was es so gut wie unmöglich machte, sie durch aktives Suchen zu finden. Ganz abgesehen davon, dass man seine Gefährtin nicht einmal wirklich suchen konnte, sondern einfach wusste, dass sie es war, wenn man ihr begegnete.
Zumindest hatte Will es in der Vergangenheit so von Leuten gehört, die ihre Gefährten schon gefunden hatten.

Und nun besuchte William einen Freund, der all die Erinnerungen an diese Vergangenheit nur umso stärker herauf beschwor.
Wie aufs Stichwort begann seine Wunde zu jucken. Will rieb sie gedankenverloren.

Jack Diangelo war einer der drei jungen Männer gewesen, mit denen William direkt in sein Verderben gelaufen war. Zusammen mit Jack, Wills Cousin Noah und … Adrian.
Jack hatte später erzählt, dass er nicht in unmittelbarer Nähe gewesen war, als die Schamanin den anderen den Fluch auferlegt hatte, und somit seine Tiergestalt eines Geparden noch besaß.
Jack war ebenfalls Wills Ziehbruder. Wills Eltern hatten ihn als Baby auf der Türschwelle von Jacks Familie abgelegt und dann fluchtartig das Dorf verlassen. Böse Zungen im Dorf hatten im Laufe von Wills Kindheit das Gerücht verbreitet, dass die beiden wahnsinnig geworden wären, nachdem sie ein Kind bekommen hatten, und deshalb verschwanden.
Was auch immer die Wahrheit war, Will hatte seine Eltern nie kennengelernt.
Jacks Eltern waren wie seine richtigen Eltern geworden, hatten ihn immer wie ihren leiblichen Sohn behandelt. Jack selbst war ihm mehr als nur ein Ziehbruder. Will war mit ihm aufgewachsen, hatte ihn immer als älteren Bruder angesehen und zu ihm hochgeschaut wie zu einem, obwohl die beiden nur zwei Jahre trennten.

Jacks Haus lag am Rand der Stadt, wodurch die Fahrt zu ihm immer zu einem Ausflug in die Vororte wurde. Wie immer erwartete sein Freund ihn bereits an der offenen Haustür.
Wie machte er das bloß! Will hatte keine Ahnung, wie, aber jedes Mal, wenn er Jack besuchen wollte, wusste dieser Bescheid und wartete schon auf der Veranda. Und jedes Mal, wenn Will ihn fragte, woher er wusste, wann er vorbeikam, wenn Will selbst sich spontan dazu entschied, war die Antwort nur sein tiefes, amüsiertes Lachen.
„Will, altes Haus! Wusste ich's doch, dass du kommen würdest!“
Jacks grün-braune Augen funkelten, als er lachend auf William zukam und ihn brüderlich in seine Arme zog, wobei Will fast in dessen Umarmung verschwand. Jack war ein wahrer Riese von einem Mann, über zwei Meter groß und breit wie ein Schrank. Neben ihm wirkte William fast wie ein Kind.
Will verdrehte gespielt genervt die Augen. „Ich werde wohl nie herausfinden, woher du das immer weißt", stichelte er und erwiderte die knochenbrechende Umarmung.
Jacks dröhnendes Lachen ertönte, zauberte ein breites Lächeln auf Wills Gesicht. „Komm mit auf einen Kaffee in die Stadt, Will. Ich habe dir viel zu erzählen."
Eine Weile später saßen sie sich in ihrem üblichen Café gegenüber und bestellten.
„Und?", fragte Jack, der einen Zahnstocher zwischen den Fingern herumwirbelte, seit die Kellnerin gegangen war. „Was treibst du so, Kleiner? Was hält dich so beschäftigt? Du warst mich wochenlang nicht mehr besuchen."
William zog angesichts des vorwurfsvollen Tons, mit dem Jack das sagte, den Kopf ein und zuckte die Achseln. „Ich arbeite … genieße das Leben … "
Keiner von ihnen erwähnte die unausgesprochene Selbstverständlichkeit des Fluchs und Wills verzweifelte Bemühungen, diesen loszuwerden. Es war eine ungeschriebene Regel, dass keiner darüber sprach, wenn es nicht unbedingt nötig war. Und da Will praktisch seit fünf Jahren in einer Sackgasse steckte, trat ein Fall solcher Notwendigkeit nicht sehr oft auf.
„… und lasse mich ab und zu versehentlich adoptieren … "
Jack brach abermals in schallendes Gelächter aus, als er Wills letzte Worte hörte.
Einen Moment lang war es still in dem Café. Alle Gäste starrten zu ihnen herüber und wunderten sich, worüber er sich denn so lautstark amüsierte, dass er alle anderen übertönte.
Will, der es gewohnt war, dass Jack in der Öffentlichkeit die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zog, wartete einfach bis nach und nach die Gespräche wieder einsetzten und die Leute sich kopfschüttelnd abwandten.
„Du hast es schon wieder geschafft, bei deinen Besuchen im Tierheim gefangen und adoptiert zu werden? Mensch, Will, du musst besser aufpassen! Und, hast du wieder vor, einfach wegzulaufen? Warte, wie haben sie dich denn diesmal genannt, Katzenjunge?" Jack lachte erneut los, was Will dazu brachte, seufzend die Augen zu rollen.
„Ja, ich wurde schon wieder eingefangen. Nein, diesmal werde ich nicht weglaufen. Es ist etwas komplizierter als sonst … und diesmal heiße ich -"
Will musste würgen, als er den Namen aussprach.
„- Captain Kitty."
Wieder lachte Jack los, hielt jedoch abrupt inne, als er den wichtigsten Teil des Satzes endlich verstand.
„Captain Kitty? Hahaha …- warte! Warum kompliziert?" Er runzelte die Stirn. „Ist sie etwa besonders hübsch?" Jack schaute zerknirscht drein, als Will als Antwort auf seinen halbherzigen Witz nur seufzte und anschließend tief Luft holte.
In diesem Moment kam die Kellnerin, um ihre Bestellungen zu bringen. Jack nahm seinen Eiskaffee entgegen und schob Will naserümpfend dessen einfachen Schwarzen hin.
„Also?", hakte er plötzlich ernst nach, als sie wieder weg war.
„Du weißt doch, was damals passiert ist", begann Will zögernd, als er sich gezwungen sah, die Vergangenheit doch anzusprechen. „Das, weshalb ich meinen Tiger verloren habe." Jack nickte kurz, offensichtlich überrascht darüber, dass Will dieses Thema ansprach, und sah ihn dann fragend an.
„Und du weißt, was die Prophezeiung der Schamanin besagte. Zumindest der Teil, den wir entschlüsseln konnten."
Jack zuckte die Achseln. „Klar. Der Fluch ist erst aufgehoben, wenn du deine Gefährtin findest. Aber ich verstehe nicht, was das mit deiner neusten Adoption zu tun hat …"
Plötzlich riss er die Augen auf und setzte sich gerade hin. „Du meinst … sie ist es? Deine Besitzerin? Sie ist deine Gefährtin?"
„Ich … ich glaube, sie könnte es sein", gab Will langsam zu und nippte an seinem dampfenden Kaffee.
„Aber … bist du dir sicher?" Jack rieb nachdenklich mit einer großen Hand über seinen dunklen Bartschatten am Kinn. „Warum denkst du, dass sie es sein könnte?"
Will biss sich auf die Lippe, rührte dann mit dem Löffel in seinem Kaffee herum, obwohl weder Zucker noch Sahne drin war. Ungewöhnlich für sein inneres Kätzchen. „Es ist so ein starkes Gefühl. Irgendetwas zieht mich zu ihr hin. Ich will ständig in ihrer Nähe sein und ihre Stimme hören. Nur gut, dass ich das ja jetzt kann", fügte er, an seine Situation erinnert, trocken hinzu. „Aber es ist noch mehr. Ich will mit ihr in der Sonne liegen, unter demselben Regenschirm mit ihr durch den Regen laufen. Ich will ihre Hand halten, ihr tief in die Augen sehen, sie küssen. Ich will ihr zeigen, was ich wirklich bin!"
So viele verschiedene Emotionen schwangen in Wills Stimme mit, als er sprach. Bei den letzten Worten klang er schon beinahe … verzweifelt. Als würde er all diese Dinge nicht nur aus seinem eigenen Willen heraus tun wollen, sondern weil er es musste, weil ein unsichtbarer innerer Drang ihn dazu trieb, so zu fühlen.
„Aber das darfst du nicht! Zumindest nicht, bevor du dir nicht sicher bist, dass sie wirklich deine Gefährtin ist. Und es klang gerade sehr danach, als wäre sie es …" Jack wirkte verwirrt, beinahe benommen von Wills Ausführungen „Ich habe dich noch nie so kitschig erlebt, William Blake. Entweder sie ist wirklich deine Gefährtin, oder sie hat dir irgendeinen Liebeszauber verpasst."
William verdrehte amüsiert schnaubend die Augen über seinen Freund, der in jeder Situation Witze reißen konnte. „Ja", sagte er schließlich, immer noch leicht grinsend. „Ich glaube wirklich, sie ist es."
„Aber wenn sie wirklich deine Gefährtin ist, müsstest du deinen Tiger dann nicht inzwischen zurück haben?" Jacks Frage klang für Will ziemlich logisch.
Allerdings war es doch niemals so einfach, nicht einmal in Filmen. Will vermutete, dass es nicht reichte, seiner Gefährtin nur über den Weg zu laufen, sondern dass vielleicht erst tiefere Gefühle die beiden verbinden müssten, um den Fluch aufheben. Was auch immer es war, Will durfte nicht voreilig werden und einfach annehmen, dass es Claire war, nur um womöglich später enttäuscht zu werden, wenn sie sich doch nicht als seine Gefährtin herausstellte.
Seufzend ließ er Jack an seinen Gedanken teilhaben und trank dann seinen Kaffee aus. Für einen kurzen Moment erwog er, ihm von Adriens Auftauchen zu erzählen, schob jedoch den Gedanken rasch beiseite, da dieser genauso plötzlich wie er gekommen war, auch wieder verschwinden könnte. Was, wenn er wirklich nur wahnsinnig war und wieder abtauchen würde wie vorher? Da war es Will lieber, Jack nicht zu große Hoffnungen über die Rückkehr ihres gemeinsamen Freundes zu machen …
Nachdem er Jack versprach, ihn bald wieder zu besuchen und nicht mehr so lange wegzubleiben, machte Will sich schließlich auf den Weg nach Hause. Unterwegs rief er bei einem Restaurant an, um für sein Date mit Claire einen Tisch zu reservieren.
Wie üblich parkte er sein Auto einige Straßen entfernt vom Donovan-Anwesen und joggte schließlich durch die umliegenden Parks zum Haus.
In Kätzchengestalt schlüpfte er durch die offene Balkontür und tapste hinauf in Claires Zimmer, wo er sich auf ihrem Bett zusammenrollte und erst mal gründlich säuberte. Bald darauf schlief er, von Claires Duft umgeben, ein.

