Karte von Nardújarnán:
Karte von den Sümpfen, Rardisonan und Ramit:
Vorwort des Herausgebers
Dies sind die gesammelten alten Briefe, Berichte und Tagebuchaufzeichnungen des Helden Falerte Khantoë aus Ayumäeh in Ramit, der vor gerade mal einer Woche ruhmreich doch traurigerweise bei der Schlacht von Illort im Kampfe gegen die Hochfestungen sein Leben ließ. Diese Sammlung zeigt, wie früh sich die Hochfestungen bereits rührten und das nicht nur in Lurruken. Zwar wussten viele bereits seit langem von ihnen, doch glaubte ihnen niemand – nun kann man nichts anderes mehr als wissen.
Falerte Khantoë war einer von diesen, die ihr Leben dem Kampfe gegen die Bedrohung verschrieben. Nun ist er gestorben und bereits die halbe Welt verwüstet. Nutzen mag dieses Buch aber noch bringen, da es Schwächen der Hochfestungen aufzeigt. Schwächen, von denen die Anhänger von Tól und Omé bereits seit Jahrtausenden hätten wissen müssen.
Die Veröffentlichung erfolgt unter Genehmigung von Accilla Scazi, der Mutter Khantoës, welche seine erste Reise bereits einmal veröffentlicht hatte. Natürlich glaubte auch zu diesem Zeitpunkt niemand dem Inhalt sondern sah es als Unterhaltungslektüre.
An alle die dies noch zu lesen vermögen: die Welt ist noch nicht verloren und der Widerstand hält an!
Solero y Cyprilla, Toljidarin
Karison, Ojútolnán, 09.10.3999
Anmerkung: Einige der Briefe und Tagebucheinträge wurden an Stellen, welche nun wirklich nur die Betroffenen etwas angehen, gekürzt. Andere Stellen, vor allem die Tagebucheinträge, wurden der erleichterten Lesbarkeit zugute umgeschrieben.
I: Brief an den Vater
Sommer 3978, Irgendwo in den Sümpfen von Emadé.
Werter Vater,
Nuref, mein Onkel, euer Bruder, und Mhadal, sein Sohn, euer Neffe, sind tot. So wirklich begreife ich dies erst jetzt. Und trotzdem verstehe ich noch nicht genau, wie es dazu kam. Nun ist das erste Mal, dass ich mich ausruhen und über alles nachdenken kann. Jetzt erst bemerke ich so wirklich ihren Verlust und was geschehen ist. Ich möchte euch schildern, wie es dazu kam, da ich hier noch nicht sobald fort kann. Die Gründe erläutere ich euch sogleich noch.
Anfangs verlief unsere Reise völlig gewöhnlich. Wir waren nach Rees in Machey gefahren um die Geschäfte zu tätigen. Im Sommer, vor wenigen Wochen, verließen wir Rees wieder. Wir nahmen den selben Weg zurück gen Ayumäeh und kamen an den Rand dieser Sümpfe.
Kurz nach Peridé, also knapp vor Beginn der Sümpfe, begegneten wir den Landwächtern. Wir hatten schon öfter Landwächter als Begleitschutz und als Führer angeheuert, doch immer nur in den Städten. Diesmal, auf dem Rückweg, hatte Nuref darauf verzichtet. Der Grund war der Übliche: sein Geldmangel. Auch meinte er, dass uns in Rardisonán schon nichts geschehen würde. Die Landwächter nun, eine Gruppe von vielleicht zwölf Leuten, trafen wir an der großen Kreuzung, an der man sich für den Weg durch die Sümpfe nach Belané oder an ihnen vorbei nach Osten, gen Rardisonan entscheiden musste. Nuref hatte letzteres vor. Doch diese Landwächter! Sie grüßten uns bei unserer Ankunft und Nuref erkundigte sich bei ihnen nach Neuigkeiten. Sie sagten, dass der Weg gen Ost versperrt sei, dass sich dort eine Bande Räuber herumtreibe. Die Landwächter würden gerade auf Verstärkung durch die Einheiten von Peridé warten, um dann gegen sie vorzugehen.
Natürlich erklärte Nuref ihnen etwas von einem wichtigen Auftrage, den er in eurem Namen ausführen müsse und dass wir es eilig hätten, einen Hafen zu erreichen, um von dort nach Ayumäeh heimkehren zu können. Die Landwächter schienen zu überlegen, sich zu beraten. Schließlich erklärten sie uns, dass wir unmöglich gen Osten könnten, aber vielleicht zurück nach Peridé und von dort nach Westen. Aber das lehnte Nuref ab – und genau das hatten sie vermutlich auch erwartet. Nuref sprach, wir müssten dann eben mitten durch die Sümpfe nach Belané; wir würden den Weg schon finden, wir waren ja schon einmal in den Sümpfen gewesen. Die Landwächter schien dies zu entsetzen. Schnell schlugen sie vor, dass die Hälfte von ihnen uns begleiten würde, zumindest durch die gefährlicheren Gebiete. Hier sprach Nuref schließlich, dass wir nicht das nötige Geld hätten, doch sie winkten nur ab und erklärten, unsere Sicherheit sei nun wichtiger.
Und so kam es, dass sechs dieser Landwächter uns durch die Sümpfe gen Belané leiteten. Oder so dachten wir zumindest, denn es kannte sich niemand von uns wirklich in den Sümpfen aus. Nach fünf Schritten hätten wir, die wir uns auf dem Meer stets zurecht finden, uns hier hoffnungslos verirrt. Deshalb fiel auch niemandem auf, dass wir allmählich von dem eigentlichen Pfad abkamen. Zu spät bemerkte Mhadal, dass wir immer weiter gen Osten statt nach Norden gingen. Da kamen sie auch schon von allen Seiten: die falschen Landwächter hatten gut drei Dutzend weiterer Banditen zur Verstärkung und fielen über uns her. Wir hatten kaum Zeit uns zu wehren. Ich schätze, ich war auch einer der Ersten, die es traf.
