20. Dezember
Er wachte auf, weil es direkt neben seinem Ohr laut maunzte. Als er verschlafen die Augen öffnete, saß neben seinem Kopfkissen die Katze und sah ihn vorwurfsvoll an. Sorry Katze, es ist gestern spät geworden, ich hab nicht mehr an dein Futter gedacht, brummte er und schlurfte müde zum Küchenregal. Es war kein Katzenfutter da, und auch sonst nichts außer Zucker, Öl und ein paar Dosentomaten. Ihm knurrte der Magen. Katze, du musst dich noch ein bisschen gedulden. Ich geh kurz zum Aldi und besorg uns was Feines. Er zog sich schnell was über, fischte aus der Tasche einer herumliegenden Hose ein paar Euro und wollte sich auf den Weg machen. Gerade als er an der Tür war, klingelte das Telefon. Immer im richtigen Moment, murmelte er bevor er ranging.
Hallo?
Hallo, mein Junge. Wie geht’s dir denn so?
Gut Mama, alles bestens hier. Und dir?
Ach ja, vor Weihnachten ist es halt immer so stressig. Das viele Herumgelaufe beim Geschenkekaufen, du weißt ja, dass ich Probleme mit den Knien habe, das ist jetzt gerade natürlich besonders arg. Und dann hab ich seit ein paar Tagen noch so ein seltsames Ziehen in der Magengegend, ich weiß gar nicht, was das ist...blablabla. Er hörte gar nicht mehr zu und sagte nur ab und an ja oder hm, damit sie das Gefühl hatte, ihn würde interessieren, was sie ihm erzählte.
Aber willst du wirklich nicht hier mit uns Weihnachten feiern? Moritz und Sabine würden sich auch freuen, und die Kleinen würden ihren Onkel doch so gerne mal wieder zu Gesicht kriegen...
Nein Mama, das haben wir doch schon besprochen. Ich bin bis zum 23. total beschäftigt, und es ist mir einfach zu viel, am 24. noch so weit zu fahren. (Außerdem weiß jeder, dass Sabine und ich uns auf den Tod nicht leiden können, und alle sind doch insgeheim froh, wenn sie uns nicht im selben Raum ertragen müssen, fügte er in Gedanken hinzu).
Aber... setzte sie an.
Nein, Mama, wirklich, das ist schon in Ordnung so, fiel er ihr ins Wort. Er sah sich in seiner muffigen unordentlichen Einzimmerwohnung um. Ich habe es sehr schön hier, ich mach mir einen gemütlichen Tag und abends treff ich mich mit ein paar Freunden.
Ja gut, wenn dir das so lieber ist... sagte sie in einem etwas beleidigten Tonfall.
Die Katze war inzwischen vom Bett heruntergesprungen, hatte sich neben seine Füße gesetzt und starrte ihn böse an.
Ja, Mama, vielleicht klappt es ja nächstes Jahr mit einem gemeinsamen Weihnachten. Das wäre schön. Aber ich muss jetzt echt dringend einkaufen gehen. Wir telefonieren wieder, ja? Und stress dich nicht zu sehr mit den Geschenken. Tschüss Mama, ich hab dich lieb.
Und dann schnell auflegen. Geschafft. Jetzt nichts wie weg.
Aber das Telefon klingelte schon wieder.
Ja hallo?
Hey, ich bin's. Du, wir müssen uns unbedingt heute noch mal treffen und alles durchsprechen. Wann kannst du bei mir vorbeikommen?
Aber es ist doch alles genau geplant, was muss da noch besprochen werden?
Wir müssen den Plan noch einmal genau durchgehen, damit auch ja nichts schiefgeht. Jetzt stell dich nicht so an, das ist wirklich wichtig. Georg ist schon auf dem Weg, und Egon will auch in einer halben Stunde da sein. Also, wann kannst du kommen?
Er sah auf die Uhr. So ein Mist, schon halb vier vorbei.
Ich bin in spätestens einer Stunde da, OK? Bis dann, Andi. Ciao.
Ein paar Sekunden später war er endlich zur Tür draußen.