Das Geräusch klappernder Schlüssel riss ihn kurz darauf aus seinem sanften Schlummer. Träge stand er auf und streckte sich gähnend.
Claire war wieder da!
Die Nachricht erreichte sein Gehirn etwas verspätet. Plötzlich hellwach, sprintete er die Treppe hinunter, um sie in Empfang zu nehmen. Unten angekommen erlebte er eine böse Überraschung.
Chloe, Claires beste Freundin, die bei ihr übernachten sollte, war offenbar total katzenversessen. Denn sobald sie Captain Kitty erblickte, sprang sie quiekend auf ihn zu und begann ihn zu streicheln, wobei sie ihm das gerade noch gesäuberte Fell total zerzauste. Captain Kitty warf Claire einen flehenden „Rette-mich!"-Blick zu. Diese setzte gerade zum Sprechen an.
„Darf ich vorstellen? Das ist Captain Kitty, Er wollte dich unbedingt kennenlernen."
Sie sah ihn entschuldigend an, als wolle sie sich für ihre aufdringliche Freundin entschuldigen.
Wohl kaum, dachte er empört. Nicht, wenn ich es verhindern kann …
Aber für Claire würde er alles tun.
Also seufzte er und ergab sich widerwillig der neuen Foltermethode für Katzen namens Chloe. Und sie ließ ihn nicht in Ruhe!
Den ganzen Abend über rannte sie ihm wie ein begeistertes, kleines Mädchen hinterher, lief mit ihm auf dem Arm herum und streichelte ihn, bis sein Fell hoffnungslos zerzaust war. Mehrmals wollte er sie am liebsten anfauchen und einfach bei Claire Schutz vor ihr suchen, zwang sich jedoch dazu, stark zu bleiben. Er würde schon irgendwann seine Rache an ihr nehmen. Mit diesem tröstenden Gedanken schaffte er es, Chloes höllische Zuwendung zu erdulden.
Nur … wie lange musste er diese Tortur noch ertragen?

Am nächsten Abend stand Will vor dem Spiegel und versuchte zu entscheiden, welches Hemd er anziehen sollte. Blau oder weiß? Er entschied sich für das klassische weiße. Während er es zuknöpfte, überlegte er fieberhaft, ob sein Outfit in Ordnung war.
Hatte er überhaupt eine anständige Krawatte, die zu dem Jackett passen würde?
Frustriert pfefferte er die lächerlich rot-grün gepunktete, die Jack ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte, zurück in den Schrank. Wie konnte es sein, dass er nur eine einzige Krawatte besaß, die auch noch potthässlich und vollkommen zum Tragen ungeeignet war, egal in welcher Situation?
Einer der wenigen Nachteile davon, von Zuhause aus zu arbeiten.
Schließlich fand er irgendwo eine schwarze Fliege, an der er fast zwanzig Minuten lang herumziehen und -zupfen musste, bis sie im entferntesten wie eine Fliege aussah. Kurz davor zu verzweifeln, gab er endlich auf, obwohl sie gefährlich auf seinen Kehlkopf drückte, und machte sich zu seinem Wagen auf.
Auf der ganzen Fahrt zum Einkaufscenter zappelte er unruhig herum und überprüfte mehr als ein Dutzend mal im Rückspiegel, ob er präsentabel aussah. Seine Finger trommelten auf das Lenkrad, bis er sich dabei ertappte und entschieden den Schaltknüppel umklammerte, um damit aufzuhören.
Will war nervös. Sehr sogar. Und er wusste nicht, ob sich das im Laufe des Abends ändern würde. Nach dem, was er Jack erzählt hatte, würde er in Claires Gegenwart, wenn überhaupt, nur noch nervöser sein werden …
Er kam zuerst auf dem Parkplatz der Mall an und tigerte dort ruhelos neben dem Auto hin und her, bis Claire, von Chloe hergefahren, endlich erschien. Er konnte es nicht lassen, Chloe mit verengten Augen misstrauisch hinterher zu schauen, bis sie verschwand, bevor er seine volle Aufmerksamkeit Claire zuwandte.
Sie sah bezaubernd aus. Der erste Blick, den er auf sie erhaschte, raubte ihm den Atem. Er schaffte es, irgendwie ein Kompliment hervorzubringen und hoffte, dass er dabei nicht zu benommen aussah.
Mit einem verlegenen Lächeln, das seinen Blick magisch auf ihre vollen, tiefrot bemalten Lippen zog, trat sie auf ihn zu, näher, bis sie ihm so nah stand, dass er ihre Wimpern zählen konnte, und raubte ihm die Worte … indem sie nach seiner schiefen, unbeholfen gebundenen Fliege griff, um sie zu richten.