Es war irgendwann in der Nacht, als ich wieder erwachte. Zunächst wusste ich nicht, wo ich mich befand. Und das war nur gut so, denn es sollte mich noch Grauenvolles erwarten. Vater, könnt ihr euch vorstellen, wie schrecklich es war, als ich mich da blutbefleckt und mit schmerzendem Kopf in einem Loch voll Brackwasser wiederfand und als erstes neben mir die schwimmende Leiche meines Vetters Mhadal erblickte? Ekel, Abscheu, Furcht und gleichzeitig tiefe Trauer und Pein trafen mich. Doch zunächst floh ich einfach nur aus diesem Loch. Danach stieß ich auf die Trümmer unserer Wagen. Einige waren so stark zerstört, dass ich nicht mehr feststellen konnte, welches Teil zu welchem Wagen gehörte. Das galt nicht für unsere Leute, welche überall verstreut lagen, wo auch immer sie gerade erschlagen worden waren.
Als ich Nuref fand, kniete ich neben ihm nieder und versank in Tränen. Es verging eine ganze Weile, bis ich mich genug gefasst hatte, mir das Unglück genauer anzusehen. Bald fiel mir auf, dass einige Wagen ganz fehlten, bei anderen nur der Inhalt. Man musste sie gestohlen haben. Ebenso vermisste ich viele der Toten, vor allem die meisten unserer Frauen. Ich befürchte, man wird sie verschleppt haben. Doch hoffe ich auch, dass einige flüchten konnten und dann schon längst bei euch wären. Wenn dem so ist, dann haben sie euch vermutlich erzählt, ich sei auch tot, denn so muss es für sie ausgesehen haben. Aber so oder so wisst ihr durch diesen meinen Brief nun, dass ich lebe und auch bald zurück kommen werde.
Ich fühlte mich nach diesem unglücklichen Erwachen körperlich und geistig noch nicht sehr wohl, doch nahm ich mir genug Kraft und Zeit, die Toten zu begraben. - Ich weiß, diese Sitte gefällt dir nicht, doch wurde ich immerhin in Omérian erzogen und dort ist dies Brauch. Ich weiß nicht, woher ich all diese Kräfte nahm, doch ich ruhte mich auch nach dieser Tat noch nicht aus. Nuref hatte uns allen mehr als eindringlich geschildert, wie wichtig diese Waren in den Wagen für euch wären und dass sie unter allen Umständen Ayumäeh erreichen müssten. So durchsuchte ich die Trümmer der Wagen und ihre Umgebung – nach den Waren, aber auch nach Nahrung und Verbandszeug für mich. Enttäuscht musste ich aber feststellen, dass sich nichts von alledem finden ließ.
Zu allem Überfluss wurde es nun auch langsam dunkel und ich wusste nicht, wohin. Doch ich musste von diesem Ort fort, schon alleine für den Fall, dass diese falschen Landwächter noch einmal zurückkehren würden. Ich stolperte also eine Weile voran, darauf achtend, die Sonne links von mir zu haben, um nach Norden zu gelangen. So geriet ich allmählich tiefer in den Sumpf. Und als es völlig dunkel wurde, ließ ich mich an einem trockenen Flecken unter einem Baum nieder. Ich muss in dieser Nacht in ein Fieber gefallen sein, zumindest erinnere ich mich nicht mehr an die darauf folgenden Ereignisse.
Als ich endlich wieder erwachte, lag ich bedeckt doch entkleidet auf einer Strohmatratze. Es war eine kleine, selbstgezimmerte Hütte mit größtenteils notdürftiger Einrichtung, soviel konnte ich sehen. Es gab eine kleine Feuerstelle, einen Tisch samt Stuhl, sonst nur Strohlager wie diese Matratze auf der ich lag. Mir selber waren alle Wunden derer ich überraschend zahlreich hatte verbunden worden. Da mir wohl niemand etwas Böses wollen würde, der mich gerettet und verbunden hatte, legte ich mich bald wieder hin und schlief ein.
Ich erwachte das nächste Mal, als mir kaltes Wasser auf die Stirn getupft wurde. Es war hell im Raum; es musste Tag sein. Neben mir kniete eine Gestalt. Bald stellte sich heraus, dass es ein alter Einsiedler war. Der Mann sah aus, wie man sich einen von höheren Lebewesen entfremdetes vorstellt: wildes Haar samt Bart, behelfsmäßige, doch dem Wildnisleben angepasste Kleidung – nun, die genaue Beschreibung wird für euch nicht so notwendig sein. Die ersten Stunden sprach er nicht viel mit mir. Nachdem ich mich gut genug erholt hatte, ihn endlich mit meinen Fragen zu bedrängen, konnte ich nicht viel erfahren. Er nannte sich schlicht Puidor, also Fischer. Einst war er wohl in die Sümpfe gekommen, sich hierher zurückzuziehen, fern der anderen, um allein mit und in der Natur zu leben.
Es war vor zwei Tagen, dass ich hier aufwachte. Seitdem habe ich mit dem ruhigen alten Puidor so manch gutes Gespräch geführt, doch fiel mir letztlich ein, dass ich euch einen Brief schicken sollte, solange ich noch nicht selber abreisen kann. So schrieb ich euch nun in den letzten Stunden diesen Brief und sollte auch bald zu einem Ende gelangen. Alle Einzelheiten, die für euch noch wichtig sind, könnt ihr mich dann selber fragen. Ich bin noch nicht weit genug genesen um reisen zu können, so Puidor, doch in ein paar Tagen wird es soweit sein. Er selber aber wird den Brief in die nächste Siedlung bringen, versprach er mir. Und sobald ich kräftig genug bin, gehen wir nach Belané, wo ich ein Schiff nehmen und heimkehren werde. Ich vertraue auf Puidor, auch wenn ich selten jemandem vertraue; in dieser kurzen Zeit ist er mir ein guter Freund geworden. Ich hoffe, ihn überzeugen zu können, mit heimzukehren. Vielleicht werde ich ihn euch dann vorstellen können.
Bis dahin, euer Sohn Falerte
II: Brief an die Schwester
Frühjahr 3979, Ayumäeh.
Geliebte Schwester,
seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, ist einiges geschehen. Und kaum etwas davon zum Guten. Soweit ich mich entsinne, war unser letztes Treffen im Sommer, kurz nach meiner Heimkehr aus Rardisonán, wo es das Unglück mit Onkel Nuref gab. Damals hattest du nur die oberflächlichen Geschehnisse mitbekommen. Lass mir dir erzählen, was hinter den Kulissen hier noch geschah...