21. Dezember
Die S-Bahn in Richtung Innenstadt war gesteckt voll. Eingeklemmt zwischen anderen Fahrgästen ging er im Kopf noch einmal das gestrige Treffen mit den Jungs durch. Der Coup war wirklich auf das Sorgfältigste geplant, und am 23. sollte die Sache steigen. Sie hatten die Bank lange und gründlich ausgekundschaftet. Egon würde mit dem Fluchtauto bereitstehen. Andi hatte die Knarren besorgt, er hatte gute Kontakte für alles. Aber auf keinen Fall schießen wir auf jemanden, hatten sie besprochen. Wenn doch etwas daneben geht, nicht in Panik verfallen, sondern sofort abhauen. Dann planen wir eben etwas Neues.
Eigentlich konnte aber gar nichts schiefgehen. Es musste auch einfach klappen. Seit Wochen träumte er davon, wie er mit seinem Haufen Geld einfach irgendwo in den Süden fliegen und dort ein neues Leben anfangen würde. Ein neues Leben... das alte hatte auch nicht allzuviel zu bieten. Seit Jessie weg war, saß er die meiste Zeit alleine in seiner hässlichen kleinen Bude und schlug irgendwie die Zeit tot. Ab und zu traf er sich mit den Jungs oder hing alleine in irgendwelchen Kneipen rum. Zu Hause hatte er nur die Katze, die ihm Gesellschaft leistete. Und die war auch nicht mehr besonders gut auf ihn zu sprechen, nachdem er sich in letzter Zeit so schlecht um sie gekümmert hatte.
Jessie. Er hatte sich doch vorgenommen, gar nicht mehr an sie zu denken. Auf einmal waren die Erinnerungen alle wieder da und ließen sich auch nicht mehr abschütteln. Er konnte gar nichts gegen die Bilder in seinem Kopf machen. Jessie, die ihn mit ihren großen braunen Augen immer so ansah, als ob er die Antwort auf alle ihre Fragen wäre. Jessie, die einmal, als sie händchenhaltend die Straße entlanggingen, plötzlich losrannte und ihm lachend zurief, Komm, wir machen ein Wettrennen bis zur nächsten Kreuzung. Jessie, wie sie von hinten die Arme um ihn schlang und ihn sanft in den Nacken küsste. Aber dann: Jessie, die ihm mit verheultem Gesicht gegenüber saß und sagte, Bitte versteh doch, es geht einfach nicht mehr.
Die S-Bahn hielt, und die heraus- und hereindrängenden Leute rissen ihn aus seinen Gedanken. Er fühlte sich plötzlich sehr müde und setzte sich auf einen freigewordenen Platz, obwohl er nur noch zwei Stationen zu fahren hatte. Er hatte wieder Jessies wunderschönes Gesicht vor Augen, wie sie ihn so zärtlich ansah und flüsterte, Mein Liebster... Mit einem Lächeln auf dem Gesicht schlief er ein.
22. Dezember
Er wälzte sich im Bett und konnte nicht einschlafen. Kein Wunder, wenn man immer den ganzen Tag schläft, dachte er. Aber natürlich war das nicht der Grund. Morgen sollte es also soweit sein. Klar, dass er aufgeregt war, so ein großes Ding hatte er noch nie gedreht. Vielleicht war die ganze Sache ja auch wirklich eine Nummer zu groß für sie. Taschendiebstahl, Trickbetrug, vielleicht auch mal ein kleiner Einbruch, okay, aber ein Banküberfall? Noch dazu schien die Sache unter keinem guten Stern zu stehen. Ganz in der Früh hatte Andi schon angerufen.
Egon ist raus, er will nicht mehr.
Offenbar hatte Egon letzte Nacht beim Pokern so richtig abgesahnt im ganz großen Stil, und nachdem er jetzt vorerst keine Geldsorgen mehr hatte, war er auch nicht mehr an einem Banküberfall interessiert. Andi meinte, es sei zwar eine Riesensauerei, dass Egon sie so kurzfristig im Stich ließ, aber sie könnten das Ding auch sehr gut ohne ihn durchziehen.
Du weißt, wir haben die Aktion anfangs sowieso zu dritt geplant. Georg kam erst später dazu. Wir kehren einfach zu unserem ursprünglichen Plan zurück. Statt Egon fährt eben Georg. Wir zwei schaukeln das Ding in der Bank schon.
Aber Egon ist doch schon in alles eingeweiht, wie können wir sicher sein, dass er dichthält oder uns nicht irgendwie erpresst?