Kapitel 8 – Claire

 

Um Punkt fünf Uhr setzte Chloe sie vor dem Shoppingcenter ab. „Ich warte zu Hause auf dich! Und ich werde extra wach bleiben, damit du mir alles erzählen kannst!", rief sie ihr noch hinterher, bevor sie das Auto wendete und mit quietschenden Reifen davonfuhr.

Vielleicht hätte Claire sie doch nicht den Lamborghini fahren lassen sollen …

Allerdings würde sie sich mehr Sorgen um ihre Freundin und das Auto machen, wenn sie nicht genau wüsste, dass Chloe für nichts auf der Welt Claires Bericht nach dem Date verpassen würde. Genauso wenig wie sie nicht die Erlaubnis verlieren wollte, das teure Gefährt fahren zu dürfen.

Augenverdrehend trat Claire auf William zu, der an sein Auto gelehnt dastand und die Szene amüsiert beobachtet hatte.

„Hallo." Plötzlich schüchtern, strich sie sich nervös eine Locke hinters Ohr.

Wills Augen funkelten, als er sie ansah. „Du … du siehst wunderschön aus."

Das unbeholfene Kompliment entlockte Claire ein Lächeln und sorgte dafür, dass ihr blasses Gesicht leicht pink anlief. Wie um dies zu verstecken, trat sie abrupt einen großen Schritt näher an Will heran und nahm es sich zur Aufgabe, seine schiefe Fliege neu zu binden. Er hatte scheinbar nicht viel Erfahrung mit formeller Kleidung.

Wills offensichtliche Überraschung ignorierend, zupfte sie die Schlaufen noch etwas zurecht und trat dann mit einem letzten zufriedenen Blick darauf zurück.

Will räusperte sich und unterdrückte den Drang, sich an den Kragen zu greifen, wo ihre Hand gerade eben gewesen war. „Wollen wir dann losgehen?" Nachdem er sich wieder gefasst hatte, öffnete er ihr, ganz der Gentleman, die Beifahrertür seines Wagens.

Nach etwa zehn Minuten Fahrt, die beide trotz ihrer Aufregung in angenehmer Stille verbrachten, hielt Will wirklich vor einem edel aussehenden Restaurant. Als er ihr half auszusteigen, schaute Claire sprachlos zwischen ihm und dem Lokal hin und her. Würde es womöglich doch so werden, wie sie es sich immer vorgestellt hatte?

Einen Fehler hatte sie schon entdeckt, aber über solche Banalitäten wie eine schief gebundene Fliege würde sie nicht weiter nachdenken.

Das Nobel-Restaurant? Check. Will und sie? Check. Alleine an einem Tisch für zwei Personen? Mal sehen …

Will geleitete sie hinein und sagte etwas zu dem Kellner, der aussah wie ein Butler, original mit Frack und einem Tuch, das über seinem Unterarm hing. Dieser führte sie tatsächlich an einen 2-Personen Tisch. Und es gab sogar Kerzenlicht und leise Geigenmusik, die im Hintergrund spielte …

Claire seufzte verträumt und folgte ihrem Prinzen zum Tisch. Er rückte ihr den Stuhl zurecht und nahm erst Platz, als sie saß. Der Butler-Kellner brachte ihnen Menükarten und zündete die Kerze auf dem Tisch an. Als Claire durch die Karte ging, blieb ihr Blick an einem bestimmten Gericht hängen.

Zartes Lachsfilet mit Spargelspitzen und Erbsen, dazu Salzkartoffeln und eine feine Sauce Hollandaise mit frischer Petersilie.

Chloe hatte Recht gehabt! Claire lachte leise in sich hinein und schüttelte fassungslos den Kopf.

Will sah sie fragend an und schaute dann selbst in die Menükarte. Er unterdrückte ein Lachen, grinste aber wissend, als er es sah. Also davon hatte er für heute wirklich genug gehabt.

Claire bestellte ein cremiges Pilzrisotto und Will ein Steak als Hauptspeise.

„Also, William, Freunde nennen dich Will", begann Claire, nachdem der Butler-Kellner die Karten wieder eingesammelt hatte und die beiden allein ließ. „Aber wie ist dein voller Name?"

Will musste angesichts der offensichtlichen Neugierde in ihrem Blick lächeln und deutete eine galante Verbeugung im Sitzen an. „Gestatten, William Blake."

Claire lehnte sich mit einem Nicken vor und stütze die Ellbogen auf den Tisch, das Kinn auf den verschränkten Händen ruhend. „Claire Donovan."

Ich weiß, dachte Will, griff allerdings wortlos zur Wasserkaraffe, um erst ihr Glas, dann sein eigenes zu füllen.

„Eigentlich Clair De Lune Donovan", fügte sie mit einem plötzlichen schmerzerfüllten Aufflackern in den Augen hinzu. „Aber jeder sagt nur Claire zu mir."

Will legte den Kopf leicht schief, fasziniert davon, wie ausdrucksstark ihre Augen allein waren. Es war, als müsste er sie nur anschauen, um genau zu wissen, wie sie sich fühlte. Er konnte es fast spüren. Und in diesem Moment war sie voller Kummer.

„Debussy, richtig?"

Auf seine Frage hin nickte sie stumm, lehnte sich dann auf ihrem Stuhl wieder zurück und schlang die Arme um sich, als wäre ihr kalt. „Meine Mutter ist … war Pianistin. Er war ihr Lieblingskomponist."

Will wusste, er durfte sich nicht anmerken lassen, dass er bereits vom Tod ihrer Mutter wusste, wollte sie aber auch nur ungern dazu bringen, darüber zu sprechen. Es tat fast körperlich weh, sie so kummervoll zu sehen, wenn er wusste, wie viel Lebensfreude und Energie sonst in ihr steckten.

Es war, als erlebte er nach strahlend hellen Sommertagen abrupt eine Sonnenfinsternis.

„Ich habe meine leiblichen Eltern verloren, noch bevor ich wusste, was Eltern überhaupt sind", fing er ohne Vorwarnung zu erzählen an.

Claires Mund öffneten sich vor Überraschung, ihre Finger umschlangen ihre nackten Oberarme noch fester. Auch sie hatte eine solche Offenbarung nicht erwartet, hatte nicht erwartet, dass ihr Gegenüber ebenfalls Kummer kannte.

„Sie ließen mich vor jemandes Haustür liegen, als ich noch ein Baby war, und verschwanden spurlos, ohne ihrem Sohn auch nur eine einzige Erinnerung an sich zu hinterlassen. Ich wurde von Fremden aufgezogen, die schließlich zu meinen richtigen Eltern wurden und mich liebten wie einen richtigen Sohn, dennoch verging kein Tag, an dem ich mich nicht fragte, warum meine leiblichen Eltern mich einfach so verlassen haben."

Will schaute vom Tisch auf, wo er eine Serviette in den Händen verdrehte, bis der Stoff beinahe riss, und begegnete ihrem Blick aus geweiteten Augen. Die Schatten waren weniger dicht, ihr Schmerz angesichts dem eines anderen verblasst. Ihre Hände zuckten, als hätte sie den Drang, seine zu drücken, jedoch grub sie ihre Finger in ihr eigenes Fleisch, bis halbmondförmige Nagelabdrücke ihre blasse Haut verunzierten.