Du warst dabei und wirst dich sicher noch daran erinnern, wie glücklich mein Vater zu sein schien, mich lebend wiederzusehen. Doch das war es auch bereits. Er erwähnte keinen Brief, der ihn erreicht hätte, im Gegenteil: er schalt mich, weil ich ihm nicht geschrieben hätte. Ich hatte dir ja aber erzählt, dass ich dem Einsiedler namens Puidor den Auftrag gegeben hatte. Warum hatte er es nicht getan?
Wie auch immer, bereits einen Tag später, nach deiner Abreise, fing mein Vater wieder damit an, wie froh er doch über mein Wohlbefinden sei, dass das Geschäft durch diesen Umstand weiter fortbestehen könnte. - Ja, das Geschäft! Wie immer galt sein erster Gedanke nur dem Geschäft! Dass ohne mich das Familienunternehmen untergehen würde. Nuref und das Unglück der Sümpfe schien ihm längst vergessen. Ebenso, dass ich nicht den geringsten Hang zum Unternehmertun habe. Aber auf ihn einzureden brachte da nichts, selbst wenn ich sagte, dass ich nicht fähig genug sein würde, das Geschäft erfolgreich fortzuführen. Das schien er nie zu hören. Du weißt ja, wie er ist.
Du weißt auch, dass ich mich schon immer mit anderen Dingen beschäftige und das Einzige, was mich bisher an den Tätigkeiten meines Vaters teilhaben ließ war die Möglichkeit meiner Reisen. Und nun wollte er mir auch genau das noch verbieten: Er sprach tatsächlich davon, dass ich als sein einziger Sohn und Nachfolger auf mich aufpassen müsse, dass er mich fast verloren hätte, dass ich mich – oder vielmehr die Nachfolge und das Geschäft – nicht gefährden dürfe. Er wollte mir schlicht alle Reisen verbieten und mich bald in ein dunkles Kämmerlein irgendwo im Handelshaus einsperren, wo man mich dazu ausbilden solle, das Geschäft später einmal zu führen. Stell dir das vor! Ich, eingesperrt, statt frei in der Welt!
Du kennst mich; du weißt, dass ich mir das nicht gefallen lasse und schon oft wegen Ähnlichem und vielen anderem Zwist mit ihm hatte. Doch das nun ging zu weit. Er sah mich ein paar Tage lang nicht mehr daheim, denn ich trieb mich fortan bei meinen Freunden in der Stadt herum. Ich muss dir kaum erzählen, welch gewaltigen Streit es zwischem meinem Vater und mir gegeben hatte, als ich wiederkam. Er drohte mir mit allem möglichen, vor allem aber damit, mich ein- und wegzusperren. Und anfangs unterwarf ich mich dem, brach jedoch auch schnell damit.
Manchmal glaube ich, du hast das bessere Schicksal von uns erwischt, als du unserer Mutter mitgegeben wurdest und ich das schlechtere, dass ich bei meinem Vater blieb. Wie auch immer, ich halte es nun hier nicht mehr aus! Du weißt, es gibt noch viel mehr Ärger zwischen ihm und mir und ich werde dich nicht mit dem langweilen, was du schon längst weißt. Deshalb will ich dir nun nur noch von meiner endgültigen Entscheidung berichten:
Ich gehe von hier fort. Diesen Brief schreibe ich gerade hier am Abend. Ja, es gab vorhin einen erneuten Streit; und das bloß wegen der zukünftigen Farbe des Zaunes! Vielleicht mag meine Handlung übereilt sein, doch das glaube ich nicht; ich habe den letzten Monat viel darüber nachgedacht. Morgen früh bei Sonnenaufgang gehe ich mit meinem spärlichen Gepäck zum Hafen. Diesen Brief sende ich dir zu, damit du weißt, was geschehen ist und handeln kannst, sollte ich dir nicht in einigen Wochen erneut schreiben. Ich selber werde ein Schiff nach Belané nehmen. In den Sümpfen werde ich Puidor suchen und zunächst bei ihm bleiben. Auch will ich von ihm wissen, was mit dem Brief damals geschah.
Was ich danach mache, weiß ich noch nicht, doch ich werde dir davon erzählen. Vielleicht komme ich euch ja auch mal besuchen. Wir werden sehen. Zunächst möchte ich etwas von der Welt sehen, etwas erleben!
Pass auf dich auf,
dein Falerte
III: Nachricht für Puidor
Frühling 3979, Irgendwo in den Sümpfen von Emadé.
Werter Puidor.
Mein lieber Freund. In den letzten Monaten schrieb ich viele Briefe an dich, doch sandte ich nicht einen davon ab, da sie dich vermutlich nicht erreicht hätten. Ich werde sie zusammen mit diesem Brief in deiner Hütte belassen. Genau dort sitze ich und hoffe immer noch, dass du erscheinst, während ich ihn schreibe. Die genauen Erklärungen, warum ich wiedergekommen bin, findest du in den anderen Briefen. Ich habe nun bereits eine ganze Woche auf dich gewartet, doch länger kann ich es nicht mehr hinauszögern; meine Vorräte neigen sich dem Ende.
Ich bin vor meinem Vater geflohen, da ich es mit und bei ihm nicht mehr aushielt. Ich hoffte, eine Antwort zu finden, was genau ich nun tun soll. Vielleicht hat diese Wartezeit aber bereits ihre Hinweise gegeben. In Belané hörte ich, dass sie in Rardisonan nach neuen Anwärtern suchen. Sobald ich hiermit fertig bin, werde ich dort hingehen. Ich hoffe sehr, du kommst mich eines Tages besuchen. Wir haben noch viele Gespräche, die wir fortsetzen müssen. Wünsche mir Glück, dass es mir in Rardisonan besser ergeht als in Ayumäeh. Ich werde dir nicht schreiben können aus den oben geschilderten Gründen. Melde dich.
Bis bald,
Falerte
IV: Brief an die Schwester
Frühjahr 3979, Rardisonan.