Ach was. Egon kann froh sein, wenn ich nicht dafür sorge, dass er fertig gemacht wird. Und jetzt hat er ja erst mal alles was er braucht. Wir sind doch morgen Abend eh schon über alle Berge. Komm schon, eigentlich ist es doch besser, mit weniger Leuten in die Bank zu gehen. Und die Beute wird hinterher auch nur durch drei geteilt.
Na gut, hatte er geantwortet. Aber so ganz überzeugt war er von der Sache nicht. Wahrscheinlich hatte Egon Andi einen Batzen Geld gezahlt, sonst hätte der ihm doch gleich ein paar Schläger auf den Hals gehetzt. Worauf hatte er sich da bloß eingelassen? Am liebsten wäre er auch einfach ausgestiegen, aber dazu war es jetzt wohl zu spät. Er hatte kein Geld, um sich freizukaufen, ganz im Gegenteil... Es würde schon alles gut gehen. Es musste einfach klappen.
23. Dezember
Nach ein paar Stunden Ruhe wachte er viel zu früh auf und konnte nicht mehr einschlafen. Die Katze lag zufrieden schlummernd neben ihm. Seine Zweifel waren über Nacht nicht verflogen, und so lag er noch einige Zeit im Bett und grübelte. Aber es half ja alles nichts, er musste die Sache heute durchziehen. Und er hatte doch auch nichts außer seinem Traum vom großen Geld. Also, Kopf hoch, sagte er sich. Es wird schon werden. Da klingelte mal wieder das Telefon. Letzte Lagebesprechung vor dem Treffen heute Nachmittag? Es war Georg, und er klang ziemlich aufgeregt.
Du glaubst nicht, was passiert. So eine Scheiße. Wir können die Sache komplett vergessen. Die Bullen haben Andi mitgenommen.
WAAAS???
Ja, also keine Panik, es hat nichts mit unserem Vorhaben zu tun. War wohl wegen einem Bruch vor ein paar Wochen. Ich wollte ihn vorhin anrufen, da hat mir Marie alles erzählt. Die Arme war natürlich ziemlich fertig wegen der ganzen Geschichte. Naja, das mit dem Überfall wird heute nichts, soviel steht fest. Hoffen wir mal, dass sie Andi nichts anhängen können, und dann sehen wir halt weiter.
Ja klar. Danke jedenfalls, dass du mir gleich Bescheid gegeben hast.
Nachdem er aufgelegt hatte, fühlte er sich irgendwie ziemlich erleichtert, seit gestern hatte er kein gutes Gefühl mehr bei der Sache gehabt. Gleichzeitig machte sich aber auch eine große Leere in ihm breit. Der Traum vom schönen Leben in der Südsee oder wo auch immer war fürs erste geplatzt. Was mach ich denn jetzt? Erst mal raus, ein bisschen frische Luft schnappen, beschloss er.
Als er von seinem kleinen Spaziergang zurückkam, zog er einen Brief aus dem Briefkasten. Mist, eine Mahnung für die nicht bezahlte Stromrechnung. Genervt pfefferte er sie auf einen Haufen Papierkram in der Ecke. Die Katze saß mal wieder auf dem Bett und beobachtete ihn. Irgendwie schien sie ihn anzulächeln. Naja, auch egal, dachte er sich. Katzenfutter war ja erst mal genug da, und das Geld für die Rechnung würde sich schon irgendwie noch auftreiben lassen, bevor sie ihm den Strom abstellten. Zuerst muss ich mal ein bisschen Schlaf nachholen, dachte er, und kuschelte sich neben die Katze ins Bett.
Aber das mit dem Schlafen klappte nicht. Seine Gedanken kreisten nur um eine Frage. Was mache ich denn jetzt?