„Ich … "

„Ich habe es dir nicht erzählt, damit du mich bemitleidest", unterbrach Will, bevor sie weitersprechen konnte. „Sondern um dir zu zeigen, dass es in Ordnung ist, wenn du mir deine Geheimnisse noch nicht erzählen kannst. Ich habe ebenfalls Geheimnisse. Nicht alle von ihnen sind bereit dafür, nicht mehr geheim zu sein."

Blinzelnd starrte Claire ihn als, als er nach diesen mysteriösen Worten nach seinem Glas griff, um einen Schluck Wasser zu nehmen. Warum hatte er ihr das erzählt, wenn er kein Mitleid wollte? Versuchte er etwa, sie neugierig auf seine 'Geheimnisse' zu machen?

Der Butler-Kellner kam mit einer Flasche Wein vorbei, wurde sofort von Will weggeschickt, sobald er Claire abwinken sah.

„Wie alt bist du, Claire?"

Sie schüttelte leicht den Kopf, wie um sich aus einer Benommenheit zu lösen, die seiner Erklärung gefolgt war, und nippte rasch an ihrem eigenen Wasser.

„Siebzehn. Ich werde in drei Wochen achtzehn." Mit vorgeschobenem Kinn fügte sie hinzu: „Ich bin älter, als man denkt."

Aha. Ihr Alter war also ein sensibler Punkt. Nicht, dass Will ihr es verdenken konnte. Er hatte vermutet, dass sie älter war, als sie aussah, anscheinend wurde ihr jedoch öfter das Gegenteil gesagt. Mit einem Nicken speicherte er diese Information für spätere Zeitpunkte ab.

„Und du?", richtete Claire mit aufrichtiger Neugier in den Augen das Wort an ihn. Unter dem Tisch, wo er es nicht sehen konnte, kreuzte sie die Finger.

„Einundzwanzig." Will bekam nur durch ihr offensichtlich erleichtertes Ausatmen mit, dass sie anscheinend die Luft angehalten hatte. Er warf ihr einen neugierigen Blick zu. War ihr das Alter etwa generell besonders wichtig? Wenn ja, dann würde er dafür töten zu wissen, wie sie über seine Kätzchengestalt denken würde …

Claire wiederum war erleichtert, weil es ohnehin schon ein Theater geben würde, wenn ihrem Dad zu Ohren kam, dass sie ein Date hatte.

Alleine. Mit einem männlichen Wesen.

Allein die Tatsache, dass Will – nicht einmal! - vier Jahre älter war als sie, würde ihrem Vater schon schwierig beizubringen sein.

Der war eigentlich einer der coolsten Väter, die man sich wünschen konnte … bis Jungen ins Spiel kamen.

James Donovan würde sie am liebsten ihr ganzes Leben lang vom anderen Geschlecht fernhalten.

Als Claires Mom ihr einmal an ihrem achten Geburtstag die Haare besonders aufwendig hochgesteckt und dazu scherzhaft verkündet hatte, Claire würde allen Jungen auf ihrer Schule den Kopf verdrehen, hatte James eingeworfen, die sollten seiner kleinen Prinzessin lieber fernbleiben, und gedroht, sie alle zu verjagen. Claires Mutter hatte nur gelacht und ihren Mann darauf hingewiesen, dass Claire groß werden und sich auch eines Tages verlieben würde, eines Tages ihre eigene Familie gründen würde. Ihr Vater hatte brummelnd weiter ferngesehen und sich nicht erweichen lassen, bis seine Frau ihn mit ein paar Küsschen und einer Kitzelattacke gegen seinen Willen dazu gebracht hatte, wieder zu lachen.

Wenn es nach James Donovan ginge, würde Claire die Schule abschließen, das College absolvieren, Arbeit finden und dann erst ihre Aufmerksamkeit anderen Dingen zuwenden. So wie Jungen.

Erst wenn sie ein stabiles, erfolgreiches, glückliches Leben führte. Er hatte oft genug halb im Scherz gesagt, dass Claire erst ein Liebesleben haben durfte, wenn er zum Präsidenten gewählt wurde. Was Vatersprache war für nie

Also musste Claire mehr über Will herausfinden, bevor sie auch nur daran dachte, ihrem Vater von ihm zu erzählen. Sie musste Dinge erfahren, die ihn ihrem Vater gegenüber günstig dastehen lassen würden, sonst würde dieser umgehend damit beginnen, Will selbst in die Mangel zu nehmen.

Und das würde jeden Typen sofort verjagen. Mit James Donovan war nicht zu spaßen.

Will sah so aus, als wollte er sie zu dem Grund ihrer Reaktion befragen, deren Offensichtlichkeit Claire sich nicht einmal bewusst gewesen war, allerdings kam in diesem Moment der Butler-Kellner mit den Vorspeisen.

Der Korb mit Brotstangen, den er als erstes abstellte, traf Claire unvorbereitet. Erinnerungen an die Zeiten, die Claire mit ihren Eltern beim Lieblingsitaliener ihrer Mutter verbracht hatte, kamen ihr urplötzlich in den Kopf. Ihre Mutter hatte die Brotstangen immer mit ihrem Mann geteilt, hatte ihn lachend damit gefüttert, nachdem sie sie ihrer seltsamen Gewohnheit nach in einige der Antipasti getunkt hatte.

Und er, der seiner Frau nie etwas hatte abschlagen können, hatte sich jedes Mal ergeben und brav gegessen, was auch immer sie ihm in dem Mund geschoben hatte. In Wahrheit hatte es ihm nur gefallen, so von ihr verwöhnt zu werden, wo er doch sonst immer so beschäftigt mit seiner Arbeit gewesen war, dass ihm jeder Moment, den er mit seiner Familie verbrachte, unglaublich kostbar erschien.

Claire biss sich auf die Unterlippe, um ihre aufsteigende Melancholie und die Tränen zu verdrängen, die ungeweint in ihren Augen brannten, und zwang sich, ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihr Date zu lenken.

Eine Auswahl von feinen Salaten, auf unterschiedliche Arten zubereitetem Gemüse und hauchdünnen Scheiben von zartem Fleisch in cremiger Sauce wurden aufgetragen. Erst jetzt wurde Claire klar, dass sie nach dem Frühstück mit Chloe bis auf ein paar Kekse nichts gegessen hatte und wie hungrig sie daher war. Nach einem raschen Blick zu Will, der ihr aufmunternd zunickte, tat sie sie sich einige Löffel auf, um von jeder Sorte etwas zu probieren. Bevor sie den ersten Bissen nehmen konnte, hielt ihr Will eine Gabel voll mit dem in Sauce getauchten Fleisch hin und sah sie erwartungsvoll an, bis sie sich errötend vorbeugte, um das Angebotene anzunehmen. Als sie vorsichtig kaute, merkte sie, dass diesmal er derjenige war, der erleichtert die Luft ausstieß, und neigte fragend den Kopf.

Er räusperte sich verlegen. „Ich habe nur einen Moment lang befürchtet, du wärst Vegetarierin."

Ihre Mundwinkel zuckten belustigt. „Wäre das so schlimm?"

Nun musste er, wenn auch etwas schuldbewusst, leicht grinsen. „Nein, keineswegs …"

Dennoch entging Claire nicht, wie er hastig nach seinem Wasser griff, wie um zu überspielen, dass er bei einer Lüge erwischt wurde.

Die Vorspeisen waren definitiv die fünf Sterne wert, die das Restaurant direkt am Eingang schon zur Schau stellte. Die Salate waren frisch und knackig, das Gemüse war hervorragend gewürzt und bissfest ... und das Fleisch mit der Sauce so gut, dass Claire erwog, etwas davon für Captain Kitty mitzunehmen. Irgendwie musste sie nach Verursachens seiner Feindschaft mit Claire schließlich wieder seine Gunst zurückerlangen.