Geliebte Schwester.
wie ich dir das letzte Mal schrieb, melde ich mich hiermit wieder. Ich hoffe, es geht dir gut. Mit diesem Brief sende ich dir meine neue Anschrift, dorthin kannst du deine Antworten schicken. Wie du siehst, bin ich nun in Rardisonan. Leider alleine, denn Puidor habe ich nicht antreffen können, obwohl ich gut eine Woche in seiner Hütte auf ihn gewartet hatte. Das war vor einem Monat und obwohl ich ihm Briefe mit meinen Plänen hinterlassen hatte, ist er seitdem nicht hier aufgetaucht. Ich hoffe, er meldet sich noch. Wie du auch siehst, ist meine Anschrift die Guigans, die Blutsteine, die aber lange nicht so blutrünstig sind, wie ihr Name vermuten lässt. Lass mich dir erzählen, wie ich hierher kam:
Bei meiner Ankunft in Belané hörte ich bereits, dass man Anwärter suche. Doch hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht das Verlangen, einer zu werden. Mein einziges schwaches Ziel im Geiste war die Besichtigung fremder Länder – und die Abschüttelung des Jochs meines Vaters. Insofern wusste ich eigentlich auch überhaupt nicht, was ich in Rardisonan nun tun sollte. Ich konnte mich gerade noch so dorthin durchschlagen, doch ab Rardisonan selber stand ich bar aller Mittel da. Ich betrat also die Stadt und hatte die Schwierigkeit, mir Geld oder Nahrung oder Arbeit – oder alles zusammen – zu besorgen. Es war Mittag an dem Tag an dem ich ankam und meine letzten Vorräte hätten nur noch bis zum Abend gereicht. Und Geld hatte ich in meiner maßlosen Dummheit bei meiner Flucht von Daheim nicht genug mitgenommen. Ich verbrachte den ersten Tag mit der Suche nach Arbeit für Geld, Nahrung oder Unterkunft, lernte dabei bereits einen Teil der Gassen und Kanäle der Stadt kennen, vor allem aber die Unfreundlichkeit einiger ihrer Einwohner: teils wurde ich beleidigt, teils trat man gar nach mir. Natürlich machten das nur die wenigsten und vermutlich hatte ich die Falschen gefragt, doch in Ayumäeh wäre mir dies wohl nie geschehen.
Natürlich fand ich den Tag nicht was ich suchte, wie du dir denken kannst, und verbrachte bald die Nacht in einer Scheune, die ich unverschlossen fand – und aus der ich morgens sehr unfreundlich wieder herausgeworfen wurde. Damit begann dieser Tag bereits sehr vielversprechend, doch vor allem sollte es dabei nicht bleiben. Denn mittlerweile stand ich ohne Nahrung da und all meinen Bemühungen zum Trotz sollte ich auch an diesem Tag keinen Erfolg haben.
Du weißt, ich bin verwöhnt, ich gebe es zu, immer etwas zur Verfügung zu haben und nicht viel dafür tun zu müssen, und so waren diese Umstände sehr schnell sehr unangenehm für mich. Es war gerade erst Nachmittag und schon plagte mich aufs Schlimmste der Hunger. Als ich dann auch noch zufällig auf den Marktplatz gelangte, dort ein unermessliches Gedränge herrschte und sich die Gelegenheit ergab... - nun, ich will es nicht ausschreiben, ich schäme mich zutiefst für diese Tat, dass ein Händler – nein, mehrere Händler – sich zuweilen über den Verbleib ihrer Waren wundern mussten. Ich schwor mir aber schnell, es ihnen wieder gut zu tun und mittlerweile arbeite ich auch bereits daran. Wie auch immer, auf diese unredliche Weise schaffte ich es mich für einige Tage durchzuschlagen. Doch dass dies nicht die Lösung sein konnte, war mir schnell klar.
Da sich nach einer Weile immer noch nichts besseres ergab, nicht einmal die kleinste einfache Arbeit für mich und ich nun schon öfter in die Nähe der Guigans gekommen war, tat ich bald den letzten vernünftigen Schritt: Eines Morgens fragte ich am Haupttor der Guigans, wo und wie ich mich einschreiben könne. Der Torwächter wieß mich hinein, wo ich gleich am Eingangshaus in einem kleinen Zimmer dem wachhabenden Hauptmann, einem Jinn namens Gajandó, vorstellig wurde, welchen ich nun stetig sehen soll, denn er leitet auch die Ausbildung.
Der Jinn - ein dunkler Mann in seinen besten Jahren mit der für die Armee unverkannbaren Mischung aus halblangem Haar und Kinnbart – hielt ein längeres Gespräch mit mir. Warum ich mich melden würde, was ich erwarten würde, wie es wirklich sein würde und was es mir bringen könnte. Letztlich unterschrieb ich, mit dem Ziel, nach der Ausbildung meine Zeit in einer Guigans zu verbringen – etwas anderes wurde nicht angeboten. Mittlerweile bin ich gar nicht mehr so sehr ein Gegner der Kampfkunst wie früher noch. Ich erhielt ein Zimmer, meine Ausrüstung, mehrmals täglich Mahlzeiten und so fort. Dafür musste ich noch gleich am selben Tag an der Ausbildung teilnehmen. Unser Kampfausbilder war und ist ein Caris namens Duimé, der uns seitdem täglich körperliche Betätigung lehrt. Hierbei nahm er auf mich als Anfänger kaum Rücksicht, doch habe ich es irgendwann geschafft, zu den anderen aufzuschließen. Und ich wage zu sagen, dass ich mittlerweile mit zu den Besten in der Ausbildung gehöre. Zumindest hat der Jinn Gajandó mir das gesagt, denn der Caris Duimé ist immer nur hart und fordernd zu uns. Vermutlich gehört das halt zu seinen Aufgaben.
Nun, ich muss jetzt aufhören, wir haben hier einen täglichen Briefdienst, der bald aufbrechen wird. Ich hoffe auf Antwort von dir. Was ist nun in Bezug zu deiner Vermählung? Vielleicht würde ich es schaffen, zu kommen. Und was gibt es weiterhin Neues? Hat sich Vater schon gemeldet? Lass ihn nicht wissen, wo ich bin!
Dein Falerte
V: Bericht von Ariz Gajandó über die Ausbildung in der Guigans Rardisonan
09. 03. 3979, Rardisonan.
Der Jinn Gajandó gibt hiermit Bericht über den Fortschritt der Ausbildung in der Guigans Rardisonan. Wie angefordert besonders bezüglich der Einsatztauglichkeit.
In den vergangen Monaten haben sich genug Lehrlinge als für den Einsatz tauglich erwiesen. Hervorheben möchte ich hierbei besonders die Leistungen der Kämpfer Muiril Enfásiz y Calerto, Oljó y Becal, Couccinne Carizzo aus Amacco in Omérian und Jimmo, der seine Herkunft aber nicht klar macht. Einige haben länger gebraucht, andere sind erst seit wenigen Wochen bei uns.