Der Überfall war ein Ziel gewesen, auf das er lange hingearbeitet hatte, und jetzt war alles auf einmal geplatzt. Andererseits war das doch eine Chance für einen Neuanfang. Plötzlich fühlte er sich zuversichtlicher als die ganzen letzten Monate. Er sprang aus dem Bett. Zuerst musste er endlich mal wieder ordentlich duschen und diese Wohnung ausmisten. In dem Mief konnte man sich ja gar nicht wohlfühlen, sowieso ein Wunder, dass die Katze noch nicht das Weite gesucht hatte. Als er unter der Dusche stand, musste er auch wieder an Jessie denken. Vielleicht sollte er sie mal anrufen? Es war jetzt ungefähr acht Monate her, dass sie ihn verlassen hatte, nach sechs gemeinsamen Jahren. Es geht einfach nicht mehr, hatte sie gesagt. Du merkst doch, dass wir nur noch streiten. Wirke ich etwa glücklich auf dich? Ich halte das nicht mehr aus. Anfangs hatten sie sich noch ein paar mal getroffen, doch dann hatte sie gesagt: Ich glaube, es ist für uns beide besser, wenn wir uns erst mal nicht mehr sehen. Ich brauche ein bisschen Abstand. So ein bescheuerter Satz. Trotzdem war er natürlich darauf eingegangen, zum Teil, weil er verletzt war, dass sie ihn nicht mehr wollte, und zum Teil, weil er einsah, dass sie irgendwie Recht hatte und sie sich bei ihren kurzen Treffen beide nur quälten. Aber jetzt war einige Zeit vergangen, und was sprach schon dagegen, sie einfach mal anzurufen und frohe Weihnachten zu wünschen? Morgen, beschloss er, jetzt gönne ich mir noch ein schönes Bierchen in der Kneipe.
24. Dezember
Am 24. wurde er mal wieder vom Telefon geweckt. Mutter und Bruder wollten frohe Weihnachten wünschen. (...und natürlich auch liebe Grüße von Sabine. Ja klar.) Nachdem er schon mal wach war, konnte er doch auch gleich duschen. Er genoss das warme Wasser auf seinem Körper. Jeden Tag zu duschen war doch ein gutes Gefühl. Das Telefonklingeln riss ihn aus seinen Träumen. Einfach ignorieren, sagte er sich, wer soll jetzt schon anrufen. Die Familie hat sich schließlich schon gemeldet. Plötzlich schoss ihm durch den Kopf: Jessie! Er sprang aus der Dusche und rannte patschnass zum Telefon.
Hallo?
Schweigen.
Jessie?
Wieder eine Pause. Er fühlte sich wie ein Idiot.
Dann: Jaaa, sagte sie leise. Hallo, ich bin's. Ich wollte mich nur mal wieder melden und fragen wie es dir so geht.
Jaa... geht so. Und dir? (Ich freue mich so, dass du anrufst, fügte er in Gedanken dazu)
Wieder eine Pause. ...Hm, naja. Ganz gut. Aber Weihnachten nervt mich.
Feierst du nicht mit deiner Mutter?
Die ist auf Ibiza.
Und dein Vater?
Mit meinem Vater ist es nicht so leicht, das weißt du doch. Er hat schon wieder eine neue Freundin, und die ist tatsächlich noch schlimmer als alle davor. Außerdem hat sie auch noch zwei absolut unerträgliche Kinder. Und was machst du heute noch?
Ach... gar nichts. Du weißt ja, dass ich nicht so der Weihnachtsfan bin.
Ja, ich weiß. Du... sag mal... also ich weiß, das ist jetzt wahrscheinlich total bescheuert, aber... also wenn es dir nicht zu blöd ist, und du ja sowieso nichts vorhast... willst du nicht vielleicht zu mir kommen? Ich koch ein bisschen was und wir sitzen einfach nur gemütlich zusammen und trinken ein Glas Wein... Ohne viel Tamtam um das blöde Weihnachten zu machen, ohne Geschenke und so was...
Er konnte sie genau vor sich sehen, wie sie jetzt da stand, mit dem Telefon am Ohr, und verlegen auf einer Haarsträhne herumkaute.
Was denkst du, fragte sie.
Dass Weihnachten das Fest der Liebe ist, sagte er, ohne nachzudenken. Und bereute es im selben Moment. Hatte er zu viel gesagt? Auf keinen Fall wollte er, dass sie sich irgendwie von ihm bedrängt fühlte.
Sie machte wieder erst mal eine Pause, bevor sie schließlich sagte: jaa.... genau. Jetzt übertreib mal nicht. (Er hörte an ihrer Stimme, dass sie dabei lächelte, und sein Herz zersprang fast vor Freude). Kein großes Gefeier, kein Tamtam. Nur ein gemütlicher Abend. Also, willst du so gegen sechs kommen?
Ja, natürlich, antwortete er.
Tag der Veröffentlichung: 22.12.2011
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