„Glaubst du, ich bekomme das Rezept dafür?", fragte sie Will im Flüsterton, während der Butler-Kellner die Vorspeisenteller abräumte.

„Warum, willst du es nachkochen?" Plötzlich funkelten Wills grüne Augen vor Aufregung. „Kochst du gerne?"

Claire spürte, dass dies ein ganz besonderes Interesse in ihm geweckt hatte, und nickte langsam. „Ich koche gerne, aber frag mich nicht, ob ich gut darin bin."

Will lachte leise. „Vielleicht könnten wir irgendwann etwas zusammen kochen. Ich kenne so den einen oder anderen Trick. Wenn man alleine lebt, kann man sich ja nicht ständig nur von Fertiggerichten ernähren."

Das entlockte Claire ein Lächeln. Die Tatsache, dass er – seiner eigenen Aussage zufolge – kochen konnte, machte ihn nur noch attraktiver. „Du lebst alleine?"

Er nickte, spielte wieder mit der Serviette vor sich. „Und ich gehe auch nicht aufs College, falls dich das interessiert."

Claire sank beinahe sichtbar in sich zusammen. „Nicht?", fragte sie hoffnungslos. Verdammt, wie sollte sie ihren Dad je dazu kriegen, ihn zu akzeptieren, wenn er in seinen Augen so gut wie ungebildet war?

„Nein. Ich arbeite bereits."

Sie setzte sich plötzlich aufrecht hin. „Du arbeitest? In deinem Alter müsstest du doch noch studieren!"

Will schüttelte amüsiert den Kopf. „Ich habe meinen Abschluss früher gemacht als üblich, dann ein Fernstudium absolviert und bin jetzt als Freelancer in der Welt des Software-Programmierens unterwegs. Man verdient ziemlich gut, wenn man nicht als Dauerangestellter beschäftigt ist, sondern zu seinen eigenen Bedingungen arbeitet."

Claire wusste nicht, ob sie sich freuen oder nur noch besorgter sein sollte. Er war nicht nur gebildet, sondern selbstständig erwerbstätig und somit viel weiter als sie.

Und automatisch erwachsener, reifer.

Sie konnte schon hören, was ihr Dad dazu sagen würde.

Er ist viel zu alt, viel zu gefährlich und dir viel zu weit im Voraus. Der Junge riecht nach Ärger, Claire. Du solltest ihm fernbleiben.

Aber … was, wenn sie ihm nicht fernbleiben wollte? Was, wenn sie nach einer solch behüteten Kindheit nun etwas 'Gefahr' kosten wollte?

Will faszinierte sie jetzt schon mehr als jeder andere Mann, der ihr jemals begegnet war. Seine grünen Augen, in denen Mal Licht, Mal Schatten tanzte und hinter denen so viele Gefühle steckten, auch wenn es nicht offensichtlich war. Seine verspielte Art, die ohne Vorwarnung tiefgründig und ernst werden konnte und dennoch bewirkte, dass es ihr sofort besser ging, sogar nach einem so schmerzhaften Thema wie dem Tod ihrer Mutter. Irgendwie schien Will immer das Richtige zu sagen, wenn es darauf ankam, auch wenn sie sich noch nicht so gut kannten.

Claire hoffte sehr, das ändern zu können. Sie wollte ihn besser kennenlernen, wollte mehr Zeit mit ihm verbringen und weitere Facetten von ihm entdecken, die sie nur noch tiefer in seinen Bann ziehen würden, als sie es bereits war. Sie wollte ihn wiedersehen, wollte, dass ihr Vater ihn auch mochte und zuließ, dass er in Claires Nähe war.

Und vor allem wollte sie, dass Will genauso empfand. Auch wenn es erst ihr erstes Date war.

Während Claire so in ihren Gedanken versunken gewesen war, war das Hauptmenü gebracht worden. Der Butler-Kellner tauschte ihre geleerte Wasserflasche auf und zog sich stumm zurück.

Claire sah Will bereits mit seinem Steak flirten und musste unwillkürlich schmunzeln.

Jetzt, angesichts seiner offensichtlichen Liebe zu Fleisch, machte seine Frage, ob sie eine Vegetarierin war, Sinn. Sie war nur froh, dass sie hatte verneinen können.

Sie genehmigte sich einen großen Schluck Wasser und beobachtete ihn über den Rand des Glases unauffällig dabei, wie er sein Steak sorgfältig in mundgerechte Stücke schnitt.

„Erzähl mir etwas von dir", forderte er sie unerwartet auf, ohne aufzuschauen. „Was machst du noch gerne, außer zu kochen?"

Claire griff nach ihrem eigenen Besteck, nachdem sie etwas Parmesan auf ihr Risotto gestreut hatte.

„Ich spiele Klavier. Ich verbringe viel Zeit mit meiner Freundin Chloe – du hast sie gestern kennengelernt, sie übernachtet zur Zeit bei mir – und ich kümmere mich neuerdings um meinen frisch adoptierten Kater."

Will, der sein Steak inzwischen schon erheblich geschmälert hatte, legte den Kopf schief. „Du magst Katzen?"

Claire, die ihr eigenes Gericht sehr genoss, nickte. „Anscheinend tue ich das. Mein Dad wollte, dass ich einen Hund adoptiere, weil er oft auf Geschäftsreise ist und mich nicht alleine lassen will, aber ich hab mich da in dieses Katerchen verliebt …"

Sie bemerkte sein strahlendes Grinsen nicht, da sie damit beschäftigt war, sich ihr Risotto auf der Zunge zergehen zu lassen. Der Reis war durch, hatte aber noch wunderbaren Biss und, wie es bei einem guten Risotto sein sollte, eine cremige Konsistenz. Die Pilze gaben dem Gericht einen vollmundigen, nussigen Geschmack, der Claire dazu verleitete, sich zu wünschen, dass der Teller niemals leer wurde, und der Parmesan fügte dem Ganzen einen Tick Würze hinzu, rundete die Kombination perfekt ab.

Sie registrierte erst, wie sehr sie abgeschweift war, als Will sich ihr gegenüber räusperte, offenkundige Belustigung auf seinem Gesicht.

„Entschuldigung." Peinlich berührt griff Claire nach ihrem Glas. „Dieses Risotto ist gefährlich."

Will lächelte wissend. „Das habe ich mir sagen lassen."

„Magst du Katzen?", fragte sie im Bezug auf ihr vorheriges Gesprächsthema.

Will nahm einen Bissen Steak mit Sauce und ließ sich Zeit mit seiner Antwort. „Ich bin allergisch gegen Hunde und die scheinen das auch zu spüren", ließ er sie schließlich wissen. Er verzog das Gesicht als könnte er Hunde überhaupt nicht ausstehen.

Was ja auch stimmte. Die Viecher konnten ihn genauso wenig leiden wie er sie, und das hatte rein gar nichts mit einer Allergie zu tun. „Allerdings mag ich Katzen sehr."

Will hatte keine Ahnung, warum er das gesagt hatte. Seufzend gab er sich innerlich einen Tritt in den Katzenhintern. Wenn sie jetzt auf die Idee kam, ihm irgendwann ihren eigenen Kater vorzustellen, der ganz zufällig er selbst war, dann würde es Probleme geben.

„Ich kümmere mich öfters um die streunenden Katzen in meiner Nachbarschaft", ergänzte er in einem jämmerlichen Versuch, sich zu retten.