Im Ganzen haben also wir gut zwanzig brauchbare Kämpfer, welche sich auch für Hinterlandeinsätze eignen. Der Großteil davon stammt nicht aus Rardisonán. Viele haben eine zwielichtige Vergangenheit oder verraten sie erst gar nicht. Dies entspricht den gestellten Anforderungen. In Nardújarnán werden sie leichter zu beherrschen sein als im umkämpften Rinuin oder hier in der Heimat, wo sie Unheil anrichten könnten. Sie werden als für die Überfahrt und den anschließenden Einsatz in Nardújarnán tauglich befunden. Dreißig weitere sind nutzbar für den Einsatz auf Schiff oder in einer Guigans. Abschiffbarkeit zum Ende des Monats wird erwartet.
Der Bericht über vertrauenswürdigere Anwärter für Rinuin und die Kolonien in Acalgirí folgt in wenigen Wochen.
Anbei Einschätzungen und weitere Angaben zu den einzelnen Anwärtern, soweit vorhanden und bekannt.
Jinn Ariz Gajandó
VI: Brief an die Schwester
Sommer 3979, Rardisonan.
Geliebte Schwester,
ich schreibe dir in Eile, denn es ist etwas geschehen. Ich weiß nicht warum und man hat auch nicht allzu großartig mit uns darüber gesprochen, doch wir werden nun versetzt. Nicht alle von uns, doch ganze fünfzig immerhin. Darunter auch Männer wie Miruil und Couccinne, von denen ich dir schon das letzte Mal schrieb. Vorgestern trat man an uns heran und sagte uns, was man mit uns vorhätte, und in weiteren zwei Tagen reisen wir dann auch schon ab. Widersprüche waren nicht möglich. Seit unserem Eintritt und der Verpflichtung für zumindest einem Jahr wäre dies Verrat gewesen.
Der Jinn Gajandó teilte uns die Neuigkeiten beim Frühstück mit. Ich saß neben Miruil und Oljó y Becal, als der Jinn zu uns hinaus in den Hof kam, wo wir zusammen saßen. Gajandó tat, als müsste es uns allen eine große Ehre sein, was er uns zu verkünden hatte. Nun, ich will dich nicht weiter mit Spannung foltern: man sendet uns alle ins ferne Nardújarnán. - Ja, richtig, ins nördliche Land der gewaltigen Wälder, Flüsse, Berge und Ebenen, wo angeblich wirklich alles größer ist. Gajandó sagte uns schlicht, dass dort am dringendsten noch Nachschub an neuen Kämpfern gebraucht würde und wir deshalb dort benötigt werden. Die nächsten Tage werden wir mit Vorbereitungen verbringen müssen. Uns wurde verboten, in dieser Zeit noch Briefe zu schreiben oder Besuch zu empfangen.
Puidor ist bisher immer noch nicht erschienen und wird es wohl auch nicht mehr. Ich hoffe, es geht ihm zumindest gut. Und ebenso dir. Sobald ich irgendwo angekommen bin, schreibe ich dir. Zu deiner Hochzeit kann ich nun natürlich nicht kommen, doch unser Schiff wird sicherlich an Touron vorbeikommen. Sollten wir anlegen und Ausgang erhalten, könnte es sein, dass ich in ein paar Tagen überraschend vor deiner Tür stehe, also kurz nach Ankunft dieses Briefes. Ich hoffe sehr darauf, dich wiederzusehen, auch wenn ich unserer Mutter lieber aus dem Weg gehen würde. Nun muss ich aufhören, man versucht uns noch in Windeseile alles Nötige beizubringen, was wir über Nardújarnán erfahren müssen. Ich hoffe nur, unsere Vorgesetzten wissen, was sie tun.
Dein Falerte
VII: Bericht des Obersten Seewächters Amerto an Bord der „Sturmwind“
11. 05. 3979, An Bord der Sturmwind.
Die ersten Tage der Überfahrt verliefen gut. Der Sommerwind ließ uns schnell vorankommen und wir konnten auf Zwischenhalte verzichten. Kurz nachdem wir an Touron vorbei waren, gerieten wir in starken Seegang. Viele der angeblich seetüchtigen Kämpfer, die unsere Ladung darstellen, hängen seitdem grün über der Reling! Wie soll das erst werden, wenn wir den Sund von Omér durchschiffen müssen?
Immerhin aber scheinen die meisten derer, die nur als für den Landeinsatz tauglich gemustert wurden, sich auf hoher See doch recht gut zu machen. Haben diese Leute da in Rardisonan überhaupt einen Hauch Ahnung von dem, was sie tun und wie sie ihre Aufgaben zu erledigen haben? Sobald wir in Almez ankommen, werde ich mich beschweren. Diesen Bericht schicke ich bei unserem nächsten Halt zurück nach Rardisonan.
Herr, der ihr dies lest, sprecht ein Wort in der Guigans! Im schlimmsten Falle könnte es noch zu Todesfällen an Bord kommen bei solch schlampiger Musterung!
Amerto y Cajál an Bord der „Sturmwind“
VIII: Tagebuch des Falerte Khantoë
16. 05. 3979, An Bord der Sturmwind.