Toll. Jetzt musste er sich bei Jack dafür entschuldigen, dass er ihn einen Streuner genannt hatte.

Claire lächelte, überrascht von seinen Worten. „Das ist sehr nett von dir. Es gibt nicht viele Leute, die so etwas machen. Die meisten sehen Streuner nur als Ärgernis."

Will zuckte die Achseln. „Ich mag die kleinen Kerlchen und sie halten Ungeziefer von meinem Garten fern. Außerdem ist es nicht viel Arbeit, hin und wieder eine Schüssel Milch oder Futter nach draußen zu stellen."

Jack würde ihn umbringen. Will würde gleich morgen sein Testament schreiben.

Claire merkte, dass Will nun etwas stiller wurde, und nutzte die Zeit, um ihre Hauptspeise zu verzehren. Das Angebot einer Nachspeise lehnt sie mit den scherzhaften Worten, sie sei schon bei den Vorspeisen satt gewesen, dankend ab, und trank nur noch ihr Wasser aus.

„Dafür schulde ich dir Nachtisch für ein anderes Mal", versprach sie Will, während sie ihre Jacken vom Butler-Kellner entgegennahmen.

Schließlich gab Claire Will ihre Handynummer und ließ sich von ihm in ihre Jacke helfen.

An einem Tisch etwas von ihnen entfernt saß ein Paar, eine Blondine und ein rothaariger junger Mann, und warteten auf ihr Essen. Claire war aufgefallen, dass die Blondine Will seit geraumer Zeit ganz unverhohlen anstarrte, wohl hoffend, er würde zu ihr hinschauen. Als er den Blick schweifen ließ und die Blondine sah, räkelte sie sich aufreizend und warf ihm begehrliche Blicke zu. Claire konnte fast sehen, was sie in diesem Moment für Fantasien von sich und ihm hatte.

Du hast ein eigenes Date!, dachte Claire empört und fixierte sie mit verengten Augen. Finger weg von meinem, du billiges Stück!

Die Blonde besaß sogar die Frechheit, ihm zuzuwinken und ihr eigenes Date vollkommen zu ignorieren. Nachdem Claire und William mit dem Essen fertig waren, gezahlt hatten und das Restaurant gerade verlassen wollten, ließ sie kurzerhand ihren Begleiter sitzen und kam dreist zu ihnen herübergeschlendert.

„Hallo, du Süßer", gurrte sie Will ins Ohr und ließ schamlos einen Finger auf seiner Brust kreisen. „Hast du Lust, auf einen Drink mitzukommen?"

Was für eine Unverschämtheit! Claire wollte ihr in diesem Moment am liebsten die Extensions ausreißen. Jetzt konnte sie nicht mehr länger still sein. „Entschuldige, Schätzchen, aber du gehst jetzt besser zu deinem Date zurück, bevor dir seins die Augen auskratzt", fauchte Claire sie beinahe an und griff besitzergreifend nach Wills Hand

Die Blondine schnaubte verächtlich, schnippte sich teilnahmslos die Haare aus dem Gesicht und wandte sich wieder Will zu. „Also?"

Claire rauchte fast vor Wut über ihre Unverfrorenheit.

„Mit wem, mit dir und deinem Freund?" Will quittierte den geschmacklosen Annäherungsversuch mit einem amüsierten Lächeln. „Nein, danke, ich bleibe lieber bei meiner eigenen bezaubernden Begleitung." Mit diesen Worten zog er Claire an der Hand nach draußen und ließ die erboste Blondine stehen.

Claire konnte nicht widerstehen und warf ihr grinsend einen letzten, triumphierenden Blick zu. Sie unterdrückte den Impuls, ihr auch noch die Zunge herauszustrecken, und ließ sich von Will zum Auto geleiten.

 

Vor dem Donovan-Anwesen angekommen, half Will Claire aus seinem Wagen und spazierte mit ihr die Auffahrt hoch bis zur Haustür.

Claire konnte irgendwo im zweiten Stock Chloes Gesicht an eine Fensterscheibe gepresst ausmachen. Sie ignorierte ihre aufdringliche, neugierige Freundin und drehte sich zu Will, um sich zu verabschieden.

„Der Abend war wunderschön", flüsterte sie, weil sie ziemlich sicher war, dass das Fenster, an dem Chloe geklebt hatte, offen war.

Will lachte leise und schwenkte unbeholfen ihre verschränkten Hände, die irgendwo auf dem Weg vom Restaurant bis zu Claire nach Hause zueinander gefunden hatten. „Ich würde dich gerne wiedersehen, Claire."

Er schaute kurz zu Boden, bevor er weitersprach. „Ein guter Freund von mir gibt am Samstag eine Party. Es würde mich sehr freuen, wenn du kommen würdest."

Claire setzte gerade zum Sprechen an, da fügte er noch hinzu: „Du kannst deine Freundin gerne mitbringen."

Nun war es an Claire, zu lachen. „Kannst du Gedanken lesen? Ich wollte gerade sagen, dass ich am Freitag den Tag mit Chloe verbringe …"

Will schnaubte. „Du hast mir erzählt, dass sie bei dir übernachtet, hast du das schon vergessen?"

Grinsend winkte Claire ab. „Alles klar. Wir kommen beide. Ich glaube sie würde die Chance gerne nutzen, um dich zu verhören."

Will setzte eine gequälte Miene auf und beugte sich in gespielter Panik zu Claire hinunter.

„Lass nur nicht zu, dass sie mich auffrisst, okay?"

Noch während sie losprustete, presste Will ihr einen verstohlenen Kuss auf den lachenden Mund und machte sich auf, die Auffahrt breit grinsend hinunter zu joggen.

Kapitel 9 – William

 

Das Date war nahezu perfekt gewesen.

Wie ein schwüler, sonniger Sommertag, der dennoch ab und zu von kurzen Regenschauern getrübt wurde, nahezu perfekt war.

Während er die Auffahrt zu seinem Auto hinunterlief, ließ sich Will die Ereignisse der letzten paar Stunden erneut durch den Kopf gehen.

Claire hatte den ganzen Abend über förmlich gestrahlt. Ihre Gegenwart war für Will wie ein Meer aus funkelnden, irisierenden Lichtern gewesen, vergleichbar mit Hunderten, von Laserpointern erzeugten Lichtpunkten, die alle möglichen Glücksgefühle und Jagdinstinkte in seiner Katzenseite hervorriefen … die aber ab und zu von vereinzelten Schatten verdunkelt wurden.

Claire hatte glücklich ausgesehen, bis ihr zufällige Dinge ins Auge gefallen waren, die plötzliche traurige Erinnerungen hervorzurufen schienen und ihr Lächeln ersterben ließen. Der Korb mit Brotstangen, die der Kellner mit der Vorspeise brachte, schien sie besonders zu bedrücken, und für einen Moment hatte Will befürchtet, sie verloren zu haben, so entrückt hatte sie zu dem Zeitpunkt gewirkt.

Langsam begann er sich zu fragen, ob sie vor der Trauer und dem Kummer um den Tod ihrer Mutter nicht eine ganz andere Person gewesen war. Mit jedem weiteren verwundeten, verlorenen, kummervollen Ausdruck, der jäh in ihre Augen trat, wurden sein Wille und der Drang, sie zu beschützen, noch stärker als zuvor.

Und diesmal war es nicht nur sein inneres Kätzchen, das darauf brannte, das Rätsel, das sie für ihn darstellte, zu lösen.

Mit jeder weiteren kostbaren Information, die Claire im Laufe des Abends über sich offenbart hatte, hatte sie Will nur weiter für sich eingenommen. Ihre unglaublich facettenreiche Persönlichkeit faszinierte den menschlichen Teil Wills zu einem Grad, der über die natürliche Neugier, die zu seinen Katzenwesen gehörte, hinausging. Sicher, er genoss es sehr, als Captain Kitty um sie herum zu sein, weil er das Gefühl hatte, sein Kätzchen-Selbst half ihr sehr, sich mit ihren komplizierten Gefühlen über den Tod ihrer Mutter auseinanderzusetzen. Es gefiel ihm außerdem, ständig in ihrer Nähe sein zu können, auch wenn sie sich der Tatsache nicht bewusst war, sich einfach in ihre Berührungen schmiegen zu können, wann immer er wollte, ihr Trost zu spenden, wenn sie ihn brauchte, und – natürlich – ihrer besten Freundin Streiche zu spielen.

Die speziellen Aufmerksamkeiten, die er Chloe noch entgegenzubringen gedachte, waren mit seinen absichtlichen Besuchen im Tierheim zu vergleichen: je empörter die Reaktion der betreffenden Hunde – oder Chloe – auf seine 'Sticheleien', desto mehr Genugtuung und Spaß brachte ihm das. Ergo: Er wollte es nur noch öfter machen. Vielleicht ließ sich das in sein neues Leben als Haustier einbauen, als alternative Angewohnheit für die Tierheimbesuche, die öfter in seiner Gefangennahme geendet hatten, als ihm lieb war. Wie schaffte es die Besitzerin der Einrichtung mysteriöserweise auch jedes Mal, genau dann aufzutauchen, wenn er sich dort herumtrieb?

Will liebte die Beziehung, die ihn als Captain Kitty mit Claire verband, jetzt schon, auch wenn sie einander noch nicht so lange hatten und Claire nicht wusste, was oder wer ihr Kätzchen wirklich war, aber als Mensch konnte – und wollte – Will so viel mehr für sie sein als nur ein Haustier und flauschiges Trostpflaster.

Wenn sie ihn nur ließ.

Sollte sie wirklich seine Seelengefährtin sein, wovon er inzwischen fast vollkommen überzeugt war, würde er ihr nie wieder von der Seite weichen und all das für sie tun können. Und seine Tigergestalt wiederbekommen. Alles würde perfekt sein.

Nur, dass er ihr nicht sagen konnte, was er war und was sie für eine Rolle sie für ihn spielte.

Noch nicht.

Ebenso durfte nicht der leiseste Zweifel darüber bestehen, dass sie tatsächlich seine Gefährtin war.

Will wusste nicht, wie er in diesem Punkt völlige Gewissheit erlangen sollte, er kannte allerdings jemanden, den er fragen konnte.

Adrien. Seine Erwähnung brachte wieder Schatten in Wills Gedanken, die nach dem Treffen mit Claire geradezu vor Euphorie überflossen.

Stirnrunzelnd entriegelte Will seinen Wagen und setzte sich ans Steuer. Er hatte Adrien eigentlich keine negativen Gefühle entgegenzubringen, im Gegenteil, dieser war ihm damals wie ein großer Bruder erschienen. Allerdings verband Will sein plötzliches Auftauchen nach dem vermeintlichen Tod und die darauffolgenden Jahre, in denen er ihn verloren geglaubt hatte, nun mit den schmerzhaften Erinnerungen jenes Tages, die Will sogar in seinen Träumen nicht loswurde.

Er musste sich jedoch eingestehen, dass Adrien die einzige Quelle war, die er zu diesem Thema konsultieren konnte, da Jack noch immer erfolglos auf der Suche nach seiner eigenen Gefährtin war. Er kam also nicht um ein weiteres baldiges Treffen mit ihm herum, egal wie ungern er die Vergangenheit wieder aufleben lassen wollte.

Als Will den Motor anließ, schaute er in den Himmel, wo sich bereits orangefarbene und rote Schlieren wie lange, dünne Finger über das Blau der Dämmerung erstreckten.

Er fasste einen Entschluss. Wenn er sich schon nicht weiter vor der Vergangenheit flüchten konnte, würde er sie immerhin noch eine Nacht warten lassen.

Jetzt dachte er lieber weiter an Claire, während er losfuhr, und wann er sie das nächste Mal wiedersehen würde. Auf der Party seines –

Er hatte kaum angefahren, da bremste er scharf und starrte entsetzt vor sich auf das gepflasterte Ende der Einfahrt.

Verflucht, was hatte er getan?

Er hatte sie auf eine Party eingeladen, die weder existierte noch bereits geplant war, von einem Freund, Jack, der nicht einmal wusste, dass er eine Party geben würde … bis Will es ihm erzählen würde.

Jack würde ihn gleich zweimal umbringen. Vorausgesetzt Will konnte ihn überzeugen, die Party wirklich steigen zu lassen.

Seufzend machte Will sich auf den Weg nach Hause, mit dem festen Vorsatz, sich morgen mit all seinen Problemen auseinanderzusetzen.

Adrien, Jack … und alle weiteren Dinge, die ihm das Katzenhirn zerbrachen.

 

Die Nacht nahte ihrem Ende, als eine kleine Armee verhüllter Gestalten lautlos durch die Wälder um den Snoqualmie Pass strich.

Tief im Gebüsch blitzten grüne Augen trotz der tiefen Dunkelheit hell auf, als er sich mit seinen drei Begleitern dem Zielort näherte.

Das Dorf, das in dieser Nacht ihr Ziel sein würde, befand sich den Anweisungen zufolge in dem Tal jenseits der Bergkette, die sich direkt vor ihnen befand.

In wenigen Minuten würde er seinen ersten Auftrag ausführen.

Er war angespannt, nervös angesichts der Tatsache, dass er zum ersten Mal an einer solchen Mission teilnahm. Dennoch konnte er das schreckliche Gefühl, dass etwas ganz falsch war, nicht loswerden.

Als er sich mit seinen Kameraden, die ihm so nah standen wie Brüder, durch das Dickicht schlug, das ihm trotz seines Unwissens über die Gegend, in der sie sich befanden, seltsam vertraut vorkam, versuchte er seine Sinne auf das zu konzentrieren, was vor ihm lag.

Fledermäuse, die über ihnen durch die Luft schwirrten, auf bizarre Weise genauso auf der Jagd nach Beute, wie er es war. Eulen, die hoch oben in den Ästen der Tannen saßen und mit ihren sanften Rufen, die ihm überaus bekannt vorkamen, sein Unbehagen nur noch weiter steigerten.

In einem vergeblichen Versuch, seine Nerven zu beruhigen, sog er tief die Waldluft ein, die den herben Duft von Kiefernharz und Wildblumen mit sich trug.

Das Gefühl der Vertrautheit verstärkte sich. Die Wälder seines Heimatdorfs beherbergten die gleichen Pflanzen, die gleichen Tiere.

Er wusste, dass sie laut der Landkarte, auf der ihnen die Ausmaße des Auftrags verdeutlicht wurden, auf der anderen Seite des Snoqualmie sein mussten, weit entfernt von ihrem Dorf. Dennoch …

Er umging einen Busch, unter dem er ein Stinktier witterte, und erreichte endlich die Krone des Hügels, hinter dem das Tal liegen musste.

Sobald sein Gehirn erkannte, worauf seine Augen blickten, entwich aller Sauerstoff aus seinen Lungen.

Sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht. Vor ihren Augen stand ihr eigenes Zuhause in Flammen.

Wie geschlagen riss er den Kopf herum, um seine Begleiter anzustarren, die genauso schockiert aussahen wie er, bevor er lospreschte.

Keiner konnte ihn stoppen, als er den Abhang hinunter und den brennenden Hütten entgegenrannte, sich an jedwede Hoffnung klammerte, diese zu retten.