Ich beginne dieses Tagebuch, meine zukünftigen Erlebnisse festzuhalten. Auch mag es mir als Gedächtnisstütze für spätere Zeiten dienen. Gestern durchfuhren wir den Sund von Omér. Seit unserer Abreise haben wir in keinem Hafen mehr gehalten. Meine Schwester sah ich so leider nicht. Die Lage an Bord ist schwierig, will ich meinen. Der Oberste Seewächter Amerto, Herr dieses großen Schiffes, zeigt sich mehr als ungehalten über uns. Warum nur? Vielen der Männer, die die See nicht gewohnt sind, ging es eine Weile reichlich schlecht. Amerto gibt die Schuld dafür uns und dem Jinn Gajandó in Rardisonan. Zugegeben, mehr als einer hier hatte nicht die Wahrheit bei der Musterung gesagt. Amerto belohnt dies mit Strafen. Auch sonst scheint es nicht sehr förderlich zu sein, soviele Menschen auf einen Haufen zu sperren. Fast täglich kommt es zu Zwist und Zank. Braucht der Mensch so sehr seine Freiheit, dass er sie sich erkämpfen muss, sobald er sie bedroht sieht? Amerto scheint uns nicht als würdig anzusehen. Ich habe Gerüchte gehört, dass wir Halkus anlaufen werden, die Hauptstadt Omérians, wo er die ihm Unangenehmen über Bord werfen will. Ich kann nicht einschätzen, wie hoch der Wahrheitsgehalt dieser Gerüchte ist, doch glaube ich kaum, dass er dies tun wird, denn die Beziehungen zwischen Omérian und Rardisonán sind – soweit ich weiß – bestenfalls gespannt. Auf jeden Fall aber ist es unübersehbar, dass Amerto uns nicht mag. Aber zumindest ich habe es geschafft, mir halbwegs Anerkennung bei ihm zu holen, als ich bei den Aufgaben der Seemänner an Bord helfen konnte. Leider müssen wir wohl zwangsweise mit ihm auskommen: Halkus werden wir sicherlich anlaufen, ist dies doch der letzte Hafen, bevor wir eine lange Weile auf hoher See verbringen müssen. Das bedeutet mehrere Wochen in diesen Umständen leben. Und auch wenn es zweifelhaft ist, dass wir diesen Amerto und seine Seewächter nach dieser Reise jemals wiedersehen werden, stelle zumindest ich mich lieber gut zu ihm und halte auch die anderen an, es mir gleich zu tun.
Am schwersten war dies mit Miruil. Miruil, der kleine Kämpfer aus Calerto, der so stolz auf seine braunen Locken ist und einer etwas wohlhabenderen Familie entstammt, ähnlich wie ich. Miruil allerdings bildet sich etwas mehr auf seine Abkunft ein. Seit seiner Kindheit, so erzählte er, ist er es gewöhnt, andere herumzuscheuchen und nicht, selber herumgescheucht zu werden. Doch er folgt bedingungslos den Anweisungen eines Vorgesetzten, denn diese Befehle vermag er als für sich gültig anzusehen. Dafür sah er es nicht ein, den Anweisungen und Hinweisen eines einfachen Seemannes zu folgen und als genau dies schätzte er die Seewächter ein – höchstens noch als zu ihm gleichberechtigt, nicht aber als vorgesetzt. Und so geschah es eines Tages, dass ein armer Seewächter ihm einen Säuberungsbefehl gab und Miruil, von einer leichten Seekrankheit schon genug geplagt, geriet darüber mit ihm in Streit. Letztlich gingen der ruhige Couccinne und ich dazwischen und konnten schlimmeres verhindern, doch musste Miruil sich später vor Amerto rechtfertigen und erhielt zur Strafe zwei Tage Einzelhaft. Vielleicht gar nicht so ein schlimmes Schicksal, müssen wir restlichen uns doch alle zusammen drei große Gemeinschaftsschlafhallen teilen – die Seewächter schlafen bei dem guten Wetter sogar auf Deck.
Einen weiteren Vorfall gab es mit Oljó. Dieser neigt ja sehr zu Glücksspielen, doch diesmal hätte er es vielleicht sein lassen sollen. Ich weiß nicht, ob wirklich er es war, der beim Spiel betrogen hatte. Wie auch immer, es kam zum Streit und zu Gerangel und endete damit, dass Oljó nun eine neue kleine Narbe über dem Auge hat. Zum Glück erstattete niemand Bericht, sonst hätte er wie Miruil bald Einzelhaft gehabt. Und welch Licht würde das auf uns alle werfen, wenn bereits zwei in Einzelhaft wären?
Ja, wir haben hier schon eine hübsche Truppe. Es dürfte noch lustig werden, sobald wir ernsteren Gefahren ins Auge sehen müssen. Aber ob das jemals geschehen wird? Nun, immerhin untereinander halten die meisten gut zusammen, auch wenn ich einige der Leute – und gerade Oljó – nicht wirklich leiden kann. Dafür sind andere dabei, mit denen ich mich schon besser verstehe. Doch so wirklich trauen kann ich hier wohl niemandem, werde und sollte ich wohl auch nie. Viele kamen aus ähnlichen Gründen wie ich damals in die Guigans: die reine Not. Einige waren ohne Bleibe, so zum Beispiel der kleine rothaarige Kämpfer Zalím – und auch ich. Andere waren abenteuerlustig und wollen etwas erleben, so der gute Miruil, der seiner Familie überdrüssig war – und wieder auch ich. Weitere waren Diebe oder Verbrecher und auf der Flucht oder auf der Suche nach neuen Möglichkeiten – oder gar von einem Gericht zum Kriegsdienst abgeurteilt worden, so auch unser unglücklicher Dieb Oljó. Bei den meisten weiß ich aber überhaupt nicht, woher sie kommen oder warum sie hier sind. Ein gutes Beispiel dafür ist Jimmo. Ich habe mehrmals versucht mit dem großen, ergrauten Hünen zu reden doch stets verneint er es, etwas über seine Herkunft verraten zu wollen. Ich weiß auch nicht so recht, was ich über ihn denken soll. Er spricht nicht viel mit uns, doch bisher bot sich auch kein Grund zu größerem Misstrauen – gerade deshalb traue ich ihm aber auch nicht.
Aber ich werde sehen, was die nächsten Wochen bringen. Couccinne brachte mir gerade die Nachricht, dass wir Halkus anlaufen und wohl die Nacht über dort bleiben und Vorräte beziehen werden. Dann werde ich auch sehen, ob er tatsächlich noch jemanden des Schiffes verweist. Zumindest Couccinne meinte, dass wir die Nacht über Freigang erhalten würden. Ich werde diese Zeit noch einmal nutzen. Couccinne warnte mich auch, dass sie jeden hart verfolgen, der versuchen würde, sich aus dem Dienst zu stehlen. Wollte er damit etwa sagen, dass er sich dies bei mir vorstellen könne? Das wäre eine gewaltige Frechheit von ihm!
Ah, ich sehe die Lichter der Stadt! Wie schön sie doch ist.
IX: Brief an die Schwester
17. 05. 3979, Halkus.
Geliebte Schwester,
ich schreibe dir hiermit eine nur schnelle und kurze Notiz aus Halkus. Ja, richtig, wir sind in der Hauptstadt deines Landes! Aber nur kurz und nur um Vorräte aufzunehmen. Heute Mittag bereits geht es weiter, dann sind wir bis zu vier Wochen auf hoher See, bevor wir den nächsten Hafen erreichen. Gestern Nachmittag erst kamen wir hier an.