Von dort, wo ihm der Rauch der Feuer bereits in den Augen brannte, klangen ihm Schreie von Panik, Hysterie und Schmerz entgegen. Irgendwo hörte er Kinder weinen und Katzen - groß und klein - jaulen und knurren.

Sein eigener Tiger wollte auf die Klagelaute antworten, helfen, den Schmerz seiner Familie zu lindern, und die Gefahr abwenden, also ließ er ihn an die Oberfläche, um seinem Heimatdorf zur Hilfe zu eilen.

Nun auf vier mächtigen Pfoten, an denen das silber-schwarze Fell den Schein der vielen Feuer auf unheilverkündende Weise reflektierte, hob er den Kopf und brüllte seinen eigenen Zorn und das Gefühl, verraten worden zu sein in das Tal hinaus.

Ein Nebel aus Blut, Rauch und noch mehr Schreien folgte, als er sich den Verrätern entgegenstellte. Er kämpfte mit Krallen und Zähnen, tötete zum ersten Mal aus unbestreitbarem Grund, nachdem sich seine ganze Ausbildung und alle Leben, die er in jeder Zeit genommen hatte, als Lüge entpuppt hatten.

Er verlor die Orientierung und jeden Sinn für Zeit, wusste nicht, ob seine drei Freunde noch lebten und welcher Seite sie sich angeschlossen hatten. Irgendwann fand er sich in Menschengestalt wieder, mit Klingen bewaffnet, die nicht seine waren, mit fremden Blutspritzern und Fellbüscheln bedeckt, die von seinen Taten kündigten.

Plötzlich geschahen grässliche Dinge. Männer und Tiere gleichermaßen, deren Inneres nach außen gekehrt wurde, oder die scheinbar willentlich in die Flammen traten und sich von ihnen verschlingen ließen. Kämpfer, die sich abrupt gegen ihre eigenen Kameraden stellten, anstatt ihre Gegner zu bekämpfen, wie sie es Sekunden zuvor noch getan hatten.

Als sein Blick den grünlichen Schwaden folgte, die sich um jene grausigen Geschehnisse schlängelten, ihm jedoch fernblieben, bemerkte er, dass die Chytala, die Schamanin des Dorfs, auf dem Dach einer der wenigen unversehrten Hütten stand und mit ihrem grün leuchtenden Amulett die tödlichen Schwaden zu lenken schien.

Sobald die Herzen aller Angreifer in unmittelbarer Nähe verstummt waren, richtete sie ihre zweifarbigen Augen, grün mit glühenden Goldsplittern, auf ihn.

Er wusste nicht, ob sie durch ihre Beobachtung erkannt hatte, dass er keine schlechten Absichten trug, eher geholfen hatte, das Dorf zu verteidigen, oder ob sie ihn genauso zum Tode verurteilen würde wie die anderen.

Er fürchtete in dem Moment um sein Leben.

Doch statt seines ebenfalls zu nehmen, hob sie das Amulett in ihren Händen an ihr Auge und schaute durch den mit einem Mal durchsichtig gewordenen Stein, in dem zuvor noch grünes Licht geflackert hatte.

Und dann sprach sie.

 

Lauscht euren reinen Herzen und hört,

Was die Ruhe von reinen Seelen stört

Nur wer versteht der Wahrheit Gesuch,

Findet den Weg aus den Fängen des Fluchs."

 

Während er sich damit abmühte, zu verstehen, was ihre rätselhaften Worte bedeuten sollten, wurde sein Blick wieder zum Amulett gezogen.

Die Chytala senkte den Stein, der nun hellrot in ihren Händen zu glühen begann. Das Leuchten intensivierte sich zu dem gleichen Blutrot, das seine Haut bedeckte, bevor es wieder zu dem blasseren Farbton verglühte. Das wiederholte sich einige Male, bis er schließlich verstand, warum es ihm bekannt vorkam. Es sah fast aus wie ein schlagendes Herz.

Im Takt dieses grotesken Pochens stimmte sie weitere kryptische Worte an, die beinahe wie ein Gedicht klangen.

 

Fluch, binde die dritte Natur,

Gewähre den Weg des Herzens nur

Wenn Licht nur vermag, die Augen zu trüben,

Wird Dunkel zwei Seelen zusammenfügen

Die Schuld nicht getilgt,

Der Schmerz nicht verblasst,

Nur Reue befreit von der düsteren Last

Erst wenn zwei Hälften eines Ganzen sich finden,

Wenn sich Leben und Leben zu einem verbinden,

Werden Seele und Herz im Einklang sich regen

Der Tiger erwacht,

Der Fluch wird zum Segen."

 

 

Fast zeitgleich spürte er etwas in sich schwinden, wie ein Ballon, aus dem die Luft gelassen wurde. Atemlos ging er in die Knie, als ihn ein plötzlicher Schwindel traf.

Fluch? Binde die dritte Natur? Der Tiger erwacht?

Sein Herz setzte einen Schlag aus, ein schrecklicher Verdacht stieg in ihm auf.

Fluch?", schrie er der alten Hexe entgegen, der Stein in ihren Händen jetzt nur noch kalt und finster. Jede Faser seines Wesens leugnete die Wahrheit, die sein Verstand schon längst begriffen hatte. „Du kannst mich nicht verfluchen, ich bin einer von den Guten!"

Als er versuchte, den Tiger herauszulassen, jedoch nur eine taube Leere dort fand, wo dieser sonst war, spürte er eine Welle von hysterischem Gelächter in sich aufsteigen. Mit vor Rauch und Tränen brennenden Augen schluckte er es hinunter und ließ stattdessen Hohn in seine Stimme einfließen. „Ich habe bei der Rettung des Dorfs geholfen! Warum werde ich dafür bestraft!? Ihr solltet mich belohnen!" Jetzt konnte er seine Hysterie nicht länger unterdrücken.

Sein Tiger war fort. Die verrückte Chytala hatte ihn verflucht, obwohl er sich gegen die Verräter gestellt hatte.

Er schaute hilflos zu, wie sie sich umdrehte und verschwand, ihn in seiner Misere allein zurückließ.

Er bemerkte die Bewegung aus dem Augenwinkel erst, als es zu spät war, und ein Speer aus Feuer in seine Seite eindrang.

Brüllend schrie er seine Pein, den körperlichen und seelischen Schmerz über den Verrat und den Kummer über den verlorenen Teil seiner Selbst in die Welt hinaus, heulte anklagend die aufgehende Sonne an, die die Welt in Licht tauchte, während seine Welt in Dunkelheit ertrank.

 

Als Will sich in dem dämmrigen Zustand zwischen Traum und Wachsein befand und sich schwitzend hin und her wälzte wie jedes Mal nach diesem Albtraum, der ihn nie losließ, schlich sich die Stimme der Chytala ein weiteres Mal in seinen Verstand.

Er erinnerte sich nicht an diesen Teil des Fluchs aus seiner Vergangenheit, war sich ziemlich sicher, dass er ihn zum ersten Mal hörte. Dennoch klangen die Worte anders, mehr wie eine Prophezeiung als eine Fortführung des Fluchs. Unheilvoll und mysteriös und sehr elementar.

Irgendwie wusste Will, dass der Inhalt der Worte, was auch immer sie bedeuten und wofür auch immer sie stehen mochten, unmittelbar bevorstand.

 

Gerahmt von Gift und Blut und Glut

Siegt einer durch List und einer durch Mut

Die Hand des Verrates, die Blut vergießt

Muss brechen das Schloss, das Liebe verschließt.

Impressum

Texte: Kamizuka
Tag der Veröffentlichung: 20.05.2012

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