Es geht mir gut, doch gestern geschah etwas. Einer der Männer, ein kleiner Kerl namens Zalím, verschwand in der Nacht. Wenn er bis zu unserem Aufbruch nicht wieder erscheint, wird er für vogelfrei erklärt. Ich frage mich nur, was diese Strafe für ihn hier, in einem fremden Land, schon für Bedeutung hätte. Wie dem auch sei, ich hatte Zeit mir Halkus anzusehen. Eine beeindruckende Stadt habt ihr da, alt und schön, doch auch ruhig. Hügel, Meer und Wald – was will man mehr?
Ich werde dir Abschriften meines Tagebuchs mitschicken, damit du über das was mir so geschieht unterrichtet bist. Ich werde deshalb versuchen dort möglichst verständlich zu schreiben. Leider muss ich nun aufhören. Grüße deinen Gemahl und viel Glück euch beiden!
Dein Falerte
X: Tagebuch des Falerte Khantoë
01. 06. 3979, Irgendwo auf Hoher See unfern von Nardújarnán.
Es ist etwas Schreckliches geschehen. Diesen Vorfall sollte ich hier festhalten. Zwei Wochen sind vergangen seit unserem letzten Landaufenthalt. Welches der nächste Anlauf ist, wissen wir nicht, doch wird es irgendwas in Nardújarnán sein. Es ist jedem spürbar, dass viele nicht mit diesem langen Aufenthalt auf See auskommen. Auch der immer gleiche Ablauf von Aufstehen, Essen, Kampfübungen, Essen, Schlafen, Aufstehen, ... tut seinen Teil, uns alle zu zermürben. Darum kann ich auch mir selber nicht ganz trauen, was die Geschehnisse von gestern Nacht betrifft, doch will ich meine Erinnerung hier trotzdem festhalten.
Es war mitten in der Nacht, als mich ein Druck auf der Blase erwachen ließ. Nachdem ich diesem Bedürfnis nachgekommen war, gelangte ich auf meinem Rückweg an einem der hinteren Laderäume vorbei. Seltsame Geräusche ließen mich da neugierig aufhorchen. Ich lauschte an der Tür und vernahm seltsames Summen und unverständliche Worte. Schon da hatte ich ein ungutes Gefühl und Besorgnis beschlich mich. Ich überlegte kurz, einen Seewächter zu benachrichtigen, doch unterließ es dann. Wenn die Ursache des Geräusches sich als harmlos herausstellen sollte, würde man mich sonst wohl auslachen oder ob der Störung bestrafen. Also öffnete ich vorsichtig die Türe, um meine drängende Neugier endlich befriedigt zu sehen. Glücklicherweise öffnete sie sich fast lautlos. Im Raum stapelten sich die Kisten, so dass man zunächst überhaupt nichts sah. Doch hörte ich die Worte nun lauter, aber weiter nicht wirklich verständlich.
Ich schloss die Tür hinter mir möglichst leise, bevor ich mich vor wagte. Der Raum war erwartungsgemäß stockfinster, doch tastete ich mich an den Kisten entlang, um Ecken und Biegungen und durch enge Gassen. Recht schnell bemerkte ich, dass ich allmählich die Umrisse der Kisten erkennen konnte. Das lag aber nicht an meiner Gewöhnung ans Dunkle, sondern an dem Umstand, dass es heller wurde. Das unverkennbare Flackern von Feuer drang zu mir vor. Und nach der nächsten Biegung sah ich es.
Ich hatte mich etwas zu weit vorgewagt und ging wieder in Deckung, doch lukte um die Ecke. Ein Mann war dort. Erkennen konnte ich ihn nicht so richtig. Er kniete mit nacktem Oberkörper neben einer großen Kiste, nur ein Bart fiel auf seine Brust. Auf der Kiste lag der Körper eines anderen Mannes. Der Kniende hatte sich und den Liegenden mit Zeichen bemalt, die ich nicht erkennen konnte, und hielt einen Dolch in der Hand. Kerzen flackerten, aufgestellt um die Kiste. Scheinbar war ich gerade zum Höhepunkt erschienen. Ich verstand nur Fetzen von dem, was er murmelte.
„...auf diesem Schiff seien verdammt! In Nardújarnán finden sie ihren Tod durch die Hände meiner Herrn! Für Chamrek! Für Gachkhir! Für Axabula!“
So oder so ähnlich sprach er und summte und wiederholte einige andere, mir unbekannte Wörter und dass wir alle sterben würden, dass er den Liegenden opfern und dadurch Macht von jemanden oder etwas aus Nardújarnán erhalten würde – kurz gesagt: Es war als befände ich mich mitten in einer der schlechten Abenteuergeschichten von Nuosan Deleau. Als er mit seiner Rede und seinem Gesang fertig war, hob er den Dolch sowie seine andere Hand über den sich nicht rührenden Mann, umklammerte mit beiden Händen den Dolch und stieß ihn herab. Wenn der Mann nicht bereits tot gewesen war, dann wäre er es ab diesem Stoß. Bemerkenswerterweise hielt der Mörder an dieser Stelle aber nicht an sondern zog sogleich den Dolch wieder heraus. Langsam drückte er die Schneide quer über seinen eigenen Brustkorb, bis das Blut floss. Doch sich selber brachte er nicht um.
An dieser Stelle dann bevorzugte ich es, schnell den Rückweg anzutreten. Um dabei leise bleiben zu können, war ich aber doch alles andere als schnell. Danach stahl ich mich in den Schlafsaal – doch schlafen konnte ich kaum noch.
Wer war das? Was hatte er da gemacht? Wen hatte er da umgebracht? Ich wagte es nicht, zu einem Seewächter zu gehen, erwartete ich doch, dass es im Laderaum bereits aufgeräumt gewesen wäre und man mir dann nicht glauben würde. Und zugegebenermaßen war ich vor allem viel zu verängstigt und verstört, nun noch einmal aufzustehen. Ich spüre es ja jetzt noch in meinen Knochen. Welch Gräuel!
Erst am nächsten Tag verspürte ich den Drang, mich mitzuteilen und dem Ganzen auf den Grund zu gehen. Nach dem Mittag nahm ich zu diesem Zweck Miruil zur Seite und schilderte ihm, was ich meinte beobachtet zu haben. In seiner Abenteuerlust war Miruil stets etwas leichtgläubig in seiner Bestrebung oder Hoffnung glauben zu dürfen und etwas Aufregendes zu finden und wollte deshalb sogleich mit mir das Ganze überprüfen gehen. Ich selber war zu aufgeregt, doch auch überrascht, dass meine vermutlich sehr abgehackt klingenden Worte ihn überzeugen konnten. Da wir nach dem Essen nur knapp eine halbe Stunde Zeit für uns selber hatten, nutzten wir diese, um zu dem betreffenden Laderaum hinabzusteigen. Niemand begegnete uns und den Laderaum fanden wir unverschlossen vor. Ich scheute mich hineinzugehen und ließ Miruil den Vortritt, bevor ich schließlich folgte. Dort unten war es immer noch mehr als dunkel, doch durch die zahlreichen Ritzen in Wänden und Decke immerhin schwach erleuchtet. Das, was wir fanden, war wenig aufregend – wir fanden nämlich nichts.
Miruil war offensichtlich kurz davor mich für verrückt zu erklären in seiner Enttäuschung – zumindest waren das im ersten Moment meine Gedanken. In Wirklichkeit sagte er aber, dass der Mörder die Leiche wohl bereits über Bord geschmissen und alle Spuren beseitigt hätte. Ich dankte ihm innerlich für sein Wohlwollen. Vielleicht könnte ich mich ja doch noch auf ihn verlassen.
Als wir uns wieder auf den Weg gen Deck machten, um den Übungen beizuwohnen, kam uns Couccinne aufgeregt entgegen: Man hatte Zalím, der ja seit Halkus vermisst wurde, aufgefunden. Er lag tot in einer Vorratskiste, deren Inhalt dem Abendessen hätte dienen sollen. Zalím schien noch nicht lange tot zu sein, ermordet durch einen Stich ins Herz. Aufgeregt platzte Miruil mit dem hervor, was ich ihm erzählt hatte und schilderte, was wir gerade getan hatten. Couccinne blieb ruhig, sagte uns, dass Amertos Seewächter nach Spuren und Hinweisen suchen würden, während Miruil auf mich einredete, dass ich mit Amerto sprechen müsse. Letztlich ließ ich mich zu diesem zerren.
Amerto war ungehalten darüber, dass ich des Nächtens durch das Schiff gewandert war, doch vergaß dies über meine Geschichte recht schnell wieder. Ich war mir nicht sicher ob er mir glaubte oder mich für den Mörder hielt, doch gab er meine Beschreibung des Täters an seine Seewächter weiter. Leider hatte ich jedoch kaum mehr zu beschreiben, als dass er nun wohl eine Wunde quer über der Brust hätte und einen Bart trug. Amerto tat das Naheliegendste und ließ alle an Bord daraufhin untersuchen – doch nichts ließ sich finden. Amerto sprach zwar davon, dass der Mörder von Bord gesprungen sei, doch ich dachte daran, dass er mir nun wohl nicht mehr glauben und mich bald beschuldigen würde. Doch zunächst ließ er noch einmal überprüfen, ob jemand fehlen würde – Doch natürlich war dem nicht so.
Das war also vor zwei Tagen. Bis gestern wurde die Stimmung an Bord mehr als sehr gespannt. Einige sagten mir offen, dass sie mir nicht glauben würden, andere fingen an, alle möglichen anderen Verdächtigungen heranzuziehen und wieder andere vermuteten, dass Zalím sich selbst umgebracht hätte und dass ich spinnen würde. - Warum auch immer er sich dann in die Kiste hätte legen sollen oder wie auch immer er bereits tot den Dolch hätte verschwinden lassen können. Zumindest war das Vertrauen an Bord nun nicht mehr das stärkste.
Gestern Abend dann sah ich den Mann wieder. Ich war von allen Pflichten zeitig befreit worden und machte einen einsamen Spaziergang über das Vorderdeck, wo sich zu diesem Zeitpunkt niemand außer mir aufhielt. Jedenfalls dachte ich das. Denn sogleich sah ich eine Gestalt am Bug stehen. Wie in der düsteren Nacht zuvor stand der Mann da, mit entblößtem Oberkörper. Das Mondlicht umriss die frische Wunde. Er stand ruhig da und blickte auf das Meer. Ich selber wusste nicht, was ich tun solle. So stand ich nur starr und erschrocken. Und dann wandte der Mann seinen Kopf und zum ersten Mal erblickte ich sein Gesicht, das bärtige Gesicht. Und immer noch bin ich mir sicher, dass ich mich geirrt haben muss. Das konnte nicht sein. Nein! Warum sollte es Puidor sein? Ich muss einem bösen Traum aufgesessen sein. Vielleicht träume ich ja immer noch?
Der Mann sprach nicht. Stumm sah er mich an. Ich erkannte immer noch das Gesicht Puidors doch eine Stimme tief in mir drinnen sagte mir, dass er es nicht sein könne, nicht sein dürfe. Der Mann mit Puidors Gesicht aber ohne dessen Gefühl, ohne ein Erkennen in den Augen sah mich nur finster und wie tot an.
„Ihr seid alle verdammt in Nardújarnán zu sterben!“ sprach er schließlich mit unmenschlich wirkender Stimme.
Dann ließ er sich rücklings die Reling herab stürzen. Kein Geräusch kam auf, weder vor noch nach dem Sturz. Erschrocken riss ich mich aus meiner Starre und lief zur Reling, doch in den dunklen Fluten erkannte ich nichts. Erst später kehrte ich völlig verstört in den Schlafsaal zurück, als alle bereits in ihren eigenen Träumen waren. Niemandem habe ich seitdem davon erzählt, glaube ich doch mir selber nicht. Denn als er stürzte, sah der Mann nicht mehr aus wie Puidor. Oder bildete ich mir nun das nur ein?
Das war also gestern. Die anderen suchen immer noch nach einem Mörder. Sollen sie ruhig, ich werde sie nicht davon abhalten. Vielleicht irrte ich mich ja doch. Ich hoffe sehr, dass dem so ist. Was uns wohl in Nardújarnán erwarten wird? Ängstlich blicke ich in die Zukunft...
Fortsetzung folgt...
Texte: (c) 2009 A. Schuchardt
Tag der Veröffentlichung: 26.03.2009
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